Vortrag

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Kommunalunternehmen
Kliniken und Heime des
BEZIRKS OBERFRANKEN
BEZIRKSKRANKENHAUS
BAYREUTH
Dürfen wir oder müssen
wir Menschen am
Suizid hindern?
Manfred Wolfersdorf, Bayreuth
Vortrag beim 19. Forum Psychiatrie und Psychotherapie Paderborn
23./24. September 2014 anlässlich der Verabschiedung des
Ärztlichen Direktors PD Dr. med. Bernward Vieten
Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c.
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1
Tabelle:
Suizid und „Gesundheit“
Osiander Friedrich Benjamin (1813)
„Von den Ursachen des Selbstmordes.“
Aus: Über den Selbstmord, seine Ursachen, Arten, medicinisch-gerichtliche Untersuchung und
die Mittel gegen denselben. Hannover 1813
„Der vollkommen gesunde und vollkommen vernünftige Mensch
hat eine heftige Liebe zum Leben, und lässet, wie der Satan zu Hiob
sagte, Haut für Haut, und alles, was ein Mensch hat, für sein Leben.
…
Diese Liebe zum Leben aber dauert so lange, als wir an Geist und
Körper gesund sind.“
(zit. nach Willemsen R. Der Selbstmord. Köln 2001, S. 122 – 123)
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2
Sollen wir, müssen wir Suizid
verhindern?
1.Suizidologische Daten
2.Die aktuellen Positionen „Selbstbestimmung“
•juristisch (Gavela 2013)
•standesrechtlich
•medizinethisch (Vollmann, Karenberg,
Birnbacher, Wedler, u.a.)
3.Die ethische Legetimation von
Suizidprävention
4.Suizidbeihilfe – die aktuelle Diskussion
5.Sollen wir, müssen wir Suizid verhindern?
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3
Heutiges Verständnis von Suizidalität
Suizidalität * Definition
(Wolfersdorf 1996, 2000, Wolfersdorf und Etzersdorfer 2010, DGPPN 2010)
Suizidalität ist die Summe aller Denk-,
Erlebens- und Verhaltensweisen von
Menschen oder Gruppen von
Menschen, die in Gedanken, durch
aktives Handeln, Handelnlassen oder
passives Unterlassen den eigenen Tod
anstreben bzw. als möglichen Ausgang
einer Handlung in Kauf nehmen
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4
Suizidalität
(Wolfersdorf 1996, 2000, Wolfersdorf und Etzersdorfer 2011)
Suizidalität ist grundsätzlich allen
Menschen möglich, tritt jedoch am
häufigsten in psychosozialen Krisen und
bei psychischer Erkrankung auf
(medizinisch-psychosoziales
Paradigma).
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5
Tabelle : Freiverantwortliche und selbstbestimmte Suizide : Beispiele
•
•
Opfersuizide
•
Sich töten lassen für andere (z. B. Pater Kolbe KZ, Jesus Christus)
•
Für eine religiöse Idee (z. B. Martyrer, Mönche Diem Phu, Sekten)
Sichsterbenlassen als gesellschaftlich erwünschtes Verhalten
•
Inuits (siech kranke Männer)
•
Reiterstämme Mandschurei (kranke Männer)
•
Witwenverbrennung (Suizid/Totschlag, Indien)
•
Selbst- und Fremdtötung als Methode der Kriegsführung
•
Terroristensuizide
•
Kamikaze
•
Selbsttötung, sich töten lassen zur Widerherstellung der Ehre (z. B. Harakiri der Japaner;
Altes Testament Samson)
•
Selbsttötung als Pflicht zum Staatsschutz
•
•
Geheimdienste
•
Krieger, um Geheimnisse nicht zu verraten
Massensuizide bei drohendem Genozid
[Das Ausmaß von Freiverantwortlichkeit bzw. insbesondere Selbstbestimmung wechselt dabei]
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6
Tabelle :
Thomas v. Aquin „Summa Theologial“ 1265
(nach Brieskorn 2005) (1)
Argumente gegen die Erlaubtheit des Suizides
Nach Thomas gilt Augustinus. De civitate Dei. Buch I. Cap. 20
Das Gebot „Du sollst nicht töten“ ist ausschließlich auf den Menschen zu
beziehen und zwar sowohl auf den anderen als auch auf sich selbst.
„Denn wer sich selbst tötet, tötet auch einen Menschen“ [Augustinus
(1977). De civitate Dei. 2. Bd. München, dtv].
1.
Suizid ist völlig unerlaubt, weil er 1. eine Sünde gegen die Liebe (zu
sich selbst) ist. Das Leben ist zu lieben. Dies ist ein Naturgesetz!
2.
Der Suizid ist Sünde gegen die Gesellschaft! Das Leben des einzelnen
Menschen ist als Teil des Lebens der Gesellschaft zu begreifen. Ich
gehöre der Gesellschaft, ihr darf ich mich nicht entziehen.
3.
Der Suizid ist Sünde gegen Gott. Leben ist zwar Geschenk Gottes an
mich, aber der Mensch darf nicht mit dem Geschenk beliebig
umgehen. Gott allein tötet und macht lebendig (Dtn 32, 39).
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7
Tabelle :
Thomas v. Aquin „Summa Theologial“ 1265
(nach Brieskorn 2005) (2)
Argumente für die Erlaubtheit des Suizides
1. Keiner kann sich selbst eine Ungerechtigkeit zufügen.
2. Wer legitimiert ist durch das Gemeinwesen, Verbrecher zu
töten, darf auch sich, wenn er selbst ein Verbrecher ist, töten.
3. Durch Suizid kann jemand einer Gefahr entrinnen, was besser
als der Verlust des Lebens ist; Samson hat sich selbst getötet
und wird unter die Heiligen gezählt.
4. Wer sich aus Edelmut oder Tapferkeit selbst tötet, tut es
erlaubt.
[zitiert nach Brieskorn N, SJ (2005). Gesellschaftliche Bedingungen der
sozialethische Grundfragen der Prävention. SUIZIDPROPHYLAXE 32 (2): 46 –
54, insbes. S. 49]
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8
Tabelle : Warum sind Suizide verboten und tabuisiert?
Argumente für und gegen Suizidprävention nach Chr. Reimer
(2005)
• Gegner der Suizidprävention weisen darauf hin,
•
dass die Freiheit des Menschen ein hohes Rechtsgut sei, das nicht angetastet
werden dürfte,
•
dass viele bedeutende Menschen den Suizidtod gewählt hätten,
•
dass Suizid in manchen Kulturen angesehen und ehrenswert sei.
• Verfechter der Suizidprävention
•
sehen das Problem nicht aus philosophischer, religiöser oder kultureller Sicht,
sondern aus klinisch-therapeutischer,
•
weisen darauf hin, dass Suizidhandlungen regelhaft durch Krisen oder
Krankheiten bedingt seien und
•
hinsichtlich ihrer Hintergründe differenziert betrachtet werden müssen.
•
Argumentieren, dass keine menschliche Situation zwingend zum Suizid führe,
•
die meisten Suizidanten froh seien, gerettet worden zu sein.
[Reimer Chr. Zum Verständnis des Suizides: Freiheit oder Krankheit? In: Wolfslast G, Schmidt KW (Hrsg.). Suizid und
Suizidversuch. Beck, München 2005, 27 – 45; insbes. 28, 29]
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Tabelle : Suizidzahlen und –raten 1990 – 2012 in Deutschland
[Quelle: Statistisches Bundesamt, Todesursachenstatistik; NASPRO G. Fiedler, Hamburg, Dez. 2013]
Jahr
Anzahl
gesamt
m
w
1990
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
2012
13 924
14 011
13 458
12 690
12 718
12 888
12 225
12 265
11 644
11 157
11 065
11 156
11 163
11 150
10 733
10 260
9 765
9 402
9 451
9 616
10 021
10 144
9 890
9 534
9 656
9 326
8 960
9 130
9 222
8 782
8 841
8 575
8 080
8 131
8 188
8 106
8 179
7 939
7 523
7 225
7 009
7 039
7 228
7 465
7 646
7 287
4 390
4 355
4 132
3 730
3 588
3 666
3 497
3 424
3 069
3 077
2 934
2 968
3 057
2 971
2 794
2 737
2 540
2 393
2 412
2 388
2 556
2 498
2 603
Raten auf 100 000 EW
gesamt
m
17,5
17,5
16,7
15,6
15,6
15,7
15,0
14,9
14,2
13,6
13,5
13,5
13,5
13,5
13,0
12,4
11,9
11,4
11,5
11,7
12,3
12,4
12,1
24,9
25,0
23,9
22,7
23,1
23,0
21,9
22,1
21,4
20,2
20,3
20,4
20,1
20,3
19,7
18,6
17,9
17,4
17,5
18,0
18,6
19,0
18,1
w
10,7
10,5
9,9
8,9
8,6
8,7
8,3
8,1
7,3
7,3
7,0
7,0
7,2
7,0
6,6
6,5
6,0
5,7
5,8
5,7
6,1
6,0
6,3
[bis einschließlich 1997 nach ICD-9 (E 950 – 959), ab 1998 nach ICD-10 (X60 – X84)]
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Tabelle : Ein Erklärungsversuch des
erneuten Anstieges : Wirtschaftskrise,
Verlust des Ansehens und Suizid
Ein wichtiger aktueller ökonomischer Risikofaktor für
Suizid ist die Bedrohung der wirtschaftlichen
Existenzbasis und der damit verbundene Verlust des
gesellschaftlichen Ansehens der Person und auch
seiner Familie (existentiell bedrohliche Krise). Ein
wichtiges Ergebnis (Stuckler et al. 2009):
Mit jedem Prozent mehr an Arbeitslosigkeit steigt die
Suizidzahl der unter 65-Jährigen um o,8 % an
(Daten aus 26 EU-Staaten über 37 Jahre 1970-2007) D.h. im EURaum ca. 500 Suizide mehr pro Jahr. (IMABE :Public health)
(Stuckler D, Basu S, Suhrcke M, Coutts A McKee M. The public health effect of economic
crises and alternative policy responses in Europe : an empirical analysis. Lancet 2009; 374:
315-323)
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11
TABELLE :
Psychische Erkrankung bei Suizid * Daten aus Metaanalyse „Psychiatric diagnoses
and suicide: Revisting the evidence“ [Bertolote JM, Fleischmann A, DeLeo D, Wasserman D 2004]
Gesamtgruppe
(n = 15 629)
Erkrankung
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
n
Affektive Störung
Substanzbezogene Störung
Schizophrenie
Persönlichkeitsstörung
Hirnorganische Störung
andere psychotische Störung
Angst- u. somatoforme Störungen
Anpassungsstörung
Andere DSM-Achse-I-Diagnosen
Keine Diagnose
• gesamt
%
Psychiatrische
Patienten stat.
(n = 7 424)
n
%
Allgemeinbevölkerung
1. Diagnose
(n = 1 8 35)
n
%
5 950
3 479
2 787
2 561
1 243
812
942
451
1 093
398
30,2
17,6
14,1
13,0
6,3
4,1
4,8
2,3
5,5
2,0
1 545
725
1 481
1 129
1 115
769
187
3
460
10
20,8
9,8
19,9
15,2
15,0
10,4
2,5
0,0
6,2
0,1
814
352
138
58
38
43
49
73
49
221
44,4
19,2
7,5
3,2
2,1
2,3
2,7
4,0
2,7
12,0
19 716
100,0
7 424
100,0
1 835
100,0
[Crisis 2004; 25 (4): 147 – 155]
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12
Tabelle : Klassische Risikogruppen
(„high-risk-groups“ nach WHO)
• Psychisch kranke Menschen, insbesondere
depressiv kranke, schizophren-psychotisch
erkrankte, suchtkranke Menschen
• Menschen mit suizidalen Vorerfahrungen
• Menschen in besonders belastenden
Lebenssituationen (z.B. alte Männer, nach
traumatischen Erfahrungen, homophile
Menschen, Menschen mit schmerzhaften,
entstellenden Erkrankungen u. a.)
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13
Tabelle :
Literatur (Gavela 2013)
• Nach Bochnik (1987) werden misslungene bzw. vereitelte Suizidversuche in
80 – 90 % der Fälle nicht wiederholt
[Bochnik HJ. Verzweiflung und freie Willensbestimmung bei Suizidversuchen, Sondervotum
zum Alternativentwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe (AE-Sterbehilfe).
MedR 1987: 216 – 220]
• Dies führte nach Lauter (1998) zum Ergebnis, dass Suizidgedanken in der Regel
temporäre Erscheinungen schwankender Gemütsverfassung seien
[Lauter H. Probleme und Meinungsstand aus ärztlicher Sicht. In: Ritzel G (Hrsg.).
Beihilfe zum Suizid. Roderer, Regensburg 1998: 36 – 44]
• Es wird nach Beckert (1996) angenommen, dass ungefähr 5 % aller
Suizidhandlungen von freiem Willen getragen sind
[Beckert F. Strafrechtliche Probleme um Suizidbeteiligung und Sterbehilfe.
Aachen 1998: 143]
• Eine allzu pauschale „Kollektivdiagnose“ jeden Suizidwillens als „unfrei“ wird
abgelehnt
[siehe Bochnik 1987, S. 218, Fenner 2006, S. 249 – 285, Linden 1969, Wagner 19975, S. 119,
Ganzini & Lee 1997, S. 1824-26]
[Ganzini & Lee. Psychiatry and assisted suicide in U. S. N Engl J Med 1997: 1824- 1826
Fenner D. Gibt es überhaupt den „freien“ oder „Bilanzsuizid“? In: Petermann F-T (Hrsg.).
Sterbehilfe. S. Gallen 2006: 249 – 289
Linden KJ. Der Suizidversuch. Enke, Stuttgart 1969
Wagner J. Selbstmord und Selbstmordverhinderung. Karlsruhe 1975: 119 ff]
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14
Tabelle : Wiederholer („Repeater“) nach einem ersten Suizidversuch
Wiederholte Suizidversuche nach Suizidversuch
(„Repeated Suicide attempts“):
*
Rezidive 1989: Männer 16,4%, Frauen 11,0%, gesamt 13,1%
*
Rezidive 1991: Männer 14,3%, Frauen 13,9%, gesamt 14,1%
[Hawton et al. 1994]
Suizid (Katamnesen) nach Suizidversuch [zit. nach Schneider B 2003]
*
12% nach 5 Jahren (Nielsen et al. 1990),
*
6% nach 10 Jahren (Holley et al. 1998),
*
12% nach 10 Jahren (Tejedor et al. 1999),
*
7% nach 14 Jahren (Soukas et al. 2001),
*
11% nach im Mittel 35 Jahren (Dahlgren 1977)
Suizid nach Suizidversuch [nach Kerkhof &Arensman 2004]
*
10% - 15% Suizid nach Suizidversuch
*
WHO/EURO Multi-Centre Study on Suicidal Behaviour:
56% der SV hatte bereits einen SV, 32% bereits 2 SV und 29% einen
weiteren SV in 1-Jahres-Follow-up (Arensman et al. 2003)
2 Typen von „non-fatal“ Repeatern:
1) depressed, hopelessness, life-long-problem-history
2) low-depression, low-hoplessness, recurrent behaviour
zitiert nach:
* Schneider B (2003). Risikofaktoren für Suizid. S,. Roderer, Regensburg, insbes. S. 127 – 131;
* Hawton K. Fagg I, Simkin S, Mills J (1994). Repeated suicide attempts. Crisis 15: 123 – 135
* Wolfersdorf M (2000). Der suizidale Patient in Klinik und Praxis. Wiss. Verlagsgesellschaft, Stuttgart
* Kerkhof A, Arensman E (2004). Repetition of attempted suicide: frequent, but hard to predict. In: DeLeo D, Bille-Brahe U, Kerkhof A, Schmidtke A (eds.).
Suicidal Behaviour. Theories and research findings. Hogrefe & Huber, Göttingen, 111 - 124
Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c.
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15
Tabelle : Der Suizidversuch (nach Linden K-J 1969)
•
Untersuchungsgruppe:
n = 203 Pat. nach SV
•
Bedenkzeit von Suizididee
bis Durchführung SV
•
•
•
•
•
Entschlusszeit von Entschluss • ≤ 1 Std
bis Durchführung SV
• ≤ 1 Tag
• > 1 Tag
•
Korrektur der Suizidabsicht
in der Klinik nach SV
≤
≤
≤
>
1 Std
1 Tag
1 Woche
1 Woche
(54 Männer, 149 Frauen)
42,0 %
24,7 %
9,5 %
21,8 %
58,5 %
38,5 %
1,5 %
• rasch < 2 Tage
• langsam 2 – 10 Tage
• sehr langsam > 10 Tage
oder keine
66,7 %
97,0 %
76,7 %
22,3 %
1,0 %
[Linden K-J (1969). Der Suizidversuch. Versuch einer Situationsanalyse. Enke, Stuttgart 1969]
Anmerkung M. Wolfersdorf : Das heißt daß suizidale Handlungen
meist kurzfristig entstehen und keine langfristige Erwägung
vorausgeht.
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Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c.
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16
Tabelle

:
Selbstbestimmung (Kriterien) bei Depression, Demenz, Schizophrenie
(Studie Vollmann et al. 2003 mit MacCAT-T)
Demenz
• Verständnis bei 64,5 % eingeschränkt
stat. Patienten (n = 31)
• Urteilsvermögen bei 51,6 % eingeschränkt
• Krankheitseinsicht keine 22,6 %
• Behandlungseinsicht keine 32,3 %

Depression
• Verständnis bei 17,1 % eingeschränkt
stat. Patienten (n = 35)
• Urteilsvermögen bei 8,6 % eingeschränkt
• Krankheitseinsicht bei 100 % vorhanden
• Behandlungseinsicht keine 2,9 %

Schizophrenie
• Verständnis bei 27,9 % eingeschränkt
stat. Patienten (n = 43)
• Urteilsvermögen bei 46,5 % eingeschränkt
• Krankheitseinsicht keine 16,3 %
• Behandlungseinsicht keine 7,0 %
[zit. nach Vollmann 2008, S. 127]
Anmerkung M. Wolfersdorf : D.h. die Depressiven verfügen über die meiste Selbstbestimmung, aber auch über
Paderborn Sollen,
wir Suizid verhindern. Vortrag
die höchste Krankheitseinsicht
und müssen
Behandlungsbedürftigkeit
! Prof. Dr. med. Dr.h.c.
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17
Tabelle
: Selbstbestimmung und Depression
•
Nach Grisso & Appelbaum (1995) bei
23,9 %
•
Vollmann et al. (2003) bei
20,0 %
und
der depressiv Kranken Einschränkungen in der Selbstbestimmungsfähigkeit,
primär beim Urteilsvermögen.
[Depression als primäre Erkrankung und als Depression bei schwerer
körperlicher Erkrankung]
Anmerkung M. Wolfersdorf : D. h. bei jedem 5. depressiven Patienten liegt eine
Beschränkung der Selbstbestimmungsfähigkeit vor. Wer stellt fest und wie,
wer „selbstbestimmt“ ist? Irgendwelche „Gutachten“ von „akzentuierten
Persönlichkeiten“ oder Privatleuten? Oder müssen wir für Kompetenz sorgen?
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18
Sollen wir, müssen wir Suizide
verhindern?
Aus der Suizidforschung liegen also Belege vor,
daß die meisten Suizide im Kontext von
psychischer Erkrankung und Krise von
Krankheitswert bzw psychodynamisch in
Einengung und Ambivalenz geschehen und
nicht wohl überlegte, sondern eher spontane
Selbsttötungen mit einer raschen Distanzierung
und geringer Wiederholung sind.
Psychopathologie und Psychodynamik sowie
psychozoziale Situation verändern
Selbstbestimmung und Freiverantwortlichkeit.
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19
Das Thema der Medizinethik
Das Thema der Medizinethik ist
neutral die Frage nach der
„Selbstbestimmungsfähigkeit“,
das Thema der Juristen ist die
„Freiverantwortlichkeit“:
Die juristische Position
Die standespolitische Position
Die medizinethische Position
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20
Tabelle
: Ärztlich assistierter Suizid und organisierte Sterbehilfe – Prinzip der
Eigenverantwortlichkeit: eine aktuelle juristische Position
(Gavela 2013, S. 16 und 17)
(1)
„Während die Suizidbeihilfe straffrei bleibt, ist jede einverständliche
Tötung auch bei einsichtigem und höchst verständlichem Motiv des
Verlangenden gemäß § 216 StGB tatbestandsmäßig … . Bei der
Differenzierung beider Konstellationen kommt es phänomenologisch
allein auf das handelnde Subjekt an; im Falle der straflosen
Suizidbeteiligung überlässt der Mitwirkende den eigentlichen FreitodAkt dem verantwortlich handelndem Sterbewilligen selbst, während bei
Tötung auf Verlangen der finale Vollzugsakt an einen anderen delegiert
wird … . Hierbei fällt dem Mitwirkenden die Entscheidung zur Last, dem
Todeswunsch nachzukommen oder ihn zurückzuweisen … .
Das gesetzliche Regelungskonzept beruht damit materiell auf dem
Prinzip der Eigenverantwortlichkeit ... knüpft an die Erfordernisse der
Freiverantwortlichkeit des Sterbewillens und der „Eigenhändigkeit“ des
Vollzugs ... an.“
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21
Tabelle
: Ärztlich assistierter Suizid und organisierte Sterbehilfe – kann ein
Mensch den Suizid wirklich wollen? Zum freien Entschluss
(Gavela 2013, S. 18 - 19)
(2)
„Die Annäherung an die … Problematik setzt Klarheit darüber voraus,
ob die Möglichkeit eines freiverantwortlichen Suizids überhaupt besteht.
Auf die Sterbehilfeproblematik bezogen, gilt es konkret zu fragen, ob die
Willensbildung des Patienten durch das Krankheitsgeschehen bzw. das damit
einhergehende physische und psychische Leiden beeinträchtigt oder gar
ausgeschlossen wird.
Es fehlt nicht an Stimmen, die jeden selbstmörderischen Willen als „medizinisch
krank“, also per se „unfrei“ einstufen. Dieser „Krankheitsthese“ nach stellt sich
der Suizid in aller Regel als Abschluss einer krankhaft verlaufenden psychischen
Entwicklung dar, weshalb die Annahme seiner Freiverantwortlichkeit unhaltbare
Fiktion sei … . Laut Statistiken stellt tatsächlich die psychische Erkrankung die
relativ häufigste Ursache für den Suizid(versuch) dar.
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22
Tabelle
: Ärztlich assistierter Suizid und organisierte Sterbehilfe – kann ein
Mensch den Suizid wirklich wollen? Zum freien Entschluss
(Gavela 2013, S. 18 - 19)
(3)
Besonders schwere körperliche Erkrankungen sind häufig mit manifesten
seelischen Störungen verbunden, vor allem mit depressiven Syndromen,
kognitiven Beeinträchtigungen und Verwirrtheitszuständen, welche nicht selten
mit Suizidabsichten einhergehen, die nicht auf der Grundlage einer frei
verantwortlichen Willensentscheidung zustande kommen. Nicht zu vergessen
sind auch die Fälle des sog. „Appellsuizids“, in denen in dem vordergründigen
Hilferuf nach intensiver menschlicher Zuwendung und ärztlichem Beistand
steckt. In diesen Fällen fehlt es an einem ernstzunehmenden Suizidwillen
überhaupt.
Diese Erkenntnisse lassen keinen Raum für Zweifel: die wirklich freiverantwortliche
Suizidentscheidung bildet den absoluten Ausnahmefall. …
Damit bleibt festzuhalten: wenn auch nicht in der Regel, so ist doch zumindest
ausnahmsweise von der Möglichkeit eines freien „Suizidwillens“ auszugehen. In
den wenigen Fällen, in denen dies der Fall ist, bleibt die Suizidteilnahme straflos.
[zit. nach Gavela Kallia (2013). Ärztlich assistierter Suizid und organisierte Sterbehilfe. Veröffentlichungen des
Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der
Universitäten Heidelberg und Mannheim 39. Springer, Heidelberg New York Dordrecht London ]
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23
Tabelle:
Standesrechtliche ärztliche Positionen
Der Eid des Hippokrates (nach Capelle 1955, S. 179 ff)
„ … Ich werde auch niemandem eine Arznei geben, die den Tod
herbeiführt, auch nicht, wenn ich darum gebeten werde, auch nie
einen Rat in dieser Richtung erteilen ….“
Das Genfer Ärztegelöbnis (Weltärztebund 1948 Genf)
„ … Ich werde das menschliche Leben von der Empfängnis an
bedingungslos achten …“
For the patient´s good (Pellgrino & Thomasma 1988,
Übersetzung Sass H-M)
„ … Das Wohl des Patienten in allen seinen Aspekten ist deshalb oberstes
Prinzip meiner beruflichen Ethik. In Anerkennung dieser Bindung
gehe ich die folgenden Verpflichtungen ein, von denen mich nur der
Patient oder ihr anerkannter Vertreter freistellen kann: …
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24
Tabelle:
Standesrechtliche Positionen
Ich verspreche…
(10) immer zur Hilfe bereit sein, auch dort, wo ich nicht mehr heilen kann;
und wenn der Tod unausweichlich geworden ist, meinen Patienten im
Sterbeprozess beizustehen, entsprechend seinem oder ihrem
Lebensplan;
(11) Niemals mitzuwirken beim direkten, aktiven und bewussten Töten
eines Patienten, selbst nicht aus Mitleid, auf Anordnung des States
oder aus irgendeinem anderen Grund; ….“
[Pellgrino ED, Thomasma DC (1988). For the patient´s good. The
restauration of beneficience in health care. (übersetzt von H-M Sass).
Oxford University Press, S. 205 ff]
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25
Tabelle : Weltärztebund
„Die Mitwirkung des Arztes bei der
Selbsttötung widerspricht dem ärztlichen
Ethos und kann strafbar sein.“
(World Medical Association „The World
Medical Association Resolution on
Euthanasia“.
www.wma.net/e/policy/e13b.htm
(Zugriff 20.01.2005)
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26
Tabelle : BÄK (18. Februar 2011)
Deutsches Ärzteblatt [108 (7) A 346 18. Feb. 2011]
„Grundsätze der Sterbebegleitung“.
„Ein offensichtlicher Sterbevorgang soll nicht
durch lebenserhaltende Therapien künstlich in
die Länge gezogen werden …. Die Tötung eines
Patienten hingegen ist strafbar, auch wenn sie
auf Verlangen des Patienten erfolgt. Die
Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung ist
keine ärztliche Aufgabe.“
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27
Tabelle :
„Selbstbestimmung am Lebensende? Überlegung zur
ärztlichen Sterbehilfe“ von Hans Lauter (2009)
im Rahmen der Wiss. Frühjahrstagung der DGS 14.03.2008 Reisenburg
„Nach Auffassung des Verfassers sollte jedoch namentlich im
Hinblick auf die Missbrauchs- und Auswertungsgefahr des ärztlich
assistierten Suizides … an den bisher gültigen Normen
festgehalten werden. Wenn sich allerdings ein Arzt in dem Konflikt
zwischen seiner Schutz- und Fürsorgepflicht und dem
Selbstbestimmungsrecht des Patienten nach sorgfältiger
Abwägung sämtlicher Handlungsalternativen ausnahmsweise dazu
entschließt, von den berufsethischen Normen abzuweichen und
Suizidbeihilfe zu leisten, so muss diese Gewissensentscheidung
respektiert werden und stellt keinen Verstoß gegen die
Rechtsordnung dar. Dadurch ändert sich nichts an dem Grundsatz,
dass die Mitwirkung an einer Selbsttötung keinen integralen
Bestandteil ärztlicher Professionalität darstellt“.
[Lauter H (2009). Selbstbestimmung am Lebensende? Überlegungen zur ärztlichen
Suizidbeihilfe. SUIZIDPROPHYLAXE 36 (2): 89 – 95]
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28
Tabelle :
Patientenselbstbestimmung (Vollmann 2008)
• Begriffsbestimmung – die medizinethische Diskussion
„Bei Entscheidungen in der modernen Medizin hat der selbstbestimmte Wille des
Patienten an Bedeutung gewonnen … . Eine selbstbestimmte
Patientenentscheidung setzt jedoch voraus, dass der Patient in der Lage ist, eine
autonome Entscheidung zu treffen. Diese Voraussetzung für eine autonome
Patientenentscheidung wird Selbstbestimmungsfähigkeit oder auch
Einwilligungsfähigkeit genannt … .
In der medizinische Praxis wird grundsätzlich von der Selbst-bestimmungsfähigkeit
eines Patienten ausgegangen, es sei denn, es ergeben sich aufgrund des
Verhaltens des Patienten begründete Zweifel, ob er seinen Willen selbst bestimmen
kann. Diese Fragestellung tritt in allen Gebieten der Medizin, besonders jedoch bei
Patienten in der Psychiatrie , Neurologie und Geriatrie, aber auch in der
Kinderheilkunde, Notfallmedizin und Intensivmedizin auf … .“
[Vollmann J. Patientenselbstbestimmung und Selbstbestimmungsfähigkeit. Beiträge zur
Klinischen Ethik. Kohlhammer, Stuttgart 2008, hier S. 7]
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29
Tabelle
:
Selbstbestimmungsfähigkeit (juristisch: Einwilligungsfähigkeit)
(Vollmann 2008, insbes. S. 73)
Standards der Selbstbestimmungsfähigkeit (Roth et al. 1977)
•
Treffen einer Wahlentscheidung („evidencing a choice“)
•
Nachvollziehbarkeit der Entscheidung („reasonable outcome of choice“)
•
rationale Begründung der Entscheidung („choice based on rational reason“),
Verständnisfähigkeit („ability to understand“)
•
tatsächliches Verstehen („actual understanding“)
[Roth LH, Meisel A, Lidz CW (1977), Tests of competency to consent to treatment. Am J Psychiatry 134:
279 – 284, zit. nach: Vollmann J (2008). Patientenselbstbestimmung und Selbstbestimmungsfähigkeit.
Beiträge zur Klinischen Ethik. Kohlhammer, Stuttgart, insbes. S 73]
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30
Tabelle : Freiheit – Selbstbestimmung (Höffe 2002, S. 67 (1)
„Freiheit meint Selbstbestimmung. Der philosophische und
sittlich-politische Schlüsselbegriff vor allem der Neuzeit
bedeutete negativ die Unabhängigkeit von
Fremdbestimmung (naturaler, sozialer oder politischer Art
und positiv, dass man selbst seinem Tun den bestimmten
Inhalt gibt.“ ……
„Die universal gewordene Freiheit tritt auf zwei
verschiedenen Ebenen auf, als die Selbstbestimmung des
Handelns (HandlungsFreiheit) und als die des Wollens
(WillensFreiheit)“.
[Höffe O (2002). Lexikon der Ethik. 6. neubearbeitete Auflage, Beck, München 2002, S. 67 – 69]
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31
Tabelle :
„Zur Autonomie des suizidalen psychisch Kranken“
(zitiert nach Küchenhoff B 2007) (1)
„Kriterien der Willensfreiheit in Bezug auf die Suizidalität“:
a)
Bei dem Suizidwunsch handelt es sich um den Wunsch einer Person, sein
Leben zu beenden. Dieser Wunsch ist abhängig und bedingt von und
durch die eigene Lebensgeschichte, die konkreten Lebensumstände und
die fehlende Hoffnung, das Leben unter den für diese Person akzeptablen
Bedingungen weiterführen zu können. Von einem absolut freien Willen
auszugehen, das heißt von einem Willen, der durch nichts bedingt ist,
wäre unsinnig und lebensfremd.
b)
Einen Suizidwunsch, der durch äußeren oder inneren Zwang herbeigeführt
wurde, würden wir zu Recht als nicht freiwillig ansehen …
Die Abwesenheit von Zwang ist eine Voraussetzung für freie
Lebensbestimmung …
c)
Der Suizidversuch muss auch eindeutig einer Person zugeschrieben
werden können (Urheberprinzip). Nur als klar zuschreibbare
Willensäußerung kann auf ihn eingegangen werden, sei es in der
Behandlung, sei es in der Beihilfe ….
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32
Tabelle :
„Zur Autonomie des suizidalen psychisch Kranken“
(zitiert nach Küchenhoff B 2007) (2)
„Kriterien der Willensfreiheit in Bezug auf die Suizidalität:
d)
Um von freier Selbstbestimmung und einer freien Willensentscheidung
sprechen zu können, muss die einzelne Person die Wahl haben, sich für
oder gegen den Suizid zu entscheiden. …… Spielraum von
Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten …. Dieser Spielraum findet
sich nicht mehr, wenn das Denken ausschließlich auf den Suizid eingeengt
ist.
e)
Zum konkreten Wunsch und der Absicht, sich aus freier
Willenentscheidung zu suizidieren oder sich beim Suizid helfen zu lassen,
gehört das Vermögen, nach Gründen zu handeln ... Dies bedeutet, dass die
suizidale Person in der Lage sein muss, ein rationales Urteil zu fällen,
unbeeinträchtigt durch Stimmungsschwankungen und unbehindert durch
Denkstörungen …. Dazugehört auch der normative Bezug, die Bewertung,
was in bestimmten Situationen für das aktuelle und zukünftige Wohl das
Beste ist …..“
[Die Zusammenstellung von B. Küchenhoff (2007) spricht für sich selbst und zeigt Kriterien, die auf eine beschränkte Selbstbestimmung
hinweisen. In seinem Beitrag „Suizidbeihilfe für Menschen mit psychischen Krankheiten?“ (2014, S. 59 – 62) lehnt er ärztlich
unterstützte Suizidbeihilfe konsequent ab.
[Küchenhoff B. Suizidalität und freier Wille. In: Schlimme JE (Hrsg.). Unentschiedenheit und Selbsttötung. Vandenhoeck & Ruprecht,
Göttingen 2007, 160 – 174, insbes. 167 – 168]
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33
Tabelle
: Deutsche Psychiatrie
Deutsche Psychiater betrachten den
Suizid(versuch) in der Regel im Kontext einer
psychischen Erkrankung und Suizidalität als
psychiatrischen Notfall (Felber und Wolfersdorf
1997, Finzen et al 2000, Fuchs und Lauter 1997,
Wolfersdorf und Etzersdorfer 2010)
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34
Heutiges suizidologisches Paradigma - warum
Suizidprävention
“Ein „medizinisch-psychosoziales Paradigma von Suizidalität“ stellt
[----] heute die ethische Legitimation für Suizidprävention und
Suizidforschung dar … .
Aus suizidpräventiver Sicht steht also die Fragestellung an,
welche Faktoren Menschen näher an suizidales Denken und
Handeln heranführen und wer dann in solchen Situationen Hilfe,
Therapie und soziale Unterstützung benötigt, vor dem banalen
Hintergrund, dass keiner sich gerne umbringt.“
[Wolfersdorf M, Etzersdorfer E. Suizid und Suizidprävention. Kohlhammer Stuttgart 2011]
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35
Tabelle :
Argumente die für eine Einschränkung des freien Willens/
Selbstbestimmung bei suizidalen Menschen sprechen:
1.
Die Mehrzahl suizidaler Handlungen ereignen sich im Kontext psychischer Erkrankung: bis
90% (Depression, Schizophrenie, Sucht) , insbes. Von Psychothathologie und Psychodynamik
2.
Bei vielen Suizidhandlungen soll die Zeitspanne zwischen erstem Suizidgedanken und der
Suizidtat unter 24 Stunden betragen
3.
Ein Großteil der Menschen, die eine suizidale Handlung überlebt haben, sind froh darüber
4.
Die Wiederholerquote Suizidversuch nach Suizidversuch liegt bei um 15%
5.
Bestimmte suizidale Handlung im direkten (kausalen) Zusammenhang mit psychotischem
Erleben (z. B. imperative Stimmen, die zum Suizid auffordern; psychotische Überzeugung
ewig zu leben bzw. unsterblich zu sein und dies beweisen zu wollen; Sprung aus dem Fenster
weil man fliegen könne; Angst vor Folter durch die Nazi-SS; u. ä.) oder schwer depressiven (z.
B. psychotische Hoffnungslosigkeit) imponieren meist eher als „Unfälle“ denn als suizidale
Handlung
6.
Verlust der Fremd-Achtung in der Gesellschaft, Ächtung durch die Gesellschaft führen zu
Verlust der Rolle, der Ehre, der Selbstwertschätzung (z. B. bei Sportlern, Musikern,
Schauspielern, Politikern, sog. öffentlichen Personen) (existentiell vernichtende Krisen)
7.
Verlust der ökonomischen Sicherheit, ökonomisch bedingte existentielle Bedrohtheit von
Ernährer und Familie
8.
Pseudo-altruistische Begründung, die Welt wäre besser daran ohne einem
9.
Beschreibungen kurz- und längerfristiger präsuizidaler Verläufe zeigen den zunehmenden
Verlust äußerer wie innerer Ressourcen („ Einengung“ nach Ringel 1953) sowie eine Phase
der „Ambivalenz“ (Pöldinger 1968), der inneren Zerrissenheit zwischen „So-nicht-lebenkönnen“ und Lebenswunsch.
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36
Abbildung
: Die medizinethische Betrachtung – Modell des Relativen
Paternalismus [Karenberg 2005] – Legitimation von
Suizidprävention
Bestes
Interesse
WOHLTUN
Schaden aus der
Verletzung der
Autonomie
Folgen der
Zwangseinwirkung
AUTONOMIE
Schaden aus der
Respektierung der
Autonomie
Folgen der
krankheitsbedingten
Fehlentscheidung/Kurzschlusshandlung
[Karenberg A (2005). Suizid und Suizidprävention: Historische und ethische Aspekte. SUIZIDPROPHYLAXE 32 (1): 3 – 9, insbes. 7]
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37
Tabelle :
Suizid und Suizidprävention:
ethische Aspekte (Karenberg 2005)
„Aber schon eine krankheitsbedingte Einschränkung der autonomen
Entscheidungskapazität ist ethisch hochrelevant: Hier kann ein Dritter, in der
Regel eine Ärztin oder ein Arzt, aufgefordert sein für die Betroffenen zu
entscheiden – in diesem Fall, ihr oder sein Leben zu retten. Psychiatrischklinisches Wissen relativiert also offensichtlich philosophische Theorien
über die vermeintliche Wohlerwogenheit vieler Suizide.“
Später, nach Diskussion eines „relativen Paternalismus“ (Karenberg 2005,
S. 6 – 8) meint der Autor:
„Die Frage des wohlerwogenen Suizides bei vollkommener psychischer
Gesundheit darf abschließend offen gelassen werden. Manche halten sie für
eine rein akademische Frage, in jedem Fall ist sie –statistisch gesehen – im
psychiatrischen Alltag eine marginale. Und doch: Die Grundannahme, dass
der Mensch prinzipiell mündig sein kann, auch den Tod zu wählen und die
Achtung, die ihm dann auch für diese Wahl gebührt, erscheinen um des
Bildes vom Menschen als eines im Kern autonomen Wesens willen
unverzichtbar. „
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38
Abb. :
Relativer Paternalismus in der Akutsituation (Karenberg
2005)
Strategie des Aufschubes begründet durch:
Asymmetrie der Situation
Häufige Ambivalenz der Suizidhandlung
Hohe Rate nachträglicher Zustimmung
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39
Tabelle :
„Ein schwacher Paternalismus“ nach Birnbacher (1982)
„Jemanden, der Suizid begehen möchte, sollten wir immer dann
mit allen Mitteln von seinem Vorhaben abhalten, wenn dieser bei
sachlich zutreffender Situationswahrnehmung und auf der
Grundlage seiner eigenen langfristigen Präferenzen seinen Suizid
als unbedacht und unvernünftig beurteilen würde. Das gleiche gilt
für jemanden, der einen Suizidversuch begangen hat und den wir
mit allen Mitteln dem Leben wiederzugeben versuchen sollten,
wenn abzusehen ist, dass er zu einem späteren Zeitpunkt froh
darüber sein würde, dass seine Tat oder die Folgen seiner Tat, die
seinem Leben unwiderruflich ein Ende gesetzt hätten, vereitelt
worden ist.“
[Birnbacher D (1982). Ethische Aspekte der suizidprophylaktischen Intervention. SUIZIDPROPHYLAXE 23: 97 –
100]
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40
Tabelle
: Suizidprävention
– ethische Grundlagen (Wedler 2008, S. 317)
„Auf die Frage nach der moralischen Berechtigung der Suizidprävention gibt es
prinzipiell drei alternative Antworten:
•
Suizidprävention ist in aller Regel geboten und damit allgemeine
Verpflichtung
•
Suizidprävention ist erlaubt. Sie ist damit dem jeweiligen persönlichen
Engagement anheim gestellt.
•
Suizidprävention ist – zumindest in bestimmten Fällen – als
unangebracht zu betrachten. Sie ist eine Anmaßung gegenüber der
autonomen Entscheidung des Individuums und vom ethischen
Standpunkt aus sogar verboten.
Suizidprävention ist eine Maßnahme, die sich primär immer gegen die momentane
Intention des Betroffenen richtet, sein Leben beenden zu wollen – so ambivalent
diese Intention auch sein mag. Sie bedarf daher der Legitimation, die vor allem
mit der Fürsorgepflicht jedes Mitmenschen, insbesondere aber die der
Angehörigen sozialer Berufe begründet wird.“
Anmerkung: Wedler hat recht. Die Legitimation zur SP ergibt sich dann aus einer
Einschränkung der Selbstbestimmungsfähigkeit.
DGS Köln_Tabu_19_09_14
41
Tabelle
:
Medizinethik (Sass 1989)
„Die meisten medizinethischen Prinzipien sind im Übrigen auf
einer Ebene lebensweltlicher Normen angesiedelt, die weitgehend
letztbegründungsneutral sind und man den Streit um absolute
Werte und Prinzipien unterlassen könne. Jesus hat die Neutralität
lebensweltlicher Moral im Gleichnis des Samariters (Luk. 10) in
einer Fallstudie vorgestellt. Ähnliche moral case studies ließen
sich für die Orientierung von Verantwortung in Situationen
medizinischen Helfens und Heilens, Forschens und Entscheidens
anstellen mit dem Ergebnis, dass weltanschauungsübergreifend
die grundlegenden Prinzipien medizinischer Ethik unter Gläubigen
verschiedener Richtungen und säkularen Humanisten, unter
Sozialisten, Liberalen und Christen, unter Asiaten und Europäern,
unter Ärzten und Patienten im Wesentlichen konsensfähig sind.“
[Sass H-M (1998). Medizinethik. In: Piper A, Thurnherr U (Hrsg.). Angewandte Ethik. Beck, München, 80 – 109,
insbes. 87]
[Prof. Dr. phil. Hans-Martin Sass, Zentrum für Medizinische Ethik der Universität Bochum, Senior Fellow am
Kennedy Institut of Ethic, Georgetown University, Washington, USA]
Buch_Brücher_Selbsttötung_Tab_Abb_13_08_14
42
Tabelle :
•
•
•
Handlungsleitende ärztliche Pflichten
(Wolff 1989, zit. nach Sass 1998)
Handlungsleitende ärztliche Pflichten
•
Verantwortungsbereitschaft
•
Verschwiegenheit
•
Wahrhaftigkeit
Handlungsleitende ärztliche Tugenden
•
Geduld
•
Einfühlungsvermögen
•
Mitempfinden
•
Hilfsbereitschaft
Entscheidungsleitende ethische Prinzipien
•
Fürsorge
•
Selbstbestimmung
•
Gerechtigkeit und soziale Verträglichkeit
[Wolff HP (1989). Arzt und Patient. In: Sass H-M (Hrsg.). Medizin und Ethik. Stuttgart, 184 – 211; zit. nach Sass H-M (1998) Medizinethik.
In: Pieper A, Thurnherr U (Hrsg.) Angewandte Ethik. Beck, München, 80 – 109, insbes. 89]
Buch_Brücher_Selbsttötung_Tab_Abb_13_08_14
43
Tabelle :
Schwacher Paternalismus
[Wedler (2008) nach Birnbacher (1982), Karenberg (2005)]
• Handeln des Helfers orientiert sich am
hypothetischen Wollen des Suizidgefährdeten
• Im Akutfall zunächst sofortiges Eingreifen, notfalls
auch mit Zwangsmaßnahmen
• Förderung einer psychiatrischpsychotherapeutischen Behandlung
• Zeitliche Begrenzung der Zwangsmaßnahmen
• Objektive Vernünftigkeit des Suizidwunsches nicht
maßgebend
[zit. nach Wedler H (2008). Ethische Aspekte der Suizidprävention. In: Wolfersdorf M, Bronisch T, Wedler H
(Hrsg.). Suizidalität. Verstehen-Vorbeugen-Behandeln. Roderer, Regensburg, S. 311 – 337, insbes. 319]
Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c.
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44
Kommunalunternehmen
Kliniken und Heime des
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Aktuelle
Gesetzgebungsentwicklung –
ein Tabu-Bruch?!
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45
Tabelle
: “The case for physicians assisted suicide: not (yet) proven“
(Steinbock 2014): eine Zusammenfassung der Argumente
für und gegen PAS aus amerik. philosophischer Sicht
(1)
Legalisation of physician assisten suicide (PAS) in Oregon
and physician assisted death (PAD) in the Netherlands
Ethical arguments in favour of PAS
• suffering
• autonomy
Ethical arguments against PAS
• physicians as healers
• religions arguments
[Steinbock B. The case for phsysicians assisted suicide: not (yet) proven. J Med Ethics 2005;
31: 235 – 241. doi: 10.1136/jme.2003.005801. Download from jme. bmj.com on Aug 26, 2014]
[Prof. Dr. B. Steinbock, Department of Philosophy, University of Albany, NY, USA]
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DGS Köln_Tabu_19_09_14
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Tabelle:
Aktuelle Gesetzgebungsentwicklung zur „Suizidbeihilfe“
(mod. nach Löhr 2014, Stracke 2014, Wolfersdorf & Maier 2014
Gesprächsrunde „Assistierter Suizid“ der DGPPN) (3)
„Im Zentrum im Bundestag wird die ärztliche Mitwirkung“ stehen. Im alten
Entwurf vor zwei Jahren ging es um das Verbot der gewerbsmäßigen
„Suizidbeihilfe“. Im aktuellen Koalitionsvertrag sei das gewerbliche
Verbot festgeschrieben, aber die Vereine seien zwischenzeitlich alle
gemeinnützig geworden.
Im neuen Gesetzesentwurf werden „Krankheit und Todeswunsch zentrale
Themen, nicht Alter“. Es werde „einen Paradigmenwechsel geben,
fokussiert auf Ärzte. Wer in Deutschland Suizidbeihilfe will, will Ärzte.
Es soll Beihilfe zum Suizid verboten werden, es sei denn sie wird von
Angehörigen oder Ärzten gemacht. ….. Suizidbeihilfe soll zur Regel
als „ärztliche Dienstleistung“ werden. Das ist neu, ein Quantensprung
…. Leiden wird beseitigt, nicht gelindert.
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Tabelle:
Aktuelle Gesetzgebungsentwicklung zur „Suizidbeihilfe“
(mod. Nach Löhr 2014, Stracke 2014, Wolfersdorf & Maier 2014
Gesprächsrunde „Assistierter Suizid“ der DGPPN) (5)
Zeitliche Abläufe in der Gesetzesentwicklung (Löhr 2014)
•
April 2014
•
Vorschläge für Gesetzesentwürfe können eingebracht werden.
Zwei liegen vor: Deutsche Stiftung Patientenschutz
Borasio et al. Entwurf September 2014
•
1. Quartal 2015
•
dann Anhörung voraussichtlich Ende März 2015
•
2. und 3. Lesung im 3. Quartal 2015
* Info-Veranstaltung in der Fraktion
* Gruppenübergreifende Diskussion (kein Fraktionszwang)
(Blockbildung möglich Partei übergreifend)
* weitere Informationsveranstaltungen folgen
1. Lesung
Bis zur Anhörung müssen Paper/Stellungnahmen der Verbände vorliegen,
spätestens Ende März 2015 wegen Einladung
(z. B. NASPRO, DGS, DGPPN) von Experten zur Anhörung
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Tabelle:
Aktuelle Gesetzgebungsentwicklung zur „Suizidbeihilfe“
(mod. Nach Löhr 2014, Stracke 2014, Wolfersdorf & Maier 2014
Gesprächsrunde „Assistierter Suizid“ der DGPPN) (6)
Wie soll die Suizidbeihilfe ablaufen? (Löhr 2014)
1.
Patient wünscht ärztliche Suizidbeihilfe
2.
Arzt muss sich im Gespräch von der Ernsthaftigkeit des
Patientenwunsches überzeugen
3.
Es liegt eine Krankheit mit begrenzter Lebenserwartung vor. Psychische
Krankheit gilt als Krankheit. Zeit ist nicht definiert
4.
Arzt muss den Patienten über Ablauf des Geschehens aufklären
5.
Ein anderer Arzt muss den Patienten untersuchen und zur gleichen
Meinung kommen. Schriftlich bestätigen für Kontrollinstanz
6.
Zwischen Gespräch und Umsetzung müssen 10 Tage vergehen
7.
Der Arzt darf die Umsetzung der Suizidbeihilfe ablehnen
Konsequenzen wären
1) das Betäubungsmittelgesetz muss umgeschrieben werden,
damit der Arzt verschreiben kann,
2) Ärzte müssen in Durchführung und im Ablauf der
Suizidbeihilfe ausgebildet werden.
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Tabelle : Tabu-Bruch Ärztliche Suizidbeihilfe
Was würde sich für den Arzt ändern?
•
sein Selbstverständnis/Selbstbild als Heiler steht in Frage
•
Studium der Medizin, Facharztweiterbildung müssen in
Suizidbeihilfe aus- und weiterbilden
•
Es werden Gutachter, Zentren, die spezialisiert sind, nötig
•
er wird Dienstleister, der auch töten lernt
•
jeder der leidet, muss sich fragen, ob er nicht in der Palette der
Möglichkeiten die der Selbsttötung ergreift, und er muss sich
fragen lassen, ob er es nicht tun lassen will
•
die Schwächsten, die Kränkesten bekommen nicht unsere
Fürsorge, sondern Gift
und wer schützt die psychisch Kranken?
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50
Meine aktuelle Position
Die Überschätzung von Autonomie, Selbstbestimmung und
Freiverantwortlichkeit führt letztlich in die Gefahr, daß etwas, was
wir bislang als Ausdruck einer seelischen Not verstanden haben,
nämlich Suizidalität, nun gnadenlos dem Kranken, Hilfsbedürftigen
selbst überlassen wird. Im Sinne von Karenberg und Birnbacher
und der suizidologischen Literatur dürfen, sollen und müssen wir
einen Suizid verhindern.
Warum in Deutschland solange mit diesem Thema gewartet wurde,
ist wohl der deutschen Geschichte geschuldet und dem
grusseligen Gefühl, das einen als hippokratischer Arzt beschleicht.
Man darf der juristischen Regelung und der medizinethisch
neutralen Betrachtung von suizidaler Not nicht alles überlassen.
Da gibt es auch noch psychiatrisch-psychotherapeutisches
Wissen um Suizidalität und Verstehen von Suizidalität als
Ausdruck von Not! Wir müssen im ethischen Diskurs einen
Menschen gerechten Weg finden (siehe Bemühungen der DGPPN,
DGS,
NASPRO, Borasio et al., Deutsche Stiftung Patientenschutz
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u.a.)
51
Tabelle
: Welche Fragen sind für die deutsche Psychiatrie und
Psychotherapie (DGPPN u. a.) zu klären, unabhängig von der
juristischen, politischen, ethischen und philosophischen Diskussion
(AG Assistierter Suizid der DGPPN, Wolfersdorf et al. 2014):
1. Position zur gewerbsmäßigen Suizidbeihilfe
[Thema Suizidtourismus, EXIT/ DIGNITAS, Institutionen,
“akzentuierte Persönlichkeiten”, u. a.]
2. Position zur “ärztlich assistierten Suizidbeihilfe” bei terminalen,
nicht mehr therapierbaren Erkrankungen ohne Hilfs- und
Behandlungsperspektive [Garantenpflicht bei Tatherrschaftsverlust
versus nicht strafbarer Suizidbeihilfe]
3. Position zur Suizidbeihilfe bei psychisch Kranken
[Dürfen, sollen, müssen wir einen Suizid immer verhindern?]
4. Ausbau und Förderung der Palliativmedizin und der Hospize
5. Förderung der Suizidprävention
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DGS Köln_Tabu_19_09_14
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Kommunalunternehmen
Kliniken und Heime des
BEZIRKS OBERFRANKEN
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„Die Ausnahme wird
zur möglichen Norm“
[Diskussionsbemerkung]
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Genauso wie Suizid nicht der
Normalfall von Konfliktlösung
und des Umgangs mit Belastung
werden darf, genauso darf
Suizidbeihilfe nicht zum
Normalfall der Sterbebegleitung
werden.
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Der Spiegel
Titelblatt
Nr. 6/
03.02.14
Der_Spiegel_Letzte_Hilfe_06_02_14
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Selbsttötung Vortrag Bremen 4.7.2014 Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred
Wolfersdorf Bayreuth
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Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
Südlicher Eingang der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und
Psychosomatik des Bezirkskrankenhauses Bayreuth
Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c.
Manfred Wolfersdorf Bayreuth
57
Tabelle :
Umgang mit Suizid – rechtliche Grundinformationen
* Zusammengestellt von Illes et al. 2014 (1)
•
Muss ich eine Person vom Suizid abhalten?
•
Art. 2 GG
(1) Jeder hat das Recht auf eine Entfaltung der
Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte
anderer verletzt und nicht gegen die
verfassungsmäßige Ordnung oder das
Sittengesetz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche
Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist
unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund
eines Gesetzes eingegriffen werden.
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Tabelle :
Umgang mit Suizid – rechtliche Grundinformationen
* Zusammengestellt von Illes et al. 2014 (2)
•
Strafrechtliche Konsequenzen bei Nichtbeachtung einer Verpflichtung
zur allgemeinen Hilfeleistung
•
§ 212 StGB: Totschlag durch Unterlassung
(1) Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als
Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.
(2) In besonders schweren Fällen ist auf lebenslange Freiheitsstrafe
zu erkennen.
•
§ 213 StGB: Minder schwerer Fall des Totschlags
War der Totschläger ohne eigene Schuld durch eine ihm oder einem
Angehörigen zugefügte Misshandlung oder schwere Beleidigung von
dem getöteten Menschen zum Zorn gereizt und hierdurch auf der
Stelle zur Tat hingerissen worden oder liegt sonst ein minder
schwerer Fall vor, so ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis
zu zehn Jahren.
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Tabelle :
Umgang mit Suizid – rechtliche Grundinformationen
* Zusammengestellt von Illes et al. 2014 (3)
•
Strafrechtliche Konsequenzen bei Nichtbeachtung einer Verpflichtung
zur allgemeinen Hilfeleistung
•
§ 222 StGB: Fahrlässige Tötung
Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird
mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
•
§ 223 StGB: Körperverletzung
(1) Wer eine andere Person körperlich misshandelt oder an der
Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren
oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Der Versuch ist strafbar.
•
§ 323c StGB: Unterlassene Hilfeleistung
Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe
leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach
zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne
Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit
Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.
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Tabelle :
Umgang mit Suizid – rechtliche Grundinformationen
* Zusammengestellt von Illes et al. 2014 (4)
•
Zivilrechtliche Konsequenzen
•
§ 276 BGB: Verantwortlichkeit des Schuldners
(1) Der Schuldner hat Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten, wenn
eine strengere oder mildere Haftung weder bestimmt noch aus
dem sonstigen Inhalt des Schuldverhältnisses, insbesondere aus
der Übernahme einer Garantie oder eines Beschaffungsrisikos, zu
entnehmen ist. Die Vorschriften der §§ 827 und 828 finden
entsprechende Anwendung.
(2) Fahrlässigkeit handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt
außer Acht lässt.
(3) Die Haftung wegen Vorsatzes kann dem Schuldner nitch im
Voraus erlassen werden.
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Tabelle 22 :
„Aktive Sterbehilfe“
Situation bzgl. „aktiver Sterbehilfe“ durch Ärzte
• Tötung auf Verlangen des Patienten durch Ärzte
• ärztliche Suizidbeihilfe (ÄAS)
(„Physician Assisted Suicide“) (PAS)
• Niederlande 1993, 2002 ärztlich assistierte „aktive Sterbehilfe“ gesetzlich zugelassen
(Konsultations- und Meldeverfahren)
• Oregon, USA, 1997 ärztliche Suizidbeihilfe bei körperlich schwerkranken Patienten in
terminaler unheilbarer Situation gesetzlich zugelassen
•
weitere Staaten USA: Washington 2008, Montana 2009, Vermont 2013
•
In Europa: Belgien 2002, Luxemburg 2008, Schweiz 19982
• Weltärztebund (1996) lehnt ärztliche Hilfe zur Selbsttötung als „unethisch“ ab
• Deutschland: „aktive Sterbehilfe“ durch Ärzte strafrechtlich verboten, Beihilfe
beim Suizid und Suizidversuch selbst strafrechtlich nicht verboten.
Standesrechtlich (BLÄK 1979, 1993, 1998, 2004, 2014) verboten,
„keine ärztliche Aufgabe“. Garantenpflicht betont
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Tabelle 23 : Suizidhilfe-Organisationen in der Schweiz
(Finzen 2009)
•
EXIT und ihr welscher Schwesternverband wurden 1982 in Genf
als „Vereinigungen für humanes Sterben“ gegründet. Anliegen
waren/sind „passive“ Sterbehilfe, Freitodhilfe, sog. aktive
Sterbehilfe, Sterbebegleitung. Suizidbeihilfe wird in Einzelfällen
auch bei psychisch kranken Menschen geleistet.
•
DIGNITAS – „Menschenwürdig leben – Menschenwürdig
sterben“, ursprünglich eine Abspaltung von EXIT, gegründet am
17. Mai 1988 auf der Forch bei Zürich, Gründer Rechtsanwalt
Ludwig A. Minelli, bietet Sterbebegleitung und Freitodhilfe an,
auch für Ausländer; 2007 sollen es fast 100 gewesen sein,
vorwiegend Deutsche. Seit 26. September gibt es eine deutsche
Sektion im Sitz in Hannover.
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Tabelle 24 : Bedingungen für sterbewillige Personen bei
EXIT – Deutsche Schweiz (Wikipedia)
Die sterbewillige Person
versteht, was sie tut (Urteilsfähigkeit)
handelt nicht aus dem Affekt
(Wohlerwogenheit),
hegt einen dauerhaften Sterbewunsch
(Konstanz),
wird von Dritten nicht beeinflusst (Autonomie)
und führt den Suizid eigenständig aus
(Handlungsfähigkeit)
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Tabelle 25 : Sorgfaltskriterien im Gesetz zur Kontrolle der Lebensbeendigung auf
Verlangen und Hilfe bei der Selbsttötung (Artikel 2)
(Niederlande 2002) (zit. nach Wedler 2014)
Gesetzliche Legitimierung des „ärztlich assistierten Suizids“ erfolgte im Jahre 2002
Sorgfaltskriterien
•
Der Wunsch nach Lebensbeendigung muss freiwillig und nach reiflicher
Überlegung erfolgen
•
Der Zustand des Patienten muss aussichtslos, das Leiden unerträglich sein
•
Der Patient muss über Situation und Aussichten der Krankheit, unter der er
leidet, vollständig aufgeklärt sein
•
Arzt und Patient sind gemeinsam zu der Überlegung gekommen, dass für die
bestehende Situation keine andere annehmbare Lösung vorhanden ist
•
Es muss eine Untersuchung durch mindestens einen weiteren, unabhängigen
Arzt erfolgt sein, der sich zu den genannten Punkten schriftlich äußert
•
Die Lebensbeendigung muss mit gebotener Sorgfalt erfolgen
•
Anschließend muss eine Meldung an die regionale Kontrollkommission erfolgen
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http://public.health.oregon.gov/ProviderPartnerResources/EvaluationResearch/
DeathwithDignityAct/Documents/year16.pdf
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Figure: Reported Cases of Euthanasia in Belgium (2005 – 2011)
Reginald Deschepper, MA, PhD. (2014). Requests of Euthanasia/Psychician-Assisted Suicide on the Basis of
Mental Suffering Vulnerable Patients or Vulnerable Physicans. ZS JAMA Psychiatry June 2014; Vol. 71, Nr. 6, S.
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