Die Musik im 20. Jahrhundert (ca. 1914 n.Chr. bis 1989 n.Chr.) Grundlagen Das 20. Jahrhundert wird auch als das „kurze Jahrhundert“ bezeichnet. Auf eine allgemeine Epochenbezeichnung hat man sich bis heute nicht einigen können, öfters genannte Begriffe sind das „Zeitalter der Weltkriege“, oder das „Atomzeitalter“. Sehr oft wird in der Wissenschaft sein Pluralismus als das hervorstechendste Merkmal genannt, wobei übersehen wird, dass dieser Pluralismus ein Merkmal jeder Epoche ist. Die scheinbare Einheitlichkeit von früheren Epochen ist nur durch eine, von der jeweiligen herrschenden Klasse bestimmte, „gefilterte“ Geschichtsschreibung zustande gekommen. Die Geschichte der Kunst (bzw. was in verschiedenen Epochen als Kunst angesehen wurde) ist dafür ein besonders gutes Beispiel. Das teilweise Wirken neuer gesellschaftlicher Kräfte in der Kunst des 20. Jahrhunderts macht eine Analyse dieser Vorgänge von einem rein bürgerlichen Standpunkt aus obsolet und verhindert ein tieferes Verständnis. (z.B. kann das Phänomen „Rock´n´Roll“ nicht ohne Kenntnis der soziokulturellen Hintergründe der amerikanischen Nachkriegsjugend verstanden werden.) Sieht sich der dem Idealismus und Genieglauben verhaftete bürgerliche Künstler als Teil einer großen, von transzendentalen Ideen bestimmten Kunst(und Geschichts-)Entwicklung, so haben viele KünstlerInnen des 20. Jahrhunderts, obwohl oft stark davon beeinflusst, dieses Weltbild bereits überwunden, bzw. waren nie ein Teil davon. Während die bürgerliche Kunstgeschichte immer noch verzweifelt nach den Genies und Wegweisern dieses Jahrhunderts sucht, finden die kunst- und gesellschaftsrelevanten Prozesse längst woanders statt (vgl. z.B. die Geschichte der Popularmusik). Der sich nicht politisch äussern dürfende, in den „Elfenbeinturm“ verbannte romantische Künstlertypus des 19. Jahrhunderts ist, obwohl vielfach weiterhin propagiert, im 20. Jahrhundert nicht aufrecht zu erhalten. In diesem Zusammenhang, nämlich als „bürgerliche Interessenvertretung“, muss man auch die für das 20. Jahrhundert so beliebte Trennung von (angeblich hochwertiger) „Ernster Musik“ und (minderwertiger) „Unterhaltungsmusik“ (sog. E- bzw. U- Musik) sehen. Obwohl die meisten richtungsweisenden Entwicklungen und neue künstlerisch - kreative Ausdrucksformen im Bereich der Unterhaltungsmusik stattgefunden und die „E - Musik“ stark beeinflusst haben, wird diese Trennung im immer noch elitären Kunstbetrieb des 20. Jahrhunderts größtenteils aufrecht erhalten. Die vor allem auch hinsichtlich der sozialen Herkunft des Publikums sehr scharf gezogene Trennlinie ist erst in den letzten Jahrzehnten brüchig geworden und KünstlerInnen der „U – Musik“ finden verstärkt Eingang in Konzertsäle und Opernhäuser. Weitere Merkmale der Musik des 20. Jahrhunderts: • Ablehnung der Gefühlsinszenierung der Romantik und Kritik am etablierten Konzertbetrieb. • Veränderung der akustischen Umwelt (durch z.B. Geräusche und Lärm von Maschinen) Parallel dazu wird die Musik hinsichtlich Frequenzbereich und Lautstärke erweitert. • Technischer Fortschritt: Die Entwicklung elektroakustischer und elektronischer Instrumente, die Techniken der Tonaufzeichnung und Verarbeitung ermöglichen völlig neue Kompositionstechniken. Zum ersten Mal ist ein Einblick in die Interpretationsgeschichte alter und neuer Musik möglich. • Die Erleichterung des Reisens, bzw. moderne Massenmedien (v.a. auch Filmmusik) machen einen weltweiten Musikaustausch unabhängig vom Zusammentreffen zwischen MusikerIn und HörerIn. • Im Zusammenhang mit der weltweiten Durchsetzung des Kapitalismus kommt es zum Phänomen der sog. Popmusik. Darunter versteht man prinzipiell jede Musikform, die rekontextualisiert (aus ihrem kulturellen Zusammenhang genommen) wird und die einen ökonomisch rentablen Verbreitungsgrad erreichen kann. Auch die vormals „klassische“ Musik wird zunehmend diesen Gesetzen unterworfen. Überblicksartiger Verlauf der „Kunstmusik“ des 20. Jahrhunderts ➢ Impressionismus (1890-1920): Wiedergabe von Empfindungen eines seelischen Zustandes in bewusst subjektiver Form; Hauptziel der Musik ist nicht die Schilderung, sondern das Klangerlebnis (s. Epoche der Romantik). ➢ Expressionismus (1910-1925): Bruch mit traditioneller Ästhetik und bisherigen musikalischen Ausdrucksmitteln. Suche nach möglichst effektvollen, klaren und rücksichtslosen Aussagen. Im Zuge des Expressionismus kommt es u.a. zu einer Aufgabe der Tonalität. VertreterInnen: u.a. Die Wiener Schule (Schönberg, Berg, Webern), Igor Strawinsky (1882-1971), Béla Bartók (1881-1954). Impressionismus und Expressionismus stehen in ihrem Verständnis von Kunst als „Gefühlsausdruck“ immer noch in der Tradition der Romantik. ➢ Futurismus (1909-1944): Geräusche der Technik und der Industrie sollten in die Musik mit einbezogen werden. Die FuturistInnen fordern einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit und erklären die technifizierte Welt zum einzig kunstwürdigen Gegenstand. VertreterInnen: u.a. Luigi Russolo (1885-1947), Balilla Pratella (1880-1955). ➢ Neoklassizismus (1920-1955): In deutlicher Ablehnung von spätromantischer Expressivität von Impressionismus und Expressionismus ist der Neoklassizismus gekennzeichnet durch das Streben nach „Klarheit und Einfachheit“. Als Vorbild für Satztechniken, Formen und Gattungen diente vielfach das 18. Jahrhundert (Spätbarock und Frühklassik). VertreterInnen: u.a. Arthur Honegger (1892-1955), Francis Poulenc (1899-1963), Igor Strawinsky (1882-1971). ➢ Serielle Musik (ab 1948): Ist eine Weiterentwicklung der sog. Zwölftontechnik der Wiener Schule. Statt lediglich die Tonhöhen, werden bei der seriellen Musik auch die Parameter Tondauer, Lautstärke und Klangfarbe als Reihe geordnet. VertreterInnen: u.a. Pierre Boulez (*1925), Karlheinz Stockhausen (1928-2007), Luigi Nono (1924-1990). ➢ Elektroakustische Musik (ab 1950): Entstand mit der Erfindung des Magnettonbands um 1950. Man versteht darunter nicht eine elektronisch verstärkte mechanische Musik, sondern elektronisch erstellte Klänge und Kompositionen. VertreterInnen: u.a. Karlheinz Stockhausen (1928-2007), Edgar Varèse (1883-1965). ➢ Aleatorik (ab 1953): Die Aleatorik (lat. alea = Würfel) entstand als Reaktion gegen die mathematischen Verfahrensweisen der Seriellen Musik und steht in Zusammenhang mit der sog. Fluxus - Bewegung. Der Begriff kam um 1950 auf und bedeutet ein Kompositionsverfahren, bei dem der Verlauf im Großen festliegt, im einzelnen aber vom Zufall abhängt. So soll es dem Interpreten verstärkt ermöglicht werden, das „Kunstwerk“ mitzugestalten (vgl. „Das Leben ist ein Kunstwerk und das Kunstwerk ist Leben“.) VertreterInnen: u.a. John Cage (1912-1992). ➢ Minimal Music (ab 1965): Der Name wurde Anfang der 1970er Jahre in Anlehnung an den aus der Bildenden Kunst stammenden Begriff „Minimal art“ geprägt. Die Minimal Music wird häufig als Antithese zur Seriellen Musik verstanden, viele Produzenten von Minimal Techno sehen sich in der Tradition der Minimal Music. Das Hauptcharakteristikum ist die Wiederholung kurzer Motive, die sich fast unmerklich verändern und nur geringfügig variiert werden. VertreterInnen: u.a. Steve Reich (*1936), Phillip Glass (*1937). Auswahl verschiedener Stile des 20. Jahrhunderts Die Wiener Schule Der Begriff „Wiener Schule“ bezeichnet vor allem das Wirken von Arnold Schönberg (1874-1951) und seiner Schüler Alban Berg (1885-1935) und Anton Webern (1883-1945). Beeinflusst von späten Kompositionen des 19. Jahrhunderts, die das tonale System bereits stark erweitert haben (vgl. z.B. Wagners „Tristan-Akkord“), gehören die Komponisten der Wiener Schule zu den Ersten, die die Tonalität konsequent und endgültig verlassen. Arnold Schönberg sieht sein Werk dabei durchaus als logische Fortsetzung einer bereits seit der Entwicklung der Mehrstimmigkeit dauernden, kontinuierlichen Erweiterung des Begriffs „Konsonanz“, bis hin zur sog. Emanzipation der Dissonanz, bei der nicht mehr zwischen Konsonanz und Dissonanz unterschieden wird. Galten z.B. im Mittelalter lediglich Oktaven, Quinten und Quarten als Konsonanzen, wurde der Begriff zu Beginn der Renaissance auf den Dreiklang ausgeweitet. Durch die zunehmende Einbeziehung der Chromatik und die Entwicklung der sog. erweiterten Tonalität im 19. Jahrhundert, wird die für das musikalische Verständnis eines Werks lange Zeit obligatorische Grundtonart zunehmend in Frage gestellt. Die Wiener Schule entwickelte darauf aufbauend das System der sog. Dodekaphonie (Zwölftontechnik), das eine Methode des Komponierens mit zwölf gleichberechtigten Tönen ist. Wichtigste Regeln der Dodekaphonie: ✔ Eine Komposition wird aus einer Reihe entwickelt, in der jeder Ton der chromatischen Skala nur einmal vorkommt. z.B.: ✔ Kein Ton ist Grundton, somit ist kein Ton wichtiger als der andere. ✔ Die Reihen können variiert werden: Krebs, Umkehrung, Krebs der Umkehrung (s. Abb.) z.B.: ✔ Jede der vier Gestalten kann elfmal transponiert werden. Dadurch ergeben sich insgesamt 48 Erscheinungsformen der Reihe. ✔ Der Rhythmus und die Dynamik der Reihentöne ist beliebig, sie können auch zu Akkorden geschichtet werden. ✔ Ein einzelner Ton darf unmittelbar wiederholt werden, dann aber erst wieder verwendet werden, nachdem alle 11 anderen Töne der Reihe erschienen sind. ✔ Töne können oktav-versetzt werden. Die Musik der Wiener Schule wurde vom Publikum sehr zwiespältig aufgenommen (vgl. Zeitungsartikel). Schönberg wurde „Konstrukteur gegen die Natur der Musik“ genannt und seine Musik galt, bezugnehmend auf seine jüdische Herkunft, unter den Nazis als „entartet“. Arnold Schönberg, Ein Überlebender aus Warschau, op. 46 Nachdem die polnischen Truppen schon wenige Tage nach Beginn des Zweiten Weltkriegs kapituliert hatten, wurde ein Jahr später (1940) unter dem Vorwand der Seuchengefahr die Errichtung eines Gettos für die jüdische Bevölkerung verordnet. 1942 lebten im Getto 410 000 Juden und Jüdinnen in etwa 2700 Wohnungen. Durch systematisches Aushungern, Seuchen und die Deportation in die Vernichtungslager kam es trotz erbitterter Widerstandskämpfe zu jener von den Faschisten geplanten „Endlösung der Judenfrage“. Schönberg emigrierte 1933 in die USA. Dort komponierte er 1947 nach einem persönlichen Bericht eines Überlebenden aus dem Warschauer Getto eine erschütternde und expressive Anklage gegen das mörderische Regime. Der Bericht des Erzählers mündet in das vom Chor vorgetragene „Shᵉma Yisroel“, das zentrale Gebet und Glaubensbekenntnis des Judentums. Aufgaben: ✗ Worauf verweist das sich öfters wiederholende fanfarenartige Trompetenmotiv? ✗ Wie kann man die Behandlung der Stimme des Erzählers beschreiben? ✗ Warum sind manche Abschnitte in deutscher Sprache? ✗ Warum spielt zum „Shᵉma Yisroel“ eine Posanue unisono mit? Die Oper im 20. Jahrhundert am Beispiel der „Dreigroschenoper“ (Text: Bertold Brecht, Musik: Kurt Weill) Die „Dreigroschenoper“ ist eine Bearbeitung der „Beggar`s Opera“ von John Gay und Johann Christoph Pepusch aus dem Jahr 1728. Während John Gay die Unnatürlichkeit der italienischen „opera seria“ verspottet sowie aktuelle Staatsaffären zum Gegenstand der Komödie macht, so wendet sich auch die Dreigroschenoper mit ihren Songs gegen das damalig vorherrschende Opernpathos der romantischen Oper. Bertold Brecht verlagert die Szenerie der „Dreigroschenoper“ in das Berlin der 20er Jahre und zeigt die auftretenden Typen als bedauernswerte Produkte einer kapitalistischen Gesellschaft. So schreibt er z.B. über die Hauptperson des Räubers „Mackie-Messer“: „Der Räuber Macheath ist vom Schauspieler darzustellen als bürgerliche Erscheinung. Die Vorliebe des Bürgertums für Räuber erklärt sich aus dem Irrtum: ein Räuber sei kein Bürger. So ist also kein Unterschied? Doch: ein Räuber ist manchmal kein Feigling.“ Ziel Brechts war es, das Publikum zum Nachdenken zu bringen – Der/die ZuseherIn soll sich nicht mit dem auf der Bühne gezeigten identifizieren, oder es als individuelles Schicksal der jeweiligen Schauspieler empfinden, sondern soll das Dargebotene vielmehr als Parabel auf allgemeine gesellschaftliche Verhältnisse sehen und sich fragen, wie etwas an den dar- Stützen der Gesellschaft (Grosz, 1926) gestellten Missständen geändert werden könnte. Zu diesem Zweck verfremdete und desillusionierte er das Spiel absichtlich, um es als Schauspiel erkennbar zu machen. Die Musik Kurt Weills unterstützt dieses Vorhaben: Er vermischte Elemente aus Blues, Jazz und Jahrmarktsmusik, und garnierte sie mit ironischen Seitenhieben auf die traditionelle Oper, bzw. die Operette. Eine komplizierte Harmonik unterwandert dabei häufig die gleichzeitig vorkommenden „feschen“ Marschrhythmen, bzw. den Beat der Unterhaltungsmusik und legt so die Gefährlichkeit ihrer unbewusst animierenden Wirkung offen (vgl. z.B. der Kanonensong). Kurt Weill, Bertold Brecht, Moritat von Mackie Messer (aus der „Dreigroschenoper“) Kurt Weill, Bertold Brecht, Der Kanonensong (aus der „Dreigroschenoper“) John war darunter und Jim war dabei Und George ist Sergeant geworden. Doch die Armee, sie fragt keinen, wer er sei und marschierte hinauf nach dem Norden. Soldaten wohnen, auf den Kanonen, Von Cap bis Couch Behar. Wenn es mal regnete und es begegnete ihnen 'ne neue Rasse, 'ne braune oder blasse, dann machen sie vielleicht daraus ihr Beefsteak Tatar. Johnny war der Whisky zu warm Und Jimmy hatte nie genug Decken. Aber Georgie nahm beide beim Arm und sagte „Die Armee kann nicht verrecken“. Soldaten wohnen, auf den Kanonen, Von Cap bis Couch Behar, Wenn es mal regnete und es begegnete ihnen 'ne neue Rasse, 'ne braune oder blasse, dann machten sie vielleicht daraus ihr Beefsteak Tatar. John ist gestorben und Jimmy ist tot und George ist vermisst und verdorben. Aber Blut ist immer noch rot, für die Armee wird jetzt wieder geworben! Soldaten wohnen auf den Kanonen vom Cap bis Couch Behar. Wenn es mal regnete und es begegnete ihnen 'ne neue Rasse, ne braune oder blasse, dann machen sie vielleicht daraus ihr Beefsteak Tatar. Serielle Musik Im Gegensatz zur Dodekaphonie der Wiener Schule, ist die Serielle Musik in allen Aspekten determiniert (= genau bestimmt), d. h. es werden neben der Tonhöhe auch die Parameter Tondauer, Lautstärke und Klangfarbe als Reihen erfasst. Der/Die KomponistIn kann zwar die Vorordnung (Auswahl der Reihen) bestimmen, der eigentliche Kompositionsvorgang aber steht unter dem Diktat der Reihe ohne Einflussmöglichkeit von aussen. Die Idee einer „musique pure“ (reinen Musik) entspringt dem Wunsch, eine Musik von möglichst großer Klarheit hervorzubringen, frei von Redundanz (Überladenheit) und der Beliebigkeit des persönlichen Geschmacks. Das Ergebnis zeigt eine unvorhersehbare Variabilität, bei der sich auch der Zufall nicht ausschließen lässt, was u. a. die aleatorische Musik mitbegründet. Als Musterbeispiel früher serieller Musik gilt das Werk „Structures“ für 2 Klaviere (1952) von Pierre Boulez. Die vier Elementreihen der „Structures“: Die Zwölftonreihe (s. Tonhöhen) wird in Grundgestalt und Umkehrung auf alle Stufen der Oktave in der Reihenfolge transponiert, wie sie durch die Grundreihe gegeben ist: Schreibt man statt der Tonreihen nur die Ordnungszahlen hin, die der einzelne Ton zugeteilt bekommt, so ergeben sich zwei Tabellen für Grundgestalt und Umkehrung mit ihren Transpositionen zu je 12 mal 12 Werten. Das Klavier I übernimmt die Tonhöhen des linken Zahlenquadrates, das Klavier II die des rechten. Pierre Boulez, „Structures“ für zwei Klaviere Es ist dabei nicht im Sinn der Seriellen Musik, dass der/die ZuhörerIn die Konstruktionsprinzipien heraushören und nachvollziehen kann. Die Technik dient (wie auch die Kompositionslehren früherer Zeiten) dazu, als falsch empfundene Konstellationen zu vermeiden. Waren es in der Klassik beispielsweise parallele Quinten, so geht es in der Seriellen Musik um die Vermeidung tonaler Strukturen oder regelmäßiger Rhythmen. Die zunehmende Forderung nach besserer Umsetzung der Seriellen Musik führte zur elektroakustischen Musik, die in keiner Hinsicht mehr den Beschränkungen des traditionellen Instrumentariums unterworfen ist. Musique Concrète Auf der Basis des „Futuristischen Manifestes“ beschäftigte sich der Techniker und Musiker Pierre Schaeffer seit 1948 mit Geräuschmontagen und nannte sie Musique concrète, weil er dabei „konkretes“ Klangmaterial verwendete. Straßenlärm, Autohupen, Fabriksirenen, Geräusche aus der Natur (Wind, Regen, Donner), Gesang und Sprache sowie Alltagsgeräusche jeglicher Art wurden mit dem Mikrophon aufgenommen, durch Bandschnitte, Änderungen der Bandgeschwindigkeit und anderen Verfahren verfremdet und zu Collagen zusammengefügt. Die erzielten Klangergebnisse waren der späteren elektronischen Musik sehr ähnlich. Die elektronische Musik hat durch die Musique concrète entscheidende Impulse erhalten. Elektroakustische Musik Der Begriff ist grundsätzlich problematisch, weil jede Musik akustisch ist. Er wurde von VertreterInnen der zeitgenössischen „Kunstmusik“ (E-Musik) um 1980 erfolgreich propagiert, als deutlich wurde, dass der bisher benutzte Ausdruck elektronische Musik zunehmend im Zusammenhang mit der Popmusik (U-Musik) Anwendung fand. Musique concrète und elektroakustische Musik brachten eine Erweiterung des Materials. Während die erstere mit vorgefundenen akustischen Objekten („objects trouvés“) arbeitete, wird das akustische Material der letzteren auf elektronischem Weg erzeugt. Musique concrète und elektroakustische Musik sind beide auf Klangspeicherung angewiesen und verwirklichen die Emanzipation des Geräusches (vgl. die Emanzipation der Dissonanz der Wiener Schule). Es ist dabei erstmals kein Interpret und keine Partitur mehr nötig. György Ligeti, Artikulation (1958) Die Komposition ist eine der ersten auf elektronischer Basis. Die graphische Partitur entstand in den 70er Jahren. usw. Ligetis populärstes Stück „Atmosphères“ wurde die Filmmusik für Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“. Aleatorik Aleatorik bezeichnet in Musik, Kunst und Literatur das Hervorbringen künstlerischer Strukturen mittels improvisatorischer oder kombinatorischer Zufallsoperationen. Der Begriff aleatorisch ist aber nicht gleichzusetzen mit „beliebig“ oder „willkürlich“. Aleatorik beschreibt vielmehr eine bestimmte, nicht absichtsvoll gestaltete Erscheinungsform eines künstlerischen Werks. Das kann z.B. auch nur das (nicht planbare) Hinzufügen eines Geräusches von einem Blatt Papier sein, das man auf die Saiten eines Klaviers legt. Musikgeschichtlich ist das nicht unbedingt ein Verdienst der Musik des 20. Jahrhunderts: bereits im Mittelalter warfen Mönche vier unterschiedlich gebogene Eisenstäbe nach dem Zufallsprinzip, um eine „schöne Melodie“ zu erhalten. Auch Mozart bediente sich in seinem „Musikalischen Würfelspiel“ des Zufalls und ließ den/die ZuhörerIn Walzertakte mit zwei Würfeln beliebig zusammenwürfeln. Aleatorische Musik bekommt gegen Ende der 50er Jahre des 20. Jh. eine große Bedeutung und steht im Zusammenhang mit der Fluxus – Bewegung, bei der das Kunstwerk im herkömmlichen Sinn negiert wird und als bürgerlicher Fetisch gilt. John Cage, 4´33 (1952) I TACET II TACET III TACET Laut Partitur ist die Dauer des Stücks frei wählbar, der gängige Titel richtet sich nach dem Wert der Uraufführung. Ebenso frei wählbar ist die Zahl der Ausführenden und die Art der Instrumente. Da während der gesamten Spieldauer des Stückes kein einziger Ton gespielt wird (oder?), stellt dieses Werk die gängige Auffassung von Musik in Frage. 4´33 wurde so zu einem Schlüsselwerk der Musik des 20 Jahrhunderts und regt zum Nachdenken über „Musik“ und „Stille“ an: • Spielt der/die InterpretIn überhaupt, wenn er/sie scheinbar keine Töne erzeugt? • Ist die Stille das Stück – oder die Geräusche, die man sonst beim „Musikhören“ ausblendet, also z.B. Klimaanlage, vorbeifahrende Autos, Publikumsgeräusche, eigene Blutzirkulation, bzw. eingebildete Geräusche... • Worin liegt die „Kunst“ des Komponisten/ der Komponistin? • Was ist der Unterschied zwischen den 3 Sätzen und den Pausen dazwischen bzw. danach? • Wird nur mit der Erwartungshaltung des Publikums gespielt, die dann nicht befriedigt wird, wird also die Aufführungssituation problematisiert, oder geht es um das Erlebnis des Nichts, der Stille oder der sonst nicht wahrgenommenen Nebengeräusche? Minimal Music Die Minimal Music verarbeitet Einflüsse aus indischer, indonesischer und afrikanischer Musik. Sie ignoriert weitgehend die Konventionen des Komponierens, wie sie im europäischen Kulturkreis bis dahin galten, speziell die Konventionen der Avantgarde der 50er und 60er Jahre und wird daher häufig als Antithese zur Seriellen Musik verstanden. Oft wird sie auch als „postmoderne“ Musik charakterisiert. Es gibt zahlreiche Wechselwirkungen mit Stilen der Popularmusik. Stilistische Merkmale: ✔ Geringe harmonische Komplexität, sparsame Verwendung von Dissonanzen. ✔ Das rhythmische Element ist im Vergleich zu anderen Formen europäischer Musik stark hervorgehoben. ✔ Ein einfaches Grundmuster (Pattern) wird über längere Zeit ständig mit nur leichten, oft kaum wahrnehmbaren Variationen wiederholt, das Stück ergibt sich aus der einfachen Aneinanderreihung der Variationen. ✔ Wird ein Muster gleichzeitig mit geringfügig unterschiedlichen Geschwindigkeiten gespielt, kommt es zum so genannten Effekt der Phasenverschiebung (phasing). Steve Reich, Piano Phase (1967) Neoklassizismus (1920-1955) und Neue Einfachheit (ab 1970) Neben den bereits besprochenen Strömungen ist die Musik des 20. Jahrhunderts auch geprägt von Werken, die immer wieder an den Musiktraditionen früherer Epochen angeknüpft und diese auf neue Weise miteinander kombiniert haben. Neoklassizismus bezeichnet eine die gesamte europäische Musikkultur ab ca. 1920 durchziehende Strömung, die eine „vom Individuum abgelöste, objektive Kunst“ fordert und dabei „den Hörer bei klarem Bewusstsein lässt“. (Frage: Gibt es objektive Kunst?) Abgelehnt werden Spätromantik, Impressionismus und Expressionismus, als Vorbild dienen oft Satztechniken, Formen und Gattungen des 18. Jahrhunderts. Die sog. Neue Einfachheit bezeichnet keine feste Schule oder Gruppierung, sondern eher eine Kompositionshaltung. Da man mit verschiedenen Mitteln „einfach“ komponieren kann, wurden mit dem Begriff sowohl Kompositionen der Minimal Music, als auch des Neoklassizismus assoziiert. Igor Strawinsky, Le sacre du printemps (1913) Carl Orff, Carmina burana (1937) Samuel Barber, Adagio for Strings (1938) Arvo Pärt, Fratres (1977) Phillip Glass, Truman sleeps (1998)