Kommunalunternehmen Kliniken und Heime des BEZIRKS OBERFRANKEN BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Dürfen wir oder müssen wir Menschen am Suizid hindern? Manfred Wolfersdorf, Bayreuth Vortrag beim 19. Forum Psychiatrie und Psychotherapie Paderborn 23./24. September 2014 anlässlich der Verabschiedung des Ärztlichen Direktors PD Dr. med. Bernward Vieten Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 1 Tabelle: Suizid und „Gesundheit“ Osiander Friedrich Benjamin (1813) „Von den Ursachen des Selbstmordes.“ Aus: Über den Selbstmord, seine Ursachen, Arten, medicinisch-gerichtliche Untersuchung und die Mittel gegen denselben. Hannover 1813 „Der vollkommen gesunde und vollkommen vernünftige Mensch hat eine heftige Liebe zum Leben, und lässet, wie der Satan zu Hiob sagte, Haut für Haut, und alles, was ein Mensch hat, für sein Leben. … Diese Liebe zum Leben aber dauert so lange, als wir an Geist und Körper gesund sind.“ (zit. nach Willemsen R. Der Selbstmord. Köln 2001, S. 122 – 123) Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 2 Sollen wir, müssen wir Suizid verhindern? 1.Suizidologische Daten 2.Die aktuellen Positionen „Selbstbestimmung“ •juristisch (Gavela 2013) •standesrechtlich •medizinethisch (Vollmann, Karenberg, Birnbacher, Wedler, u.a.) 3.Die ethische Legetimation von Suizidprävention 4.Suizidbeihilfe – die aktuelle Diskussion 5.Sollen wir, müssen wir Suizid verhindern? Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 3 Heutiges Verständnis von Suizidalität Suizidalität * Definition (Wolfersdorf 1996, 2000, Wolfersdorf und Etzersdorfer 2010, DGPPN 2010) Suizidalität ist die Summe aller Denk-, Erlebens- und Verhaltensweisen von Menschen oder Gruppen von Menschen, die in Gedanken, durch aktives Handeln, Handelnlassen oder passives Unterlassen den eigenen Tod anstreben bzw. als möglichen Ausgang einer Handlung in Kauf nehmen Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 4 Suizidalität (Wolfersdorf 1996, 2000, Wolfersdorf und Etzersdorfer 2011) Suizidalität ist grundsätzlich allen Menschen möglich, tritt jedoch am häufigsten in psychosozialen Krisen und bei psychischer Erkrankung auf (medizinisch-psychosoziales Paradigma). Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 5 Tabelle : Freiverantwortliche und selbstbestimmte Suizide : Beispiele • • Opfersuizide • Sich töten lassen für andere (z. B. Pater Kolbe KZ, Jesus Christus) • Für eine religiöse Idee (z. B. Martyrer, Mönche Diem Phu, Sekten) Sichsterbenlassen als gesellschaftlich erwünschtes Verhalten • Inuits (siech kranke Männer) • Reiterstämme Mandschurei (kranke Männer) • Witwenverbrennung (Suizid/Totschlag, Indien) • Selbst- und Fremdtötung als Methode der Kriegsführung • Terroristensuizide • Kamikaze • Selbsttötung, sich töten lassen zur Widerherstellung der Ehre (z. B. Harakiri der Japaner; Altes Testament Samson) • Selbsttötung als Pflicht zum Staatsschutz • • Geheimdienste • Krieger, um Geheimnisse nicht zu verraten Massensuizide bei drohendem Genozid [Das Ausmaß von Freiverantwortlichkeit bzw. insbesondere Selbstbestimmung wechselt dabei] Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 6 Tabelle : Thomas v. Aquin „Summa Theologial“ 1265 (nach Brieskorn 2005) (1) Argumente gegen die Erlaubtheit des Suizides Nach Thomas gilt Augustinus. De civitate Dei. Buch I. Cap. 20 Das Gebot „Du sollst nicht töten“ ist ausschließlich auf den Menschen zu beziehen und zwar sowohl auf den anderen als auch auf sich selbst. „Denn wer sich selbst tötet, tötet auch einen Menschen“ [Augustinus (1977). De civitate Dei. 2. Bd. München, dtv]. 1. Suizid ist völlig unerlaubt, weil er 1. eine Sünde gegen die Liebe (zu sich selbst) ist. Das Leben ist zu lieben. Dies ist ein Naturgesetz! 2. Der Suizid ist Sünde gegen die Gesellschaft! Das Leben des einzelnen Menschen ist als Teil des Lebens der Gesellschaft zu begreifen. Ich gehöre der Gesellschaft, ihr darf ich mich nicht entziehen. 3. Der Suizid ist Sünde gegen Gott. Leben ist zwar Geschenk Gottes an mich, aber der Mensch darf nicht mit dem Geschenk beliebig umgehen. Gott allein tötet und macht lebendig (Dtn 32, 39). Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 7 Tabelle : Thomas v. Aquin „Summa Theologial“ 1265 (nach Brieskorn 2005) (2) Argumente für die Erlaubtheit des Suizides 1. Keiner kann sich selbst eine Ungerechtigkeit zufügen. 2. Wer legitimiert ist durch das Gemeinwesen, Verbrecher zu töten, darf auch sich, wenn er selbst ein Verbrecher ist, töten. 3. Durch Suizid kann jemand einer Gefahr entrinnen, was besser als der Verlust des Lebens ist; Samson hat sich selbst getötet und wird unter die Heiligen gezählt. 4. Wer sich aus Edelmut oder Tapferkeit selbst tötet, tut es erlaubt. [zitiert nach Brieskorn N, SJ (2005). Gesellschaftliche Bedingungen der sozialethische Grundfragen der Prävention. SUIZIDPROPHYLAXE 32 (2): 46 – 54, insbes. S. 49] Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 8 Tabelle : Warum sind Suizide verboten und tabuisiert? Argumente für und gegen Suizidprävention nach Chr. Reimer (2005) • Gegner der Suizidprävention weisen darauf hin, • dass die Freiheit des Menschen ein hohes Rechtsgut sei, das nicht angetastet werden dürfte, • dass viele bedeutende Menschen den Suizidtod gewählt hätten, • dass Suizid in manchen Kulturen angesehen und ehrenswert sei. • Verfechter der Suizidprävention • sehen das Problem nicht aus philosophischer, religiöser oder kultureller Sicht, sondern aus klinisch-therapeutischer, • weisen darauf hin, dass Suizidhandlungen regelhaft durch Krisen oder Krankheiten bedingt seien und • hinsichtlich ihrer Hintergründe differenziert betrachtet werden müssen. • Argumentieren, dass keine menschliche Situation zwingend zum Suizid führe, • die meisten Suizidanten froh seien, gerettet worden zu sein. [Reimer Chr. Zum Verständnis des Suizides: Freiheit oder Krankheit? In: Wolfslast G, Schmidt KW (Hrsg.). Suizid und Suizidversuch. Beck, München 2005, 27 – 45; insbes. 28, 29] BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 9 Tabelle : Suizidzahlen und –raten 1990 – 2012 in Deutschland [Quelle: Statistisches Bundesamt, Todesursachenstatistik; NASPRO G. Fiedler, Hamburg, Dez. 2013] Jahr Anzahl gesamt m w 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 13 924 14 011 13 458 12 690 12 718 12 888 12 225 12 265 11 644 11 157 11 065 11 156 11 163 11 150 10 733 10 260 9 765 9 402 9 451 9 616 10 021 10 144 9 890 9 534 9 656 9 326 8 960 9 130 9 222 8 782 8 841 8 575 8 080 8 131 8 188 8 106 8 179 7 939 7 523 7 225 7 009 7 039 7 228 7 465 7 646 7 287 4 390 4 355 4 132 3 730 3 588 3 666 3 497 3 424 3 069 3 077 2 934 2 968 3 057 2 971 2 794 2 737 2 540 2 393 2 412 2 388 2 556 2 498 2 603 Raten auf 100 000 EW gesamt m 17,5 17,5 16,7 15,6 15,6 15,7 15,0 14,9 14,2 13,6 13,5 13,5 13,5 13,5 13,0 12,4 11,9 11,4 11,5 11,7 12,3 12,4 12,1 24,9 25,0 23,9 22,7 23,1 23,0 21,9 22,1 21,4 20,2 20,3 20,4 20,1 20,3 19,7 18,6 17,9 17,4 17,5 18,0 18,6 19,0 18,1 w 10,7 10,5 9,9 8,9 8,6 8,7 8,3 8,1 7,3 7,3 7,0 7,0 7,2 7,0 6,6 6,5 6,0 5,7 5,8 5,7 6,1 6,0 6,3 [bis einschließlich 1997 nach ICD-9 (E 950 – 959), ab 1998 nach ICD-10 (X60 – X84)] Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 10 Tabelle : Ein Erklärungsversuch des erneuten Anstieges : Wirtschaftskrise, Verlust des Ansehens und Suizid Ein wichtiger aktueller ökonomischer Risikofaktor für Suizid ist die Bedrohung der wirtschaftlichen Existenzbasis und der damit verbundene Verlust des gesellschaftlichen Ansehens der Person und auch seiner Familie (existentiell bedrohliche Krise). Ein wichtiges Ergebnis (Stuckler et al. 2009): Mit jedem Prozent mehr an Arbeitslosigkeit steigt die Suizidzahl der unter 65-Jährigen um o,8 % an (Daten aus 26 EU-Staaten über 37 Jahre 1970-2007) D.h. im EURaum ca. 500 Suizide mehr pro Jahr. (IMABE :Public health) (Stuckler D, Basu S, Suhrcke M, Coutts A McKee M. The public health effect of economic crises and alternative policy responses in Europe : an empirical analysis. Lancet 2009; 374: 315-323) Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 11 TABELLE : Psychische Erkrankung bei Suizid * Daten aus Metaanalyse „Psychiatric diagnoses and suicide: Revisting the evidence“ [Bertolote JM, Fleischmann A, DeLeo D, Wasserman D 2004] Gesamtgruppe (n = 15 629) Erkrankung • • • • • • • • • • n Affektive Störung Substanzbezogene Störung Schizophrenie Persönlichkeitsstörung Hirnorganische Störung andere psychotische Störung Angst- u. somatoforme Störungen Anpassungsstörung Andere DSM-Achse-I-Diagnosen Keine Diagnose • gesamt % Psychiatrische Patienten stat. (n = 7 424) n % Allgemeinbevölkerung 1. Diagnose (n = 1 8 35) n % 5 950 3 479 2 787 2 561 1 243 812 942 451 1 093 398 30,2 17,6 14,1 13,0 6,3 4,1 4,8 2,3 5,5 2,0 1 545 725 1 481 1 129 1 115 769 187 3 460 10 20,8 9,8 19,9 15,2 15,0 10,4 2,5 0,0 6,2 0,1 814 352 138 58 38 43 49 73 49 221 44,4 19,2 7,5 3,2 2,1 2,3 2,7 4,0 2,7 12,0 19 716 100,0 7 424 100,0 1 835 100,0 [Crisis 2004; 25 (4): 147 – 155] Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 12 Tabelle : Klassische Risikogruppen („high-risk-groups“ nach WHO) • Psychisch kranke Menschen, insbesondere depressiv kranke, schizophren-psychotisch erkrankte, suchtkranke Menschen • Menschen mit suizidalen Vorerfahrungen • Menschen in besonders belastenden Lebenssituationen (z.B. alte Männer, nach traumatischen Erfahrungen, homophile Menschen, Menschen mit schmerzhaften, entstellenden Erkrankungen u. a.) Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 13 Tabelle : Literatur (Gavela 2013) • Nach Bochnik (1987) werden misslungene bzw. vereitelte Suizidversuche in 80 – 90 % der Fälle nicht wiederholt [Bochnik HJ. Verzweiflung und freie Willensbestimmung bei Suizidversuchen, Sondervotum zum Alternativentwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe (AE-Sterbehilfe). MedR 1987: 216 – 220] • Dies führte nach Lauter (1998) zum Ergebnis, dass Suizidgedanken in der Regel temporäre Erscheinungen schwankender Gemütsverfassung seien [Lauter H. Probleme und Meinungsstand aus ärztlicher Sicht. In: Ritzel G (Hrsg.). Beihilfe zum Suizid. Roderer, Regensburg 1998: 36 – 44] • Es wird nach Beckert (1996) angenommen, dass ungefähr 5 % aller Suizidhandlungen von freiem Willen getragen sind [Beckert F. Strafrechtliche Probleme um Suizidbeteiligung und Sterbehilfe. Aachen 1998: 143] • Eine allzu pauschale „Kollektivdiagnose“ jeden Suizidwillens als „unfrei“ wird abgelehnt [siehe Bochnik 1987, S. 218, Fenner 2006, S. 249 – 285, Linden 1969, Wagner 19975, S. 119, Ganzini & Lee 1997, S. 1824-26] [Ganzini & Lee. Psychiatry and assisted suicide in U. S. N Engl J Med 1997: 1824- 1826 Fenner D. Gibt es überhaupt den „freien“ oder „Bilanzsuizid“? In: Petermann F-T (Hrsg.). Sterbehilfe. S. Gallen 2006: 249 – 289 Linden KJ. Der Suizidversuch. Enke, Stuttgart 1969 Wagner J. Selbstmord und Selbstmordverhinderung. Karlsruhe 1975: 119 ff] Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 14 Tabelle : Wiederholer („Repeater“) nach einem ersten Suizidversuch Wiederholte Suizidversuche nach Suizidversuch („Repeated Suicide attempts“): * Rezidive 1989: Männer 16,4%, Frauen 11,0%, gesamt 13,1% * Rezidive 1991: Männer 14,3%, Frauen 13,9%, gesamt 14,1% [Hawton et al. 1994] Suizid (Katamnesen) nach Suizidversuch [zit. nach Schneider B 2003] * 12% nach 5 Jahren (Nielsen et al. 1990), * 6% nach 10 Jahren (Holley et al. 1998), * 12% nach 10 Jahren (Tejedor et al. 1999), * 7% nach 14 Jahren (Soukas et al. 2001), * 11% nach im Mittel 35 Jahren (Dahlgren 1977) Suizid nach Suizidversuch [nach Kerkhof &Arensman 2004] * 10% - 15% Suizid nach Suizidversuch * WHO/EURO Multi-Centre Study on Suicidal Behaviour: 56% der SV hatte bereits einen SV, 32% bereits 2 SV und 29% einen weiteren SV in 1-Jahres-Follow-up (Arensman et al. 2003) 2 Typen von „non-fatal“ Repeatern: 1) depressed, hopelessness, life-long-problem-history 2) low-depression, low-hoplessness, recurrent behaviour zitiert nach: * Schneider B (2003). Risikofaktoren für Suizid. S,. Roderer, Regensburg, insbes. S. 127 – 131; * Hawton K. Fagg I, Simkin S, Mills J (1994). Repeated suicide attempts. Crisis 15: 123 – 135 * Wolfersdorf M (2000). Der suizidale Patient in Klinik und Praxis. Wiss. Verlagsgesellschaft, Stuttgart * Kerkhof A, Arensman E (2004). Repetition of attempted suicide: frequent, but hard to predict. In: DeLeo D, Bille-Brahe U, Kerkhof A, Schmidtke A (eds.). Suicidal Behaviour. Theories and research findings. Hogrefe & Huber, Göttingen, 111 - 124 Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 15 Tabelle : Der Suizidversuch (nach Linden K-J 1969) • Untersuchungsgruppe: n = 203 Pat. nach SV • Bedenkzeit von Suizididee bis Durchführung SV • • • • • Entschlusszeit von Entschluss • ≤ 1 Std bis Durchführung SV • ≤ 1 Tag • > 1 Tag • Korrektur der Suizidabsicht in der Klinik nach SV ≤ ≤ ≤ > 1 Std 1 Tag 1 Woche 1 Woche (54 Männer, 149 Frauen) 42,0 % 24,7 % 9,5 % 21,8 % 58,5 % 38,5 % 1,5 % • rasch < 2 Tage • langsam 2 – 10 Tage • sehr langsam > 10 Tage oder keine 66,7 % 97,0 % 76,7 % 22,3 % 1,0 % [Linden K-J (1969). Der Suizidversuch. Versuch einer Situationsanalyse. Enke, Stuttgart 1969] Anmerkung M. Wolfersdorf : Das heißt daß suizidale Handlungen meist kurzfristig entstehen und keine langfristige Erwägung vorausgeht. BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 16 Tabelle : Selbstbestimmung (Kriterien) bei Depression, Demenz, Schizophrenie (Studie Vollmann et al. 2003 mit MacCAT-T) Demenz • Verständnis bei 64,5 % eingeschränkt stat. Patienten (n = 31) • Urteilsvermögen bei 51,6 % eingeschränkt • Krankheitseinsicht keine 22,6 % • Behandlungseinsicht keine 32,3 % Depression • Verständnis bei 17,1 % eingeschränkt stat. Patienten (n = 35) • Urteilsvermögen bei 8,6 % eingeschränkt • Krankheitseinsicht bei 100 % vorhanden • Behandlungseinsicht keine 2,9 % Schizophrenie • Verständnis bei 27,9 % eingeschränkt stat. Patienten (n = 43) • Urteilsvermögen bei 46,5 % eingeschränkt • Krankheitseinsicht keine 16,3 % • Behandlungseinsicht keine 7,0 % [zit. nach Vollmann 2008, S. 127] Anmerkung M. Wolfersdorf : D.h. die Depressiven verfügen über die meiste Selbstbestimmung, aber auch über Paderborn Sollen, wir Suizid verhindern. Vortrag die höchste Krankheitseinsicht und müssen Behandlungsbedürftigkeit ! Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 17 Tabelle : Selbstbestimmung und Depression • Nach Grisso & Appelbaum (1995) bei 23,9 % • Vollmann et al. (2003) bei 20,0 % und der depressiv Kranken Einschränkungen in der Selbstbestimmungsfähigkeit, primär beim Urteilsvermögen. [Depression als primäre Erkrankung und als Depression bei schwerer körperlicher Erkrankung] Anmerkung M. Wolfersdorf : D. h. bei jedem 5. depressiven Patienten liegt eine Beschränkung der Selbstbestimmungsfähigkeit vor. Wer stellt fest und wie, wer „selbstbestimmt“ ist? Irgendwelche „Gutachten“ von „akzentuierten Persönlichkeiten“ oder Privatleuten? Oder müssen wir für Kompetenz sorgen? BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 18 Sollen wir, müssen wir Suizide verhindern? Aus der Suizidforschung liegen also Belege vor, daß die meisten Suizide im Kontext von psychischer Erkrankung und Krise von Krankheitswert bzw psychodynamisch in Einengung und Ambivalenz geschehen und nicht wohl überlegte, sondern eher spontane Selbsttötungen mit einer raschen Distanzierung und geringer Wiederholung sind. Psychopathologie und Psychodynamik sowie psychozoziale Situation verändern Selbstbestimmung und Freiverantwortlichkeit. Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 19 Das Thema der Medizinethik Das Thema der Medizinethik ist neutral die Frage nach der „Selbstbestimmungsfähigkeit“, das Thema der Juristen ist die „Freiverantwortlichkeit“: Die juristische Position Die standespolitische Position Die medizinethische Position Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 20 Tabelle : Ärztlich assistierter Suizid und organisierte Sterbehilfe – Prinzip der Eigenverantwortlichkeit: eine aktuelle juristische Position (Gavela 2013, S. 16 und 17) (1) „Während die Suizidbeihilfe straffrei bleibt, ist jede einverständliche Tötung auch bei einsichtigem und höchst verständlichem Motiv des Verlangenden gemäß § 216 StGB tatbestandsmäßig … . Bei der Differenzierung beider Konstellationen kommt es phänomenologisch allein auf das handelnde Subjekt an; im Falle der straflosen Suizidbeteiligung überlässt der Mitwirkende den eigentlichen FreitodAkt dem verantwortlich handelndem Sterbewilligen selbst, während bei Tötung auf Verlangen der finale Vollzugsakt an einen anderen delegiert wird … . Hierbei fällt dem Mitwirkenden die Entscheidung zur Last, dem Todeswunsch nachzukommen oder ihn zurückzuweisen … . Das gesetzliche Regelungskonzept beruht damit materiell auf dem Prinzip der Eigenverantwortlichkeit ... knüpft an die Erfordernisse der Freiverantwortlichkeit des Sterbewillens und der „Eigenhändigkeit“ des Vollzugs ... an.“ BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 21 Tabelle : Ärztlich assistierter Suizid und organisierte Sterbehilfe – kann ein Mensch den Suizid wirklich wollen? Zum freien Entschluss (Gavela 2013, S. 18 - 19) (2) „Die Annäherung an die … Problematik setzt Klarheit darüber voraus, ob die Möglichkeit eines freiverantwortlichen Suizids überhaupt besteht. Auf die Sterbehilfeproblematik bezogen, gilt es konkret zu fragen, ob die Willensbildung des Patienten durch das Krankheitsgeschehen bzw. das damit einhergehende physische und psychische Leiden beeinträchtigt oder gar ausgeschlossen wird. Es fehlt nicht an Stimmen, die jeden selbstmörderischen Willen als „medizinisch krank“, also per se „unfrei“ einstufen. Dieser „Krankheitsthese“ nach stellt sich der Suizid in aller Regel als Abschluss einer krankhaft verlaufenden psychischen Entwicklung dar, weshalb die Annahme seiner Freiverantwortlichkeit unhaltbare Fiktion sei … . Laut Statistiken stellt tatsächlich die psychische Erkrankung die relativ häufigste Ursache für den Suizid(versuch) dar. BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 22 Tabelle : Ärztlich assistierter Suizid und organisierte Sterbehilfe – kann ein Mensch den Suizid wirklich wollen? Zum freien Entschluss (Gavela 2013, S. 18 - 19) (3) Besonders schwere körperliche Erkrankungen sind häufig mit manifesten seelischen Störungen verbunden, vor allem mit depressiven Syndromen, kognitiven Beeinträchtigungen und Verwirrtheitszuständen, welche nicht selten mit Suizidabsichten einhergehen, die nicht auf der Grundlage einer frei verantwortlichen Willensentscheidung zustande kommen. Nicht zu vergessen sind auch die Fälle des sog. „Appellsuizids“, in denen in dem vordergründigen Hilferuf nach intensiver menschlicher Zuwendung und ärztlichem Beistand steckt. In diesen Fällen fehlt es an einem ernstzunehmenden Suizidwillen überhaupt. Diese Erkenntnisse lassen keinen Raum für Zweifel: die wirklich freiverantwortliche Suizidentscheidung bildet den absoluten Ausnahmefall. … Damit bleibt festzuhalten: wenn auch nicht in der Regel, so ist doch zumindest ausnahmsweise von der Möglichkeit eines freien „Suizidwillens“ auszugehen. In den wenigen Fällen, in denen dies der Fall ist, bleibt die Suizidteilnahme straflos. [zit. nach Gavela Kallia (2013). Ärztlich assistierter Suizid und organisierte Sterbehilfe. Veröffentlichungen des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim 39. Springer, Heidelberg New York Dordrecht London ] BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 23 Tabelle: Standesrechtliche ärztliche Positionen Der Eid des Hippokrates (nach Capelle 1955, S. 179 ff) „ … Ich werde auch niemandem eine Arznei geben, die den Tod herbeiführt, auch nicht, wenn ich darum gebeten werde, auch nie einen Rat in dieser Richtung erteilen ….“ Das Genfer Ärztegelöbnis (Weltärztebund 1948 Genf) „ … Ich werde das menschliche Leben von der Empfängnis an bedingungslos achten …“ For the patient´s good (Pellgrino & Thomasma 1988, Übersetzung Sass H-M) „ … Das Wohl des Patienten in allen seinen Aspekten ist deshalb oberstes Prinzip meiner beruflichen Ethik. In Anerkennung dieser Bindung gehe ich die folgenden Verpflichtungen ein, von denen mich nur der Patient oder ihr anerkannter Vertreter freistellen kann: … BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 24 Tabelle: Standesrechtliche Positionen Ich verspreche… (10) immer zur Hilfe bereit sein, auch dort, wo ich nicht mehr heilen kann; und wenn der Tod unausweichlich geworden ist, meinen Patienten im Sterbeprozess beizustehen, entsprechend seinem oder ihrem Lebensplan; (11) Niemals mitzuwirken beim direkten, aktiven und bewussten Töten eines Patienten, selbst nicht aus Mitleid, auf Anordnung des States oder aus irgendeinem anderen Grund; ….“ [Pellgrino ED, Thomasma DC (1988). For the patient´s good. The restauration of beneficience in health care. (übersetzt von H-M Sass). Oxford University Press, S. 205 ff] BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 25 Tabelle : Weltärztebund „Die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung widerspricht dem ärztlichen Ethos und kann strafbar sein.“ (World Medical Association „The World Medical Association Resolution on Euthanasia“. www.wma.net/e/policy/e13b.htm (Zugriff 20.01.2005) BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH DGS Köln_Tabu_19_09_14 26 Tabelle : BÄK (18. Februar 2011) Deutsches Ärzteblatt [108 (7) A 346 18. Feb. 2011] „Grundsätze der Sterbebegleitung“. „Ein offensichtlicher Sterbevorgang soll nicht durch lebenserhaltende Therapien künstlich in die Länge gezogen werden …. Die Tötung eines Patienten hingegen ist strafbar, auch wenn sie auf Verlangen des Patienten erfolgt. Die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung ist keine ärztliche Aufgabe.“ BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH DGS Köln_Tabu_19_09_14 27 Tabelle : „Selbstbestimmung am Lebensende? Überlegung zur ärztlichen Sterbehilfe“ von Hans Lauter (2009) im Rahmen der Wiss. Frühjahrstagung der DGS 14.03.2008 Reisenburg „Nach Auffassung des Verfassers sollte jedoch namentlich im Hinblick auf die Missbrauchs- und Auswertungsgefahr des ärztlich assistierten Suizides … an den bisher gültigen Normen festgehalten werden. Wenn sich allerdings ein Arzt in dem Konflikt zwischen seiner Schutz- und Fürsorgepflicht und dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten nach sorgfältiger Abwägung sämtlicher Handlungsalternativen ausnahmsweise dazu entschließt, von den berufsethischen Normen abzuweichen und Suizidbeihilfe zu leisten, so muss diese Gewissensentscheidung respektiert werden und stellt keinen Verstoß gegen die Rechtsordnung dar. Dadurch ändert sich nichts an dem Grundsatz, dass die Mitwirkung an einer Selbsttötung keinen integralen Bestandteil ärztlicher Professionalität darstellt“. [Lauter H (2009). Selbstbestimmung am Lebensende? Überlegungen zur ärztlichen Suizidbeihilfe. SUIZIDPROPHYLAXE 36 (2): 89 – 95] DGS Köln_Tabu_19_09_14 28 Tabelle : Patientenselbstbestimmung (Vollmann 2008) • Begriffsbestimmung – die medizinethische Diskussion „Bei Entscheidungen in der modernen Medizin hat der selbstbestimmte Wille des Patienten an Bedeutung gewonnen … . Eine selbstbestimmte Patientenentscheidung setzt jedoch voraus, dass der Patient in der Lage ist, eine autonome Entscheidung zu treffen. Diese Voraussetzung für eine autonome Patientenentscheidung wird Selbstbestimmungsfähigkeit oder auch Einwilligungsfähigkeit genannt … . In der medizinische Praxis wird grundsätzlich von der Selbst-bestimmungsfähigkeit eines Patienten ausgegangen, es sei denn, es ergeben sich aufgrund des Verhaltens des Patienten begründete Zweifel, ob er seinen Willen selbst bestimmen kann. Diese Fragestellung tritt in allen Gebieten der Medizin, besonders jedoch bei Patienten in der Psychiatrie , Neurologie und Geriatrie, aber auch in der Kinderheilkunde, Notfallmedizin und Intensivmedizin auf … .“ [Vollmann J. Patientenselbstbestimmung und Selbstbestimmungsfähigkeit. Beiträge zur Klinischen Ethik. Kohlhammer, Stuttgart 2008, hier S. 7] BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 29 Tabelle : Selbstbestimmungsfähigkeit (juristisch: Einwilligungsfähigkeit) (Vollmann 2008, insbes. S. 73) Standards der Selbstbestimmungsfähigkeit (Roth et al. 1977) • Treffen einer Wahlentscheidung („evidencing a choice“) • Nachvollziehbarkeit der Entscheidung („reasonable outcome of choice“) • rationale Begründung der Entscheidung („choice based on rational reason“), Verständnisfähigkeit („ability to understand“) • tatsächliches Verstehen („actual understanding“) [Roth LH, Meisel A, Lidz CW (1977), Tests of competency to consent to treatment. Am J Psychiatry 134: 279 – 284, zit. nach: Vollmann J (2008). Patientenselbstbestimmung und Selbstbestimmungsfähigkeit. Beiträge zur Klinischen Ethik. Kohlhammer, Stuttgart, insbes. S 73] BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 30 Tabelle : Freiheit – Selbstbestimmung (Höffe 2002, S. 67 (1) „Freiheit meint Selbstbestimmung. Der philosophische und sittlich-politische Schlüsselbegriff vor allem der Neuzeit bedeutete negativ die Unabhängigkeit von Fremdbestimmung (naturaler, sozialer oder politischer Art und positiv, dass man selbst seinem Tun den bestimmten Inhalt gibt.“ …… „Die universal gewordene Freiheit tritt auf zwei verschiedenen Ebenen auf, als die Selbstbestimmung des Handelns (HandlungsFreiheit) und als die des Wollens (WillensFreiheit)“. [Höffe O (2002). Lexikon der Ethik. 6. neubearbeitete Auflage, Beck, München 2002, S. 67 – 69] BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 31 Tabelle : „Zur Autonomie des suizidalen psychisch Kranken“ (zitiert nach Küchenhoff B 2007) (1) „Kriterien der Willensfreiheit in Bezug auf die Suizidalität“: a) Bei dem Suizidwunsch handelt es sich um den Wunsch einer Person, sein Leben zu beenden. Dieser Wunsch ist abhängig und bedingt von und durch die eigene Lebensgeschichte, die konkreten Lebensumstände und die fehlende Hoffnung, das Leben unter den für diese Person akzeptablen Bedingungen weiterführen zu können. Von einem absolut freien Willen auszugehen, das heißt von einem Willen, der durch nichts bedingt ist, wäre unsinnig und lebensfremd. b) Einen Suizidwunsch, der durch äußeren oder inneren Zwang herbeigeführt wurde, würden wir zu Recht als nicht freiwillig ansehen … Die Abwesenheit von Zwang ist eine Voraussetzung für freie Lebensbestimmung … c) Der Suizidversuch muss auch eindeutig einer Person zugeschrieben werden können (Urheberprinzip). Nur als klar zuschreibbare Willensäußerung kann auf ihn eingegangen werden, sei es in der Behandlung, sei es in der Beihilfe …. BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 32 Tabelle : „Zur Autonomie des suizidalen psychisch Kranken“ (zitiert nach Küchenhoff B 2007) (2) „Kriterien der Willensfreiheit in Bezug auf die Suizidalität: d) Um von freier Selbstbestimmung und einer freien Willensentscheidung sprechen zu können, muss die einzelne Person die Wahl haben, sich für oder gegen den Suizid zu entscheiden. …… Spielraum von Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten …. Dieser Spielraum findet sich nicht mehr, wenn das Denken ausschließlich auf den Suizid eingeengt ist. e) Zum konkreten Wunsch und der Absicht, sich aus freier Willenentscheidung zu suizidieren oder sich beim Suizid helfen zu lassen, gehört das Vermögen, nach Gründen zu handeln ... Dies bedeutet, dass die suizidale Person in der Lage sein muss, ein rationales Urteil zu fällen, unbeeinträchtigt durch Stimmungsschwankungen und unbehindert durch Denkstörungen …. Dazugehört auch der normative Bezug, die Bewertung, was in bestimmten Situationen für das aktuelle und zukünftige Wohl das Beste ist …..“ [Die Zusammenstellung von B. Küchenhoff (2007) spricht für sich selbst und zeigt Kriterien, die auf eine beschränkte Selbstbestimmung hinweisen. In seinem Beitrag „Suizidbeihilfe für Menschen mit psychischen Krankheiten?“ (2014, S. 59 – 62) lehnt er ärztlich unterstützte Suizidbeihilfe konsequent ab. [Küchenhoff B. Suizidalität und freier Wille. In: Schlimme JE (Hrsg.). Unentschiedenheit und Selbsttötung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, 160 – 174, insbes. 167 – 168] Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 33 Tabelle : Deutsche Psychiatrie Deutsche Psychiater betrachten den Suizid(versuch) in der Regel im Kontext einer psychischen Erkrankung und Suizidalität als psychiatrischen Notfall (Felber und Wolfersdorf 1997, Finzen et al 2000, Fuchs und Lauter 1997, Wolfersdorf und Etzersdorfer 2010) BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 34 Heutiges suizidologisches Paradigma - warum Suizidprävention “Ein „medizinisch-psychosoziales Paradigma von Suizidalität“ stellt [----] heute die ethische Legitimation für Suizidprävention und Suizidforschung dar … . Aus suizidpräventiver Sicht steht also die Fragestellung an, welche Faktoren Menschen näher an suizidales Denken und Handeln heranführen und wer dann in solchen Situationen Hilfe, Therapie und soziale Unterstützung benötigt, vor dem banalen Hintergrund, dass keiner sich gerne umbringt.“ [Wolfersdorf M, Etzersdorfer E. Suizid und Suizidprävention. Kohlhammer Stuttgart 2011] Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 35 Tabelle : Argumente die für eine Einschränkung des freien Willens/ Selbstbestimmung bei suizidalen Menschen sprechen: 1. Die Mehrzahl suizidaler Handlungen ereignen sich im Kontext psychischer Erkrankung: bis 90% (Depression, Schizophrenie, Sucht) , insbes. Von Psychothathologie und Psychodynamik 2. Bei vielen Suizidhandlungen soll die Zeitspanne zwischen erstem Suizidgedanken und der Suizidtat unter 24 Stunden betragen 3. Ein Großteil der Menschen, die eine suizidale Handlung überlebt haben, sind froh darüber 4. Die Wiederholerquote Suizidversuch nach Suizidversuch liegt bei um 15% 5. Bestimmte suizidale Handlung im direkten (kausalen) Zusammenhang mit psychotischem Erleben (z. B. imperative Stimmen, die zum Suizid auffordern; psychotische Überzeugung ewig zu leben bzw. unsterblich zu sein und dies beweisen zu wollen; Sprung aus dem Fenster weil man fliegen könne; Angst vor Folter durch die Nazi-SS; u. ä.) oder schwer depressiven (z. B. psychotische Hoffnungslosigkeit) imponieren meist eher als „Unfälle“ denn als suizidale Handlung 6. Verlust der Fremd-Achtung in der Gesellschaft, Ächtung durch die Gesellschaft führen zu Verlust der Rolle, der Ehre, der Selbstwertschätzung (z. B. bei Sportlern, Musikern, Schauspielern, Politikern, sog. öffentlichen Personen) (existentiell vernichtende Krisen) 7. Verlust der ökonomischen Sicherheit, ökonomisch bedingte existentielle Bedrohtheit von Ernährer und Familie 8. Pseudo-altruistische Begründung, die Welt wäre besser daran ohne einem 9. Beschreibungen kurz- und längerfristiger präsuizidaler Verläufe zeigen den zunehmenden Verlust äußerer wie innerer Ressourcen („ Einengung“ nach Ringel 1953) sowie eine Phase der „Ambivalenz“ (Pöldinger 1968), der inneren Zerrissenheit zwischen „So-nicht-lebenkönnen“ und Lebenswunsch. Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 36 Abbildung : Die medizinethische Betrachtung – Modell des Relativen Paternalismus [Karenberg 2005] – Legitimation von Suizidprävention Bestes Interesse WOHLTUN Schaden aus der Verletzung der Autonomie Folgen der Zwangseinwirkung AUTONOMIE Schaden aus der Respektierung der Autonomie Folgen der krankheitsbedingten Fehlentscheidung/Kurzschlusshandlung [Karenberg A (2005). Suizid und Suizidprävention: Historische und ethische Aspekte. SUIZIDPROPHYLAXE 32 (1): 3 – 9, insbes. 7] Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 37 Tabelle : Suizid und Suizidprävention: ethische Aspekte (Karenberg 2005) „Aber schon eine krankheitsbedingte Einschränkung der autonomen Entscheidungskapazität ist ethisch hochrelevant: Hier kann ein Dritter, in der Regel eine Ärztin oder ein Arzt, aufgefordert sein für die Betroffenen zu entscheiden – in diesem Fall, ihr oder sein Leben zu retten. Psychiatrischklinisches Wissen relativiert also offensichtlich philosophische Theorien über die vermeintliche Wohlerwogenheit vieler Suizide.“ Später, nach Diskussion eines „relativen Paternalismus“ (Karenberg 2005, S. 6 – 8) meint der Autor: „Die Frage des wohlerwogenen Suizides bei vollkommener psychischer Gesundheit darf abschließend offen gelassen werden. Manche halten sie für eine rein akademische Frage, in jedem Fall ist sie –statistisch gesehen – im psychiatrischen Alltag eine marginale. Und doch: Die Grundannahme, dass der Mensch prinzipiell mündig sein kann, auch den Tod zu wählen und die Achtung, die ihm dann auch für diese Wahl gebührt, erscheinen um des Bildes vom Menschen als eines im Kern autonomen Wesens willen unverzichtbar. „ Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 38 Abb. : Relativer Paternalismus in der Akutsituation (Karenberg 2005) Strategie des Aufschubes begründet durch: Asymmetrie der Situation Häufige Ambivalenz der Suizidhandlung Hohe Rate nachträglicher Zustimmung BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 39 Tabelle : „Ein schwacher Paternalismus“ nach Birnbacher (1982) „Jemanden, der Suizid begehen möchte, sollten wir immer dann mit allen Mitteln von seinem Vorhaben abhalten, wenn dieser bei sachlich zutreffender Situationswahrnehmung und auf der Grundlage seiner eigenen langfristigen Präferenzen seinen Suizid als unbedacht und unvernünftig beurteilen würde. Das gleiche gilt für jemanden, der einen Suizidversuch begangen hat und den wir mit allen Mitteln dem Leben wiederzugeben versuchen sollten, wenn abzusehen ist, dass er zu einem späteren Zeitpunkt froh darüber sein würde, dass seine Tat oder die Folgen seiner Tat, die seinem Leben unwiderruflich ein Ende gesetzt hätten, vereitelt worden ist.“ [Birnbacher D (1982). Ethische Aspekte der suizidprophylaktischen Intervention. SUIZIDPROPHYLAXE 23: 97 – 100] Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 40 Tabelle : Suizidprävention – ethische Grundlagen (Wedler 2008, S. 317) „Auf die Frage nach der moralischen Berechtigung der Suizidprävention gibt es prinzipiell drei alternative Antworten: • Suizidprävention ist in aller Regel geboten und damit allgemeine Verpflichtung • Suizidprävention ist erlaubt. Sie ist damit dem jeweiligen persönlichen Engagement anheim gestellt. • Suizidprävention ist – zumindest in bestimmten Fällen – als unangebracht zu betrachten. Sie ist eine Anmaßung gegenüber der autonomen Entscheidung des Individuums und vom ethischen Standpunkt aus sogar verboten. Suizidprävention ist eine Maßnahme, die sich primär immer gegen die momentane Intention des Betroffenen richtet, sein Leben beenden zu wollen – so ambivalent diese Intention auch sein mag. Sie bedarf daher der Legitimation, die vor allem mit der Fürsorgepflicht jedes Mitmenschen, insbesondere aber die der Angehörigen sozialer Berufe begründet wird.“ Anmerkung: Wedler hat recht. Die Legitimation zur SP ergibt sich dann aus einer Einschränkung der Selbstbestimmungsfähigkeit. DGS Köln_Tabu_19_09_14 41 Tabelle : Medizinethik (Sass 1989) „Die meisten medizinethischen Prinzipien sind im Übrigen auf einer Ebene lebensweltlicher Normen angesiedelt, die weitgehend letztbegründungsneutral sind und man den Streit um absolute Werte und Prinzipien unterlassen könne. Jesus hat die Neutralität lebensweltlicher Moral im Gleichnis des Samariters (Luk. 10) in einer Fallstudie vorgestellt. Ähnliche moral case studies ließen sich für die Orientierung von Verantwortung in Situationen medizinischen Helfens und Heilens, Forschens und Entscheidens anstellen mit dem Ergebnis, dass weltanschauungsübergreifend die grundlegenden Prinzipien medizinischer Ethik unter Gläubigen verschiedener Richtungen und säkularen Humanisten, unter Sozialisten, Liberalen und Christen, unter Asiaten und Europäern, unter Ärzten und Patienten im Wesentlichen konsensfähig sind.“ [Sass H-M (1998). Medizinethik. In: Piper A, Thurnherr U (Hrsg.). Angewandte Ethik. Beck, München, 80 – 109, insbes. 87] [Prof. Dr. phil. Hans-Martin Sass, Zentrum für Medizinische Ethik der Universität Bochum, Senior Fellow am Kennedy Institut of Ethic, Georgetown University, Washington, USA] Buch_Brücher_Selbsttötung_Tab_Abb_13_08_14 42 Tabelle : • • • Handlungsleitende ärztliche Pflichten (Wolff 1989, zit. nach Sass 1998) Handlungsleitende ärztliche Pflichten • Verantwortungsbereitschaft • Verschwiegenheit • Wahrhaftigkeit Handlungsleitende ärztliche Tugenden • Geduld • Einfühlungsvermögen • Mitempfinden • Hilfsbereitschaft Entscheidungsleitende ethische Prinzipien • Fürsorge • Selbstbestimmung • Gerechtigkeit und soziale Verträglichkeit [Wolff HP (1989). Arzt und Patient. In: Sass H-M (Hrsg.). Medizin und Ethik. Stuttgart, 184 – 211; zit. nach Sass H-M (1998) Medizinethik. In: Pieper A, Thurnherr U (Hrsg.) Angewandte Ethik. Beck, München, 80 – 109, insbes. 89] Buch_Brücher_Selbsttötung_Tab_Abb_13_08_14 43 Tabelle : Schwacher Paternalismus [Wedler (2008) nach Birnbacher (1982), Karenberg (2005)] • Handeln des Helfers orientiert sich am hypothetischen Wollen des Suizidgefährdeten • Im Akutfall zunächst sofortiges Eingreifen, notfalls auch mit Zwangsmaßnahmen • Förderung einer psychiatrischpsychotherapeutischen Behandlung • Zeitliche Begrenzung der Zwangsmaßnahmen • Objektive Vernünftigkeit des Suizidwunsches nicht maßgebend [zit. nach Wedler H (2008). Ethische Aspekte der Suizidprävention. In: Wolfersdorf M, Bronisch T, Wedler H (Hrsg.). Suizidalität. Verstehen-Vorbeugen-Behandeln. Roderer, Regensburg, S. 311 – 337, insbes. 319] Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 44 Kommunalunternehmen Kliniken und Heime des BEZIRKS OBERFRANKEN BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Aktuelle Gesetzgebungsentwicklung – ein Tabu-Bruch?! DGS Köln_Tabu_19_09_14 45 Tabelle : “The case for physicians assisted suicide: not (yet) proven“ (Steinbock 2014): eine Zusammenfassung der Argumente für und gegen PAS aus amerik. philosophischer Sicht (1) Legalisation of physician assisten suicide (PAS) in Oregon and physician assisted death (PAD) in the Netherlands Ethical arguments in favour of PAS • suffering • autonomy Ethical arguments against PAS • physicians as healers • religions arguments [Steinbock B. The case for phsysicians assisted suicide: not (yet) proven. J Med Ethics 2005; 31: 235 – 241. doi: 10.1136/jme.2003.005801. Download from jme. bmj.com on Aug 26, 2014] [Prof. Dr. B. Steinbock, Department of Philosophy, University of Albany, NY, USA] BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH DGS Köln_Tabu_19_09_14 46 Tabelle: Aktuelle Gesetzgebungsentwicklung zur „Suizidbeihilfe“ (mod. nach Löhr 2014, Stracke 2014, Wolfersdorf & Maier 2014 Gesprächsrunde „Assistierter Suizid“ der DGPPN) (3) „Im Zentrum im Bundestag wird die ärztliche Mitwirkung“ stehen. Im alten Entwurf vor zwei Jahren ging es um das Verbot der gewerbsmäßigen „Suizidbeihilfe“. Im aktuellen Koalitionsvertrag sei das gewerbliche Verbot festgeschrieben, aber die Vereine seien zwischenzeitlich alle gemeinnützig geworden. Im neuen Gesetzesentwurf werden „Krankheit und Todeswunsch zentrale Themen, nicht Alter“. Es werde „einen Paradigmenwechsel geben, fokussiert auf Ärzte. Wer in Deutschland Suizidbeihilfe will, will Ärzte. Es soll Beihilfe zum Suizid verboten werden, es sei denn sie wird von Angehörigen oder Ärzten gemacht. ….. Suizidbeihilfe soll zur Regel als „ärztliche Dienstleistung“ werden. Das ist neu, ein Quantensprung …. Leiden wird beseitigt, nicht gelindert. BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH DGS Köln_Tabu_19_09_14 47 Tabelle: Aktuelle Gesetzgebungsentwicklung zur „Suizidbeihilfe“ (mod. Nach Löhr 2014, Stracke 2014, Wolfersdorf & Maier 2014 Gesprächsrunde „Assistierter Suizid“ der DGPPN) (5) Zeitliche Abläufe in der Gesetzesentwicklung (Löhr 2014) • April 2014 • Vorschläge für Gesetzesentwürfe können eingebracht werden. Zwei liegen vor: Deutsche Stiftung Patientenschutz Borasio et al. Entwurf September 2014 • 1. Quartal 2015 • dann Anhörung voraussichtlich Ende März 2015 • 2. und 3. Lesung im 3. Quartal 2015 * Info-Veranstaltung in der Fraktion * Gruppenübergreifende Diskussion (kein Fraktionszwang) (Blockbildung möglich Partei übergreifend) * weitere Informationsveranstaltungen folgen 1. Lesung Bis zur Anhörung müssen Paper/Stellungnahmen der Verbände vorliegen, spätestens Ende März 2015 wegen Einladung (z. B. NASPRO, DGS, DGPPN) von Experten zur Anhörung BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH DGS Köln_Tabu_19_09_14 48 Tabelle: Aktuelle Gesetzgebungsentwicklung zur „Suizidbeihilfe“ (mod. Nach Löhr 2014, Stracke 2014, Wolfersdorf & Maier 2014 Gesprächsrunde „Assistierter Suizid“ der DGPPN) (6) Wie soll die Suizidbeihilfe ablaufen? (Löhr 2014) 1. Patient wünscht ärztliche Suizidbeihilfe 2. Arzt muss sich im Gespräch von der Ernsthaftigkeit des Patientenwunsches überzeugen 3. Es liegt eine Krankheit mit begrenzter Lebenserwartung vor. Psychische Krankheit gilt als Krankheit. Zeit ist nicht definiert 4. Arzt muss den Patienten über Ablauf des Geschehens aufklären 5. Ein anderer Arzt muss den Patienten untersuchen und zur gleichen Meinung kommen. Schriftlich bestätigen für Kontrollinstanz 6. Zwischen Gespräch und Umsetzung müssen 10 Tage vergehen 7. Der Arzt darf die Umsetzung der Suizidbeihilfe ablehnen Konsequenzen wären 1) das Betäubungsmittelgesetz muss umgeschrieben werden, damit der Arzt verschreiben kann, 2) Ärzte müssen in Durchführung und im Ablauf der Suizidbeihilfe ausgebildet werden. DGS Köln_Tabu_19_09_14 49 Tabelle : Tabu-Bruch Ärztliche Suizidbeihilfe Was würde sich für den Arzt ändern? • sein Selbstverständnis/Selbstbild als Heiler steht in Frage • Studium der Medizin, Facharztweiterbildung müssen in Suizidbeihilfe aus- und weiterbilden • Es werden Gutachter, Zentren, die spezialisiert sind, nötig • er wird Dienstleister, der auch töten lernt • jeder der leidet, muss sich fragen, ob er nicht in der Palette der Möglichkeiten die der Selbsttötung ergreift, und er muss sich fragen lassen, ob er es nicht tun lassen will • die Schwächsten, die Kränkesten bekommen nicht unsere Fürsorge, sondern Gift und wer schützt die psychisch Kranken? BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH DGS Köln_Tabu_19_09_14 50 Meine aktuelle Position Die Überschätzung von Autonomie, Selbstbestimmung und Freiverantwortlichkeit führt letztlich in die Gefahr, daß etwas, was wir bislang als Ausdruck einer seelischen Not verstanden haben, nämlich Suizidalität, nun gnadenlos dem Kranken, Hilfsbedürftigen selbst überlassen wird. Im Sinne von Karenberg und Birnbacher und der suizidologischen Literatur dürfen, sollen und müssen wir einen Suizid verhindern. Warum in Deutschland solange mit diesem Thema gewartet wurde, ist wohl der deutschen Geschichte geschuldet und dem grusseligen Gefühl, das einen als hippokratischer Arzt beschleicht. Man darf der juristischen Regelung und der medizinethisch neutralen Betrachtung von suizidaler Not nicht alles überlassen. Da gibt es auch noch psychiatrisch-psychotherapeutisches Wissen um Suizidalität und Verstehen von Suizidalität als Ausdruck von Not! Wir müssen im ethischen Diskurs einen Menschen gerechten Weg finden (siehe Bemühungen der DGPPN, DGS, NASPRO, Borasio et al., Deutsche Stiftung Patientenschutz BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH DGS Köln_Tabu_19_09_14 u.a.) 51 Tabelle : Welche Fragen sind für die deutsche Psychiatrie und Psychotherapie (DGPPN u. a.) zu klären, unabhängig von der juristischen, politischen, ethischen und philosophischen Diskussion (AG Assistierter Suizid der DGPPN, Wolfersdorf et al. 2014): 1. Position zur gewerbsmäßigen Suizidbeihilfe [Thema Suizidtourismus, EXIT/ DIGNITAS, Institutionen, “akzentuierte Persönlichkeiten”, u. a.] 2. Position zur “ärztlich assistierten Suizidbeihilfe” bei terminalen, nicht mehr therapierbaren Erkrankungen ohne Hilfs- und Behandlungsperspektive [Garantenpflicht bei Tatherrschaftsverlust versus nicht strafbarer Suizidbeihilfe] 3. Position zur Suizidbeihilfe bei psychisch Kranken [Dürfen, sollen, müssen wir einen Suizid immer verhindern?] 4. Ausbau und Förderung der Palliativmedizin und der Hospize 5. Förderung der Suizidprävention BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH DGS Köln_Tabu_19_09_14 52 Kommunalunternehmen Kliniken und Heime des BEZIRKS OBERFRANKEN BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH „Die Ausnahme wird zur möglichen Norm“ [Diskussionsbemerkung] DGS Köln_Tabu_19_09_14 53 Genauso wie Suizid nicht der Normalfall von Konfliktlösung und des Umgangs mit Belastung werden darf, genauso darf Suizidbeihilfe nicht zum Normalfall der Sterbebegleitung werden. BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH DGS Köln_Tabu_19_09_14 54 Der Spiegel Titelblatt Nr. 6/ 03.02.14 Der_Spiegel_Letzte_Hilfe_06_02_14 55 Selbsttötung Vortrag Bremen 4.7.2014 Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 56 Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit Südlicher Eingang der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Bezirkskrankenhauses Bayreuth Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 57 Tabelle : Umgang mit Suizid – rechtliche Grundinformationen * Zusammengestellt von Illes et al. 2014 (1) • Muss ich eine Person vom Suizid abhalten? • Art. 2 GG (1) Jeder hat das Recht auf eine Entfaltung der Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden. BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Rechtl_Grundinformationen_Suizid_Illes_19_08_14 58 Tabelle : Umgang mit Suizid – rechtliche Grundinformationen * Zusammengestellt von Illes et al. 2014 (2) • Strafrechtliche Konsequenzen bei Nichtbeachtung einer Verpflichtung zur allgemeinen Hilfeleistung • § 212 StGB: Totschlag durch Unterlassung (1) Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft. (2) In besonders schweren Fällen ist auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen. • § 213 StGB: Minder schwerer Fall des Totschlags War der Totschläger ohne eigene Schuld durch eine ihm oder einem Angehörigen zugefügte Misshandlung oder schwere Beleidigung von dem getöteten Menschen zum Zorn gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden oder liegt sonst ein minder schwerer Fall vor, so ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren. BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Rechtl_Grundinformationen_Suizid_Illes_19_08_14 59 Tabelle : Umgang mit Suizid – rechtliche Grundinformationen * Zusammengestellt von Illes et al. 2014 (3) • Strafrechtliche Konsequenzen bei Nichtbeachtung einer Verpflichtung zur allgemeinen Hilfeleistung • § 222 StGB: Fahrlässige Tötung Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. • § 223 StGB: Körperverletzung (1) Wer eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. • § 323c StGB: Unterlassene Hilfeleistung Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Rechtl_Grundinformationen_Suizid_Illes_19_08_14 60 Tabelle : Umgang mit Suizid – rechtliche Grundinformationen * Zusammengestellt von Illes et al. 2014 (4) • Zivilrechtliche Konsequenzen • § 276 BGB: Verantwortlichkeit des Schuldners (1) Der Schuldner hat Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten, wenn eine strengere oder mildere Haftung weder bestimmt noch aus dem sonstigen Inhalt des Schuldverhältnisses, insbesondere aus der Übernahme einer Garantie oder eines Beschaffungsrisikos, zu entnehmen ist. Die Vorschriften der §§ 827 und 828 finden entsprechende Anwendung. (2) Fahrlässigkeit handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. (3) Die Haftung wegen Vorsatzes kann dem Schuldner nitch im Voraus erlassen werden. BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Rechtl_Grundinformationen_Suizid_Illes_19_08_14 61 Tabelle 22 : „Aktive Sterbehilfe“ Situation bzgl. „aktiver Sterbehilfe“ durch Ärzte • Tötung auf Verlangen des Patienten durch Ärzte • ärztliche Suizidbeihilfe (ÄAS) („Physician Assisted Suicide“) (PAS) • Niederlande 1993, 2002 ärztlich assistierte „aktive Sterbehilfe“ gesetzlich zugelassen (Konsultations- und Meldeverfahren) • Oregon, USA, 1997 ärztliche Suizidbeihilfe bei körperlich schwerkranken Patienten in terminaler unheilbarer Situation gesetzlich zugelassen • weitere Staaten USA: Washington 2008, Montana 2009, Vermont 2013 • In Europa: Belgien 2002, Luxemburg 2008, Schweiz 19982 • Weltärztebund (1996) lehnt ärztliche Hilfe zur Selbsttötung als „unethisch“ ab • Deutschland: „aktive Sterbehilfe“ durch Ärzte strafrechtlich verboten, Beihilfe beim Suizid und Suizidversuch selbst strafrechtlich nicht verboten. Standesrechtlich (BLÄK 1979, 1993, 1998, 2004, 2014) verboten, „keine ärztliche Aufgabe“. Garantenpflicht betont BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 62 Tabelle 23 : Suizidhilfe-Organisationen in der Schweiz (Finzen 2009) • EXIT und ihr welscher Schwesternverband wurden 1982 in Genf als „Vereinigungen für humanes Sterben“ gegründet. Anliegen waren/sind „passive“ Sterbehilfe, Freitodhilfe, sog. aktive Sterbehilfe, Sterbebegleitung. Suizidbeihilfe wird in Einzelfällen auch bei psychisch kranken Menschen geleistet. • DIGNITAS – „Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben“, ursprünglich eine Abspaltung von EXIT, gegründet am 17. Mai 1988 auf der Forch bei Zürich, Gründer Rechtsanwalt Ludwig A. Minelli, bietet Sterbebegleitung und Freitodhilfe an, auch für Ausländer; 2007 sollen es fast 100 gewesen sein, vorwiegend Deutsche. Seit 26. September gibt es eine deutsche Sektion im Sitz in Hannover. BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 63 Tabelle 24 : Bedingungen für sterbewillige Personen bei EXIT – Deutsche Schweiz (Wikipedia) Die sterbewillige Person versteht, was sie tut (Urteilsfähigkeit) handelt nicht aus dem Affekt (Wohlerwogenheit), hegt einen dauerhaften Sterbewunsch (Konstanz), wird von Dritten nicht beeinflusst (Autonomie) und führt den Suizid eigenständig aus (Handlungsfähigkeit) BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 64 Tabelle 25 : Sorgfaltskriterien im Gesetz zur Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und Hilfe bei der Selbsttötung (Artikel 2) (Niederlande 2002) (zit. nach Wedler 2014) Gesetzliche Legitimierung des „ärztlich assistierten Suizids“ erfolgte im Jahre 2002 Sorgfaltskriterien • Der Wunsch nach Lebensbeendigung muss freiwillig und nach reiflicher Überlegung erfolgen • Der Zustand des Patienten muss aussichtslos, das Leiden unerträglich sein • Der Patient muss über Situation und Aussichten der Krankheit, unter der er leidet, vollständig aufgeklärt sein • Arzt und Patient sind gemeinsam zu der Überlegung gekommen, dass für die bestehende Situation keine andere annehmbare Lösung vorhanden ist • Es muss eine Untersuchung durch mindestens einen weiteren, unabhängigen Arzt erfolgt sein, der sich zu den genannten Punkten schriftlich äußert • Die Lebensbeendigung muss mit gebotener Sorgfalt erfolgen • Anschließend muss eine Meldung an die regionale Kontrollkommission erfolgen BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 65 http://public.health.oregon.gov/ProviderPartnerResources/EvaluationResearch/ DeathwithDignityAct/Documents/year16.pdf BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 66 Figure: Reported Cases of Euthanasia in Belgium (2005 – 2011) Reginald Deschepper, MA, PhD. (2014). Requests of Euthanasia/Psychician-Assisted Suicide on the Basis of Mental Suffering Vulnerable Patients or Vulnerable Physicans. ZS JAMA Psychiatry June 2014; Vol. 71, Nr. 6, S. 618 Paderborn Sollen, müssen wir Suizid verhindern. Vortrag Prof. Dr. med. Dr.h.c. Manfred Wolfersdorf Bayreuth 67