Dietmar von der Pfordten Vorlesung Theorie und Methoden des

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Dietmar von der Pfordten
Vorlesung Theorie und Methoden des Rechts
5. Vorlesung: Der Positivismus und die Reine Rechtslehre
I. Der Positivismus/Der Gesetzespositivismus
Im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts begann sich eine Geistesströmung zu etablieren, die dann
ab der Mitte des Jahrhunderts dominant wurde: der Positivismus. Auguste Comte (1798-1857)
veröffentlichte 1830-1842 sein sechsbändiges Werk Cours de philosophie positive (Abhandlung
über die positive Philosophie). 1844 erschien die Kurzfassung Discours sur l’esprit positif. In
diesen Werken propagiert er eine Reduktion aller Wissenschaft auf Tatsachenbeobachtung sowie
daraus abgeleitete Grundgesetze (allerdings möglichst wenige). Nach Comte durchläuft die
Menschheit in ihrer Geschichte drei Stadien (sog. Dreistadiengesetz): ein theologisches, ein metaphysisches, ein positives. Während im theologischen Stadium die natürlichen Tatsachen als
Wirkungen übernatürlicher Wesen aufgefaßt werden, also von Naturgeistern, Göttern oder zuletzt
im Monotheismus eines Gottes, treten im metaphysischen Stadium abstrakte Kräfte an ihre Stelle,
etwa der Wille oder das Absolute. Im letzten, positiven Stadium wird dagegen auf letzte absolute
Einsicht in die Ursachen der Phänomene verzichtet. Lediglich die empirischen Tatsachen werden
miteinander verbunden. Comte sah sich selbst als einen Vertreter dieses letzten Stadiums.
Am Beispiel des Dreistadiengesetzes ist auch das Element der Evolution (ohne Bezug auf Darwin) in seinem Werk nicht zu übersehen.
Comte ist der Ahnherr der Soziologie, welche die Philosophie zu verdrängen versuchte.
Er postulierte einen sechsstufigen Aufbau der Wissenschaft, in dem die Mathematik die Basis
ausmachte und auf den anderen Stufen, die Mechanik und die Astronomie, die Physik, die Chemie, die Biologie, und die Soziologie anzusiedeln sind, welche er als eine Art "soziale Physik"
verstand.
Ähnlich positivistische Strömungen innerhalb der allgemeinen Philosophie wurden kurze Zeit
später auch in England und in Deutschland präsent.
Zu erwähnen wären etwa für England Herbert Spencer und Deutschland Ernst Haeckel oder E.
Dühring. Spencer hatte eine eigene evolutionistische Konzeption vorgetragen, wurde von Darwin
inspiriert und als eigenständiger Philosoph wahrgenommen. Haeckel war vor allem ein
Popularisierer der Darwinschen Evolutionstheorie in Deutschland, während Dühring sich genuin
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als Positivisten bezeichnete.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann der Positivismus dann auch auf die Auffassungen des Rechts zu wirken. Rezipiert wurden Evolutionsaspekte dabei kaum, sondern die Orientierung an Tatsachen. Man sah das Recht vor allem oder ausschließlich als empirische Tatsache an,
wobei zwei Alternativen zur Verfügung standen:
Man konnte es entweder als psychologische Tatsache der seelischen Innenwelt des Menschen
oder als soziologische Tatsache des äußeren gesellschaftlichen Daseins beschreiben. Oft wurden
auch beide Auffassungen verbunden. Für ersteres stand etwa die psychologische Rechtstheorie
Ernst Rudolf Bierlings in seinem Hauptwerk „Juristische Prinzipienlehre“ (5 Bände 1894-1917).
Entscheidend wird bei ihm die Anerkennung des Rechts durch die Menschen: „Recht im juristischen Sinne ist im allgemeinen alles, was Menschen, die in irgend welcher Gemeinschaft miteinander leben, als Norm und Regel dieses Zusammenlebens wechselseitig anerkennen.“ (I, S. 19).
Für die Auffassung des Rechts als soziale Tatsache steht vor allem Max Weber. Recht ist nach
seiner Auffassung eine Ordnung, „die äußerlich garantiert ist durch die Chance des physischen
oder psychischen Zwangs durch ein auf Erzwingung der Innehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen“. Auch alle
Theorien, die das Recht in der Nachfolge Nietzsches vor allem als soziale Macht sehen (etwa
Foucault) gehören in diese Gruppe. Man kann diese Auffassung vom Recht als bloßer empirischer Tatsache den „rechtstheoretischen Positivismus“ nennen.
Er hängt zusammen mit einem rechtsethischen Positivismus oder Nihilismus: Für eine derartige
positivistische Auffassung kann eine naturrechtliche oder rechtsethische Verpflichtung für das
Recht nicht relevant werden. Sie ist einer rationalen Untersuchung und Betrachtung nicht zugänglich.
Vom rechtstheoretischen und rechtsethischen Positivismus nicht logisch abhängig, aber doch
auch nicht unbeeinflußt war schließlich ein Positivismus der juristischen Methodenlehre und damit vor allem der Rechtsquellen. Dem fiel zuerst das wissenschaftliche Recht zum Opfer und in
einer radikaleren Version auch das Gewohnheitsrecht. Übrig blieb von den drei Rechtsquellen
Savignys und Puchtas dann nur das Gesetz als Rechtsquelle. Man hatte den sog. „Gesetzespositivismus“ erreicht. Er findet sich bereits in der bekannt gewordenen Schrift „Die Wertlosigkeit der
Jurisprudenz als Wissenschaft“ von Julius Hermann von Kirchmann aus dem Jahre 1848 mit dem
berühmten Zitat: „Drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden
zur Makulatur.“
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Damit scheint aber der Gesetzespositivismus in der Form des Rechtsquellenpositivismus und
seine Auffassung von der Rechtswissenschaft in eine Krise oder "Widerspruch" zu geraten; jedenfalls in eine deutliche Spannung zu den philosophischen Ausgangspunkten des Positivismus.
Denn als Tatsachen, d.h. als Normen, deren Existenz durch empirisch beobachtbare Rechtsquellen "positiv" nachweisbar sein sollte, erwiesen sich dann die Gesetze doch als nicht permanent
oder als nicht beständig genug, anders als die empirischen Tatsachen der Wissenschaft im Geiste des Positivismus. Wie könnte dann überhaupt das Recht oder die Rechtswissenschaft im Sinne
des Rechtsquellenpositivismus den positivistischen Wissenschaftsidealen entsprechen? Was wäre
dann der Gegenstand der Rechtswissenschaft?
Vom Standpunkt des Rechtsquellenpositivismus und insbesondere vom Standpunkt Kirchmanns
besteht auch ein gewisser Gegensatz zu dem rechtstheoretischen Rechtspositivismus in seiner
psychologischen oder soziologischen Version:
Wenn nämlich Kirchmann mit seiner Behauptung recht hat, dann dürfen Anerkennung im Sinne
Bierlings oder Chance des Zwangs im Sinne Webers nicht mehr so relevant für die Identifikation
dessen sein, was Recht ist, soweit der Gesetzgeber seine drei berichtigenden Worte gesprochen
hat.
Kirchmann hat seine These nicht als Kritik am Gesetzespositivismus gefaßt, sondern in dessen
Konsequenz und als Kritik an der Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft. Der Gesetzespositivismus wurde weiter von vielen Dogmatikern propagiert und auch einigen Rechtstheoretikern,
insbesondere von K. Bergbohm und auch von Hans Kelsen. Mit dem Positivismus verbunden ist
häufig eine subjektivistische Theorie der Auslegung und Rechtsfortbildung und zugleich eine
strenge Bindung der Rechtsanwendung an die Rechtssetzung durch das Gesetz.
Die theoretische Frage bleibt dennoch offen, wie der Gesetzespositivist (und auch der Rechtswissenschaftler allgemein) auf die These Kirchmanns reagieren soll. Eine der konsequentesten und
aussagekräftigsten gesetzespositivistischen Antworten darauf ergibt sich aus Kelsens Reiner
Rechtslehre, der wir uns gleich zuwenden werden.
Bevor wir uns aber mit Kelsen beschäftigen, wollen wir einen allgemeinen Blick auf das heutige
Selbstverständnis des Rechtspositivismus werfen.
Einer der heutigen Vertreter in Deutschland, Norbert Hoerster, sieht fünf allgemeine Thesen, die
in Zusammenhang mit rechtspositivistischen Theorien gestanden haben oder stehen. Diese sind:
1. Der Begriff des Rechts ist ethisch neutral zu definieren (Neutralitätsthese)
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2. Der Begriff des Rechts ist durch den Begriff des Gesetzes zu definieren (Gesetzesthese)
3. Die Anwendung des Rechts erfolgt im Wege wertungsfreier Subsumtion (Subsumtionsthese)
4. Die Maßstäbe richtigen Rechts sind subjektiver Natur (Subjektivitätsthese)
5. Die Normen des Rechts sind in jedem Fall zu befolgen (Befolgungsthese)
Von diesen fünf Thesen ist für die Definition des Rechtspositivismus nach Hoerster die erste absolut wesentlich; sie wird in der Regel zusammen mit der vierten angetroffen, obwohl sie nicht
notwendig mit dieser verbunden sei. Obwohl auch die Thesen 3 und 5 dem Rechtspositivismus
zugeschrieben werden und mit ihm konsistent sind, ist Hoerster zuzustimmen, dass sie heute
kaum von einem Rechtspositivisten vertreten werden. Die These 2 schließlich impliziert, dass der
Rechspositivismus die Möglichkeit des Gewohnheitsrechts ablehnen würde, eine These, die nach
Hoerster mit dem Rechtspositivismus nicht einhergehen muss.
Tatsächlich stehen in den verschiedenen Versionen des Rechtspositivismus, die wir oben erwähnt
haben (rechtsheoretisch, rechtsethisch, rechtsquellenbezogen oder methodenbezogen) unterschiedliche Gesichtspunkte im Vordergrund, die diesen verschiedenen Thesen entsprechen.
II. Elemente der Reinen Rechtslehre: Hans Kelsen
Betrachten wir jetzt eine prominente, vielleicht auch die prominenteste, und besonders umfassende Konzeption des Rechtspositivismus im Sinne des Gesetzespositivismus und durchaus auch im
Sinne eines rechtstheoretischen und rechtsethischen Positivismus, Kelsens Reine Rechtslehre.
Zunächst einige Daten zu Person und Werk: Hans Kelsen, *11.10.1881 (Prag). Studium der
Rechtswissenschaft in Wien, Heidelberg und Berlin. 1906 Promotion an der Wiener Universität,
1911 dort Habilitation. 1914-1918 beamteter Dozent an der Exportakademie des k. k. Handelsministeriums (unterbrochen durch den 1. Weltkrieg). 1918-1930 Professor an der Universität
Wien, maßgebliche Mitarbeit an der Bundesverfassung Österreichs, Richter am Verfassungsgerichtshof, 1930-1933 ordentlicher Professor an der Universität Köln, ab 1933 Lehrtätigkeit am
Institut Universitaire des Hautes Etudes Internationales in Genf und zugleich an der Deutschen
Universität in Prag, wo er bis 1939 als Professor tätig war. 1940 Emigration in die USA, Lehrtätigkeit an der New School for Social Research. 1940-1942 Lecturer bzw. Research Associate an
der Harvard Law School. 1942-1945 Gastprofessor am Political Science-Department der University of California in Berkeley. Ab 1945 dort Professor. #19.04.1973 (Berkeley). -
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Werke: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatz (1911);
Über Staatsunrecht (1913); Zur Lehre vom öffentlichen Rechtsgeschäft (1913); Zur Lehre vom
Gesetz im formellen und materiellen Sinn (1913); Reichsgesetz und Landesgesetz nach der österreichischen Verfassung (1914); Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts
(1920); Sozialismus und Staat (1920, erweiterte Auflage 1923); Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (1923); Allgemeine Staatslehre (1925); Justiz und Verwaltung (1929); Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit (1929); Der Staat als Integration (1930); Unrecht und Unrechtsfolge im Völkerrecht (1932); Staatsform und Weltanschauung (1933); Reine Rechtslehre (1934,
geänderte und erweiterte Auflage 1960); Society and Nature (1943); General Theory of Law and
State (1945); Principles of International Law (1952); Allgemeine Theorie der Normen (1979).
Kelsen ist durch den Neukantianismus und den Wertrelativismus beeinflußt. Allerdings variiert
die Stärke der Präsenz neukantianischer Elemente in den verschiedenen Phasen der reinen
Rechtslehre. Stellt der Gesetzspositivisums auf das Bestehen von Gesetzen als empirischer Tatsachen ab, so folgt ihm Kelsen insofern als er auch für Rechtsnormen die Objektivität garantiert
sehen will, die wir auch im Fall einer wissenschaftlichen Untersuchung haben, die ihre Erkenntnisse auf empirische Tatsachen stützt. Auch die Kriterien mit denen die Rechtswissenschaft ihre
Aussagen trifft, sollen empirisch-objektiv-positivistisch sein. Jedoch unterscheidet sich Kelsen an
einem wichtigen Punkt von der bisherigen rechtspositivistischen Tradition, indem er den Dualismus zwischen Sein und Sollen ganz besonders in den Vordergrund stellt.
Tatsächlich geht er von einer unüberbrückbaren und fundamentalen Dualität oder Trennung zwischen dem Bereich des Seins, der Tatsachen sowie der Tatsachenurteile, und dem Bereich des
Sollens aus. Die Normen selbst sind keine empirischen Tatsachen, sondern gehören dem Bereich
des Sollens an. Ihre "spezifische" Existenzweise ist nach Kelsen ihre Geltung. Durch die Beobachtung empirischer Tatsachen, etwa der Sitzung eines Parlaments und durch die Hinzunahme
bestimmter Normen, etwa der Normen der Verfassung und der Geschäftsordnung dieses Parlaments können wir die Erkenntnis gewinnen, dass eine bestimmt Norm gilt. Aber wir können zu
einer solchen Konklusion über die Geltung einer Norm niemals durch die bloße Beobachtung von
Tatsachen gelangen. Diese Unterscheidung zwischen Sein und Sollen ist nach Kelsen unserem
Bewußtsein unmittelbar vorgegeben. Sie ist nicht weiter analysierbar oder erklärbar. (An diesem
Punkt greift er auf Simmels "Einleitung in die Moralwissenschaft" zurück.)
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Kelsen steht mit dieser Überzeugung auf einer Linie des Denkens, die (außer dem ebenfalls neukantianisch geprägten Simmel) weitere, etwa David Hume, Immanuel Kant und George H. Moore miteinander verbindet. Diese Philosophen haben einen ähnlichen Gedanken ausgedrückt, auch
wenn die philosophische Interpretation ihrer Position zu diesem Thema – vor allem im Fall
Humes – nicht unwesentlich schwankt. Andererseits sollte man betonen, dass diese philosophischen Ansichten sich auf das moralische und nicht auf das rechtliche Sollen beziehen.1
(Auf das Verhältnis zwischen dem moralischen und dem rechtlichen Sollen auch unter dem Gesichtspunkt der Unterscheidung zwischen Sein und Sollen geht Kelsen in den "Hauptproblemen
der Staatsrechtslehre" ein. )
Beim Dualismus zwischen Sein und Sollen handelt es sich auch bei Kelsen vor allem um einen
erkenntnistheoretischen Dualismus, nämlich in dem Sinne, daß allein aus Erkenntnissen über den
Bereich des Seins keine Erkenntnisse über den Bereich des Sollens, nämlich über die Frage, ob
1
Hume schreibt beispielsweise an einer Stelle, sinngemäß, daß ihm bei der Lektüre moralphilosophischer Arbeiten
aufgefallen sei, dass der jeweilige Autor nach einer Reihe von Beobachtungen und Aussagen über Tatsachen plötzlich einen Sprung macht und anfängt über das zu reden, was der Fall sein soll. Hier liegt aber ein Problem, meint
Hume. Es ist nicht eindeutig, ob Hume hier tatsächlich auf dem Standpunkt steht, ein solcher Übergang "vom Sein
zu Sollen" sei unmöglich (was eher der traditionellen Interpretation seines Denkens entspricht) oder ob er auf dem
Standpunkt steht, dass ein solcher Übergang zwar möglich sei, aber in den bisherigen Ansätzen fehlerhaft vollzogen.
Bei I. Kant korreliert diese Trennung mit seiner Lehre von dem guten Willen, der rein von empirischen Bestimmungen sei und nur von dem kategorischen Imperativ geleitet wird. Die Trennung zwischen Sein und Sollen scheint aber
auch allgemein eine Voraussetzung seines Denkens zu sein, wie seine Unterscheidung zwischen den philosophischen
Fragen "was kann ich wissen" und "was soll ich tun" (in der Jäsche - Logik um 1800) verrät.
Auch bei Kant stößt jedoch die Interpretation seiner Trennung von Sein und Sollen auf gewisse Schwierigkeiten, die
mit seiner Lehre vom moralischen Gesetz als "Faktum der Vernunft" verbunden sind.
George H. Moore vertrat in seinem "Principia Ethica" (1903) die Auffassung, dass das Prädikat "gut" unanalysierbar
sei. Jeder Versuch, dieses Prädikat anhand weiterer Prädikate zu analysieren, und damit auch zu definieren, sei gegenüber dem Einwand nicht gefeit, man können immer noch sinnvoll die Frage aufwerfen, ob diese(r) definierende
Zustand, Relation oder Eigenschaft wirklich gut sei (sog. "Argument der offenen Frage"). Insbesondere ist die
Gleichsetzung der der Bedeutung von "gut" mit der Bedeutung irgendwelcher empirischer Prädikate ganz verfehlt
(sog. "naturalistischer Fehlschluß"). "Gut" ist ein Prädikat, dessen Bedeutung wir allein anhand einer besonderen
Fähigkeit erfassen können (Lehre von dem "moralischen Intuitionismus"). Diese Argumentation Moores in den ersten Kapiteln der "Principia Ethica", das eher ein Werk des Übergangs in seinem Denken darstellt, ist in ihren Details
nicht einfach zu rekonstruieren. Jedoch bezieht sich Kelsen in der zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre (1960)
zugunsten des Dualismus zwischen Sein und Sollen explizit auch auf diese Lehre.
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eine Norm gilt oder nicht, gewonnen werden können.2
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In einem strenger logischen Sinne ist dieser Dualismus nicht völlig gesichert; er teilt jedenfalls nicht die Evidenz,
die etwa das logische Gesetz der Identität, "jedes Objekt ist mit sich identisch" charakterisiert.
Es gibt nämlich einige auf den Philosophen A. N. Prior zurückgehende Paradoxien, die diesen Dualismus problematisieren, und jedenfalls zeigen, dass die Trennung zwischen Sein und Sollen aus rein logischer Sicht nicht so evident
ist, wenn wir den üblichen Folgerungsbegriff der modernen Logik zugrundelegen.
Nach diesem Folgerungsbegriff folgt ein Satz q aus einer Menge von Prämissen M genau dann, wenn in dem Fall,
dass alle Sätze aus M wahr sind, auch q wahr ist.
Die Paradoxien von A. N. Prior lauten nun: Haben wir eine Tatsachenaussage wie "es regnet", dann können wir auf
den Satz "es regnet oder du sollst nicht lügen" schließen. Genauso gut können wir natürlich aus dem Satz "es regnet" auf den Satz "es regnet oder du sollst lügen" schließen. Wir können aus diesem Satz, "es regnet", auch schließen auf: "Es regnet oder es schneit". Denn aus jedem Satz können wir auf die Disjunktion dieses Satzes mit jedem
beliebigen Satz schließen, da die Disjunktion niemals falsch wird, wenn das eine Disjunktionsglied, (nämlich in
diesem Fall das deskriptive, die "Tatsachenaussage") wahr ist. Nun ist klar, daß ein Satz wie "es regnet oder du
sollst nicht lügen" einen deskriptiven Teilsatz, nämlich "es regnet" und einen normativen Teilsatz hat, nämlich "du
sollst nicht lügen", Wie sollen wir einen solchen komplexen Satz klassifizieren? Klassifizieren wir ihn als normativ,
also als einen "Sollsatz", dann haben wir ein glattes Beispiel für einen Übergang vom Sein zum Sollen. Klassifizieren wir solche Sätze, die Disjunktionen zwischen deskriptiven und normativen Sätzen sind, als deskriptiv, dann
haben wir das Problem, dass wir dann aus einer (wie gerade festgelegt) deskriptiven Disjunktion "p oder du sollst
nicht lügen" und aus einem zusätzlichen deskriptiven Satz "nicht p" auf "du sollst nicht lügen" schließen können.
(Wobei p ein beliebiger deskriptiver Satz ist.) Wieder ein glatter Übergang von Sein zum Sollen. Klassifizieren wir
ihn schließlich als "gemischt", dann wird die Evidenz, dass ein solcher Übergang von Sein zu Sollen logisch nicht
möglich sei, doch erschüttert: Denn wir haben weiter oben gesehen, dass ein Übergang von einem rein deskriptiven
Satz ("es regnet") zu einem nach jetziger Festlegung "gemischten" ("es regnet oder du sollst nicht lügen") möglich
ist. Wir haben danach gesehen, dass auch ein Übergang von einem "gemischten" Satz mit Hilfe eines deskriptiven
Satzes zu einem rein normativen Satz möglich ist (aus "p oder du sollst nicht lügen" und "nicht p" zu "du sollst nicht
lügen"). Warum wäre dann ein Übergang von Sein zu Sollen mittels solcher gemischter Sätze nicht möglich? Wir
haben ein Problem und das Problem ist, dass aus rein logischer Sicht, unter Zugrundelegung des Folgerungsbegriffs
der klassischen Logik, wir doch keine klaren Evidenzen darüber haben, oder anhand eines Beweises entwickeln
können, dass in allen denkbaren Situationen ein solcher Übergang völlig ausgeschlossen ist. Das wäre aber eine
notwendige Bedingung, um die Trennung zwischen Sein und Sollen als rein "logische Trennung" aufzufassen. Es
gibt verschiedene Ansätze, mit den Bespielen Priors umzugehen; zu diesen gehören auch solche, die den logischen
Folgerungsbegriff durch zusätzliche Kriterien modifizieren. Man kann aber den Dualismus zwischen Sein und Sollen
auch als nicht logische, sondern erkenntnistheoretische oder ontologische Frage ansehen. Die erkenntnistheoretische
Deutung entspricht auch der neukantianischen Position Kelsens.
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Betrachten wir die Auswirkungen dieser tragenden Unterscheidung zwischen Sein und Sollen auf
seine Konzeption des Rechts und der Rechtswissenschaft. Denn es geht in der Reinen Rechtslehre vor allem um eine Konzeption der Rechtswissenschaft, um ein aus der Sicht Kelsens konsequentes Durchdenken oder zu Ende Denken der Art, wie die Rechtswissenschaft arbeitet. Ist sie
eine Naturwissenschaft, eine Gesellschaftswissenschaft oder etwas Drittes? Betrachtet man die
Phänomene, mit denen sich die Rechtswissenschaft beschäftigt, so könnte man den Eindruck gewinnen, das sie sowohl in der Natur als auch in der Gesellschaft verankert sind. Was sind die
Gegenstände der Rechtswissenschaft und welche Besonderheiten haben sie?
Die Gegenstände der Rechtswissenschaft sind nach Kelsen vorwiegend Akte. Bei Akten kann
man nach Kelsen zwei Aspekte unterscheiden:
Einen im Raum und Zeit vor sich gehenden Akt oder äußeren Tatbestand und die Bedeutung dieses Aktes; und zwar die Bedeutung, die das Recht, die Rechtswissenschaft, diesem Akt beimißt.
Der äußere Tatbestand ist an sich ein naturgesetzlich bestimmter Vorgang. Als solcher ist er nicht
Gegenstand der Rechtswissenschaft. Was diese Vorgänge zu Vorgängen der Rechtswissenschaft
macht, ist ihr spezifisch juristischer Sinn. Was ist dieser spezifisch juristische Sinn? Wie kommt
aber die Zuschreibung eines "juristischen Sinns" von Akten zustande? Und wo stehen in diesem
Modell die Rechtsnormen?
Kelsen bringt u. a. das Beispiel einer Person, die auf ein Blatt Papier schreibt, "das ist mein Testament, und im Falle meines Todes soll mit meinem Vermögen geschehen, dass ...". Das Hinschreiben dieser Worte ist ein naturgesetzlich bestimmter Vorgang. Mit diesem Vorgang verbindet diese Person einen subjektiven Sinn. Sie will bestimmen, was im Falle ihres Todes mit ihrem
Vermögen geschehen soll. Diesem Vorgang schreibt seinerseits das Recht einen Sinn zu. Es kann
daraus ein rechtsgültiges Testament machen. In diesem Fall erklärt das Recht den subjektiv,
durch diese Person, gemeinten zum juristischen relevant oder zum "objektiven" Sinn dieses Aktes. Das Recht kann aber auch diesen subjektiv gemeinten Sinn für rechtlich unerheblich erklären,
wenn etwa ein Formfehler vorgekommen ist. Das Recht erklärt dann, diese Verfügung für unwirksam. Die Deutung der Akte erfolgt durch Rechtsnormen. Die Rechtsnormen schreiben bestimmten naturgesesetzlichen Vorgängen, nämlich solchen, die Tatbestand eines Aktes sind, einen Sinn zu. In einigen Fällen erfolgt dies dadurch, dass Rechtsnormen den subjektiv gemeinten
Sinn des Aktes auch für dessen objektiven Sinn erklären. In manchen Fällen kann es aber auch
vorkommen, dass der Sinn, den das Recht einem Akt zuschreibt, wenig mit dem subjektiven Sinn
gemeinsam hat, der damit durch die handelnde Person verbunden wird.
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Die Rechtsnormen sind also in dieser Konzeption Deutungsschemata für Akte. Zugleich sind sie
aber, und das macht den Kern dieser Konzeption aus, selbst der Sinn von Akten, nämlich von
Akten der Gesetzgebung, oder auch, wie wir gleich sehen werden, der Verwaltung oder der Justiz.
Der juristisch relevante Sinn von Handlungen in einem Sitzungsraum des Parlaments wird ihnen
durch die Verfassung und die Geschäftsordnung zugeschrieben.
Die Empirie, nämlich die empirische Erkenntnis und Erfahrung des Tatbestandes dieser Akte ist
eine notwendige Voraussetzung der Zuschreibung eines juristisch relevanten Sinnes durch
Rechtsnormen. Die Rechtsnormen funktionieren nur dann als Deutungschemata für Akte, die zu
der Zuschreibung eines objektiven Sinnes führen, wenn sie die Bedingung für diese Zuschreibung
an empirisch überprüfbare Elemente knüpfen.
Damit entsteht eine Hierarchie von Akten, die durch weitere Akte, nämlich durch Normen einen
juristisch relevanten, objektiven Sinn bekommen. Normen sind selbst Akte, denen durch weitere
Normen ein juristisch relevanter oder "objektiver" Sinn zugeschrieben wurde.
Damit gelangen wir zu der Verfassung, die den Akten der Gesetzgebung einen objektiven Sinn
verleiht. Um auch die Verfassung in diese Konzeption einzubinden und sie als gedeuteten objektiven Sinn der Akte der verfassungsgebenden Personen darzustellen, führt Kelsen eine weitere
Norm ein, die Grundnorm.
Die Grundnorm ist keine positiv gesetzte, sondern eine von der Rechtswissenschaft oder vom
juristischen Denken vorausgesetzte Norm, die die Deutung von Akten als juristisch relevant
überhaupt, ermöglicht. Im Anschluß an Kant bezeichnet Kelsen die Grundnorm als eine "transzendental-logische Bedingung", also als eine Bedingung der Möglichkeit rechtswissenschaftlichen Denkens. (Kant hatte als Bedingungen für die Möglichkeit der Erfahrung überhaupt aus
seiner Sicht von der Erfahrung unabhängige Anschauungen des Raumes und der Zeit und Verstandesbegriffe angesehen.) Dieses kantische Element, nämlich die Charakterisierung der Grundnorm als "transzendental" wird in der späteren Entwicklung der Reinen Rechtslehre etwas abgeschwächt. Manchmal bezeichnet er die Grundnorm als hypothetisch oder als reine Fiktion. Betrachten wir nun einige Konsequenzen aus dieser grundlegenden Konzeption. Aber vorher können wir die Frage zu beantworten versuchen, wie auf dem Boden der reinen Rechtslehre eine
Antwort auf Kirchmanns Kritik möglich ist.
Aus der Sicht der Reinen Rechtslehre wären die Erkenntnisse der Rechtswissenschaft nicht bloße
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Erkenntnisse von bestimmten Normen, die heute gelten und morgen nicht. Die Erkenntnisse der
Rechtswissenschaft sind eher Zusammenhänge der Gestalt "wenn die Norm N gilt und wenn die
Fakten a, b, c vorliegen, dann gilt auch die Norm H, die der objektive Sinn der Handlung h ist" ,
d.h. eine Handlung h wird durch die Norm N bei Vorliegen der Eigenschaften a, b, c ein juristisch
relevanter Sinn zugeschrieben, der sie zu einer Norm H macht. Solche Konditionalaussagen werden nicht durch drei berichtigende Worte des Gesetzesgebers korrigiert oder falsifiziert.
Nachdem wir jetzt den Kern der Theorie dargestellt haben, betrachten wir einige weitere allgemeine Aspekte der Konzeption Kelsens. Kelsen versuchte, die Rechtsphilosophie auf eine von
ethischen, psychologischen, soziologischen, politischen und ökonomischen Einflüssen gesäuberte
rechtstheoretische Beschreibung des Rechtssystems zu reduzieren. Das Rechtssystem ist nach
seiner Auffassung ein hierarchisches System von Zwangsnormen mit einer bloß gedachten, geltungsverleihenden „Grundnorm“ an der Spitze.
Hans Kelsens Grundthese in der „Reinen Rechtslehre“ lautet: Die Rechtslehre bzw. Rechtstheorie
soll „rein“ sein! “Rein” ist eine Theorie des Rechts, die sich nur auf den Gegenstand “Recht”
konzentrieren soll, ohne mit Psychologie, Soziologie, politischer Theorie oder Ethik vermengt zu
sein. Die Vermeidung eines sog. “Methodensynkretismus” ist also oberstes Gebot. Die Reine
Rechtslehre will „die Rechtswissenschaft von allen ihren fremden Elementen befreien.” Sie ist
eine Theorie des positiven Rechts (S. 1). Kelsen wendet sich gegen jede Theorie der Gerechtigkeit mit wissenschaftlichem Anspruch. Die Rechtsethik ist für ihn bloße Politik. Das bedeutet:
Die Rechtsphilosophie kann nur aus einer Rechtstheorie bestehen, nicht aber aus einer Rechtsethik. Diese skeptische Auffassung gegenüber der Ethik entspricht der Grundhaltung des logischen Positivismus bzw. logischen Empirismus der damaligen Zeit (Ayer, Schlick, Wittgenstein)
zur Ethik. Danach kann die Ethik nur die tatsächliche Moral beschreiben oder die Ethiksprache
analysieren, also nur„Metaethik“ sein, aber keine normativ gehaltvolle Theorie aufstellen. Der
Kern der Kelsenschen Rechtstheorie ist die Lehre vom Stufenbau des Rechts. Obwohl diese Lehre schon vorher vertreten wurde, hat Kelsen sie ausgebaut, verfeinert und populär gemacht. Das
Recht ist danach als Stufenbau von Rechtsnormen zu denken, als ein System. Der Stufenbau der
Rechtsordnung führt zu einer Hierarchie von Rechtssetzern:
Verfassungsgeber
Gesetzgeber
Verordnungsgeber
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Behörde und Gericht
Die Theorie des Stufenbaus der Rechtsordnung hat zusammen mit dem Postulat der Reinheit einige Folgen, die von traditionellen Lehren der Rechtswissenschaft abweichen.
Die Unterscheidung und Trennung der Staatsfunktionen wird bloß zu einer quantitativen Angelegenheit erklärt. Jeder Akt ist zugleich Vollziehung und Rechtssetzung. (Ausnahme sind nur die
Grundnorm und der ultimative Akt der Rechtsvollstreckung).
Der traditionelle Begriff des Staates wird aufgelöst. Der Staat ist eine juristische Person, nämlich
ein durch Normen geschaffenes Zurechnungssubjekt für Akte, das als Zurechnungssubjekt der
gesamten Rechtsordnung erklärt wird. Die Interpretation des Rechts ist außerhalb der Bindung an
die höherrangige Norm Rechtssetzung. Wegen der „Reinheit“ seiner Theorie kann Kelsen den
Stufenbau aber nur beschreiben, jedoch nicht erklären, etwa durch Verweis auf externe historische, politische, ökonomische oder soziale Einflüsse. Er kann den Stufenbau auch nicht rechtfertigen. Dazu müßte er sich auf eine Rechtsethik beziehen. Kelsen unterscheidet weiterhin zwischen dynamischen und statischen Systemen. Das Recht ist seiner Meinung nach ein dynamisches System, kein statisches:
-statisches System: Norm gilt kraft inhaltlicher Rückführung auf höhere Norm. Sie
kann in ihrem Inhalt aus der höheren Norm abgeleitet werden.
-dynamisches System: Norm gilt unabhängig von ihrem Inhalt kraft ihrer formalen Ermächtigung
durch höherrangige Norm, z. B. Ermächtigung zum Erlaß einer Verordnung durch Gesetz, Ermächtigung zum Erlaß eines Verwaltungsaktes durch Verordnung usw.
Der Charakter der Dynamik erleichtert die ständige Veränderung des Rechts, da nicht jede inhaltliche Modifikation auf einer Ebene sofort auf allen Ebenen zu inhaltlichen Veränderungen führen
muß.
Aber: Moderne Rechtssysteme schreiben vielfach auch eine inhaltliche Verbindung der Normen
verschiedener Hierarchiestufen vor:
Man denke z. B. an Art. 80 I S. 1+2 GG: “Durch Gesetz können die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen.
Dabei müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetze bestimmt werden.” Eine ähnliche inhaltliche Bindung ergibt sich auch aus dem Prinzip der Verfassungsmäßigkeit nichtverfassungsmäßigen Rechts (Art. 20 III GG: “Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht
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gebunden.”) Sie ergibt sich weiterhin aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur
mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte.
Nur eine inhaltliche Hierarchie kann überdies die Funktionen der Demokratie, der sachangemessenen Abstraktheit und Konkretheit sowie der Rationalisierung der Entscheidung durch Rückgriff
auf höhere oder niedere Ebenen erleichtern. Kelsens Kennzeichnung des Rechts als ausschließlich oder auch nur vorherrschend dynamische Stufenordnung ist also zumindest für eine Rechtsordnung wie die deutsche problematisch. Die Stufenordnung des modernen Rechts ist vielmehr
wohl eher eine Verschränkung von formalen und inhaltlichen Hierarchieelementen.
Nach Kelsen vermittelt die übergeordnete Rechtsnorm Geltung. Man erhält auf diese Weise eine
Geltungspyramide mit der Verfassung an der Spitze. Aber: Was vermittelt der Verfassung ihre
Geltung? Kelsens Antwort: eine oberste bloß gedachte Grundnorm. Diese lautet: “Man soll sich
so verhalten, wie es die Verfassung vorschreibt!” “Alle Normen, deren Geltung auf eine und dieselbe Grundnorm zurückgeführt werden kann, bilden ein System von Normen, eine normative
Ordnung. Die Grundnorm ist die gemeinsame Quelle für die Geltung aller zu einer und derselben
Ordnung gehörigen Normen, ihr gemeinsamer Geltungsgrund. Daß eine bestimmte Norm zu einer bestimmten Ordnung gehört, beruht darauf, daß ihr letzter Geltungsgrund die Grundnorm
dieser Ordnung ist. Diese Grundnorm ist es, die die Einheit einer Vielheit von Normen konstituiert, indem sie den Grund für die Geltung aller zu dieser Ordnung gehörigen Normen darstellt.”
(S. 197).
“Sofern nur durch die Voraussetzung der Grundnorm ermöglicht wird, den subjektiven Sinn des
verfassungsgebenden Tatbestandes und der der Verfassung gemäß gesetzten Tatbestände als deren objektiven Sinn, das heißt: als objektiv gültige Rechtsnorm zu deuten, kann die Grundnorm in
ihrer Darstellung durch die Rechtswissenschaft als die transzendental-logische Bedingung dieser
Deutung bezeichnet werden.” (S. 204f.)
Aber: wie kann eine bloß gedachte Bedingung, ein subjektives Wollen in objektives Sollen verwandeln und oberster Geltungsgrund sein? Kelsens Rechtstheorie versucht das Rechtssystem
gegen alle externen Gesichtspunkte, seien sie sozialer oder ethischer Natur abzuschotten. Dazu
benutzt er den Begriff der objektiven Geltung.
Das bedeutet: Die objektive Geltung stellt quasi das allumfassende Verbindungselement zwischen den einzelnen Rechtsnormen dar. Nur mit Hilfe der objektiven Geltung kommt der Stufenbau zustande. Neben der These des Stufenbaus ist demnach eine Norm- und Geltungstheorie das
Herzstück der Kelsenschen Rechtstheorie. Kelsen stellt die Frage, wie kann eine Rechtsnorm als
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subjektiver Rechtssetzungsakt „objektiv“ sein. Seine Antwort lautet: der subjektive Willensakt
kann nur durch eine übergeordnete Norm als Deutungsschema objektiv sein. Dies ist das Herzstück von Kelsens Norm- und Geltungstheorie. Dazu kommen drei weitere Elemente. Die Normund Geltungstheorie umfaßt also folgende vier Elemente:
(1) Die übergeordnete Rechtsnorm ist ein erkenntnistheoretisches Deutungsschema, das ein subjektives Sollen/Wollen als bloße Tatsache, als bloßes Sein in ein objektives Sollen, eine objektive
Norm verwandelt (vgl. den Sein-Sollen-Dualismus!):
Aber: - Warum soll eine solche Deutung nicht auch durch andere Sozialnormen als durch
Rechtsnormen erfolgen, etwa durch sprachliche Normen? - Was heißt objektiv? Nur Intersubjektivität ist möglich!
(2) Die Geltung ermöglicht die Inkorporation einzelner Willensakte in das Rechtssystem, das
heißt deren Auszeichnung als Rechtsnormen und damit als Teil des Rechtssystems. Aber: Inkorporation muß nicht durch höherrangige Normen erfolgen: neben Art.76ff. GG spielen z. B. beim
Gesetzeserlaß das Bundeswahlgesetz und die Geschäftsordnung des Bundestages ebenfalls entscheidende Rolle. Auch eine Inkorporation durch Selbstdeutung ist möglich, z. B. im Falle einer
Revolution.
(3) Die Geltung bewirkt die rechtsinterne Rechtfertigung niederrangiger Rechtsnormen durch
höherrangige Rechtsnormen. Aber: Rechtsinterne Rechtfertigung verleiht keine Objektivität und
über die reine Positivität des Rechts hinausgehende rechtsethische Rechtfertigung.
(4) Die Geltung bewirkt schließlich die Konfliktlösung zwischen konkurrierenden Rechtsnormen,
also die Kollisionsvermeidung. Dieser Geltungsbegriff ist plausibel. Das heißt: Der Geltungsbegriff dient der Kollisionslösung. Dazu ist die Bildung einer übergeordneten Kollisionsregel
zweckmäßig, aber kein weiterer Regreß erforderlich, da jede Norm für sich selbst die Geltung
behauptet.
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