Zwangsbehandlung nach § 1906 BGB in der psychiatrischen Praxis

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Zwangsbehandlung nach § 1906 BGB
in der psychiatrischen Praxis
Prof. Dr. med. Markus Jäger
Geschäftsführender Oberarzt
Klinik für Psychiatrie und
Psychotherapie II der Universität
Ulm, Bezirkskrankenhaus Günzburg
• Ethische Vorbemerkungen und Diskussion um
das BGH-Urteil von 2012
• Psychopharmaka in der Psychiatrie
• Aktuelle Gesetzeslage und praktische Probleme
• Zusammenfassung und Ausblick
Was ist Psychiatrie ?
Psychiatrie ist ein Teilgebiet der Medizin
Medizin ist eine Erfahrungswissenschaft
Medizin ist wissenschaftlich betriebene Heilkunde
Grundlagen der Medizinethik
Anwendung der auch sonst in der Gesellschaft
handlungsleitenden Prinzipien auf die ärztliche Ethik
Grundlagen der Medizinethik
Anwendung der auch sonst in der Gesellschaft
handlungsleitenden Prinzipien auf die ärztliche Ethik
Prinzipen in der amerikanische Medizinethik
1.
2.
3.
4.
Selbstbestimmung („autonomy“)
Nicht-Schaden („nonemaleficience“)
Fürsorge („beneficience“)
Fairness („justice“)
Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie
Patientenautonomie
Fürsorge
Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie
Patientenautonomie
Fürsorge
Entscheidungen der Gesellschaft
Kodifizierung im Gesetzestext und
höchstrichterlichen Entscheidungen
Probleme für den Arzt
Körperverletzung
Unterlassene Hilfeleistung
Freiheitsberaubung
Fahrlässige Tötung
Urteil des BGH vom 20.06.2012
„Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts zur Zwangsbehandlung im
Maßregelvollzug (…) fehlt es gegenwärtig an einer den
verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden
gesetzlichen Grundlage für eine betreuungsrechtliche
Zwangsbehandlung (…).
Deshalb darf der Betreuer derzeit auch im Rahmen einer
geschlossenen Unterbringung keine Zwangsbehandlung
veranlassen“.
XII ZB 99/12
Probleme mit dem BGH-Urteil
• Zwangseinweisung und Unterbringung weiterhin erlaubt
und praktiziert
• „Verwahrung“ von psychisch kranken Menschen in
Institutionen ohne wirksame Therapie
• Verlängerung der Unterbringungsdauer durch Verzicht
auf wirksame Therapie
• Fokus auf die Nebenwirkungen einer antipsychotischen
Pharmakotherapie
Memorandum der psychiatrischen Fachgesellschaft
DGPPN vom 18.10.2012
• Begrüßung einer Stärkung der Patientenautonomie
• Hinweis auf Einschränkung der Willensfreiheit durch
psychische Erkrankung
• Zwangsbehandlung in seltene Fällen als Mittel, um bei
Patienten wieder eine freie Willensentscheidung zu
ermöglichen
• Forderung nach einer raschen gesetzlichen Regelung
für die Zwangsbehandlung als ultima ratio
Gegenpositionen zur DGPPN
offener Brief an das BMJ
• keine Notwendigkeit einer Zwangsbehandlung;
Forderung eines Verzichtes auf eine gesetzliche
Regelung
• Behandlungsbereitschaft kann immer durch
„geduldiges Verhandeln“ erreicht werden
• Möglicherweise Verlängerung der stationären
Behandlungszeiten durch Verzicht auf
Zwangsbehandlung
• Ethische Vorbemerkungen und Diskussion um
das BGH-Urteil von 2012
• Psychopharmaka in der Psychiatrie
• Aktuelle Gesetzeslage und praktische Probleme
• Zusammenfassung und Ausblick
Geschichte der Antipsychotika (Neuroleptika)
• 1952: Chlorpromazin
• 1958: Haloperidol
• 1972: Clozapin
• 2004: Aripiprazol
Behandlung schizophrener Psychosen vor 1950
Behandlung schizophrener Psychosen vor 1950
Behandlung schizophrener Psychosen vor 1950
Aktuelle evidenzbasierte Behandlungsleitlinien für
die Schizophrenie
• Psychopharmakologische Therapie (Antipsychotika)
als Basis jedes Gesamtbehandlungskonzeptes
• Kombination mit der kognitiven Verhaltenstherapie
Psychopharmakologie vs. Psychotherapie
„schlechte Psychiatrie“ vs. „gute Psychiatrie“
Nebenwirkungen
Keine Nebenwirkungen
Lobby der Pharmaindustrie
Keine Lobbyinteressen
Symptombehandlung
Lösung der ursächlichen
Konflikte
Wirksam
Unwirksam
Psychopharmakologie vs. Psychotherapie
„schlechte Psychiatrie“ vs. „gute Psychiatrie“
Nebenwirkungen
Keine Nebenwirkungen
Lobby der Pharmaindustrie
Keine Lobbyinteressen
Symptombehandlung
Lösung der ursächlichen
Konflikte
Wirksam
Unwirksam
?
• Ethische Vorbemerkungen und Diskussion um
das BGH-Urteil von 2012
• Psychopharmaka in der Psychiatrie
• Aktuelle Gesetzeslage und praktische Probleme
• Zusammenfassung und Ausblick
Rechtsgrundlagen seit 2013
• § 1906 BGB (materielles Recht)
• § 321 FamFG (Verfahrensrecht)
Materielle Voraussetzungen der Zwangsbehandlung
(§ 1906 BGB)
(1) Eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit
Freiheitsentziehung verbunden ist, ist nur zulässig, solange sie zum
Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil
1. auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen
Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst
tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt, oder
2.
zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen
Schadens eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine
Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist, ohne die
Unterbringung des Betreuten nicht durchgeführt werden kann und der
Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder
seelischen Behinderung die Notwendigkeit der Unterbringung nicht
erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann.
Materielle Voraussetzungen der Zwangsbehandlung
(§ 1906 BGB)
Widerspricht eine ärztliche Maßnahme nach Absatz 1 Nummer 2 dem
natürlichen Willen des Betreuten (ärztliche Zwangsmaßnahme), so
kann der Betreuer in sie nur einwilligen, wenn
1. der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer
geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der
ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht
handeln kann,
2. zuvor versucht wurde, den Betreuten von der Notwendigkeit der
ärztlichen Maßnahme zu überzeugen,
3. die ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen der Unterbringung nach
Absatz 1 zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, um einen
drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden,
4. der erhebliche gesundheitliche Schaden durch keine andere dem
Betreuten zumutbare Maßnahme abgewendet werden kann und
5. der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme die zu
erwartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegt.
Bestellung eines Sachverständigen (§ 321 FamFG)
„Vor einer Unterbringungsmaßnahme hat eine förmliche
Beweisaufnahme durch Einholung eines Gutachtens über
die Notwendigkeit der Maßnahme stattzufinden. Der
Sachverständige hat den Betroffenen vor der Erstattung
des Gutachtens persönlich zu untersuchen oder zu
befragen. Das Gutachten soll sich auch auf die
voraussichtliche Dauer der Unterbringung erstrecken. Der
Sachverständige soll Arzt für Psychiatrie sein; er muss
Arzt mit Erfahrung auf dem Gebiet der Psychiatrie sein.
Bei der Genehmigung einer Einwilligung in eine ärztliche
Zwangsmaßnahme oder bei deren Anordnung soll der
Sachverständige nicht der zwangsbehandelnde Arzt
sein“.
Bisherige Erfahrungen mit der Gesetzesänderung
• Anwendung des neues Rechtes bisher eher selten nötig
• Anwendung fast ausschließlich bei Menschen mit
schizophrenen Psychosen
• In diesen Fällen jedoch drastische Verlängerung der
stationären Aufenthaltsdauer (u.a. Verfahrensdauer)
• Unstimmigkeit mit externen Sachverständigen
• Rechtsunsicherheit in der Notfallbehandlung
• Delir, Prädelir, Demenz, Depression: meist Einigung
hinsichtlich der Therapie
• Manie: Einigung oft durch „geduldiges Verhandeln“
möglich, häufig spontanes Abklingen der Phase
• Persönlichkeitsstörungen: kaum evidenzbasierte
Pharmakotherapie
• Schizophrenie (insbesondere paranoiden Formen):
gelegentlich wahnkonsequentes Ablehnen der
Therapie, dann definitionsgemäß kein „Verhandeln“
möglich
Stichtagserhebung am 4.11.2013
im BKH Günzburg
• Anzahl an stationären Patienten: 325
• Anzahl an Unterbringungen nach § 1906 BGB: 38
• Anzahl an beantragten/ durchgeführten
Zwangsmedikationen: 1
Unterbringung vs. Zwangsbehandlung
• Verlängerung der Unterbringung aufgrund einer nicht
erfolgten Behandlung, evt. Notwendigkeit eines
psychiatrischen Pflegeheims
(Freiheit vs. körperliche Unversehrtheit)
• Verlängerung der Krankenhausbehandlung durch
Verfahrensdauer zur Genehmigung der
Zwangsbehandlung
Prinzipen in der amerikanische Medizinethik
1.
2.
3.
4.
Selbstbestimmung („autonomy“)
Nicht-Schaden („nonemaleficience“)
Fürsorge („beneficience“)
Fairness („justice“)
Prinzipen in der amerikanische Medizinethik
1.
2.
3.
4.
Selbstbestimmung („autonomy“)
Nicht-Schaden („nonemaleficience“)
Fürsorge („beneficience“)
Fairness („justice“)
Deutschland: im internationalen Vergleich weit
überdurchschnittlich lange psychiatrische
Krankenhausbehandlung
Politisches Ziel: Verkürzung der Krankenhausverweildauer
Prüfung durch die Kassen, Einführung von Fallpauschalen
Betreuungsrecht vs. Sozialgesetzbuch
§ 1906 BGB
Genehmigung der
Unterbringung und
Zwangsbehandlung
§ 39 SGB V
Voraussetzungen
der Krankenhausbehandlung
Probleme mit externen Sachverständigen
• Verantwortung für die Therapie ausschließlich beim
behandelnden Arzt (insbesondere straf- und
sozialrechtlich)
• Möglicher Konflikt: vom externen Sachverständigen
vorgeschlagene und vom Gericht genehmigte
Medikation entspricht nicht den Vorstellungen des
Behandlers
• Verlängerung des Krankenhausaufenthaltes durch
verspätete Gutachtenserstattung bzw. nicht adäquaten
Therapievorschlag
Probleme der Notfallbehandlung
Unmittelbar zu befürchtende bzw. bereits eingetretene
Selbstoder
Fremdaggression
mit
massiven
Gefährdungsmomenten
§ 34 StGB („rechtfertigender Notstand“)
ausreichende Handlungsgrundlage?
als
Diskussion um den „rechtfertigenden Notstand“
• Unsicherheit aufgrund der Neuregelung der
Zwangsbehandlung
• Zunehmenden Aggressionspotentials auf beschützenden Stationen mit Gefährdung von Mitarbeitern,
Patienten und Besuchern
• Sicherungsmaßnahmen der Vor-Neuroleptika-Ära sind
nicht mehr verfügbar („Zwangsjacke und Gummizelle“)
• Im Notarztdienst bei psychiatrischen Patienten mit
erheblichen Aggressionspotential weiterhin
„großzügige“ Gabe von Psychopharmaka (meist i.v.)
Zwangsbehandlung bei Fremdgefährdung
• Fremdgefährdung keine Grundlage zur Anwendung
von § 1906 BGB
• Anwendung der landesrechtlichen Unterbringungsgesetze?
Grenzen des „Verhandelns“ über die Behandlung
• Wahnkonsequentes Verhalten
• Begrenztes Zeitbudget für den einzelnen Patienten
- Drastische Zunahme der Fallzahl bzw. Senkung der
Verweildauer
- Zunahme von administrativen und „kommunikativen“
und „koordinierenden“ Aufgaben im Krankenhaus
(Dokumentation, Kontakt Vor- und Nachbehandler,
Angehörigen, Betreuer, evt. Verfahrenspfleger etc.)
• Zunehmende kritische Haltung gegenüber der Psychiatrie bei
gleichzeitig zunehmender Inanspruchnahme deren Leistungen
Was können wir den Patienten bei
„Verhandlungen“ über die Therapie als
„Gegenleistung“ anbieten?
Umgang mit Patientenverfügungen
• Freie Willensentscheidung zum Zeitpunkt der Erstellen der
Patientenverfügung ?
• Vorgehen in Notfallsituationen ?
Nicht-medikamentöse Zwangsbehandlungen
• Psychotherapeutische Interventionen ?
• Behandlung somatischer Begleiterkrankungen
Vermeidung durch Zwangsbehandlung durch strukturelle
bzw. institutionelle Verbesserungen
Vorschläge der Bundesärztekammer (Ethikkomission)
• Deeskalationstraining für Mitarbeiter
• Konzept der offenen Türen von Akutstationen
• Psychoedukation
• Regionale Hilfesysteme
• Home Treatment
• Bessere Personalausstattung
• Leitlinienorientierung
• Patientenverfügungen
Vermeidung durch Zwangsbehandlung durch strukturelle
bzw. institutionelle Verbesserungen
Vorschläge der Bundesärztekammer (Ethikkomission)
• Deeskalationstraining für Mitarbeiter
• Konzept der offenen Türen von Akutstationen
• Psychoedukation
• Regionale Hilfesysteme
• Home Treatment
• Bessere Personalausstattung
• Leitlinienorientierung
• Patientenverfügungen
?
• Ethische Vorbemerkungen und Diskussion um
das BGH-Urteil von 2012
• Psychopharmaka in der Psychiatrie
• Aktuelle Gesetzeslage und praktische Probleme
• Zusammenfassung und Ausblick
Grundlagen der Medizinethik
Anwendung der auch sonst in der Gesellschaft
handlungsleitenden Prinzipien auf die ärztliche Ethik
Prinzipen in der amerikanische Medizinethik
1.
2.
3.
4.
Selbstbestimmung („autonomy“)
Nicht-Schaden („nonemaleficience“)
Fürsorge („beneficience“)
Fairness („justice“)
Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie
Patientenautonomie
Fürsorge
• Problem vorwiegend (oder fast ausschließlich) bei
schizophrenen Psychosen
• Abwägung von ethischen Prinzipen
• Deutliche Verlängerung der stationären Behandlungsdauer
durch neue Gesetzesregelung
• Ungelöstes Problem der Notfallbehandlung
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