MIKROCHIRURGISCHE THERAPIE DER DIABETISCHEN RETINOPATHIE Korrektes Management verhindert invalidisierende Visusverschlechterung Fluoreszenzangiographie und Lasertherapie als Basis für Abklärung und Therapie Neue mikrochirurgische Techniken zur Behandlung proliferativer Retinopathien Der hohe Stellenwert einer engmaschigen ophthalmologischen Betreuung von Diabetikern wird durch folgende Fakten unterstrichen: 97 Prozent der Typ-I-Diabetiker erkranken innerhalb von 15 Jahren nach Diagnosestellung an einer Retinopathie; 57 Prozent innerhalb von fünf Jahren. Bei den Typ-II-Diabetikern leiden drei Prozent bereits bei Diagnosestellung an einer fortgeschrittenen Retinopathie; nach 20 Jahren Diabetes sind es über 60 Prozent. Die diabetische Retinopathie (DRP) – in den entwickelten Ländern die häufigste Ursache für irreversible Erblindung – verursacht neben menschlichem Leid auch erhebliche sozioökonomische Kosten. Viele der betroffenen Patienten sind noch voll erwerbstätig; zudem leben Diabetiker heute deutlich länger als noch vor wenigen Jahrzehnten. Durch konsequente frühzeitige Abklärung und Therapie lässt sich eine invalidisierende Sehbehinderung in über 90 Prozent der Fälle verhindern. Typ-I-Diabetiker sollten spätestens ein bis zwei Jahre nach und Typ-II-Diabetiker sofort bei Diagnosestellung augenärztlich abgeklärt und dann jährlich oder je nach Ausmass der Retinopathie kontrolliert werden. Keinesfalls darf die ophthalmologische Kontrolle erst bei einer Visusverschlechterung erfolgen. Vor allem bei Typ-I-Diabetikern schreitet die ischämische Schädigung der Retina häufig von peripher nach zentral fort. Zu einer Visusverschlechterung kommt es deshalb erst in der Endphase der Retinopathie bei bereits schwer geschädigter Netzhaut und entsprechend infauster Visusprognose. Abklärung und Basistherapie Bei der Abklärung spielt die Fluoreszenzangiographie eine zentrale Rolle. Sie ermöglicht eine detaillierte Darstellung der Netzhautgefässe und damit eine frühzeitige Erkennung einer therapiebedürftigen Retinopathie (Abb. 1a, b). Die Therapiegrundlage der DRP ist eine rechtzeitige und konsequente Laserbehandlung der Retina (Abb. 1c). Wir verwenden Festkörperlaser mit Wellenlängen von 532 bis 810 nm. Einerseits gelingt es mit der Laserbehandlung, die avaskulären Areale auszuschalten, und andererseits normalisiert sich die gestörte Autoregulation der retinalen Gefässe. Damit werden die Progredienz der DRP verhindert und der Netzhautstoffwechsel verbessert, was dann zur Visusverbesserung führt. Seit Anfang 1999 haben wir am Augenzentrum über 1200 Angiographien mit Scanninglaser-Technologie an meist zugewiesenen Patienten durchgeführt. Bei über 80 Prozent der Patienten konnten durch rechtzeitige Abb. 1 a b c Abb. 1: Fluoreszenzangiographie: Grundlage für Klassifikation und Therapie der diabetischen Retinopathie a: Proliferative, diabetische Retinopathie b: Diabetisches Makulaödem vor Lasertherapie c: Acht Monate nach Lasertherapie temporal unten nasal a b c Abb. 2: Chirurgische Zugänge zum Hintersegment des Auges via Pars plana a: Infusionsterminal b: Endoillumination oben c: Vitrektom Laserbehandlung sowohl eine Progredienz der Retinopathie als auch eine Operation verhindert werden. Bei mehr als zwei Dritteln der Patienten kam es zu einer Visusverbesserung und bei gut 90 Prozent zu einer Stabilisierung. Mikrochirurgische Therapie bei proliferativen Retinopathien Liegt eine progrediente proliferative diabetische Retinopathie mit drohender Schädigung der Retina durch Narbentraktion und Blutungen vor, ist zusätzlich zur Basisbehandlung eine mikrochirurgische Therapie indiziert. Ohne Operation erblinden betroffene Augen in weit über 50 Prozent der Fälle innerhalb weniger Monate. Bei proliferativen Retinopathien sprossen neu gebildete Blutgefässe aus der Retinaoberfläche in den Glaskörperraum hinein. Die neoplastischen Gefässe entstehen durch ischämische Proliferationsreize am Rand avaskulärer Areale, entlang der retinalen Gefässbögen und auf der Optikuspapille. Im weiteren Verlauf konfluieren sie zu strauchartigen fibrovaskulären Gebilden, die je nach Anordnung zu platten-, girlandenoder spangenförmigen epiretinalen Narben konfluieren. Das Narbengewebe, das in seiner Struktur an Granulationsgewebe erinnert, kontrahiert sich schliesslich unter Strangulation der darunter liegenden retinalen Gefässe sowie horizontaler und vertikaler Traktion der Netzhaut. Die Strangulation der Gefässe erhöht die Ischämie, die den Proliferationsreiz erneut verstärkt. Die pathologischen Narbengefässe bluten leicht (Glaskörperblutung) und beschleunigen damit den destruktiven Prozess zusätzlich. Der Kontraktionsprozess mündet schliesslich in eine Traktionsamotio mit Zerstörung der Netzhaut. Operatives Vorgehen Dank Fortschritten der mikrochirurgischen Techniken der letzten Jahre ist es heute möglich, früher aussichtslose Fälle erfolgreich zu operieren. Nach Mobilisation des Glaskörpers durch eine iatrogene hintere Glaskörperabhebung wird das Glaskörpergewebe vollständig entfernt und gleichzeitig durch intraoperativ zugeführte Flüssigkeit (BSS) ersetzt, so dass die Gefässproliferationen ihre Leitstruktur verlieren (Abb. 2, 3). Mit den neuen Techniken lassen sich die epiretinalen Narbenstrukturen mit speziellen Instrumenten unterminieren, ohne dass dabei ein schädigender Zug auf die darunter liegende Netzhaut entsteht. Die Therapie zielt darauf ab, sämtliches Narbengewebe von der Netzhautoberfläche zu entfernen. Durch das Wegfallen der Narbentraktion verbessert sich die Netzhautzirkulation, und der Proliferationsreiz durch das Narbengewebe entfällt. Mittels Endolaser und Exokryokoagulation werden dann die avaskulären Areale der Netzhaut als Ursache des Proliferationsreizes ausgeschaltet. Nach Mobilisation und Durchtrennung der verbleibenden Gefässstümpfe zur Netzhautoberfläche lässt sich schliesslich das gesamte Narbengebilde entfernen (Abb. 4). Dabei ist es für die erhebliche Senkung der Komplikationsrate und die Verbesserung der Prognose entscheidend, die Problematik möglichst beim ersten Eingriff vollständig zu beheben. Bei abgehobener Netzhaut wird diese nach Entfernen allen Narben- und Glaskörpergewebes intraoperativ mit «schweren» Flüssigkeiten (fluorierten Kohlenwasserstoffen) BSS Abb. 3: Vollständige Entfernung des Glaskörpers ausgebreitet und spannungsfrei zum Anliegen gebracht. Bei einigen wenigen Augen muss die Situation mit einer Silikonöl-Füllung des Glaskörperraumes stabilisiert werden. Das Öl kann bei gutem Heilungsverlauf nach einigen Wochen oder Monaten entfernt werden. Zur Anpressung der Netzhaut in der oberen Hemisphäre verwenden wir spezielle Gase (z.B. SF6 Schwefelhexafluorid). Diese Techniken lassen sich auch bei proliferativen Vitreoretinopathien anderer Genese anwenden, z. B. bei Thrombosen der retinalen Venen, bei Uveitiden oder Makulalöchern, ferner bei epiretinaler Fibroplasie und vitreomakulärer Traktion, die durch Bildverzerrungen (Metamorphopsien) zu massiver Lesebehinderung und Visusverschlechterung führen. Wir färben die Membranstrukturen zur besseren Visualisierung intraoperativ mit Indozyaningrün an. Die mikrochirurgischen Eingriffe am Auge erfolgen bei uns unter Vollnarkose und erfordern einen stationären Aufenthalt von drei bis fünf Tagen. Eigene Erfahrungen Am Augenzentrum der Klinik Permaence in Bern haben wir seit 1997 über 150 mikrochirurgische Netzhauteingriffe durchgeführt. Operationsindikation war in 70 Prozent der Fälle eine proliferative diabetische Retinopathie. Zu den weiteren Indikationen zählten epiretinale Fibroplasien, Makulalöcher, andere proliferative Retinopathien, Verletzungen, intraokulare Fremdkörper (abgestürzte Linsenfragmente nach Kataraktoperation und Intraokularlinsen), schwere Komplikationen bei Kataraktoperationen etc. Bei allen von uns operierten Diabetikern brachte der Eingriff die proliferative Retinopathie zum Stillstand und führte zu konsekutiv stabilen Netzhautverhältnissen. Bei über 90 Prozent der Patienten resultierte eine Visusverbesserung, bei einigen sogar eine massive. Bei diesen Eingriffen handelt es sich nicht um sog. Routineoperationen, sondern um Verfahren, die der individuellen Situation technisch und taktisch von Fall zu Fall angepasst werden müssen. Teilweise bewegt man sich dabei an der Grenze des mikrochirurgisch Machbaren; entsprechend höher ist das Operationsrisiko. Bei unseren Patienten betrug die postoperative Reamotiorate weniger als drei Prozent. Bei einem Diabetiker musste wegen Reamotio reoperiert werden. Die häufigsten postoperativen Komplikationen sind Erhöhung des intraokularen Drucks, Nachblutungen und Entwicklung einer Katarakt. Diese können aber in der Regel mit konservativen Massnahmen behandelt werden. Die Kataraktoperation ist heute ein Routineeingriff mit sehr hoher Sicherheit. Besteht bereits präoperativ eine beginnende Katarakt, operieren wir diese immer kombiniert mit dem Netzhauteingriff. Fazit: Dank neuer mikrochirurgischer Techniken lassen sich bei vielen Patienten mit einer proliferativen diabetischen Retinopathie eine Erblindung verhindern und die Sehkraft erheblich verbessern. Auch wenn die neuen Verfahren nicht frei von Risiken sind, ist das Risiko doch um ein Vielfaches geringer als bei den älteren Operationstechniken. Dr. med. Andreas R. Wegmüller Augenzentrum Klinik Permanence, Bern a b c Abb. 4: a: Darstellung und Mobilisation der krakenförmigen fibrovaskulären Membran b: Abtrennen der verbleibenden Gefässstümpfe c: Endolaserkoagulation nach vollständiger Entfernung des Narbengewebes