Vorhofflimmern – ein noch immer ungelöstes

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M E D I Z I N
EDITORIAL
Vorhofflimmern –
ein noch immer ungelöstes
Problem
Berndt Lüderitz
V
orhofflimmern gilt als die häufigste anhaltende Rhythmusstörung des Herzens mit einer Prävalenz von zwei bis
drei Prozent in der Bevölkerung über
60 Jahre, bis zu zehn Prozent jenseits des 65. Lebensjahres und etwa zwölf Prozent bei über
75jährigen. Vorhofflimmern kommt sowohl bei
Herzkranken als auch bei Herzgesunden vor. Das
klinische Bild reicht von der Zufallsdiagnose bei
einem beschwerdefreien Patienten bis zur ausgeprägten Symptomatik, wie Synkopen, Herzinsuffizienz oder Embolie. Die Arrhythmie reduziert
üblicherweise die Herzleistung, führt zu inadäquatem Frequenzverhalten unter Belastung, ist
Ursache multipler Beschwerden und kann sowohl aus hämodynamischen Gründen als auch infolge koronarer Minderperfusion wie durch elektrophysiologische Komplikationen bedrohlich
werden. Es werden primäre – idiopathische –
Formen des Vorhofflimmerns ohne kardiale Begleiterkrankung („lone atrial fibrillation“) von
sekundären Formen als Folge kardialer und extrakardialer Erkrankungen unterschieden.
Die von Gallagher und Camm 1997 vorgeschlagene Klassifikation des Vorhofflimmerns
nach dem zeitlichen Verlauf der Arrhythmie unterscheidet paroxysmales Vorhofflimmern, das
spontan in Sinusrhythmus konvertiert, und persistierendes Vorhofflimmern, das einer elektrischen oder medikamentösen Kardioversion zugänglich ist, unbehandelt jedoch persistiert (1).
Dabei stellt sich häufig die Frage, inwieweit Sinusrhythmus aufrechtzuerhalten ist oder ob nurmehr
A-1164 (44) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 19, 8. Mai 1998
die Möglichkeit der Kontrolle der Kammerfrequenz besteht. Im letztgenannten Falle wäre eine
„Pseudoregularisierung“ mit einer nahezu normofrequenten Kammerschlagfolge anzustreben.
Diese häufige Form des persistierenden Vorhofflimmerns stellt therapeutisch die größte Herausforderung dar. Welche der beiden Strategien
vorzuziehen ist, ist nicht geklärt und Gegenstand
einer kontroversen Diskussion. Schließlich ist
noch das permanente Vorhofflimmern zu nennen,
das nicht mehr zu regularisieren ist. Hier kommt
es dann allein auf die Kontrolle der Kammerfrequenz zur Verbesserung der Hämodynamik an.
Grundsätzlich sollte eine Konversion von
Vorhofflimmern in Sinusrhythmus angestrebt
werden. Die Argumente sind folgende:
1 Es gilt, das Risiko einer Thromboembolie abzuwehren.
1 Vorhofflimmern führt zur Hyperkoagulabilität.
1 Vorhofflimmern bedingt eine Abnahme
des Herz-Zeitvolumens (15 bis 20 Prozent) mit
entsprechenden hämodynamischen Konsequenzen.
1 Die Vorhofdilatation kann Ursache, aber
ebenso auch Folge des Vorhofflimmerns sein.
1 Ein derzeit asymptomatisches Vorhofflimmern kann im weiteren Verlauf relevante
klinische Probleme verursachen und dann nicht
mehr terminierbar sein.
Und schließlich:
1 Je kürzer Vorhofflimmern besteht, desto
leichter ist Sinusrhythmus erreichbar.
M E D I Z I N
EDITORIAL
Behandlung des
Grundleidens hat Priorität
Therapeutisch steht naturgemäß die Behandlung des Grundleidens an erster Stelle: zum
Beispiel Mitralklappenersatz, Ballondilatation,
aortokoronarer Bypass oder andere herzchirurgische Maßnahmen, thyreostatische Therapie,
Korrektur einer Elektrolytdysbalance und andere. Das Ziel einer medikamentösen Therapie
ist die Normalisierung der Kammerfrequenz
(Frequenzkontrolle) oder die Regularisierung
zu Sinusrhythmus (Rhythmisierung).
Nichtmedikamentöse Maßnahmen sind angezeigt bei therapieresistenter, arrhythmiebedingter Symptomatik. Indikationsbestimmend
ist eine (zunehmende) links-ventrikuläre Funktionseinschränkung.
Verschiedene nichtpharmakologische Behandlungsmöglichkeiten stehen zur Disposition,
wie der transthorakale Elektroschock, die AVKnoten-Ablation, die AV-Knoten-Modifikation
(Verzögerung der atrioventrikulären Überleitung ohne vollständige Blockierung derselben);
fernerhin ein elektrischer (antibradykarder)
Schrittmacher bei nicht regularisierbarer Bradyarrhythmia absoluta. Bei paroxysmalem Vorhofflimmern kommt der sogenannte „ModeSwitch“ in Frage, das heißt, die automatische,
frequenzregulierende Umschaltung des Schrittmachers auf eine andere Betriebsart bei Auftreten von Vorhofflimmern. Unter präventiven Gesichtspunkten: biatriale oder multifokale Stimulation sowie kardiochirurgische Maßnahmen
(von eher untergeordneter Bedeutung) und die
intraatriale Defibrillation oder der implantierbare, atriale Defibrillator.
Intraatriale Defibrillation
als Alternative
Als Alternative zu der seit 1963 bekannten
externen Elektroschockanwendung zeichnet
sich die intraatriale Defibrillation durch eine
höhere Effizienz bei niedriger Energieabgabe
und Entbehrlichkeit einer Kurznarkose aus. Die
konsequente Weiterentwicklung stellt der (automatische) implantierbare atriale Defibrillator
als Einzelsystem oder in Kombination mit einem ventrikulären Kardioverter/Defibrillator
dar. Für dieses System kommen Patienten mit
paroxysmalem oder persistierendem Vorhofflimmern in Betracht, welches gegenüber Medikamenten therapierefraktär ist und mit einer
Häufigkeit von etwa einmal pro Woche bis einmal alle drei Monate auftritt. Bisher wurden etwa 140 dieser Systeme implantiert; die ersten
Erfahrungen sind überaus ermutigend (zu diesem Thema berichten auch Jung und Mitarbeiter in dieser Ausgabe des Deutschen Ärzteblattes). Der klinische Stellenwert des implantierbaren atrialen Defibrillators bleibt jedoch abzuwarten, da noch einige Fragen offen sind, wie
die – offenbar sehr geringe – Gefahr der Induktion bedrohlicher Arrhythmien, die Patientenakzeptanz bei rezidivierenden Schockentladungen, die Langzeitantikoagulation und die Rezidivprophylaxe des Vorhofflimmerns. Von Nutzen sind beim atrialen Defibrillator jedoch die
sofortige antiarrhythmische Wirkung, die Kombination mit der Vorhofstimulation und die hämodynamische Verbesserung durch Beeinflussung der chronischen atrialen Dysfunktion (Remodelling).
Wesentlich für die Evaluation dieser therapeutischen Innovation ist naturgemäß eine allgemeine klinisch-wissenschaftliche Aufgeschlossenheit dem Neuen gegenüber, um erweiterte
therapeutische Möglichkeiten für den Patienten
entwickeln zu können.
Es kommt darauf an, das gesamte, nach dem
heutigen Kenntnisstand verfügbare therapeutische Armamentarium dem an Vorhofflimmern
leidenden Kranken nutzbar zu machen. Die rasante Entwicklung der vergangenen Jahre rechtfertigt zudem die Hoffnung, in absehbarer Zeit
von der symptomatischen Therapie zu einer kurativen Behandlung des Vorhofflimmerns zu gelangen.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1998; 95: A-1164–1165
[Heft 19]
Literatur
1. Gallagher MM, Camm AJ: Classification of atrial fibrillation.
PACE 1997; 20: 1603–1605.
2. Jung W, Lüderitz B: Implantation of an arrhythmia management system for patients with ventricular and supraventricular
tachyarrhythmias. Lancet 1997; 349: 853–854.
3. Lown B, Perloth MG, Kaidbey S, Abe T, Harken DE: Cardioversion of atrial fibrillation. A report on the treatment of 65
episodes in 50 patients. N Engl J Med 1963; 269: 325–331.
4. Lüderitz B: Herzrhythmusstörungen – Diagnostik und Therapie. Berlin, Heidelberg: Springer, 1998 (5. Auflage).
5. Steinbeck G: Medikamentöse Therapie von Vorhofflimmern.
Klinikarzt 1996; 10: 275–277.
Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. med. Berndt Lüderitz
Medizinische Universitätsklinik und Poliklinik
Sigmund-Freud-Straße 25
53105 Bonn
Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 19, 8. Mai 1998 (45) A-1165
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