e t h i k & p syc h i at r i e soziale psychiatrie 03/2012 Zwangsbehandlung in der forensischen Psychiatrie Anforderungen der Praxis P sychiatrie und Zwangsbehandlung sind unglücklicherweise als Begriffe genau so eng miteinander verknüpft wie sonntäglicher Kirchgang und Glockengeläut. Der Titel »Zwangsbehandlung in der forensischen Psychiatrie« erzeugt doppeltes Unbehagen, denn die forensische Psychiatrie selbst mit ihrem hermetisch geschlossenen Erscheinungsbild und der Besonderheit des zeitlich nicht befristeten Aufenthaltes in einer Psychiatrie ist gewissermaßen schon institutionalisierte Exemplifizierung des Zwangs. Insofern mag man mit Bruns (1986), der vom Zwang als »Konstituens psychiatrischen Vorgehens« spricht, die Frage stellen, ob der Titel nicht tautologisch gewählt ist. Zumindest aber darf man sich fragen, ob sich das Thema »Zwangsbehandlung in der forensischen Psychiatrie« von der »Zwangsbehandlung in der allgemeinen Psychiatrie« in psychiatrischer Hinsicht überhaupt unterscheidet, denn ein Teil derjenigen Krankheitsbilder, die in der allgemeinen Psychiatrie behandelt werden, finden sich auch in der forensischen Psychiatrie wieder. Wird also vom forensischen Psychiater eine Zwangsbehandlung herbeigesehnt, die der Allgemeinpsychiater nicht als indiziert ansehen würde? Darf sich der Sinn und Zweck einer medizinischen und damit wissenschaftlich begründeten Maßnahme unterscheiden in Abhängigkeit vom rechtlichen Status des Patienten? In der somatischen Medizin wäre es absurd, bei einem nicht vorbestraften, in Freiheit lebenden Bürger die Diagnose einer akuten Appendizitis (Blinddarmentzündung) mit entsprechender OP-Indikation zu stellen, dieselbe Diagnose mit derselben Therapieempfehlung aber einem wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilten Straftäter vorzuenthalten. Natürlich: Sowohl der eine als auch der andere können entscheiden, ob sie sich operieren lassen oder gegebenenfalls an einer eitrigen Bauchfellentzündung versterben möchten. Aber Diagnose und Therapiestandard wären unabhängig vom Freiheitsstatus des Patienten gleich. Was sollte also die Frage nach der Zwangsbehandlung in der forensischen Psychiatrie als Fragestellung an einen Psychiater für einen spezifischen Sinn ergeben? Foto: Wolfgang Schmidt Im April 2012 veranstalteten das Institut für Konfliktforschung e.V., Köln, und der Verein Deutsche Strafverteidiger e.V., Frankfurt am Main, ihr 41. gemeinsames Symposium. Unter dem Motto »Heilung erzwingen? Medizinische und psychologische Behandlung in Unfreiheit« diskutierten Juristen und Psychiater zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegen Zwangsmedikation. Ein Beitrag aus Sicht der forensischen Psychiatrie von N a h l a h Sa i m e h . Das Zitat von Haddenbrock (1972), demzufolge sich der psychisch Kranke »im Spannungsfeld zwischen seinem Subjektsein mit primären Grundrechten und seinem Objektsein« im Rahmen des fremdbestimmten Heilauftrages befindet, gilt für die forensische Psychiatrie mit ihren im Regelfall mehrjährigen ununterbrochenen stationären Aufenthalten ganz besonders. Und bekanntlich gibt es eine Reihe von Unterschieden zwischen Forensik und allgemeiner Psychiatrie: ■ »Eintrittskarte« in die Forensik ist nicht allein eine schwere psychische Krankheit oder Störung, sondern eine aus ihr resultierende gravierende Straftat. ■ Eintrittskarte ist ferner nicht nur die aus der Erkrankung resultierende Straftat, sondern die infolge der Erkrankung weiterhin bestehende Gefährlichkeit für die Allgemeinheit. ■ Die Gefährlichkeit wird zur zentralen Behandlungsindikation, die psychische Stabilisierung ist – im Hinblick auf die Rehabilitation und Entlassbarkeit – nur Mittel zur Erreichung der Reduktion von Gefährlichkeit. (Dennoch muss dem Arzt die gesundheitliche Besserung des Patienten am Herzen lie- gen, auch dann, wenn sie womöglich nicht zu einer durchgreifenden Reduktion von Gefährlichkeit führt.) ■ Die Behandlungsdauer liegt im Durchschnitt bei sieben Jahren, für Psychosepatienten zwar weit darunter, aber immer noch zwischen zwei und vier Jahren. ■ Weder über Zuweisung noch über Entlassung entscheiden Arzt und Patient in einem »informed consent«, sondern ein Gericht. ■ Über die Entlassung entscheidet nicht der reine Gesundheitszustand, sondern die Risikobeurteilung entlang kriminologischer Fakten. ■ Kostenträger der Behandlung ist der Steuerzahler, nicht die Krankenkasse. ■ Von daher gibt es eine gesellschaftliche Erwartung an die therapeutische Institution, nämlich den Schutz vor Rückfallstraftaten (nicht die Erwartung, dass Menschen in dem Krankenhaus wirklich geholfen würde). ■ Die forensische Psychiatrie ist noch weit mehr als die Allgemeinpsychiatrie mit ihren Hilfe- und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke eine Sicherheitsinstitution. ■ Das Diagnosespektrum der Forensik ist, wenn man es ein wenig vereinfacht, etwas 13 03/2012 soziale psychiatrie eingeschränkt: Vornehmlich finden sich schizophrene Menschen, intelligenzgeminderte Menschen oder Menschen mit schweren Impulskontroll- oder Persönlichkeitsstörungen bzw. sexuellen Paraphilien in der Forensik. Patienten mit Zwangsstörungen, Angststörungen, psychosomatischen Störungen, Depressionen, Anpassungsstörungen etc. finden sich im Regelfall nicht. e t h i k & p syc h i at r i e Insofern ist die Besonderheit der forensischen Psychiatrie, dass ein Patient, der der Behandlung bedarf, aber nicht behandelt wird, nicht nur seiner inneren Freiheit verlustig geht, sondern auch auf sehr lange Zeit mitunter der äußeren. Ich will mich im Folgenden ganz prägnant auf die Behandlung akuter und chronisch florider Psychosen beschränken, auch wenn das Thema Zwangsbehandlung eine Rolle spielt bei der Behandlung schwerer EssstöDas Zwangsdilemma rungen oder anderer schwerst selbstschädiDass ausgerechnet die Psychiatrie so eng gender Verhaltensweisen im Rahmen von verknüpft ist mit Zwangsmaßnahmen, ist Persönlichkeits- oder Impulskontrollstörundie große Tragik dieser Disziplin. Es besteht gen. Bei den in der Forensik untergebrachten ein Zwangsdilemma, denn die Psychiatrie be- Frauen finden wir dieses ansonsten der Fofasst sich – wiederum mehr als jede andere rensik eher ferne Problem nicht sehr selten. medizinische Disziplin – mit dem spezifi- Was ist also mit Zwangsbehandlung bei schen Menschsein, mit der Individualität sei- Anorexien, bei schwersten Selbstverstümner Person und den in dieser Person angeleg- melungen? Ich will nur die Frage stellen, hier ten Freiheiten der Weltaneignung. Psychisch aber den Fokus auf die Psychosen richten, krank zu sein bedeutet, in seinem individuel- weil daran – so denke ich – das eigentliche len Maß der Aneignung von Welt weit stär- Thema der Zwangsbehandlung klar wird. ker eingeschränkt zu sein, als es die eigenen Mit dem Freiheitsziel der Psychiatrie ist prämorbiden Möglichkeiten zulassen. Das das Paradoxon verknüpft, dass das Fach geravon einer tiefen Menschlichde mit Personen zu tun hat, die keit genährte Anliegen des infolge psychischer Krankhei»Der Kernauftrag der Psychiaters ist es, dem Menten in ihrer Urteilsfähigkeit Psychiatrie muss sich schen wieder zu seiner indiviund in ihren Handlungsentalso auf die Freiheit duellen freiheitlichen Ausei- des Menschen beziehen würfen unfrei geworden sind nandersetzung mit der Welt zu und infolge der Erkrankung und nicht auf den verhelfen. Der Kernauftrag der selbst diesen Verlust der FreiZwang« Psychiatrie muss sich also auf heit nicht wahrnehmen köndie Freiheit des Menschen benen, deren Bezugskoordinaten ziehen und nicht auf den Zwang. Egal ob fo- des Denkens und der Handlungsmotive so rensischer Psychiater oder nicht forensischer weit aus der Realität herausgeschoben sind, Psychiater: Wer die dramatischen Krank- dass ein weitgehender existenzieller Desinheitsbilder akut gequälter schizophrener Pa- tegrationszustand vorliegt. Aus diesem existienten kennt mit ihrem Zerfall der Denkpro- tenziellen Desintegrationszustand heraus zesse, ihrem bedrohlichen Erleben der eige- werden auch die Straftaten begangen und nen Auflösung, der wird Augenzeuge einer begriffen, denen sich die forensische Psyder schwersten Bedrohungen menschlicher chiatrie gegenübergestellt sieht. Freiheit. Gleiches gilt für die sich quälenden Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie – wahnhaft oder nihilistisch Depressiven, die und das gilt für die forensische Psychiatrie in ihrem sinnlich-affektiven Erleben durch wie für die allgemeine Psychiatrie gleichereine innere Wand von ihrer Lebendigkeit ge- maßen – müssen stets die absolute Ultima trennt sind. Schwere psychische Krankhei- Ratio bleiben. Darin sind sich auch der Lanten, jene, die in der kommunikativen desbeauftragte für den Maßregelvollzug Schnittmenge zwischen Strafrecht und Psy- Nordrhein-Westfalen (NRW) und die Direkchiatrie krankhafte seelische Störung ge- toren der Landschaftsverbände Rheinland nannt werden, sind menschliche Qualen, die und Westfalen-Lippe völlig einig. Sie haben Freiheit nehmen. Wer da nicht handeln die Möglichkeiten der Zwangsbehandlung in möchte, hat keine Mitmenschlichkeit. Von der forensischen Psychiatrie für das Land daher muss für den forensischen Psychiater, NRW schriftlich ausgeführt, und ich komme gerade wenn er sich dem Subjektsein seines später noch einmal darauf zurück. Patienten verpflichtet fühlt, die Gefahrenabwehr, die die Gesellschaft fordert, zwingend verknüpft sein mit der Wiedererlangung der Warum Zwangsbehandlung aus psychiatriFreiheit seines Patienten. Die erhebliche Ver- scher Sicht notwendig werden kann minderung von Gefährlichkeit bedeutet für Warum das Problem der Zwangsbehandlung den Patienten ein Zugewinn an Freiheit und so eng mit schizophrenen Psychosen verletztlich die Wiedererlangung der Freiheit in knüpft ist, lässt sich mit den Beschreibungen einem möglichst selbstbestimmten Leben. von Scharfetter (1986) gut veranschaulichen. 14 »Der Mensch«, so Scharfetter, »hat ein ihn begleitendes Wissen um sich selbst und seine Welt. Insofern er bewusst ist, kommt ihm die Endlichkeit und Unendlichkeit seiner Welt, seine Partizipationsmöglichkeiten daran und seine Partikularität darin als Einsicht zu und verweist ihn auf die seine individuelle Person weit überschreitende Dimensionalität des Geschehens, in dem er steht.« Im Tages-Wach-Bewusstsein, das vom Unterbewusstsein und vom Überbewusstsein (z.B. meditatives Bewusstsein, mystische Erfahrung) abgegrenzt ist, spielen Ich-Bewusstsein, Erfahrungsbewusstsein und Realitätsbewusstsein sowie die persönlichkeitsstrukturellen Eigenschaften eine Rolle. Die Psychopathologie, mit der sich der klinische Psychiater befasst, bezieht sich auf dieses Tages-Wach-Bewusstsein, und der so genannte »informed consent«, den ein Patient in eine medizinische Heilbehandlung geben kann, basiert auf jenen Bewusstseinsleistungen in diesem Tages-Wach-Bewusstsein. Um aber als Patient vernünftig in eine ärztliche Heilbehandlung einwilligen zu können oder aber mich auch ebenso begründet unter Gewichtung anderer, persönlicher Gesichtspunkte gegen die Maßnahme zu entscheiden, muss ich über ein intaktes IchBewusstsein verfügen. Mit Bezug auf Scharfetter (1986) besteht dies aus den »fünf Grunddimensionen Ich-Vitalität, Ich-Aktivität, Ich-Konsistenz, Ich-Demarkation und Ich-Identität«. Ein intaktes Ich-Bewusstsein bildet die Grundlage für das in der individuellen Persönlichkeitsausprägung entwickelte Selbstbild und die daraus resultierenden Eigenschaften wie »Besonnenheit, relative Freiheit und Autonomie« (Scharfetter 1986). Genau diese Grunddimensionen des IchBewusstseins sind aber in einer akuten (und auch mitunter chronifizierten) Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis tief greifend gestört. Typische Symptome wie Gedankenlautwerden, Stimmenhören in Form von kommentierenden oder adressierenden Stimmen, Leibhalluzinationen, Depersonalisations- oder Derealisationserleben, Gefühle des Gelenktwerdens, der Gedankenbeeinflussung, Gedankenausbreitung oder Gedankeneingebung sowie wahnhafte Denkinhalte verhindern bei dem Erkrankten, dass er eine Entscheidung treffen kann – ob für oder gegen eine Behandlung oder für oder gegen Teile der Behandlung sei da ganz einerlei. Solche Zustände sind nicht freie Wahl, sondern der Verlust von Fähigkeiten durch eine nicht autokurativ verlaufende Krankheit. Der betroffene Patient kann in dem Zustand nicht entscheiden, ob er Behandlung braucht und ob er eine Behandlung will. Er kann soziale psychiatrie 03/2012 man Fotografien von chronisch schizophrenen Menschen über die Jahrzehnte betrachtet und ihre physiognomische Veränderung dokumentiert, wird deutlich, dass hier etwas stattfindet, das nicht dem Motto »Älter werden wir alle« folgt, sondern dass ein Raubbau an einer Persönlichkeit stattfindet. Bei schweren Demenzen begreifen die meisten Menschen, dass der Zerfall eine Krankheit ist und nicht ein Konzept anarchischen Seniorentums. Warum tun wir uns bei den Psychosen so schwer, das einzusehen? Ärzte sind nicht dazu da, patriarchal über die Lebensgeschicke anderer Menschen zu entscheiden. Dazu waren sie nie da, und es ist gut, dass diese missbräuchlich autoritätsvolle Berufsattitüde immer mehr der Vergangenheit angehört. Jeder Mensch hat auch das Recht, sich für oder gegen Behandlungen und für oder gegen Heilungschancen zu entscheiden. Ärzte haben kein Anrecht darauf, sich, nur weil sie im Besitz eines sehr spezifischen Fachwissens sind, darüber hinwegzusetzen. Psychiater sind aber zumindest dazu da, Menschen, die aufgrund jener desintegrierten Zustände in eine völlige Hilf- und Ratlosigkeit verfallen sind, daraus zu befreien, so gut dies eben möglich ist. Nutzt der Patient seine wiedergewonnene Urteilskraft dazu, sich gegen die Hilfe zu entscheiden, so muss dies respektiert werden. Zunächst einmal ist das Ziel das »shared decision making« (Lambert et al. 2011). Dabei wird die mangelnde Krankheitseinsicht zu Beginn der Behandlung mit 40 bis 60 Prozent angegeben (Lambert et al. 2011). Im Grunde muss man sie als gewissermaßen fast natürlichen Bestandteil der Akutsymptomatik begreifen. Dabei ist bekannt, dass eine möglichst kurze Zeit der unbehandelten Symptomatik ein Ansprechen auf antipsychotische Behandlung verbessert. Unbehandelte Psychosen haben hingegen ein deutlich höheres Risiko für unvollständige Remission bzw. Therapieresistenz. Enthält man dem Patienten also eine Behandlung medizinisch-fahrlässiger Weise länger vor, so sinken seine Genesungschancen deutlich. Für schizophrene Patienten in der forensischen Psychiatrie stellt sich die Situation noch weitreichender dar. Sie sind neben Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen und Menschen mit Intelligenzminderung oder organischen Störungen die dritte große Patientengruppe der forensischen Psychiatrie, und sie entwickeln sich zur Hauptzielgruppe forensifizierter Patienten. Gerade für sie gilt, dass sie zumeist in die forensische Psychiatrie gekommen sind, weil sie im Vorfeld nur unzureichend in ein stabiles therapeutisches Bündnis eingebunden waren. Sie sind also in allererster Linie nicht nur selbst Täter, sondern sie sind gleichermaßen Opfer ihrer Erkrankung und der bis zur ihrer Straffälligkeit nicht konsequent abgewendeten sozialen Negativfolgen. Wenn man es böse zugespitzt formuliert, sind sie zuweilen Opfer einer fahrlässigen Unterlassung von Zwangsbehandlung. Man muss sich sogar fragen, ob die Zustimmung zur Behandlung eines akuten Psychotikers womöglich auch dann gar nicht wirklich gegeben ist, wenn er »einwilligt«. Es ist ein wenig seltsam, als Arzt zu behaupten, wenn der Patient meiner Meinung ist, dann ist er noch nicht so krank, aber wenn er sich sperrt, dann bedarf er der Korrektur. Wer Stimmen hört und sich beeinflusst fühlt und dies für Gewissheit hält, also keine Teil-Distanzierung von dem Erleben mehr möglich ist, ist letztlich nur noch fraglich einwilligungsfähig. Gerade die schizophrenen Patienten der Forensik vereinen klassische Risikofaktoren für ungünstige Behandlungsverläufe auf sich (vgl. Zahlen bei Piontek/Kutscher 2010): – lange unbehandelte Erkrankungsdauer; – ungünstiges soziales Funktionsniveau vor der Zuweisung; – Suchterkrankung als Sekundärdiagnose (drei- bis sechsfach erhöht für Alkohol respektive Drogen); – Behandlungsabbrüche in der Vorgeschichte, ungünstige Pharmakotherapie-Compliance (Forensikpatienten 26,8 Prozent versus Allgemeinpsychiatrie-Patienten 45 Prozent compliant); – schwieriges therapeutisches Bündnis (86,8 Prozent versus 56,2 Prozent); – frühes Ersterkrankungsalter mit Risiko der sekundär dissozial-randständigen Fehlentwicklung; Fotos S. 15/17 aus: Schwaiger u.a.: Narziss im Steinbruch, Bonn 2011 e t h i k & p syc h i at r i e nicht einmal erkennen, dass er eine Behandlung benötigt, weil er krank ist. Es ist ein Gebot ethischen Handelns, diesem Patienten, der sein Recht auf Behandlung nicht einfordern kann, die Behandlung angedeihen zu lassen. Eine solche Behandlung kann im Einzelfall auch zu dem Ergebnis führen, dass sich der Patient dann später gegen ihre Fortsetzung entscheidet. Der Mensch hat ein Anrecht darauf, unvernünftige Entscheidungen zu treffen. Das gilt für schizophren und nicht schizophren Erkrankte, es gilt für Psychiater und andere Menschen. Schizophrene Psychosen haben erhebliche psychosoziale Konsequenzen für die Betroffenen, mit denen sie krankheitsbedingt und unverschuldet – also eben nicht aus freier Wahl heraus – konfrontiert sind. Neben den mitunter sehr quälenden, Angst auslösenden Positivsymptomen kommen die Negativsymptome mit Affektverflachung, Anhedonie, Interessenverlust, Verflachung des motivationalen Spannungsbogens und konsekutiv soziale Folgen wie Abbruch des Bildungs- und Ausbildungsweges, Arbeitsplatzverlust, Herausfallen aus dem beruflichen Bezugssystem, familiäre Probleme, Obdachlosigkeit, sekundäre Suchterkrankungen und erhöhtes Suizidrisiko hinzu. Anders als bei der Orientierung an einem kriminellen Lebenskonzept, das arm an Verpflichtungen und Verbindlichkeiten ist, dafür aber reich an hedonistischer Augenblicksverhaftung, handelt es sich bei den negativen sozialen Folgen für schizophrene Menschen um Auswirkungen einer Krankheit und nicht um alternative Lebenskonzepte, die man mehr oder weniger gutheißen mag. Eine schwere psychische Krankheit ist eben kein Label. Es ist ein Zerfallsprozess. Wenn 15 03/2012 soziale psychiatrie Kinderbuch zu Sterben und Trauer Isabel Schneider (Text), Martina Schneider-Hartmann (Illustr.) Feli und Matze im Land der Kinderseelen Eine Geschichte über den Kreislauf des Lebens Wendebuch, gebunden, vierfarbig illustriert, 60 S., 16,90 Euro, ISBN 978-3-86321-014-4 Schon sehr junge Kinder wollen wissen, „wo wir herkommen“ oder „wo wir hingehen, wenn unser Körper stirbt“. Mit viel Lust am Fabulieren findet Isabel Schneider anrührende und lustige Antworten auf diese Fragen: Die Kinderseelen Feli und Matze haben sich dazu entschlossen, die Reise auf die Erde anzutreten, um dort ein Leben zu verbringen. Aber so einfach ist das nicht, denn vorher müssen beide dafür ausgerüstet werden ... Das in zwei Richtungen zu lesende Wendebuch nähert sich den Themen Sterben und Trauer mit liebevollen Illustrationen, Leichtigkeit und Freude. Dieselbe Geschichte wird einmal mit einem Jungen und einmal mit einem Mädchen in der Hauptrolle erzählt. Eine einzigartige Unterstützung für die therapeutische Arbeit. [email protected] www.mabuse-verlag.de www.facebook.com/ mabuseverlag 16 e t h i k & p syc h i at r i e – mehr Vorstrafen vor Einweisung in die Fo- nen der allgemeinen Psychiatrie auf gefährrensik, vor allem Körperverletzungsdelik- liches oder auch bedrohliches Verhalten akut te. Schizophrener – um es neutral zu sagen – Die Forensifizierung schizophrener Patien- sensibler geworden sind und die Forensik often ist die wohl nachhaltigste soziale Nega- fenbar zum Spezialisten wird für sozial auftivkonsequenz der Erkrankung selbst. An ei- fälliges, Angst erzeugendes Verhalten und nem erhöhten Risiko für Gewalttaten infolge Krankheit. einer Schizophrenie gibt es keinen Zweifel. Das relative Risiko für die Begehung von Tötungsdelikten liegt bei Schizophrenen ohne Wann Zwangsbehandlung? Suchtmittelmissbrauch bei 7 bis 10,1 (Schan- Der Beschluss des Zweiten Senats des Bunda 2011; Nedopil 2007), bei jenen mit Sub- desverfassungsgerichts (BVerfG) vom 23.3. stanzkonsum bei 28,8 und damit vergleich- 2011 (2 BvR 882/09), demzufolge die Zwangsbar hoch mit Persönlichkeitsstörungen (Ne- behandlung mit Antipsychotika bei behanddopil 2007; Schanda 2011). Das Risiko für Ge- lungsunwilligen, krankheitsuneinsichtigen walttätigkeit steigt bei schizophrenen Frau- Patienten im psychiatrischen Maßregelvollen mit Suchtmittelkonsum noch stärker als zug als schwerwiegender Eingriff in das bei Männern. Hier wiederum überwiegen Grundrecht aus Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgenau jene Patienten, die sich im Vorfeld gesetz (GG) angesehen wird, ist auch aus eben besonders schlecht in eine integrierte psychiatrischer Sicht zu begrüßen. BesonBehandlung aus ambulanten und stationä- ders wird auch auf das Freiheitsinteresse des Untergebrachten abgezielt, zu dessen Erreiren Hilfen haben einbetten lassen. Bei den Taten handelt es sich häufig um chung der Einsichtsfähigkeit vorübergehend schwerwiegende Körperverletzungsdelikte eine Zwangsbehandlung erforderlich sein und vor allem auch um Tötungsdelikte zum kann. Die Deutsche Gesellschaft für PsychiaNachteil entweder naher Verwandten (nicht selten eines Elternteils) oder auch um wahn- trie, Psychotherapie und Nervenheilkunde haft besetzte Zufallsopfer. Typisch sind rap- (DGPPN) hat die Stärkung des Patientenwiltusartige, impulsive Handlungen mit einem lens und der Patientenautonomie ausdrückÜbermaß an Gewalttätigkeit gemäß dem lich begrüßt. Ich denke vielmehr, dass sogar Threat/Control-Override-Konzept oder aber die Institution forensische Psychiatrie, die geplante Delikte vor dem Hintergrund eines den schlechten Ruf der Zwangsbehandlungsanstalt genießt, letztlich systematisierten Wahnsys»Die Forensifizierung sogar in ihrem Ansehen und tems (vgl. Kalus 2011, Nedopil 2007). Mitunter eher sozial schizophrener Patienten Auftrag geschützt wird. Dass allerdings der Schutz Dritter vor lästig erscheinende Taten, die ist die wohl nachgefährlichen Straftaten durch durchaus die Frage aufwerhaltigste soziale die Unterbringung selbst abgefen lassen, ob hier die ErhebNegativkonsequenz wendet werden kann, greift etlichkeitsschwelle zur Einweider Erkrankung was kurz, denn auch Kliniken sung in die Forensik nicht selbst« selbst können Tatorte werden. verfehlt wurde, werden im Zuge der sozialen Verwahrlosung und Ent- Personal kann von Patienten angegriffen differenzierung der Persönlichkeit began- und geschädigt werden. Unbehandelte Pagen. Oftmals sind dies dann einfache Körper- tienten können somit unverschuldet einer verletzungsdelikte, Beleidigungen und ag- längeren, nicht eben menschenwürdigeren gressiv-unheimlich anmutende Pöbeleien Isolation in so genannten besonders gesiund nicht zuletzt eine manchmal beträchtli- cherten Unterbringungsräumen unterzogen werden. Auch eine Fixierung stellt eine sehr che Zahl an Ladendiebstählen. Anders als Menschen mit Persönlichkeits- eingreifende und potenziell durchaus als störungen jedoch zeigen behandelte schizo- entwürdigend zu empfindende Maßnahme phrene Menschen die geringste Rückfallrate dar, die vor allem die Krankheit als Ursache bei Gewalttaten, profitieren also sowohl psy- der aktuellen Krisensituation nicht kuriert. chopathologisch als auch sozial am meisten Die DGPPN weist ausdrücklich darauf hin, und am nachhaltigsten von der forensischen dass die meisten schizophrenen Patienten Psychiatrie. Sie nicht zu behandeln bedeutet, die von ihnen ausgehende Gewalttätigkeit sie um ihre Zukunftschancen als Bürger in zu einem späteren Zeitpunkt durch die BeFreiheit zu bringen. Umso schwerer wiegt, handlung als wesensfremd, als ihnen nicht dass genau jene insgesamt gut zu behan- gemäß, beurteilt und erkennen kann. In der delnde Patientengruppe seit Jahren zuneh- Akutphase selbst kann der Patient die ihm mend forensifiziert wird. Schanda (2011) zustehende Hilfe nicht einfordern. Wird ihm weist auf ein komplexes Gemenge von Ursa- die Hilfe nur in der Akutphase zuteil und verchen hin und verweigert eine monokausale schlechtert der Zustand sich nach Abklingen Begründung. Sicher ist aber, dass die Reaktio- der Akutmedikation wieder, gibt es eine e t h i k & p syc h i at r i e soziale psychiatrie 03/2012 fachlich unsinnige Schiffschaukelbewegung medizinischer Maßnahmen, in der letztlich dem Patienten eine Heilbehandlung vorenthalten wird. Es ist völlig unverständlich, dass die Zwangsbehandlung als schwerer Eingriff in das Grundrecht aus Artikel 2 GG gesehen wird, die Fixierung oder die Isolation aber als alternative Mittel favorisiert werden. Bei allem Respekt: Wer das so sieht, hat keine Ahnung. Es wäre so, als ob man mit einem eitrigen Zahn zum Zahnarzt ginge und der einen auf dem Behandlungsstuhl festschnallt und dann nach Hause geht. Der behandelnde die eine Zwangsbehandlung nach dem § 17 Abs. 3, 5 MRVG NW rechtfertigen, gelten nur jene, die bei Lebensgefahr, schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit des Patienten oder für die Gesundheit anderer Personen vorgenommen werden. Als Beispiele für Lebensgefahr gelten jene Störungen, durch die der Tod unmittelbar eintreten kann oder aber durch die eine Schädigung mit potenziell tödlicher Wirkung gesetzt wird, also im Wesentlichen suizidale Krisen. Ferner besteht eine Erlaubnis zur Zwangsbehandlung bei schwerwiegen- Arzt muss medizinischer Anwalt des Patienten sein dürfen, solange der Patient nicht selbst entscheiden kann. Scharf kritisiert die DGPPN, dass Ärzte gegebenenfalls somit zur unterlassenen Hilfeleistung gezwungen werden könnten. Das Urteil des BVerfG hat auf das Maßregelvollzugsgesetz Nordrhein-Westfalen (MRVG NW) keine Auswirkungen. Es besteht unverändert die Möglichkeit, bei akuter Fremd- und Eigengefährdung notfallmäßig auch gegen den Willen des Patienten zu medizieren. Es hat aber in Nordrhein-Westfalen nie die Möglichkeit bestanden, chronisch kranke Schizophrene gegen ihren Willen zwangsweise zu behandeln, um damit zum Beispiel dem Zweck der Maßregel der Wiedereingliederung in die Gesellschaft nachkommen zu können. Mir ist wichtig, dass wir in der forensischen Psychiatrie beim Thema Zwang nur über zwei Aspekte reden können: Der Landesbeauftragte für den Maßregelvollzug hat zusammen mit den Direktoren der beiden Landschaftsverbände ausgeführt, wann Ärzte in der forensischen Psychiatrie zwangsweise behandeln dürfen. Als Tatbestände, der anderer gesundheitlicher Schädigung mit bleibenden Schäden. So erinnere ich mich an einen Patienten, der sich im Rahmen seiner Psychose mit der Hand ein Auge enukleiert hatte und dies am anderen Auge auch versuchte. Schwere aggressive Übergriffe gegen Dritte können ebenfalls als Anlass zur Zwangsmedikation gewertet werden. schädigenden Verhaltensweisen infolge eines psychopathologischen Krankheitsbildes, das eben genau jene freiheitliche Willensbildung verunmöglicht. Es würde jetzt zu weit führen, die Diskussion auf die verzerrten Körperschemata von Anorektikerinnen auszudehnen, aber auch sie haben ab einer gewissen Schwere der Erkrankung keine mentale Überstiegsfähigkeit mehr. Auch sie können gewissermaßen intellektuell nicht mehr auf das andere Ufer der Meinungsbildung schwimmen. Würde man in der Forensik auf jede Form der Zwangsbehandlung schizophrener Menschen verzichten, würde die Forensik zur reinen Verwahrpsychiatrie des 18. Jahrhunderts verkommen. Ethisch ist das nicht. Für die Menschenwürde bedeutet es ein Hohn. Faktisch hat die Zwangsbehandlung in unserer Klinik kaum eine Bedeutung. In den letzten fünf Jahren gab es einen einzigen Patienten in der Abteilung II – Klinische Psychiatrie – am LWL-Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt, der zwangsmediziert worden ist. Im Regelfall gelingt es mit sehr viel Geduld, die Patienten dann doch dazu zu bewegen, die Medikation zu akzeptieren, und nicht selten erkennen die Patienten dann später, dass sie gut daran getan haben, sich auf die Behandlung einzulassen und dem Arzt einen gewissen Vertrauensvorschuss zu geben. Dennoch: Wer sich als Patient im psychopathologischen Zustand des »informed decision making« gegen eine Weiterbehandlung entscheidet, der hat ein Anrecht auf das Absetzen der Medikation. Einschränkend muss für die Forensik gelten: Die Zunahme von Gefährlichkeit, die zu einer dauerhaften Isolation führen würde, muss ein Grund für die Medikation sein. Ich frage mich gegenwärtig, ob man nicht auch eine Patientenverfügung zur Sicherstellung einer Zwangsbehandlung aufsetzen könnte und dies für einige Patienten im Ernstfall wirklich segensreich wäre. Patientenverfügungen dienen ja nicht nur dazu, sich vor Ärzten zu schützen, sondern sie könnten auch dazu dienen, sich im Falle eines Falles gegen eigene, krankheitsbedingte Unsinnigkeiten abzusichern. ■ Wann muss die Zwangsbehandlung ein Ende haben? Wenn ein Patient infolge der Medikation in einen Zustand der Reflexionsfähigkeit gelangt, in dem er selbst eine Entscheidung treffen kann für oder gegen ein Leben in der akuten Krankheit, dann muss diese Entscheidung des Patienten auch vom Psychiater respektiert werden, sofern der Patient nicht dadurch in eine Situation kommt, in der er krankheitsbedingt – und nicht bilanzierungsbedingt – sich oder andere schädigt. Im konkreten Fall würde dies für die forensische Psychiatrie auch bedeuten, ihren Auftrag der Rehabilitation zurückstellen zu müssen. Entscheidend sind die selbst- oder fremd- Dr. med. Nahlah Saimeh, Psychiaterin, ist Chefärztin am LWL-Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt. Bei dem Beitrag handelt es sich um eine bearbeitete Fassung ihres Referats auf oben genannter Veranstaltung. E-Mail-Kontakt: [email protected] Literatur bei der Verfasserin. Hinweis: Zur Dokumentation des Symposiums siehe www.konfliktforscher.de 17