~1~ Der philosophische Daoismus Meine sehr verehrten Damen und Herren, Ich danke herzlich für die Einladung und freue mich, Ihnen heute etwas aus der sinologischen Forschung präsentieren zu können. Wenn ich für Sie heute den philosophischen Daoismus ein wenig beleuchten will, so erscheint es mir sinnvoll, nicht nur die philosophischen Aussagen selbst, sondern auch die Hintergründe und Entstehungsbedingungen der Texte zu ergründen, die den daoistischen Kanon bilden. Dies sind in erster Linie das Daodejing der Laozi, noch immer besser bekannt unter der alten Umschrift Tao-te King und Lao-tse und das Buch Zhuangzi, das auch als Nanhua Zhenjing oder das Wahre Buch vom südlichen Blütenland bekannt wurde. Beide Werke wurden von Richard Wilhelm ins Deutsche übersetzt. Diese Texte stammen aus einer Zeit der chinesischen Geschichte unmittelbar vor der Reichseinigung 221 v. Chr. durch den Ersten Kaiser der Qin, Qin Shihuang Di, den Herrscher der Ton-Armee von Xi’an. Sie wurden wahrscheinlich im späten vierten und frühen dritten Jahrhundert vor Christus verfasst, frühere Geschichten wie das angebliche Gespräch zwischen Konfuzius und Laozi oder die rührende Geschichte mit dem braven Zöllner, der die „Weisheit“ des Laozi nicht ausreisen lassen will und ihn daher zur Niederschrift seines Werkes nötigt gehören in den Bereich der Legenden, bzw. mit Bert Brecht eben in die Literatur. Diese Phase der chinesischen Geschichte von 475 bis 221 v. Chr. nennt die chinesische Geschichte selbst Zhan guo-Periode, was man je nach Geschmack übersetzen kann als „Zeit der Streitenden Reiche“, Zeit der kämpfenden Staaten, oder auch „Zeit der Krieg führenden Lehen“. Es war dies eine Phase, in der ehemalige Lehen des schwachen Zentralstaates Zhou sich gegenseitig annektierten. Nach Jahrhunderten von Eroberungkämpfen blieben noch sieben Staaten übrig, die nun untereinander den letztgültigen Sieg ausmachten. Übrig blieb und damit Sieger war der Staat Qin. Diese Zeit der Menschheitsgeschichte wurde vor kurzem von einem internationalen Historikercommité als die kriegerischste Ära der Menschheitsgeschichte überhaupt auserkoren. In der zhan’guo-Periode kämpften Staaten mit riesigen Armeen, 200‘000 bis 300‘000 Mann stark. Zum Vergleich: Römische Armeen, etwa bei der Varusschlacht im Teutoburger Wald, waren 20‘000 Mann, dies war ein Achtel der gesamten Römischen Streitkräfte, die also total 160‘000 Mann unter Waffen hielt. Chinesische Armeen waren also ~2~ um etwa einen Faktor 10 grösser. Diese riesigen Armeen wurden professionell geführt, sie waren ausgerüstet mit Bronzewaffen Bronze- und Lederrüstungen, Es gab spezialisierte Gattungen wie Armbrust-Truppen und Streitwagen, eine Art Panzer der Antike, dazu gab es Spionage und Geheimdiplomatie. Weit entwickelt war die Belagerungstechnik und Tiere wurden zu Waffen etwa Feuerstiere oder Feuertauben. Es war eine schreckliche Zeit! Aber es erwies sich eine fruchtbare Phase für die chinesische Philosophie. Die Grundlagen der chinesischen Philosophie, also grundlegende Meinungen, die später zu Schulbildungen führten, aber auch die Themen wurden in dieser Zeit definiert. Es waren Versuche, auf die offensichtliche Frage zu antworten, nämlich: wie lässt es sich in dieser apokalyptischen Zeit überleben, d.h. wie müsste die Gesellschaft organisiert sein und wie müsste der oder die Einzelne in dieser Gesellschaft funktionieren, um Einigkeit und Frieden zu finden. Dies sind die Fragen, welche alle Schulen beantworten, also neben den Daoisten die Konfuzianer, Legalisten und Mohisten. Es sind gesellschaftsethische Fragestellungen, andere philosophische Disziplinen, die im Westen entstanden wie die Erkenntnistheorie oder Frage nach der Wesenshaftigkeit der Dinge haben sich in der chinesischen Antike nicht entwickelt. Die Bezeichnung für den Recht Weg der Regierung war in all diesen Schulen dao. Die Suche nach dem Rechten Weg, also dem dao war also keines falls nur den Daoisten vorbehalten. Die Antworten der Schulen fielen natürlich unterschiedlich aus: - In ihrem dao plädierten die Konfuzianer für eine persönliche Ethik als leitender Massstab, die durch Erziehung zu erreichen sei, - die Mohisten predigten das einfache Leben auf dem Land und radikale Abrüstung. Nur noch defensive Waffen sollten erlaubt sein. - Die Legalisten argumentierten, wenn die Menschen vor drakonischen Strafen eines starken Zentralstaats Angst hätten, würden Sie keine Unrechtmässigkeiten mehr begehen. Und in diesem Zusammenhang ist die Entstehung der beiden Texte Daodejing und Zhuangzi zu sehen. Beides waren unterschiedliche Versuche, auf die Fragen der Zeit zu antworten. Wenn man die Texte auch zu Recht als Klassiker des Daoismus bezeichnet, so sind sie doch unabhängig voneinander entstanden. Zhuangzi zitiert zwar an mehreren Stellen einen «Alten Meister», also Laozi, aber die zitierten Aussagen finden sich im textus receptus nicht. Zhuangzi verstand sich auch nicht als Schüler. Eine Schulbildung fand historisch nicht statt. Beide Texte wurden erst in der Han-Dynastie im Jahr 0, also 300 Jahre nach ihrer Entstehung, dem Daoismus zugeschlage. Auch die Bezeichnung wurde erst da geschaffen. ~3~ Beide Texte haben eine ganz unterschiedliche Entstehungsgeschichte wie auch Wirkungsgeschichte. Herkunft und Autor des Daodejing sind nicht auszumachen, und verschiedene archäologische Funde von Grabtexten legen nahe, dass es viele unterschiedliche Versionen dieser kurzen Aussprüche gab. Die kanonisch überlieferten 81 gereimten Sprüche des Daodejing sind sicher nur eine Auswahl aus einem grösseren Textkorpus, die Zahl 81 wohl hanzeitlicher Zahlenmystik geschuldet. Vielleicht sammelte man nur jene zusammen, die einem gefielen. Die Name Laozi, für gewöhnlich „Der alte Meister“ liesse sich auch im Plural als „die alten Meister“ verstehen. Schliesslich gibt es die Vermutung, dass der Text im Umfeld einer Akademie von Gelehrten entstand, deren Leitung der konfuzianische Autor Xun Kuang innehatte. Das zweite Werk Zhuangzi geht zurück auf einen historisch nicht gesicherten, aber von der Tradition klar angenommenen Autor Zhuang Zhou verfasst und dessen Schülern, es ist eine weitgehend homogene Sammlung von Lehrgeschichten, märchenartigen Erzählungen und kurzen Aphorismen. Nicht alle Texte stammen anscheinend von Zhuang Zhou, dem „Meister Zhuang“ selbst, aber die sogenannten „inneren Kapitel“ sind markiert. Diese beiden Texte stimmen in einer Reihe von Ansichten überein: Sie beschreiben den Aspekt des – modern gesprochen – Aussteigen, des Verweigerns. Im Zhuangzi heisst es, dass der grad gewachsene Baum abgesägt und zu Brettern verarbeitet wird, der knorrige Baum aber stehen bleibt. Deshalb müsse es der Sinn des Lebens sein, wie der knorrige Baum zu werden, unangepasst, selbstständig, kritisch. Verweigerung auch in wirtschaftlichen Dingen: Das Problem des Betrügens lässt sich demnach lösen, dass man die Masse und Waagen abschafft und die Leute nur noch so viel einkaufen wie sie brauchen. Die beiden Texte schwärmen von einer Zeit in früher Vergangenheit, als der Geiz, die Missgunst und das Gewinnstreben noch nicht in die Welt gekommen waren. Diese kamen dem zufolge erst mit dem Gebrauch von Geld, mit sozialen Unterschieden etc. Es ist eine höchst idealistische Lehre, man könnte sie auch naiv nennen, wären nicht viele Passagen auch mit einem gewissen merklichen Augenzwinkern dargebracht. Im Daodejing verklärt der Autor eine Zeit, als die Herrschenden noch um diese Zusammenhänge wussten und deshalb die Knochen ihrer Untertanen stark und ihre Bäuche voll, aber die Köpfe der Untertanen hohl gemacht hätten. Zufriedenheit und Glück hat mit Unwissen zu tun. Genügsamkeit, Bescheidenheit sind Tugenden die der Daoismus hoch hält. Das daoistische Paradies ist ein einfaches Leben in einem kleinen und unbedeutenden Staat, an dessen Spitze ein Herrscher steht, der nicht aktiv ~4~ eingreift, sondern den Dingen ihren natürlichen Lauf lässt. Einer der bekanntesten Aussprüche in diesem Zusammenhang ist der Begriff des wu wei, des aktiven Nichtstun, oder des Verringern von Aktivität. Dies ist ein Begriff, der häufig falsch verstanden wurde: wu wei heisst nicht Absenz von Handlung, sondern das bewusste zurückhalten. Ein Staat, der mittels wu wei regiert würde, entspräche also einem politischen Nationalpark, nicht einer unbebauten Brachlandschaft. Der Herrscher greift nicht ein, weil er weiss, dass die Dinge entsprechend ihrer natürlichen und eigenständigen Entwicklung am besten gedeihen. Der Rechte Weg, das dao ist dabei auf keinen Fall ein Ding oder gar Wesen mit eigenem Willen, es ist mehr ein Prinzip, eine Kette von Zwangsläufigkeiten oder Naturgesetzlichkeiten. Dao im daoistischen Sinn entsteht aus sich selbst heraus, wird nicht geschaffen, und es hat universelle Gültigkeit. Erst in der Retrospektive wird der Weg klar, er lässt sich nicht voraussagen, man kann ihn nicht aktiv verfolgen und erlangen, sondern muss sich ihm hingeben, auf ihn vertrauen. In modernen Termini ist Dao die Natur oder der flow. Im Zhuangzi heisst es: „wenn man sich seiner Füsse nicht mehr bewusst ist, dann ist das weil die Schuhe angemessen sind; wenn man sich seiner Hüften nicht mehr bewusst ist, dann ist das weil der Hosenbund angemessen ist; Wenn man sich im Wissen nicht mehr wahr oder falsch bewusst ist, dann ist das weil das Herz angemessen ist.“ Es ist demnach zu erstreben, dass der Unterschied von richtig und falsch überwunden wird, ist dies doch Ursache von Zwistigkeiten aller Art. Die Tugendvorstellungen und politischen Visionen anderer Schulen, insbesondere der Konfuzianer, werden geringgeschätzt: erst wenn der Grosse Weg verloren gegangen ist, entstehen „rechtschaffenes Verhalten“ und „Korrektes Verhalten“ als Forderungen, meint das Daodejing verächtlich. Die braven Tugendbolzen des Konfuzius und seiner Schüler werden als Narren dargestellt, als kleinkarierte Erbsenzähler. Die Daoisten halten sich lieber an die sonst vernachlässigten Aspekte des Lebens. Ihre Lehre ist stark diesseitsbezogen, der Tod ist bedeutungslos. Betont wird stets das Leben. Es gibt kein Jenseits, nur in diesem Leben können wir Glück und Weisheit erlangen, deshalb sollen Menschen auf sich Acht geben. Sie müssen, so die Forderung des Daodejing, wie Kleinkinder werden: biegsam, anpassungsfähig, so dass sie möglichst unbeschadet durchs Leben kommen. Diese Flexibilität ist aber kein Opportunismus: Die seelischen und körperlichen Verletzungen, welche die Welt bereit hält, sind vielmehr möglichst zu vermeiden. Das Daodejing ist kein persönlicher Ratgeber für Jedermann, wenn das Buch ~5~ auch so gelesen werden kann. Das Werk richtet sich in weiten Teilen an einen weisen Herrscher, viele Sprüche sind für Regierende gedacht, etwa die Empfehlung, die Menschen zufrieden zu machen und unwissend. Laozi empfiehlt in einer berühmten Stelle, dass ein grosses Land zu regieren so heikel sei, wie kleine Fische zu braten. Man kann es deshalb auch als politische Schrift lesen, und die Rezeption ist dafür verantwortlich, dass wir das Buch weitgehend als Weisheitsschrift wahrnehmen. Neben den persönlichen Aussagen, seien sie nun an alle oder nur an den Herrscher gerichtet, enthalten beide Werke Beobachtungen, die Aussagen wahrer Weisheit sind, indem sie universelle Beobachtungen in Worte kleiden und damit ins Bewusstsein der Welt bringen: - Wasser ist weich, aber kein Stein kann ihm auf Dauer widerstehen. - Der Becher hat seinen Nutzen nicht dort, wo die Materie ist, sondern dort, wo sie eben nicht ist. - Zhuangzi spricht über die Nützlichkeit des Nutzlosen, eben mit dem knorrigen Baum, aber auch in anderen Bildern. - Er thematisiert auch das Verhältnis von Wort und Gedanke,1 wenn er meint, dass für die meisten Menschen die Worte yan wie Fischreusen oder Fallen seien, mit denen man die Bedeutung, d.h. den Gedanken yi erjagt, worauf sie die Worte dann vergessen. Wie soll man mit denen sprechen? Fragt er sich rhetorisch. - Das Verhältnis von Existentem und Nicht-existentem wird thematisiert, weil nämlich das Erstere aus dem Zweiteren entstanden sein musste. Viele dieser Aussagen sind inzwischen zu Kalenderweisheiten verkommen, aber irgendwann musste jemand mal zum ersten Mal bemerken, dass die Materie des Bechers etwas umschliesst, das eigentlich nicht „Becher“ im materiellen Sinn ist, sondern das die Anwendung „Becher“ ermöglicht. Nach der Antike Mit solchen Lehraussagen schaffte es insbesondere der Text des Daodejing, auch nach der Reichseinigung in der Han-Dynastie als Weisheitstext anerkannt und verehrt zu werden. So blieb der Text stets in hohem Ansehen, wenn wir auch für eine gewisse Zeit nichts über die Textgeschichte wissen. 1 荃 者 所 以 在 魚,得 魚 而 忘 荃; quan zhe suoyi zai yu, de you er wang quan 蹄 者 所 以 在 兔,得兔而忘蹄; ti zhe suoi zai tu, de tu er wang ti 言者所以在意,得意而忘言。 yan zhe suoi zai yi, de yi er wang yan 吾安得忘言之人而與之言哉? ~6~ Die Texte kamen kaum unbeschadet durch die Reichseinigung und die Bücherverbrennungen von 213 v. Chr., aber wir wissen nichts über die Textgeschichte der Zwischenzeit, sie werden dann im späten 2. Jhd. Im Huainanzi wieder zitiert tauchen erst wieder in der kaiserlichen Bibliothek auf, wo das nationale Schrifttum bis kurz vor der Zeitenwende geordnet und gesammelt wurde. Anscheinend entstanden damals die Textversionen, die als textus receptus bis zu uns gelangt sind: das Daodejing in den 81 Sprüchen, das Buch Zhuangzi mit seinen 33 Kapiteln, welche vom grossen Kommentator Guo Xiang (?–312) eingeteilt worden waren. In der Hanzeit, die auf die Qin folgte und grob gesagt von 200 vor bis 200 nach Chr. dauerte, entfalteten die Texte eine ungeheure Wirkungsgeschichte: Waren die idealistischen Utopien in der zhan’guo-Zeit wohl noch belächelt worden, so wurden sie durch den vereinheitlichten Staat des Kaiserreichs als Alternative zum Herrschenden Staatswesen sehr attraktiv. Gegen die sittenstrenge konfuzianische Lehre erschien der Daoismus attraktiv und bald entwickelte sich der Slogan wai ru nei dao, also nach aussen hin Konfuzianer, nach innen aber Daoist. Man könnte auch sagen: als öffentliche Person pflichtbewusst, aber als Privatperson lockerer. Ebenso wurden Aussagen des Daoismus wichtig im Zusammenhang mit Körperbildern und Körpertechniken, und so entstand ein weiterer Kompetenzbereich des Daoismus in der medizinische Pflege. Diese war in China stets weniger Reparatur von Defektem als Erhaltung des Unbeschadeten. Als ein vorwissenschaftliches System hing die chinesische Medizin der Hanzeit eng mit magischen Vorstellungen zusammen, und so waren die Prognostiker und Seher oftmals auch Heiler und Mediziner. Die Hanzeit ist eine Phase der Philosophiegeschichte, in der die politische Vereinigung des Reiches auch intellektuell nachvollzogen wurde: alles wurde eins. Der Kosmos und die Welt, die Menschen und die Naturgewalten, alles wurde wie in einem riesigen Uhrwerk in Übereinstimmung gebracht: Die vier Himmelsrichtungen, die Fünf Gebiete, die Fünf Elemente/Wandlungsphasen, yin und yang, die Kalender-Mystiker, die Mondhäuser, die Himmelsstämme und Erdzweige und vieles weiteres mehr, all diese waren kosmologische Systeme, die den Ablauf der Welt beschreiben wollten. Höchst wahrscheinlich waren dies kosmologische Systeme der einzelnen Staaten, die durch die Reichseinigung nun ebenfalls vereinigt werden mussten. Indem die kosmologischen Systeme vereinigt wurden, entwickelte sich auch das sogenannte korrelative Denken, also die Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen ~7~ Himmel und Erde und den Menschen. Aspekte des Menschen entsprechen Aspekten des Kosmos: - Mann und Frau entsprechen Tag und Nacht und damit yin und yang - Die fünf inneren Organe Leber, Herz, Lunge, Milz und Niere entsprechen den fünf Elementen Metall, Wasser, Holz, Erde und Feuer. - Der Mensch habe angeblich 360 Knochen, entsprechend den 360 Tagen des Jahres. - Die 28 Tage des Mondzyklus entsprechen den 28 Tagen des Menstruationzyklus‘. - Der Herrscher in der Mitte ist unbeweglich wie der Polarstern und alles dreht sich um ihn. - Etc. etc. Dies war nicht spezifisch daoistisch, aber in der Hanzeit, speziell in der späteren Han, also zwischen den Jahren 0 und 200, entwickelte sich im Zusammenhang mit der oben kurz erwähnten magischen Medizin aus diesen Korrelationen eine Körperphilosophie: Himmel und Erde wurden zu Vater und Mutter für die gesamte Menschheit, und jeder Mensch trägt in sich Elemente dieses kosmischen Uhrwerks. Deshalb wird Sexualität, in den Schriften die Vereinigung und Ausgleich von yin und yang ein grosser Stellenwert zugestanden. Was ist nun daran daoistisch, werden Sie fragen, und Sie haben Recht, es hat wenig mit dem oben Gesagten gemein, ausser dem erwähnten Ideal des Kleinen Kindes. Solche Bemerkungen haben sich weiterentwickelt zur Theorie, dass das Alter nichts sei als ein Verlust von Lebensenergie, und dass man Unsterblichkeit erreichen kann schlicht dadurch, dass man die Kräfte erhält, die man als Kleinkind ja hatte. Dies war die Grundlage für die Entwicklung der Alchemie, die immer ein Mittel gegen die Sterblichkeit suchte, nicht ein Weg für die Herstellung von Gold. Alles was nun geschehen musste, um die daoistische Philosophie der Kaiserzeit zu vollenden war, dass diese Korrelationen in beide Seiten als funktionierend angesehen wurden. Jetzt war es nicht nur der Kosmos, der das Leben der Menschen beeinflusste, sondern nachdem die Wechselseitigkeit etabliert war, waren wir Menschen verantwortlich für den Kosmos. Indem also die Anhänger dieser Lehrten sich an die Gesetze hielten, konnten sie die kosmische Harmonie beeinflussen, weil der Kosmos ebenso vom Menschen abhing wie umgekehrt. In diesem Zusammenhang spielt das Ihnen wohlbekannte Konzept des qi eine entscheidene Rolle: Qi wird die materielle Verknüpfung zwischen Kosmos und Mensch. Mit jedem Atemzug teilen wir das Qi mit der ganzen Welt und damit dem Kosmos. ~8~ Die weitere Entwicklung der daoistischen Philosophie geschah nun in Form von Kommentaren der alten Texte. Auf der Basis von Laozi und Zhuangzi wurden neue Auslegungen entwickelt. Die Kommentatoren bemühten sich, die alten Texte neu zu interpretieren, sie gaben Lesestrategien vor. Ich will Ihnen dies an einem Beispiel demonstrieren: Daodejing Kapitel 6 lautet 谷神不死,是谓玄牝。玄牝之门,是谓天地根。绵绵若存,用之不勤。 Gu shen bu si, shi wei xuan pin, xuanpin zhi men, shi wei tiandi gen, mianmian ruo cun, yong zhi bu dong In der Übersetzung Günther Debons: «Unsterblich ist die Fee des Tals; So heisst es von der mystischen Weibheit. Der mystischen Weibheit Pforte: So heisst man die Wurzel von Himmel und Erde. Endlos wallend, gleichsam gegenwärtig Also wirkt sie sonder Beschwerde.» Der Kommentar Wang Bis aus dem Dritten Jahrhundert, der bekannteste und wichtigste Kommentar zum Werk betont den Begriff gu shen „Die Fee des Tals“, meist als „Der Geist des Tales“ übersetzt. Wang behauptet, dies sei ein Ausdruck für die leere Form des Tales, die linguistisch gesprochen für das Privativum „Tal“. Indem dieses ohne Form sei, und stets gegenwärtig ist der Geist des Tales mit dem dao gleichzusetzen.2 Der Kommentar Zhuang Zuns, der etwas älter sein dürfte betont den Begriff der mystischen Weiblichkeit. Dieser sei die Metapher für dao, denn sie sei die Pforte, die als Ursprung der Welt ja wohl deren Schaffung vorausgegangen sei. Der dritte, ebenfalls daoistische Kommentar geht anders vor: er ersetzt gu durch yu, eine plausible Substitution nach philologischen Regeln, wodurch es nicht mehr „Tal“ heisst sondern „wollen, ein Bedürfnis haben“ und liest den ersten Satz folglich „Wenn Du nicht willst, dass der Geist stirbt“. Daraus entwickelt er eine Anleitung zur Körpertechnik, genauer zur Sexualtechnik, bei der man als Mann den Samen nicht ejakulieren darf, sondern ihn durchs Rückenmark ins Hirn ziehen und diesen dort in Energie verwandeln soll. Die Sexualität wird als eines von drei Grundbedürfnissen genannt, zusammen 2 谷神,谷中央无。谷也,无形无影,无逆无违,处卑不动,守静不衰,谷以之成而不见其 形,此至物也。处卑而不可得名,故 谓天地之根,绵绵若存,用之不勤。门,玄牝之所由也,本其所由, 与极同体,故谓之天地之根也。欲言存邪,则不见其形,欲言亡邪,万物以之生。故绵绵若存 也,无物 不成,用而不劳也。故曰,用而不勤也。 ~9~ mit Essen und Trinken sowie Kleidung. Alle drei auf dem Argument, dass jeder Mensch und die gesamte Spezies ohne diese drei Dinge stirbt und diese daher als essentiell anzusehen sind. Gleichzeitig wurde wie gesagt Sexualität als Harmonisierung von yin und yang wichtig, weil man durch einen persönlichen Austausch dieser bipolaren Kräfte mithalf, den Kosmos ins Gleichgewicht zu bringen. Auch die politische Philosophie wurde persönlicher, individueller. Nicht mehr der Staat sollte als Ganzes auf wu wei, die bewusste Enthaltung von Aktivität bauen, sondern jetzt war es jeder Adept des Daoismus. Es war nicht mehr nötig, sich als Mitglied der Gesellschaft nützlich zu machen, man konnte höchst egoistisch sich um sein eigenes Wohl kümmern, die drei Grundbedürfnisse stillen und sich ansonsten aus der Welt fern halten. Das Ideal des Einsiedlers kam auch in der Literatur auf. Zusammengefasst lässt sich die Entwicklung des Daoismus im formativen Zeitraum zwischen rund 350 vor Christus und 350 nach Christus wie folgt beschreiben: Der Daoismus hatte sich als eine politische Lehre entwickelt, die versuchte, eine Lösung für das Schlamassel der „Streitenden Reiche“ zu suchen. Laozi empfahl ein vertrauen auf den grossen Weg, auf eine natürliche Entwicklung, während Zhuangzi der Welt misstraut und die Brauchtümer und Institutionen kritisch hinterfragt. Mit der Reichseinigung verschwindet die Möglichkeit, ein Staatsgebilde nach den eigenen Vorstellungen zu formen, dafür wird die Lehre internalisiert, auf die Individuen herunter gebrochen, die versuchen, in ihrem Alltag oder zumindest in ihrem Privatleben den Dingen ihren natürlichen Lauf zu lassen. Autoren betonen Parallelismen und Korrelationen zwischen dem Mensch und dem Kosmos, der ihn beherbergt und hervorgebracht hat. Anhänger des Daoismus praktizieren Körpertechniken, mit denen sie ihre Lebenskraft erhalten wollen, sie suchen die Pille der Unsterblichkeit, der oftmals auch ein Trank der Unsterblichkeit, namentlich Alkohol war. Der Daoismus war stets das philosophische Gegenmodell zur Wirklichkeit, eine Phantasie-Lehre, die von einer Welt schwärmt, in der sich die Probleme des menschlichen Lebens alle nicht stellen. Und das war auch sein Appeal durch die Jahrhunderte. Wer sich in China, einer Gesellschaft mit sehr hohem Anpassungsdruck nicht eingliedern wollte, konnte in seiner Verweigerung immer auch auf eine grössere Lehre zurückgreifen, er war nicht allein gegen den Mainstream der gesellschaftlichen Konventionen, sondern konnte sich als gefühlter Daoist freier meinen. Dies ist auch Grundlage der Rezeption im ~ 10 ~ Westen gewesen. In seiner Entwicklung reagierte der Daoismus zwar stets auf den politischgesellschaftlichen Kontext. Die Rezeption der Texte im Westen und in der chinesischen Moderne findet allerdings dekontextualisiert statt und so wird es möglich, dass ein Buch wie das Daodejing seit Jahrhunderten in Europa begeisterte Leser findet, die genau diesen Gegenentwurf in dem Buch erkennen und träumen von einer Welt, in der nicht immer alles bestimmt wird bis zum letzten und in der den Dingen ihren Lauf gelassen wird, voller Respekt für diese Prozesse. Der Daoismus wird stets diese idealistische Phantasie bleiben, in der man Zuflucht finden kann. Damit schliesse ich meine Beobachtungen, ich hoffe, ich konnte Ihnen einen gewissen Einblick geben.