Metrologie Wissenschaft und Technik des Messens Kontakt mit dem Autor © Copyright ETH Zürich, Schweiz Institut für Werkzeugmaschinen und Fertigung Mitarbeit d0000215; rev02 Modul Schwingungen als Signale Karl H. Ruhm Inhalt Einleitung 1 Beschleunigung, Geschwindigkeit und Weg 2 Kraft und Beanspruchung 3 Signalparameter 4 Signalauswertung 1 1 3 4 4 Schlüsselwörter Schwingung, Ausschlag, Weg, Geschwindigkeit, Beschleunigung, Kraft, Moment, mechanische Spannung, harmonisches Signal, periodisches Signal Kurzbeschreibung Unter Schwingungen versteht man Vorgänge, deren Größen man durch harmonische oder periodische Signale beschreiben kann. Verglichen mit Zufallsvorgängen sind die theoretischen Grundlagen relativ einfach, solange lineare Beziehungen bei den beteiligten Prozessen angenommen werden können. Es werden einige grundlegende Begriffe der Schwingungstechnik mechanischer Prozesse vorgestellt. Einleitung Schwingungen, insbesondere mechanische Schwingungen sind allgegenwärtig, Selbst der Mensch ist ein schwingungsfähiger Prozess. Über mechanische Schwingungen hören und fühlen wir. In vielen Fällen sind die Beziehungen zwischen den schwingenden Größen linear. Das heißt, die beschreibenden Signale, die die schwingenden Größen repräsentieren, sind harmonische Signale beziehungsweise Linearkombinationen harmonischer Signale (periodische Signale). Diese Signale sind über die Systemdynamik gekoppelt, die wir durch gekoppelte Differenzialgleichungen beschreiben. Basis ist die Signal- und Systemtheorie (Zusatz → Modul "Gundmodell des Masse-Dämpfer-Feder-Prozesses"; Zusatz → Beispiel "Mechanische Belastung eines schwingungsfähigen Prozesses durch Sensoren"). Schwingungen laufen in Raum und Zeit ab und viele können nur durch extrem komplexe Modelle beschrieben und durch aufwendige Instrumentierungen messtechnisch erfasst werden. Modell eines schwingenden Balkens 1 Beschleunigung, Geschwindigkeit und Weg Mechanische Schwingungen sind translatorische und / oder rotatorische Massenbewegungen bezüglich definierter Referenzpunkte (Bezugssystem). Sie entstehen bei mechanischen Prozessen normalerweise durch äußere Krafteinwirkungen. Unter Schwingungen versteht man zunächst die zeitlichen Ausschläge (Schwingweg h(t) beziehungsweise Schwingwinkel α(t)). In erweitertem Sinne denkt man aber auch an die durch zeitliche Differenziation beziehungsweise Integration fest gekoppelten Größen Geschwindigkeit (Schwinggeschwindigkeit, Schnelle) v(t) und Beschleunigung a(t). Der mathematische Zusammenhang lautet ohne Berücksichtigung der Anfangswerte: 2 Definition: Zusammenhang zwischen Weg, Geschwindigkeit und Beschleunigung ∫ ∫∫ a(t) dt = ∫ a(t)dt Weg h(t) = v(t)dt = Geschwindigkeit h(t) = v(t) Beschleunigung h(t) = v(t) h(t) = v(t) s h(s) .. h(t) = a(t) . h(t) = v(t) 1 s 2 s h(s) = a(s) d dt s s2 h(s) = a(s) h0 h(t) 1 s s h(s) = v(s) [ms −2 ] .. h(t) = a(t) s h(s) = v(s) v0 [ms −1] B0907 d dt [m] = a(t) Signalwirkdiagramm . h(t) 2 h(s) Nur in einfachen Schwingungsfällen sind diese Zusammenhänge bei aufgezeichneten Signalverläufen evident. Sie sind aber bei der Definition von Messgrößen und bei der Wahl von Sensoren wichtig. Es bedeutet nämlich nichts anderes, als dass die Messung einer einzigen der drei Größen genügt, da man die beiden anderen jederzeit berechnen kann (modellbasiertes Messen). Auch im Frequenzbereich trifft dies zu: Aus dem Spektrum einer gemessenen Größe können die Spektren der beiden anderen Größen berechnet werden. Leider gilt dies aber nur "im Prinzip". Betrachten wir die Zusammenhänge am Beispiel der harmonischen Schwingung genauer. Da man sich periodische Schwingungen immer als Zusammensetzung harmonischer Schwingungen vorstellen darf (FourierSynthese), sind diese Betrachtungen allgemeiner Natur. Die Zusammenhänge zwischen Beschleunigung, Geschwindigkeit und Weg lauten bei der rein harmonischen Schwingung folgendermaßen: Definition: Zusammenhang zwischen Weg, Geschwindigkeit und Beschleunigung beim harmonischen Signal Weg ∨ h(t) = hcos 2πft ∨ Geschwindigkeit v(t) = v sin2πft ∨ [m] ∨ ∨ [ms −1] mit v = 2πf h ∨ ∨ Beschleunigung a(t) = − a cos 2πft mit a = (2πf)2 h ∨ [ms −2 ] ∨ Man sieht, dass bei konstantem Scheitelwert h des Weges h(t) der Scheitelwert v der Geschwindigkeit v(t) ∨ beziehungsweise der Scheitelwert a der Beschleunigung a(t) linear beziehungsweise quadratisch von der Frequenz f abhängen. Vorsicht Unter diesen Gesichtspunkten ist es in der Praxis nicht zu empfehlen, mit einem Wegsensor den Weg h(t) zu messen und diesen anschließend zweimal zu differenzieren. Dies hätte zur Folge, dass die immer auch vorhandenen, überlagerten, meist höherfrequenten Störsignale differenziert und damit unverhältnismäßig verstärkt würden. Dieses Phänomen ist dem Messpraktiker vertraut. Wenn man an Beschleunigungen interessiert ist, muss man Beschleunigungen messen! In umgekehrter Richtung sieht es anders aus: Wenn man Beschleunigungen gemessen hat, kann man ohne weiteres diese ein- beziehungsweise zweimal integrieren, um zu den Geschwindigkeiten beziehungsweise zu den Ausschlägen zu kommen. Allerdings gehen die Phasenlagen der Größen untereinander verloren, da die Anfangswerte der Integration normalerweise unbekannt sind. Die vorgestellten Beziehungen sind aus einem weiteren Grund interessant: Nehmen wir an, bei einem schwingenden Prozess sei der zeitliche Verlauf des Ausschlags gemessen und dessen Spektrum durch Fourier-Transformation bestimmt worden. Wir wissen, dass bei vielen praktischen Signalen die spektralen Beiträge mit steigenden Frequenzen zurückgehen. Damit sind sie für Sensoren auch schwerer zu erfassen. Nach den erwähnten Signaleigenschaften fällt aber das Spektrum der zugehörigen Geschwindigkeit und insbesondere dasjenige der Beschleunigung mit steigenden Frequenzen weniger stark ab. Von daher gesehen kann es also bei einem Problem sinnvoll sein, nicht den Weg h(t), sondern die Beschleunigung a(t) zu messen. Dies wird in der Praxis auch gemacht. Gleichzeitig ist zu beachten, dass bei niedrigen Frequenzen der umgekehrte Effekt zu beobachten ist, dass die spektralen Beiträge der Geschwindigkeit und der Beschleunigung bei fallenden Frequenzen immer kleiner werden. Bei niedrigen Frequenzen sollte man Wege messen! 3 Grafischer Zusammenhang Diese Zusammenhänge zwischen Beschleunigung, Geschwindigkeit und Weg findet man häufig in einem logarithmisch skalierten Diagramm über der Frequenz dargestellt. Man sieht zum Beispiel, dass unter der ∨ Voraussetzung konstanten Scheitelwertes v der Geschwindigkeit v(t) bei steigender Frequenz der Scheitel∨ ∨ wert h des Weges h(t) abnehmen und der Scheitelwert a der Beschleunigung a(t) zunehmen muss. 1 10 4 10 –1 10 –2 –1 0 ch –3 le un 2 10 g un ig 10 /m –4 –2 s /m h a eg W 1 10 Geschwindigkeit v / m s 3 es B 10 10 10 10 –1 10 0 10 –5 10 B0912 –2 10 10 0 1 3 2 10 10 10 Frequenz f / Hz gut brauchbar noch zulässig unzulässig B0913 Kleinmaschinen mittlere Maschinen Großmaschinen Turbomaschinen K M G T Maschinengruppen Anhand dieses Diagramms ist es dann auch möglich, zulässige Schwingungen zu definieren. Denn es dürfen allenfalls größere Ausschläge entstehen, wenn nur die Geschwindigkeiten oder die Beschleunigungen klein bleiben. Es gibt auf dieser Basis Empfehlungen für gewisse Klassen von Prozessen. Beurteilungsstufen 0,28 0,45 0,7 1,1 1,8 2,8 4,5 7 11 18 28 Effektivwert der Schwinggeschwindigkeit ψv [mm s–1 ] Schwingungen 2 Kraft und Beanspruchung Bei mechanischen Schwingungen treten zusätzliche Größen auf, die in erweitertem Zusammenhang (Newton-Beziehung) mit den Bewegungen stehen, nämlich Kräfte (Momente), sowie die davon abhängigen Materialspannungen. Kräfte stammen einerseits als Anregungskräfte von äußeren Quellen. Andererseits entstehen an und in den mechanischen Prozessen Beschleunigungs-, Dämpfungs- und Federkräfte als innere Kräfte. Die Zusammenhänge zwischen Bewegungen und Kräften liefern die Beziehungen der Mechanik (Zusatz → Beispiel "Belastung eines schwingungsfähigen Prozesses durch Sensoren"). 4 Die von den Kräften abhängigen Materialspannungen sind zur Beurteilung der Funktionstüchtigkeit und der Lebensdauer der Materialien interessant. Die Zusammenhänge erhält man aus der Festigkeitslehre mit den Materialeigenschaften als Parameter. Die Sensoren für Kräfte und Beanspruchungen sind klassische Kraft- und Dehnungssensoren (Zusatz → Modul "Sensoren der Schwingungsmesstechnik"). 3 Signalparameter Es sind neben der Zeit t, der Frequenz f (Kreisfrequenz ω = 2πf) und der Phasenverschiebung ϕ verschiedene Parameter zur Quantifizierung der Größen im Zeit- und Frequenzbereich in Gebrauch. Theoretisch wären an sich die Scheitelwerte aller spektralen Komponenten zu bevorzugen. Da jedoch bei Zufallsvariablen keine Scheitelwerte definiert sind, kommen zusätzlich Kennwerte der Signaltheorie in Frage: arithmetischer Mittelungswert μ, Standardabweichung σ und Effektivwert (RMS-Wert) ψ. Der Zusammenhang lautet für eine Variable x (Zusatz → Modul "Linearer Mittelungsoperator"): ψ x 2 = μ x2 + σx 2 [{x}] Diese Kennwerte gelten sowohl für deterministische als auch für zufällige Signale. 4 Signalauswertung Zur Auswertung von Messsignalen stehen verschiedene Werkzeuge zur Verfügung. In Signalverarbeitungsgeräten können der Effektivwert ψa der Beschleunigung a(t) und durch Umrechnung auch die Effektivwerte der Geschwindigkeit und des Weges als Zahlenwerte angezeigt werden. Damit ist eine erste Beurteilung von Schwingungen möglich. In anspruchsvolleren Geräten werden die Zeitsignale in den Frequenzbereich transformiert, insbesondere durch die Fourier-Transformation. Dies führt zur Darstellung der Messresultate im Spektrum, dem Hauptbeurteilungsbereich der Schwingungen. Die Hauptmotivation liegt darin, dass sich im Zeitbereich überlagerte Schwingungen verschiedener Frequenzen nicht so unmittelbar sichtbar machen lassen wie im Frequenzbereich. Die Transformation in den Frequenzbereich liefert scheinbar komplexe Signale. Dies ist aber nur ein formales Problem. Hingegen ist das Arbeiten im Komplexen wesentlich einfacher. Aber tatsächlich bleiben reelle Signale insgesamt auch im Komplexen reell, da die Summe zweier konjugiert komplexer Teilschwingungen immer reell ist. Aber auch die einzelnen zeitlichen und spektralen Signale sind nur bedingt aussagekräftig. Wichtig sind die anschließenden theoretischen und experimentellen Identifikationsvorgänge, die auf Grund angenommener (hypothetischer) Modelle die wichtigen Parameter des Eigenverhaltens (Eigenwerte, Moden), der Dämpfungen, Pollagen, Resonanzüberhöhungen, Kopplungen usw. liefern. Dieser Arbeitsbereich heißt Modalanalyse (modal analysis). Dazu werden die schwingungsfähigen Prozesse häufig absichtlich mechanisch angeregt, um gezielt Schwingungsvorgänge auszulösen (Zusatz → Modul "Anregung schwingungsfähiger mechanischer Prozesse"). Erst aus solchen Ergebnissen können Maßnahmen zur systematischen Verbesserung des Verhaltens schwingungsfähiger Prozesse abgeleitet werden. (Zusatz → Terminologieliste "Mechanische Schwingungen") (Zusatz → Literaturliste "Mechanische Schwingungen") Zitieren Beziehen Sie sich auf dieses Dokument durch folgenden Zitiermodus: Ruhm, K. H.; Schwingungen als Signale Internet-Portal "Wissenschaft und Technik des Messens"; http://www.mmm.ethz.ch/dok01/d0000215.pdf Andere Varianten Es existiert eine englische Version dieses Dokuments: d0000XXX Änderungen Rev. Datum Änderung 00 11.12.2003 Erstausgabe 02 16.02.2010 Kleinere Ergänzungen