Reelle und komplexe Zahlen

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Kapitel 1
Reelle und komplexe Zahlen
1.1 Logik und Mengenlehre
Nach der logizistisch-formalistischen Auffassung basiert die heutige Mathematik
auf zwei Säulen:
◦
nämlich einmal auf der Logik, insbesondere der Aussagenlogik und der Prädikatenlogik erster bzw. höherer Stufe,
◦
und dann auf der Mengenlehre, d.h. der elementaren Mengenlehre, der naiven
Mengenlehre nach G. Cantor sowie der axiomatischen Mengenlehre, z.B. nach
E. Zermelo und A. Fraenkel.
Wir wollen erwähnen, dass Logizismus und Formalismus nicht die einzigen grundsätzlichen Herangehensweisen an die Mathematik darstellen. Neben diesen bildeten
sich u.a. auch der intuitionistische Standpunkt heraus. Einer der bedeutendsten Vertreter des Logizismus ist B. Russell, für den Formalismus steht vielleicht D. Hilbert
an erster Stelle, und der Intuitionismus ist in wesentlichen Zügen das Werk von
L.E.J. Brouwer. Für ein detailliertes Studium dieser klassischen sowie moderner
mathematischer Grundpositionen empfehlen wir das mathematisch-philosophische
Lehrbuch Bedüftig und Murawski [1].
Auch gibt es nicht nur eine axiomatische Mengenlehre. Sich von der ZermeloFraenkelschen Lehre unterscheidende Darstellungen stammen u.a. von P. Bernays,
K. Gödel oder J. von Neumann. Auch die Hinzunahme des Auswahlaxioms mit all
seinen erwünschten und unerwünschten Konsequenzen, die in Jech [21] auseinandergesetzt werden, war eine über viele Jahrzehnte anhaltende Streitfrage.
Wir wollen zu Beginn unserer Vorlesung wichtige, grundlegende Elemente aus
den eingangs genannten Bereichen der mathematischen Logik und der Mengenlehre
kennenlernen und an Beispielen diskutieren.
3
4
1 Reelle und komplexe Zahlen
1.1.1 Elemente der mathematischen Logik
Erste Beispiele mathematischer Aussagen
Mathematik bedeutet Analysis von Aussagen, wie z.B.:
Die Zahl 3 ist eine Primzahl.
Die Zahl 4 ist eine Primzahl.
Es gibt unendlich viele Primzahlzwillinge.
Die erste Aussage ist richtig, die zweite Aussage ist falsch; über den Wahrheitsgehalt der dritten Aussage können wir zum heutigen Zeitpunkt noch nicht entscheiden,
sind aber überzeugt, dass sie entweder wahr oder falsch ist.
Die Situation ist allerdings die, dass wir nicht nur nicht wissen, ob es unendlich
viele Primzahlzwillinge gibt oder nicht gibt, sondern ob diese Frage innerhalb der
heutigen Mathematik überhaupt beweisbar ist oder eben nicht.
Was sind mathematische Aussagen?
Die Aussagenlogik und ihre algebraische Formulierung geht in ihren Ursprüngen
wesentlich zurück auf das Werk [2] des englischen Mathematikers George Boole.
Er schuf damit einen neuen wissenschaftlichen Zweig, der sich angesichts seiner
strengen mathematischen Formulierung von der seinerzeit vorherrschenden philosophischen Logik unterscheidet.
Unsere erste Definition beinhaltet die Zweiwertigkeit der Aussagenlogik.
Definition 1.1. Eine Aussage ist ein Satz, der entweder wahr oder falsch ist.
Außer wahr oder falsch gibt es keine weitere Möglichkeit. Genau das verstehen wir
unter dem Prinzip der Zweiwertigkeit.
Einfache Beispiele von Aussagen haben wir bereits oben kennengelernt. Sprachliche Formulierungen wie
◦
◦
Herzlichen Glückwunsch!
Das Wetter in Tübingen ist stets anders.
sind hingegen keine Aussagen im mathematischen Sinn, wir können ihnen auf sinnvolle Weise keinen der beiden Wahrheitswerte zuordnen. Und schließlich bezeichnen wir mathematische Ausdrücke wie
◦
◦
x + 7 = 28
R(0, 3, 1)
als Aussageformen, die zu Aussagen werden, nachdem wir z.B. im ersten Fall den
Platzhalter“ x durch eine natürliche Zahl substituieren und so x + 7 = 28 zu einer
”
wahren oder falschen Aussage machen, oder im zweiten Fall R(x, y, z) z.B. als die
Relation x < y < z interpretieren, was die Aussage R(0, 3, 1) falsch macht.
1.1 Logik und Mengenlehre
5
Logische Paradoxien
Ein gesprochener oder geschriebener Satz kann grammatikalisch korrekt sein, inhaltlich aber zu einer logischen Paradoxie werden. Jeder kennt das Beispiel:
Dieser Satz ist falsch.
Ist nämlich der Satz wahr, so ist er nach seiner eigenen Behauptung falsch. Ist er
aber falsch, so ist nicht richtig, dass der Satz falsch ist, also muss er richtig sein.
Was stimmt nun?
Um Paradoxien dieser Art von vornherein zu vermeiden, wird die Aussagenlogik auf axiomatische Art und Weise syntaktisch, d.h. rein formal und ohne jede
Interpretation formuliert. Aussagen werden dann in neue Aussagen überführt unter
alleiniger Verwendung vorher festgelegter Schlussregeln.
Erst im zweiten Schritt wird dieser formalen Darstellung der Logik eine Semantik gegenüber gestellt. Hierunter versteht man eine Zuordnung von Aussagen und
Aussagenverknüpfungen in die aus den beiden natürlichen Zahlen 0 und 1 bestehende Menge {0, 1}. Häufig verwendet man auch { f , w} als eine solche Zielmenge,
in die abgebildet wird, wobei w für wahr und f für falsch steht.
Wir wollen in unserer Vorlesung nur die semantische Formulierung der Aussagenlogik kennenlernen. Detaillierte Untersuchungen finden sich u.a. in den Lehrbüchern Hoffmann [18], [19] und [20], Kleene [23], Rautenberg [29], Russell [31],
Wolf [34], Ziegler [37], Zoglauer [38] oder in unserer Ergänzungsvorlesung Grundlagen der Geometrie und Logik.
Verknüpfungen von Aussagen
Mathematische Aussagen bezeichnen wir mit kleinen Buchstaben a, b, c usw. In der
Aussagenlogik nehmen sie genau einen der beiden Wahrheitswerte an
entweder 1 (wahr) oder 0 (falsch).
Aussagen setzen wir durch folgende Verknüpfungen miteinander in Beziehung
¬,
∧,
∨,
→,
↔.
In dieser Reihenfolge bedeuten diese Symbole: nicht, und, oder, folgt (impliziert)
und äquivalent. Die aussagenlogischen Bedeutungen dieser Verknüpfungen definieren wir wie in Tabelle 1.1 anhand einer Wahrheitstabelle.
Beispiel 1.1. Dieser Tabelle entnehmen wir die beiden Äquivalenzen
a → b entspricht ¬a ∨ b
sowie
a↔b
entspricht (a → b) ∧ (b → a).
6
1 Reelle und komplexe Zahlen
Tabelle 1.1 Aussagenlogische Verknüpfungen
a
b
¬a
¬b
a∧b
a∨b
a→b
b→a
a↔b
1
1
0
0
1
0
1
0
0
0
1
1
0
1
0
1
1
0
0
0
1
1
1
0
1
0
1
1
1
1
0
1
1
0
0
1
Solche abgeleiteten Ausdrücke ermöglichen es uns insbesondere, die Äquivalenz ↔
allein durch die Verknüpfungen ¬, ∧ und ∨ auszudrücken:
a ↔ b entspricht (¬a ∨ b) ∧ (¬b ∨ a).
Statt dem Wort entspricht“ benutzen wir im Folgenden sehr freizügig das Symbol
”
≡“. Die Formel (a → b) ≡ (¬a ∨ b) bedeutet dann, dass a → b und ¬a ∨ b im
”
aussagenlogischen (später auch im prädiaktenlogischen) Sinne äquivalent sind.
Die runden Klammern in aussagenlogischen Formeln geben an, in welcher Reihenfolge die logischen Verknüpfungen auszuführen sind. Lässt man sie weg, so gilt
stillschweigend folgende Vereinbarung über deren Priorität: ¬, ∧, ∨, → und ↔ (von
der höchsten zur niedrigsten).
Beispiel 1.2. Wir benötigen auch die Identität
a ∧ (b ∨ c) ≡ (a ∧ b) ∨ (a ∧ c),
deren Richtigkeit wir nach Vergleich der fünften und der achten Spalte folgender
Wahrheitstabelle verifizieren:
Tabelle 1.2 Aussagenlogische Auflösung von Konjunktion und Disjunktion
a
b
c
b∨c
a ∧ (b ∨ c)
a∧b
a∧c
(a ∧ b) ∨ (a ∧ c)
1
1
1
1
0
0
0
0
1
1
0
0
1
1
0
0
1
0
1
0
1
0
1
0
1
1
1
0
1
1
1
0
1
1
1
0
0
0
0
0
1
1
0
0
0
0
0
0
1
0
1
0
0
0
0
0
1
1
1
0
0
0
0
0
Auf diese Weise überzeugen wir uns auch von der Gültigkeit von
a ∨ (b ∧ c) ≡ (a ∨ b) ∧ (a ∨ c).
Stellen Sie zur Übung eine entsprechende Wahrheitstabelle auf.
1.1 Logik und Mengenlehre
7
Satz 1.1. (de Morgansche Regeln der Aussagenlogik)
Es gelten
¬(a ∧ b) ≡ ¬a ∨ ¬b, ¬(a ∨ b) ≡ ¬a ∧ ¬b.
Beweis. Übungsaufgabe. ⊓
⊔
Mit Hilfe der de Morganschen Regeln, unserem obigen Resultat a → b ≡ ¬a ∨ b
sowie der leicht einzusehenden Regel ¬¬a ≡ a (vgl. unten: Satz von der doppelten
Verneinung) bilden wir die folgenden äquivalenten Umformungen
¬(a → b) ≡ ¬(¬a ∨ b) ≡ ¬¬a ∧ ¬b ≡ a ∧ ¬b
bzw. nach nochmaliger Anwendung der Negation
a → b ≡ ¬(a ∧ ¬b).
Die Implikation a → b ist jetzt durch die Verknüpfungen ¬ und ∧ ausgedrückt. Für
die Äquivalenz a ↔ b bedeutet das wiederum
a ↔ b ≡ ¬(a ∧ ¬b) ∧ ¬(b ∧ ¬a).
Tatsächlich genügen die zwei Verknüpfungen ¬ und ∧, um sämtliche aussagenlogischen Ausdrücke in äquivalenter Form darzustellen. Wir sagen, die Menge {¬, ∧}
bildet eine Junktorenbasis.
Weitere Junktorenbasen sind {¬, ∨} oder {¬, →}.
Aussagenlogische Beweisprinzipien
Unter einer Tautologie verstehen wir eine Aussage, die für jede Belegung 1 oder 0
ihrer Variablen stets wahr ist. Im Gegensatz dazu ist eine Kontradiktion eine Aussage, die stets falsch ist.
Beispiele für Tautologien sind:
◦
◦
◦
◦
◦
◦
◦
Satz vom ausgeschlossenen Dritten
Satz vom Widerspruch
Satz von der doppelten Verneinung
Satz von der Kontraposition
Satz zum modus ponens
Satz zum modus tollens
Satz zum modus barbara
a ∨ ¬a
¬(a ∧ ¬a)
¬(¬a) → a
(a → b) ↔ (¬b → ¬a)
(a → b) ∧ a → b
(a → b) ∧ ¬b → ¬a
(a → b) ∧ (b → c) → (a → c)
Die z.B. über Wahrheitstabellen zu führenden Nachweise, dass jede dieser Formeln
tatsächlich stets wahr ist, und zwar unabhängig von der jeweiligen Belegung von
den Variablen a und b, belassen wir als Übung. Finden Sie darüber hinaus auch
eigene Beispiele für Kontradiktionen.
8
1 Reelle und komplexe Zahlen
Aussagenlogische Tautologien sind für uns deswegen von Interesse, weil sie
wichtige mathematische Beweisprinzipien darstellen, auf die wir in unserer Vorlesung immer wieder zurückgreifen werden.
Wir wollen drei dieser Beweisprinzipien herausstellen:
◦
den Widerspruchsbeweis:
eine Aussage a kann nicht gleichzeitig mit ihrer Negation ¬a wahr sein;
◦
den direkten Beweis:
folgt aus dem modus ponens, d.h. gilt a, und folgt b aus a, so gilt auch b;
◦
den indirekten Beweis:
folgt aus dem modus tollens, d.h. gilt ¬b, kann aber b aus a abgeleitet werden, so gilt ¬a, und a ist falsch.
Quantoren
Aussagenlogische Methoden genügen allein natürlich nicht, um Mathematik betreiben zu können. Wir werden es stets mit mathematischen Variablen aus verschiedenen Individuenmengen zu tun haben. Für ihre Beschreibung verwenden wir den
Allquantor ∀ und den Existenzquantor ∃, und zwar wie folgt:
◦
∀x ∈ X : p(x) bedeutet, dass für alle Elemente x aus der Individuenmenge X die
Aussage p(x) wahr ist;
◦
∃x ∈ X : p(x) bedeutet, dass es ein Element x aus der Individuenmenge X gibt,
für welches p(x) wahr ist.
Formeln dieser und ähnlicher Art gehören der sogenannten Prädikatenlogik an, auf
die wir in dieser Vorlesung nicht weiter eingehen. Es sei aber betont, dass sie die
eigentliche Grundlage aller mathematischen Disziplinen bildet.
Beispiel 1.3. Stetige Funktionen stehen im Zentrum der Analysis. Wir sagen, eine
Funktion f : Ω → R heißt stetig in einem Punkt x0 ∈ Ω , wenn gilt
∀ε > 0 ∃δ > 0 ∀x ∈ Ω |x − x0| < δ −→ | f (x) − f (x0 )| < ε ;
in Worten: falls also zu jedem reellen ε > 0 ein δ > 0 existiert, so dass gilt
| f (x) − f (x0 )| < ε
für alle x ∈ Ω mit |x − x0| < ε .
Diese Definition benötigt neben den vier Variablen x, x0 , ε und δ drei Quantoren,
die x, ε , δ binden, während x0 frei bleibt. Die zweistelligen Relationen ∈ und <
heißen Prädikate.
1.1 Logik und Mengenlehre
9
Prädikatenlogische Beweisprinzipien
Abschließend zwei Beweisprinzipien unter Verwendung der Quantoren ∃ and ∀ :
¬∀xp(x) ≡ ∃x¬p(x),
¬∃xp(x) ≡ ∀x¬p(x).
Beispiel 1.4. Wir sind nun in der Lage, obige formal-prädikatenlogische Definition
der Stetigkeit einer Funktion f (x) in einem Punkt x0 ∈ Ω zu negieren:
¬ ∀ε > 0 ∃δ > 0 ∀x ∈ Ω |x − x0| < δ → | f (x) − f (x0 )| < ε
≡ ∃ε > 0 ¬ ∃δ > 0 ∀x ∈ Ω |x − x0| < δ → | f (x) − f (x0 )| < ε
≡ ∃ε > 0 ∀δ > 0 ¬ ∀x ∈ Ω |x − x0| < δ → | f (x) − f (x0 )| < ε
≡ ∃ε > 0 ∀δ > 0 ∃x ∈ Ω ¬ |x − x0 | < δ → | f (x) − f (x0 )| < ε
≡ ∃ε > 0 ∀δ > 0 ∃x ∈ Ω (|x − x0 | < δ ) ∧ ¬(| f (x) − f (x0 )| < ε )
≡ ∃ε > 0 ∀δ > 0 ∃x ∈ Ω (|x − x0 | < δ ) ∧ (| f (x) − f (x0 )| ≥ ε )
Können Sie das in Worten ausdrücken?
1.1.2 Elementare Mengenlehre
Nach diesem ersten Einblick in die Aussagen- und Prädikatenlogik wollen wir wichtige Elemente der mathematischen Mengenlehre vorstellen. Wir unterscheiden
◦
◦
◦
die elementare Mengenlehre,
die naive Mengenlehre nach G. Cantor,
die axiomatische Mengenlehre, z.B. nach E. Zermelo und A. Fraenkel.
Die elementare Mengenlehre enthält lediglich die wichtigsten Mengenrelation und
-operationen, wie z.B. die Teilmengenrelation, die Mengenvereinigung usw. Es wird
nicht das Wesen einer Menge hinterfragt.
Das nämlich sowie die Begründungen der elementaren Mengenoperationen bleiben G. Cantors naiver Mengenlehre vorbehalten. Sein Werk kann aus mathematischer wie aus erkenntnistheoretischer Sicht nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Trotz zahlreicher Zweifler und sogar Gegner setzten sich seine Ideen zu einer Lehre
der finiten und transfiniten Mengen in wesentlichen Zügen durch.
Cantors Mengenlehre enthält jedoch zahlreiche Paradoxien, die es notwendig
machten, die Mengenlehre auf einen möglichst sicheren axiomatischen Boden aufzubauen. Heute spielt die auf E. Zermelo und A. Fraenkel zurückgehende Axiomatik
die vorherrschende Rolle, die wir in groben Zügen vorstellen wollen. Eine weitere,
sehr beachtete Formulierung einer axiomatischen Mengenlehre geht zurück auf P.
Bernays, K. Gödel und J. von Neumann.
10
1 Reelle und komplexe Zahlen
Als einführende sowie vertiefende Literatur empfehlen wir Bedürftig und Murawski [1], Deiser [6], Fraenkel [9], Halmos [11], Heijenoort [13], Heuser [14] und
[15], Hoffmann [18], [19] und [20], Meschkowski [25], Merziger und Wirth [24].
Besonders lohnenswert ist auch das Studium Cantors Korrespondenzen in Cavailles
und Noether [5] sowie in Meschkowski und Nilson [26]; letztere Sammlung stellt
uns G. Cantors Briefe in kommentierter Form zur Verfügung.
Elementare Mengencharakterisierung und erste Beispiele
Eine Menge M lässt sich z.B. auf zwei Arten charakterisieren:
◦
durch Angabe ihrer Elemente m1 , m2 , m3 usw., in Zeichen
M = {m1 , m2 , m3 , . . .} ,
◦
wobei die Reihenfolge der Elemente nicht wichtig ist; es spielt keine Rolle, ob
M endlich viele oder unendlich viele Elemente besitzt, aber wir verlangen, dass
sich ihre Elemente abzählen lassen: m1 , m2 , m3 usw.;
durch Angabe einer sie definierenden Eigenschaft, z.B.
M = {x ∈ X : p(x)} ,
so dass die Menge M aus allen Elementen x einer Obermenge X besteht, in
Zeichen x ∈ X , für welche die Eigenschaft oder Aussage p(x) wahr ist.
Wir werden beide Schreibweisen verwenden.
Beispiel 1.5. 1. Die Menge M = {1} besitzt 1 als einziges Element.
2. Die Menge M = {1, {1}} besteht aus den beiden Elementen 1 und {1}.
3. Die Menge N = {1, 2, 3, . . .} ist die Menge der natürlichen Zahlen ohne Null.
√
√
√
4. Die
√ Menge M = {0, 2, − 2} besteht aus den drei Elementen 0, 2 und
− 2. Wir können auch schreiben
√
√
M = {x ∈ R : x3 = 2x} = {0, 2, − 2}
5.
mit der Menge R aller reellen Zahlen.
Die leere Menge M = 0/ enthält nach Vereinbarung kein Element.
Wir sprechen von einer endlichen Menge, falls die Anzahl ihrer Elemente eine endliche natürliche Zahl ist, wie im Beispiel
{n ∈ N : 2n < n2 } = {3} ,
andernfalls von einer unendlichen Menge, z.B.
{x ∈ R : sin x = 0} = {x : x = kπ , k ∈ Z} .
1.1 Logik und Mengenlehre
11
Elementare Mengenrelationen und Mengenoperationen
Seien A und B zwei beliebige Mengen.
◦
Mengenrelationen
A=B
A⊆B
A⊂B
A ist gleich B
A ist Teilmenge von B
A ist echte Teilmenge von B
x∈A ↔ x∈B
x∈A → x∈B
A⊆B ∧ A=B
Die Mengengleichheit können wir offenbar auch so auffassen
A=B
genau dann, wenn A ⊆ B und B ⊆ A.
Hierauf basieren viele Beweise zu Mengengleichheiten!
◦
Vereinigung, Durchschnitt, Differenz
A∪B
A∩B
A\B
◦
A vereinigt mit B
A geschnitten mit B
A weniger B
{x : x ∈ A ∨ x ∈ B}
{x : x ∈ A ∧ x ∈ B}
{x : x ∈ A ∧ x ∈ B}
Kartesisches Produkt
A × B = {(x, y) : x ∈ A, y ∈ B}.
Wir können uns diese Relationen anhand von Mengendiagrammen veranschaulichen, hier am Beispiel des Durchschnitts der drei Mengen A, B und C :
Abbildung 1.1 Durchschnitt dreier Mengen als Mengendiagramm veranschaulicht
B
A
C
12
1 Reelle und komplexe Zahlen
Rechenregeln für Mengen
In Verallgemeinerung der uns bekannten aussagenlogischen Formeln
a ∧ (b ∨ c) = (a ∧ b) ∨ (a ∧ c),
a ∨ (b ∧ c) = (a ∨ b) ∧ (a ∨ c)
wollen wir den folgenden Satz beweisen.
Satz 1.2. Für drei beliebige Mengen A, B und C gelten
A ∩ (B ∪C) = (A ∩ B) ∪ (A ∩C),
A ∪ (B ∩C) = (A ∪ B) ∩ (A ∪C).
Beweis. Wir konzentrieren uns nur auf die erste Behauptung, ein Beweis der zweiten Identität verbleibt als Übung. Zu diesem Zweck notieren wir noch einmal
a ∧ (b ∨ c) = (a ∧ b) ∨ (a ∧ c)
und ermitteln
x ∈ A ∩ (B ∪C)
−→
−→
−→
−→
−→
x ∈ A ∧ x ∈ (B ∪C)
x ∈ A ∧ (x ∈ B ∨ x ∈ C)
(x ∈ A ∧ x ∈ B) ∨ (x ∈ A ∧ x ∈ C)
(x ∈ A ∩ B) ∨ (x ∈ A ∩C)
x ∈ (A ∩ B) ∪ (A ∩C),
was zunächst die Inklusion
A ∩ (B ∪C) ⊆ (A ∩ B) ∪ (A ∩C)
zeigt. Wir überzeugen uns aber, dass wir in dieser Schlusskette alle Implikationen
umkehren dürfen, d.h. statt → gilt auch stets ←“, was dann
” ”
”
(A ∩ B) ∪ (A ∩C) ⊆ A ∩ (B ∪C)
zur Folge hat. Damit ist die erste Mengengleichheit bewiesen. ⊓
⊔
Unser nächstes Resultat verallgemeinert die bekannten de Morganschen Regeln der
Aussagenlogik auf Mengen.
Satz 1.3. (de Morgansche Regeln der Mengenlehre)
Sind A und B zwei beliebige Teilmengen einer Obermenge X , so gelten
X \ (A ∪ B) = (X \ A) ∩ (X \ B),
X \ (A ∩ B) = (X \ A) ∪ (X \ B).
Beweis. Übungsaufgabe.
1.1 Logik und Mengenlehre
13
1.1.3 Naive und axiomatische Mengenlehre
Was sind Mengen?
G. Cantor beginnt in [4] mit den folgenden Worten:
Unter einer Menge“ verstehen wir jede Zusammenfassung M von bestimmten wohlunter”
schiedenen Objekten m unsrer Anschauung oder unseres Denkens (welche die Elemente“
”
von M genannt werden) zu einem Ganzen.
Diese berühmte Definition des Mengenbegriffs war in der Folgezeit Anlass zahlreicher und auch ernsthafter Kritiken, was insbesondere die noch zu diskutierenden
mengentheoretischen Paradoxien betrifft.
In [3] äußert sich G. Cantor etwas abweichend wie folgt:
Unter einer Mannigfaltigkeit“ oder Menge“ verstehe ich nämlich allgemein jedes Viele,
”
”
welches sich als Eines denken läßt, d. h. jeden Inbegriff bestimmter Elemente, welcher
durch ein Gesetz zu einem Ganzen verbunden werden kann . . .
Cantors Mengendefinitionen sind fern jeder notwendigen Präzision, und unbedachtes Anwenden dieser Definition führt auf widersprüchliche Paradoxien: die Menge
aller Mengen, oder die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Teilmenge enthalten usw. Man muss wissen, dass ähnliche Paradoxien bereits G. Cantor selbst
bekannt waren, und dass er auch sicher war, diese durch seine eben vorgetragenen
Formulierungen auszuschließen.
Um aber nun jede Diskussion über solche Paradoxien zu vermeiden, geht die
Mathematik wie folgt vor:
◦
◦
die Mengenlehre wird, wie die mathematische Logik, axiomatisch aufgebaut,
der Begriff der Menge wird nicht explizit definiert, sondern Mengen werden
anhand ihrer Eigenschaften und Beziehungen untereinander implizit eingeführt.
Das historisch bedeutendste mathematische System, an dem sich eine solche Axiomatik methodisch anlehnt, ist die etwa 2500 Jahre alte Euklidische Geometrie. In
unserer Vorlesung Grundlagen der Geometrie und Logik lernen sie die dahinterstehenden Zusammenhänge kennen.
In seiner Autobiographie [10] belegt A. Fraenkel die seinerzeit oft anzutreffenden Ressentiments gegebenüber der Cantorschen Mengenlehre am Beispiel eines
von H.A. Schwarz geleiteten Seminars an der Universität Berlin, welchem er als
Student beigewohnen durfte:
Am bequemsten machte es sich Schwarz. Er ließ den Studenten, die dazu Lust hatten, völlige Freiheit, in den Seminarstunden über beliebige Themen vorzutragen. Ich wählte mir,
künftige Entwicklungen unbewußt antizipierend, als Thema die Elemente der in Berlin fast
unbekannten Mengenlehre und erregte mit meinem zweistündigen Vortrag bei den Studenten lebhaftes Interesse. Der Professor verkündete indes in seinem Nachwort: Auch er habe
von diesen bedenklichen Theorien Georg Cantors gehört, müsse aber die studierende Jugend ernstlich vor ihnen warnen. Damit trat er in die Fußstapfen Kroneckers und nicht in
die seines hauptsächlichen Lehrers Weierstraß.
14
1 Reelle und komplexe Zahlen
Die Axiome der Zermelo-Fraenkelschen Mengenlehre
Wir wollen nun die zehn Axiome der Zermelo-Fraenkelschen Mengenlehre (i) in einer in dieser Theorie üblichen, aber leider auch nicht leicht zu lesenden Form sowie
(ii) in E. Zermelos eigenen Worten vorstellen und ihre Inhalte kurz diskutieren.
Die axiomatische Mengenlehre gründet sich auf der Aussagen- und der Prädikatenlogik mit ihren Sprachelementen ¬, ∨, ∧, →, ↔, ∃, ∀, sie benutzt ferner ein
mengentheoretisches Relationssymbol ∈, und als Variablen sind nur Mengen zugelassen, die wir mit kleinen Buchstaben u, v, x, y, z usw. bezeichnen.
Für das erste Lesen wollen wir die Aufmerksamkeit insbesondere auf folgende
Axiome lenken:
◦
◦
◦
◦
◦
Axiom ZF 2, welches die Existenz der leeren Menge postuliert;
Axiom ZF 5, welches die Existenz einer Allmenge zum Widerspruch führt;
Axiom ZF 6, welches die natürlichen Zahlen in die Mengenlehre einbettet;
Axiom ZF 7, welches die Existenz einer Potenzmenge postuliert;
Axiom der Auswahl ZF 10.
Axiom ZF1. (Axiom der Bestimmtheit)
∀x ∀y [x = y ↔ ∀z(z ∈ x ↔ z ∈ y)]
Zermelos Formulierung [35], S. 263:
Ist jedes Element einer Menge M gleichzeitig Element von N und umgekehrt, ist also gleichzeitig M ⊆ N und N ⊆ M, so ist immer M = N. Oder kürzer: jede Menge ist durch ihre
Elemente bestimmt.
Zwei Mengen x und y sind demnach genau dann gleich, wenn sie dieselben Elemente besitzen.
Axiom ZF2. (Axiom der leeren Menge)
∃x ∀y [y ∈ x]
Zermelos Formulierung [35], S. 263:
Es gibt eine (uneigentliche) Menge, die Nullmenge“ O, welche gar keine Elemente enthält.
”
Dieses Axiom postuliert die Existenz der leeren Menge 0,
/ die keine Elemente besitzt; sie ist durch das Axiom der Bestimmtheit ZF 1 eindeutig festgelegt.
Axiom ZF3. (Axiom der Paarung)
∀x ∀y ∃z ∀u [u ∈ z ↔ u = x ∨ u = y]
Zermelos Formulierung [35], S. 263:
. . . sind a, b irgend zwei Dinge des Bereiches, so existiert immer eine Menge {a, b}, welche
sowohl a als b, aber kein von beiden verschiedenes Ding x als Element enthält.
1.1 Logik und Mengenlehre
15
Zu zwei gegebenen Mengen x und y postuliert dieses Axiom die Existenz der Menge
{x, y}; im Fall x = y schreiben wir kurz {x}. Ausgehend von der leeren Menge 0/
lassen sich so beispielsweise die folgenden Mengen konstruieren
{0},
/
0,
/
Hierin steht y = {x} für
{0,
/ {0}},
/
{0,
/ {0,
/ {0}}}
/
usw.
x ∈ y ∧ [∀(z ∈ y) z = y].
Axiom ZF4. (Axiom der Vereinigung)
∀x ∃y ∀z [z ∈ y ↔ ∃(u ∈ x)z ∈ u]
Zermelos Formulierung [35], S. 265:
Jeder Menge T entspricht eine Menge ST (die Vereinigungsmenge“ von T ), welche alle
”
Elemente der Elemente von T und nur solche als Elemente enthält.
Demnach existiert mit einer Menge x auch die Menge
x :=
y.
y∈x
So zieht beispielsweise (siehe Hoffmann [20], S. 152)
x = {0,
/ {0,
/ {0}},
/
{{0}}}
/
die Existenz der Menge
y = 0/ ∪ {0,
/ {0}}
/ ∪ {{0}}
/ = {0,
/ {0}}
/
nach sich.
Axiom ZF5. (Axiom der Aussonderung)
∀x ∃y ∀z [z ∈ y ↔ z ∈ x ∧ ϕ (z)]
Zermelos Formulierung [35], S. 263:
Ist die Klassenaussage F(x) definit für alle Elemente einer Menge M, so besitzt M immer
eine Untermenge MF , welche alle diejenigen Elemente x von M, für welche F(x) wahr ist,
und nur solche als Elemente enthält.
Hierin steht ϕ (z) für einen mengentheoretischen Ausdruck, in der die Variable z nur
in einer durch einen Quantor gebundenen Form vorkommt.
Wir wollen verdeutlichen, wie mittels dieses Axioms die Existenz einer Allmenge
zu einem Widerspruch geführt werden kann.
Zu diesem Zweck sei x eine beliebige Menge, und es sei
ϕ (z) = (z ∈ z).
16
1 Reelle und komplexe Zahlen
Unter Verwendung des Aussonderungsaxioms bilden wir die Menge
y = {z ∈ x : z ∈ z}
und beachten:
(i)
(ii)
es gilt u ∈ y genau dann, wenn u ∈ x und u ∈ u;
es gilt stets die Alternative y ∈ y oder y ∈ y.
Wir wollen nun untersuchen, ob y ∈ x richtig und x damit möglicherweise eine Allmenge repräsentiert. Angenommen, es gilt y ∈ x. Wir unterscheiden gemäß (ii) die
beiden folgenden Fälle:
◦
◦
Falls y ∈ y, d.h. genauer y ∈ x und y ∈ y, so ist, wenn wir (i) von links nach
rechts lesen, y ∈ y. Das ist ein Widerspruch.
Falls y ∈ y, d.h. gnenauer y ∈ x und y ∈ y, so ist, wenn wir (i) von rechts nach
links lesen, y ∈ y. Das ist aber auch ein Widerspruch.
Es kann also y ∈ x nicht richtig sein. Es existiert keine Allmenge, d.h. es existiert
keine Menge, die alle Mengen umfasst.
Denn mit einer solchen Menge aller Mengen“– wir wollen sie abkürzend mit m
”
bezeichnen – müsste auch die Menge
y = {z ∈ m : z ∈ z}
existieren, und m müsste als Menge aller Mengen y enthalten: y ∈ m. Das führt aber,
wie wir gerade eingesehen haben, zu einem Widerspruch.
Mit Zermelo [35], S. 264, können wir gleichwertig unsere Überlegung auch so
ausdrücken:
→
Jede Menge x besitzt mindestens eine Teilmenge, welche nicht Element von x
ist.
Wir setzen nämlich als Teilmenge y von x die Menge
y = {z ∈ x : z ∈ z}
und wissen nach vorigen Überlegungen y ∈ x.
Axiom ZF6. (Axiom des Unendlichen)
∃x [0/ ∈ x ∧ ∀(y ∈ x){y} ∈ x]
Zermelos Formulierung [35], S. 266f.
Der Bereich enthält mindestens eine Menge Z, welche die Nullmenge als Element enthält
und so beschaffen ist, daß jedem ihrer Elemente a ein weiteres Element der Form {a}
entspricht, oder welche mit jedem ihrer Elemente a auch die entsprechende Menge {a} als
Element enthält.
1.1 Logik und Mengenlehre
17
In späterer Literatur liest man oft auch J. von Neumanns Variante dieses Axioms
∃x [0/ ∈ x ∧ ∀(y ∈ x)y ∪ {y} ∈ x].
Unsere folgenden Bemerkungen beziehen sich jedoch auf die ursprüngliche Version
von E. Zermelo.
Dieses Axiom postuliert also die Existenz einer Menge x,
◦
◦
welche einmal die leere Menge als Element enthält, d.h. es gilt 0/ ∈ x;
aber auch mit jedem Element y ∈ x auch die Menge {y}.
Wir entnehmen, dass diese Menge die Elemente
0,
/
{0},
/
{{0}},
/
{{{0}}}
/
usw.
enthält und damit insbesondere unendlich viele Elemente besitzt. In Zermelo [35],
S. 267, lesen wir genauer:
Die Menge Z0 enthält die Elemente O, {O}, {{O}} usw. und möge als Zahlenreihe“ be”
zeichnet werden, weil ihre Elemente die Stelle der Zahlzeichen vertreten können. Sie bildet
das einfachste Beispiel einer abzählbar unendlichen Menge . . .“
”
Diese Bemerkung Zermelos bedeutet nichts weniger als eine Einbettung der natürlichen Zahlen in die axiomatische Mengenlehre in der Form
0/ entspricht der Zahl 0,
{0}
/ entspricht der Zahl 1,
{{0}}
/ entspricht der Zahl 2,
{{{0}}}
/
entspricht der Zahl 3 usw.
bzw. rekursiv
0 := 0,
/
n + 1 := {n}.
Natürliche Zahlen werden so, ganz im Sinne G. Cantors, als Mengen dargestellt.
Auf den natürlichen Zahlen werden wir später die ganzen, die rationalen und die
reellen Zahlen aufbauen. Auch hierbei wird es sich stets um Mengen handeln.
Axiom ZF7. (Axiom der Potenzmenge)
∀x ∃y ∀z [z ∈ y ↔ ∀u (u ∈ z → u ∈ x)]
Zermelos Formulierung [35], 265:
Jeder Menge T entspricht eine zweite Menge UT (die Potenzmenge“ von T ), welche alle
”
Untermengen von T und nur solche als Elemente enthält.
Dieses Axiom postuliert die Existenz der Potenzmenge
P(x) = {y : y ⊆ x}
zu einer vorgelegten Menge x.
18
1 Reelle und komplexe Zahlen
Im Falle der leeren Menge bzw. einer ein-, zwei- oder dreielementigen Menge
sind beispielsweise
P(0)
/ = {0},
/
P({1}) = {0,
/ {1}},
P({1, 2}) = {0,
/ {1}, {2}, {1, 2}},
P({1, 2, 3}) = {0,
/ {1}, {2}, {3}, {1, 2}, {1, 3}, {2, 3}, {1, 2, 3}} .
Axiom ZF8. (Axiom der Ersetzung)
∀(u ∈ x) ∃1 v ϕ (u, v) → [∃y ∀v (v ∈ y ↔ ∃(u ∈ x) ϕ (u, v))]
Dieses auf A. Fraenkel [8] zurückgehende Axiom gibt der Theorie ihren Namen
Zermelo-Fraenkelsche Mengenlehre“. Bereits auf der ersten Seite schreibt er:
”
Die sieben Zermeloschen Axiome reichen nicht aus zur Begründung der Mengenlehre. Zum
Nachweis dieser Behauptung diene etwa das folgende einfache Beispiel: Es sei Z0 die Z., S.
267, definierte und als existierend nachgewiesene Menge (Zahlenreihe); die Potenzmenge
UZ0 (Menge aller Untermengen von Z0 ) werde mit Z1 , UZ1 mit Z2 bezeichnet usw. Dann
gestatten die Axiome, wie deren Durchmusterung leicht zeigt, nicht die Bildung der Menge
{Z0 , Z1 , . . .}, also auch nicht die Bildung der Vereinigungsmenge. Es läßt sich daher, wenn
man etwa dem Kontinuum eine Mächtigkeit ℵω zuschreibt, auf Grund der Axiome z.B. die
Existenz von Mengen mit Mächtigkeiten ≥ ℵω nicht beweisen.
Zur Schließung dieser Lücke ersetzt A. Fraenkel [8], S. 231, das Zermelosche Aussonderungsaxiom durch folgendes Ersetzungsaxiom:
Ist M eine Menge und wird jedes Element von M durch ein Ding des Bereiches B“ (vgl.
”
Z., S. 262) ersetzt, so geht M wiederum in eine Menge über.
Axiom ZF9. (Axiom der Fundierung)
∀x (x = 0/ → ∃(y ∈ x)x ∩ y = 0)
/
Dieses Axiom, welches wohl auf J. von Neumann [27], [28] zurückgeht und später
von E. Zermelo [36] in seine Formulierung einer axiomatischen Mengenlehre aufgenommen wurde, schließt insbesondere sich selbst enthaltene Mengen aus und geht
damit über das Aussonderungsaxiom weit hinaus.
Sei nämlich, um mit D.W. Hoffmann [20], S. 156, zu argumentieren, x1 eine
nichtleere Menge mit der Eigenschaft x1 ∈ x1 . Wir betrachten dann die neue Menge
x = {x1 }, die – neben der leeren Menge 0/ – nur aus dem Element x1 besteht, und
ermitteln wegen x1 ∈ x1
x ∩ x1 = {x1 } = 0,
/
d.h. die Menge x verstößt gegen das Fundierungsaxiom.
Ganz allgemein verhindert das Axiom der Fundierung sogar die Existenz von
Ringinklusionen x1 ∈ x2 ∈ x3 ∈ . . . ∈ xn ∈ x1 oder absteigenden Inklusionen der Form
x1 ∋ x2 ∋ x3 ∋ . . . (siehe z.B. erneut D.W. Hoffmann [20], S. 156).
1.1 Logik und Mengenlehre
19
Axiom ZF10. (Axiom der Auswahl)
∀(u, v ∈ x)(u = v → u ∩ v = 0)
/ ∧ ∀(u ∈ x)u = 0/ → ∃y ∀(z ∈ x) ∃1 (w ∈ z) w ∈ y
Zermelos Formulierung [35], S. 266:
Ist T eine Menge, deren sämtliche Elemente von O verschiedene Mengen und untereinander
elementfremd sind, so enthält ihre Vereinigung ST mindestens eine Untermenge S1 , welche
mit jedem Elemente von T ein und nur ein Element gemein hat.
Dieses Axiom besagt, dass man aus jeder Menge z ∈ x, wobei
◦
◦
die Elemente von x paarweise disjunkt sind
und keines der Elemente von x der leeren Menge entspricht,
ein Element auswählen und die so gewählten Elemente zu einer neuen Menge (Auswahlmenge) zusammenfassen kann.
Eine hervorragende Quelle über das Auswahlaxiom, seine äquivalenten Formulierungen und seine erwünschten“ wie unerwünschten“ Konsequenzen, auf die wir
”
”
hier nicht eingehen können, finden wir mit Jech [21].
1.1.4 Sätze über die Potenzmenge
Abbildungen zwischen Mengen
Nach diesen rein axiomatischen Betrachtungen zur Zermelo-Fraenkelschen Mengenlehre wollen wir nun zwei wichtige Resultate über Potenzmengen kennenlernen.
Wir werden fortan Mengen wieder mit Großbuchstaben, wie A oder B, bezeichnen
und ihre Elemente entsprechend mit a, b usw.
Um ein tieferes Verständnis zu erwerben, betrachten wir Abbildungen
f : A −→ B,
die wir wie folgt in drei Kategorien einteilen:
Definition 1.2. Eine Abbildung f : A → B zwischen zwei Mengen A und B heißt
◦
surjektiv genau dann, wenn jedes b ∈ B Bild eines Elementes a ∈ A unter dieser
Abbildung ist, d.h.
für jedes b ∈ B existiert ein a ∈ A mit f (a) = b;
◦
injektiv genau dann, wenn die Gleichung f (a) = b für gegebenes b ∈ B höchstens eine Lösung a ∈ A besitzt, d.h.
sind a1 , a2 ∈ A mit a1 = a1 , so gilt f (a1 ) = f (a2 );
◦
bijektiv genau dann, wenn f injektiv und surjektiv ist.
20
1 Reelle und komplexe Zahlen
Insbesondere ist eine Abbildung f : A → B nicht surjektiv, falls es ein b ∈ B gibt,
welches nicht im Bildraum der Funktion liegt. Ferner ist eine Abbildung f : A → B
nicht injektiv, falls es zwei verschiedene Elemente a1 = a2 des Urbildraumes A gibt
mit gleichem Bild: f (a1 ) = f (a2 ).
Eine bijektive Abbildung f : A → B ordnet jedem Element a ∈ A genau ein Element b ∈ B zu. Umgekehrt wird jedes Element b ∈ B auf genau ein Element a ∈ A
abgebildet vermöge der Umkehrabbildung
f −1 : B −→ A.
In diesem Fall gilt
f −1 ( f (a)) = a für alle a ∈ A.
Beispiel 1.6. Zwischen den Mengen A = {1, 2} und B = {1, 2, 3} vermittelt keine
bijektive Abbildung. Warum?
Mächtigkeit von Mengen
Unter der Mächtigkeit einer endlichen Menge A, die aus den endlich vielen Elementen a1 , a2 , . . . , an mit irgend einer natürlichen Zahl n besteht, verstehen wir genau
diese Zahl n, d.h. die Anzahl der Elemente von A. Wir schreiben
n = |A|.
Beispiel 1.7. Die Menge A = {1, 2, 3, 4} besitzt die Mächtigkeit |A| = 4.
Beispiel 1.8. Warum gilt für jede endliche Menge A
|P(A)| = 2|A| ?
Den Begriff der Mächtigkeit auch auf unendliche Mengen auszuweiten, bedarf eines
neuen, auf G. Cantor zurückgehenden Begriffs.
Definition 1.3. Zwei Mengen A und B heißen gleichmächtig, falls eine bijektive
Abbildung f : A → B existiert.
Beispiel 1.9. Die Mengen A = {1, 2} und B = {1, 2, 3} sind nicht gleichmächtig.
Ein Satz von Cantor über die Mächtigkeit von Potenzmengen
Nach obigem Beispiel 1.8 gilt stets
|A| < P(A) für alle endlichen Mengen A.
Für unendliche Mengen macht eine solche Abschätzung zunächst keinen Sinn. Mit
Hilfe des Cantorschen Mächtigkeitsbegriffs können wir jedoch folgende Aussage
formulieren.
1.1 Logik und Mengenlehre
21
Satz 1.4. Es sei A eine beliebige Menge. Dann ist die Potenzmenge P(A) mächtiger
als A, d.h. es gelten A ∈ P(A) sowie A = P(A), und A ist injektiv in, aber nicht
bijektiv auf P(A) abbildbar.
Beweis. Wir führen einen Widerspruchsbeweis.
1.
Angenommen, A und P(A) sind gleichmächtig, d.h. es existiert eine bijektive
Abbildung f : A → P(A). Für jedes Element a ∈ A gilt dann:
◦
◦
entweder a ∈ f (a), d.h. a ist im Bild f (a) enthalten,
oder a ∈ f (a), d.h. a ist nicht im Bild f (a) enthalten.
Die Zielmenge P(A) lässt sich also wie folgt in zwei Teilmengen aufspalten
B1 := { f (a) : a ∈ f (a)} ⊆ P(A),
B2 := { f (a) : a ∈ f (a)} ⊆ P(A).
2.
Jedes Element aus P(A) ist entweder in B1 oder in B2 enthalten.
Betrachte nun die neue Menge
C := {a ∈ A : a ∈ f (a)} ⊂ A ,
(∗)
welche alle die Urbilder a ∈ A enthält, die vermittels f : A → B in die Menge B2
abgebildet werden. Da die Abbildung f : A → B nach Voraussetzung bijektiv
ist, und da C ⊆ P(A), existiert ein Element α ∈ A mit der Eigenschaft
f (α ) = C.
3.
(∗∗)
Außerdem ist entweder α ∈ C oder α ∈ C.
Beide letztgenannten Alternativen führen aber zu einem Widerspruch, denn
ist α ∈ C,
ist α ∈ C,
so ist nach (∗) α ∈ f (α )
so ist nach (∗) α ∈ f (α )
und damit nach (∗∗) α ∈ C,
und damit nach (∗∗) α ∈ C.
Dieser Widerspruch zeigt, dass es keine bijektive Abbildung f : A → P(A), wie
oben angenommen, geben kann. ⊓
⊔
Der Satz von Cantor-Bernstein-Schöder
Wir wollen noch einen Schritt weiter gehen und eine ebenfalls auf G. Cantor zurückgehende Ordnungsrelation zwischen Mengen einführen. Dazu zunächst die
Definition 1.4. Es seien A und B zwei beliebige Mengen. Wir schreiben
◦
◦
◦
A B, falls es eine injektive Abbildung f : A → B gibt,
A ∼ B, falls es eine bijektive Abbildung f : A → B gibt,
A ≺ B, falls A B und A ∼ B.
22
1 Reelle und komplexe Zahlen
Die zwischen zwei Mengen vermittelnde Relation
genden Sinne:
◦
◦
◦
ist eine Halbordnung im fol-
sie ist transitiv, d.h. mit A B und B C gilt A C;
sie ist reflexiv, d.h. es gilt stets A A;
sie ist antisymmetrisch, d.h. mit A B und B A gilt A ∼ B.
Die Antisymmetrie ist nun Inhalt des Satzes von Cantor-Schröder-Bernstein:
Satz 1.5. Es seien A und B zwei beliebige Mengen mit
A
B
und
B
A.
Dann gilt
A ∼ B.
Beweis.∗
1.
Es seien A
B und B
A, d.h. es existieren injektive Abbildungen
f: A→B
und
g : B → A.
Eingeschränkt auf f (A) und g(B) sind die Abbildungen f bzw. g bijektiv, so dass insbesondere die Umkehrabbildung existiert
g−1 : g(B) −→ B.
2.
Betrachte nun die folgenden Mengen
C0 := A \ g(B),
C1 := g( f (C0 )),
C2 := g( f (C1 )),
C3 := g( f (C2 ))
usw.
sowie
Wir setzen
C := C0 ∪C1 ∪C2 ∪C3 ∪ . . .
f (a), falls a ∈ C
,
g−1 (a), falls a ∈ C
h(a) :=
3.
a ∈ A,
und werden zeigen, dass h : A → B bijektiv ist, was A ∼ B bedeutet.
Im ersten Schritt überzeugen wir uns von der Wohldefiniertheit von h. Dazu zwei Fälle:
◦
Im Falle a ∈ C setzen wir einfach
h(a) := f (a).
◦
4.
Sei also a ∈ C, d.h. insbesondere a ∈ C0 und damit a ∈ g(B). Da aber g : B → A injektiv
ist, existiert ein b ∈ B mit a = g(b) bzw. b = g−1 (a). Dieses b setzen wir also als h(a).
Damit ist h auf A wohldefiniert.
Im zweiten Schritt zeigen wir die Surjektivität von h, d.h. für jedes b ∈ B existiert ein a ∈ A
mit h(a) = b. Wieder unterscheiden wir zwei Fälle:
◦
Der Fall b ∈ f (C) : Da f injektiv ist, existiert ein
a ∈ A ∩C
bzw. nach Definition b = h(a).
mit
f (a) = b
1.1 Logik und Mengenlehre
◦
23
Der Fall b ∈ f (C) : Setze a := g(b), dann schließen wir sofort a ∈ C0 . Da ferner Cn ⊆ C
für jedes n = 0, 1, 2, . . ., ist auch stets f (Cn ) ⊆ f (C), und wegen b ∈ f (C) ist damit stets
b ∈ f (Cn ). Also ist auch nie a ∈ Cn+1 , denn es ist ja ausführlicher
a = g(b) ∈ g( f (Cn )) = Cn+1 .
Da also a ∈ Cn für alle n = 0, 1, 2, . . ., folgt a ∈ C. In diesem Fall haben wir aber b =
g−1 (a) = h(a) definiert.
5.
Der abschließende dritte Schritt besteht im Beweis der Injektivität von h, d.h. zu vorgelegten
a1 , a2 ∈ A mit a1 = a1 ist auch stets h(a1 ) = h(a2 ). Dazu unterscheiden wir drei Fälle:
◦
Der Fall a1 , a2 ∈ C : Dann sind
h(a1 ) = f (a1 )
und
h(a2 ) = f (a2 )
mit der injektiven Funktion f , weshalb unmittelbar h(a1 ) = h(a2 ) folgt.
◦
Der Fall a1 , a2 ∈ A \C : Dann sind
h(a1 ) = g−1 (a1 )
und
h(a2 ) = g−1 (a2 )
mit der injektiven Funktion g, weshalb auch hier h(a1 ) = h(a2 ) folgt.
◦
Der Fall a1 ∈ C, a2 ∈ A \C : Zunächst sind
h(a1 ) = f (a1 )
und
h(a2 ) = g−1 (a2 ).
Angenommen, es gilt h(a1 ) = h(a2 ) bzw. f (a1 ) = g−1 (a2 ). Da a1 ∈ C, existiert eine
natürliche Zahl n mit a1 ∈ Cn , d.h. es ist auch
g( f (a1 )) ∈ Cn+1
und damit wieder g( f (a1 )) ∈ C.
Andererseits ist aber nach unserer Annahme
g( f (a1 )) = g(g−1 (a2 )) = a2 ∈ C.
Das ist ein Widerspruch.
Die wohldefinierte Abbildung h : A → B ist also injektiv und surjektiv, somit also bijektiv, was die
Behauptung A ∼ B beweist. ⊓
⊔
Wir wollen abschließend festhalten, dass ∼ eine sogenannte Äquivalenzrelation darstellt, was nach Definition bedeutet:
◦
∼ ist reflexiv, d.h. es gilt stets A ∼ A;
◦
∼ ist symmetrisch, d.h. aus A ∼ B folgt stets B ∼ A;
◦
∼ ist transitiv, d.h. aus A ∼ B und B ∼ C folgt stets A ∼ C.
Die Beweise dieser Behauptungen sowie der Halbordnungseigenschaften der Relation belassen wir als Übung.
24
1 Reelle und komplexe Zahlen
1.2 Elementare Zahlenmengen
In diesem Abschnitt wollen wir den Körper der reellen Zahlen konstruieren. Dazu
schicken wir folgende Bemerkungen voraus:
Die natürlichen Zahlen begegneten uns bereits im sechsten Axiom der ZermeloFraenkelschen Mengenlehre, ihre Existenz beruht genau hierauf. Auf den natürlichen Zahlen aufbauend, führen wir die ganzen und die rationalen Zahlen ein.
Rationale Zahlen“ sind Verhältniszahlen“ und verdanken ihren Ursprung der
”
”
antiken Geometrie: Jede Strecke, deren Länge durch eine Zahl ausgedrückt wird,
soll sich in einem rationalen Verhältnis mittels einer vorgelegten Einheitsstrecke
ausmessen lassen. Es zeigte sich jedoch bald, dass insbesondere die Diagonale des
Einheitsquadrats sich einem solchen Messverfahren entzieht; wir werden hierauf
zurückkommen. Auch die sogenannte Wechselwegnahme (Euklidischer Algorithmus) zeigt, dass Diagonale und Seite eines regelmäßigen Fünfecks kein gemeinsames Maß besitzen.
Die Menge der rationalen Zahlen muss also geeignet erweitert werden. Wieder
geometrisch gesprochen, müssen Zahlen“ konstruiert werden, die auch ein Aus”
”
messen“ der Diagonalen des Einheitsquadrats ermöglichen.
Eine solche Vervollständigung der rationalen Zahlen gelang der Mathematik erst
im 19. Jahrhundert:
◦
◦
◦
vermittels der Dedekindschen Schnitte (R. Dedekind),
vermittels Äquivalenzklassenbildung rationaler Cauchyfolgen (G. Cantor),
vermittels einer reinen Axiomatik (D. Hilbert).
Alle drei Wege sind mit gewissen technischen Schwierigkeiten verbunden.
R. Dedekinds Methode der Schnitte erscheint zunächst als die anschaulichste und
logisch klarste Art und Weise, die rationalen Zahlen zu vervollständigen. G. Cantor
selbst kritisierte jedoch, daß die Zahlen in der Analysis sich niemals in der Form
”
von ,Schnitten’ darbieten, in welche sie erst mit großer Kunst und Umständlichkeit
gebracht werden müssen.“ In der Ergänzungsvorlesung Einführung in die Geometrie und Logik wird R. Dedekinds Weg eingehend behandelt, weshalb wir ihn an
dieser Stelle nicht diskutieren.
D. Hilberts axiomatische Einführung der reellen Zahlen ist motiviert von der
Axiomatik der Euklidischen Geometrie. Hierauf aufbauend werden nachträglich
die natürlichen, die ganzen und die rationalen Zahlen extrahiert. Zusammen mit den
Dedekindschen Schnitten werden wir auch auf diese Methode in unserer Einführung
in die Geometrie und Logik eingehen.
Wir wollen in dieser Vorlesung G. Cantors Vervollständigung der rationalen Zahlen über Äquivalenzklassen rationaler Cauchyfolgen studieren. Einerseits schließt
sie nämlich unmittelbar an unsere Einführung in die Zermelo-Fraenkelsche Mengenlehre an, insbesondere auf das bereits mehrfach genannte Axiom ZF6, welches
die Existenz natürlicher Zahlen axiomatisch sichert. Andererseits hat sie sich, ungeachtet ihres technischen Umfangs und ihrer Verständnisschwierigkeiten, für die
Entwicklung der weiteren Analysis als äußerst fruchtbar erwiesen. G. Cantor bezeichnete seine Methode als die einfachste und natürlichste von allen.“
”
1.2 Elementare Zahlenmengen
25
Unser weiteres Vorgehen fassen wir so zusammen:
◦
◦
◦
◦
◦
Abschnitt 1.2.1: Einführung der natürlichen Zahlen vermittels dem Peanoschen
Axiomensystem und Diskussion ihrer arithmetischen Eigenschaften einschließlich dem Prinzip der vollständigen Induktion;
Abschnitt 1.2.2: Vervollständigung der natürlichen Zahlen zu den ganzen Zahlen vermittels einer Äquivalenzklassenbildung und Diskussion ihrer arithmetischen Eigenschaften;
Abschnitt 1.2.3: Vervollständigung der ganzen Zahlen zu den rationalen Zahlen
vermittels einer Äquivalenzklassenbildung und Diskussion ihrer arithmetischen
Eigenschaften einschließlich ihrer Abzählbarkeit;
Abschnitt 1.3: Bereitstellung grundlegender Konzepte der algebraischen Körpertheorie und Diskussion des Absolutbetrags;
Abschnitt 1.4: Vervollständigung der rationalen Zahlen zu den reellen Zahlen
vermittels einer Äquivalenzklassenbildung und Diskussion ihrer arithmetischen
und mengentheoretischen Eigenschaften.
Schließlich möchten wir auf T. de Jongs Lehrbuch [22] verweisen, in welchem die
reellen Zahlen durch Binärentwicklungen konstruiert werden.
1.2.1 Die natürlichen Zahlen
Einführung der natürlichen Zahlen
Das Axiom des Unendlichen ZF6 der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre beinhaltet eine Einbettung der natürlichen Zahlen in die axiomatischen Mengenlehre vermöge
der Zermeloschen Zahlenreihe
0/ entspricht der Zahl 0,
{0}
/ entspricht der Zahl 1,
{{0}}
/ entspricht der Zahl 2 usw.
bzw. rekursiv
0 := 0,
/
n + 1 := {n}.
Wir halten bereits an dieser Stelle fest:
→
Natürliche Zahlen werden auf diese Weise als Mengen dargestellt.
Die Auffassung von Zahlen als Mengen wird uns durch alle weiteren Abschnitte
führen. Wir vermuten, dass sie tatsächlich G. Cantors Leitmotiv war.
Die Menge der natürlichen Zahlen bezeichnen wir mit dem Symbol N bzw. N0 :
N = {1, 2, 3, . . .}
sowie N0 = {0, 1, 2, 3, . . .} .
Es ist reine Konvention, die Zahl 0 zu N zu zählen oder nicht.
26
1 Reelle und komplexe Zahlen
Axiomatik der natürlichen Zahlen
Auf den italienischen Mathematiker G. Peano geht eine bis heute im wesentlichen
verwendete Axiomatisierung der natürlichen Zahlen N0 zurück (hier und in den
folgenden Abschnitten orientieren uns sehr an Reinhardt und Soeder [30]):
Axiom PA1. Die Zahl 0 ist eine natürliche Zahl: 0 ∈ N0 .
Axiom PA2. Jede natürliche Zahl n ∈ N0 besitzt genau einen Nachfolger n′ ∈ N0 .
Axiom PA3. Die Zahl 0 ∈ N0 ist nicht Nachfolger irgend einer natürlichen Zahl.
Axiom PA4. Natürliche Zahlen mit gleichen Nachfolgern sind selbst gleich.
Axiom PA5. Enthält eine Teilmenge M von N0 die Zahl 0 und mit jeder natürlichen
Zahl auch deren Nachfolger, so ist M = N0 .
Eine Menge M, welche die Zahl 0 und mit jedem m ∈ M auch ihren Nachfolger
m′ ∈ M enthält, heißt induktiv.
Wir haben oben die natürlichen Zahlen 0, 1, 2, . . . aus mengentheoretischer Sicht
vermittels der Zermeloschen Zahlenreihe begründet. Mit den Peanoschen Axiomen
halten wir nun folgende Interpretation in den Händen:
1 = 0′ ,
2 = 1′ = 0′′ ,
3 = 2′ = 1′′ = 0′′′
usw.
Addition und Multiplikation natürlicher Zahlen
Addition und Multiplikation der natürlichen Zahlen sind in den Peanoaxiomen nicht
explizit aufgeführt, sondern werden aus diesen induktiv gewonnen. Zunächst die
Definition 1.5. Die Addition + : N0 × N0 → N0 natürlicher Zahlen definieren wir
induktiv wie folgt: Sind m, n ∈ N0 , so sollen gelten
n + 0 := n,
n + m′ := (n + m)′ .
Mit dieser Definition ist der Ausdruck m + n für beliebige natürliche Zahlen wohldefiniert: Bezeichnet nämlich für beliebiges n ∈ N0
M := {m ∈ N0 : n + m ist definiert} ⊆ N0 ,
so gelten nach Definition
0 ∈ M sowie
falls m ∈ M, so auch m′ ∈ M.
Das Peanosche Axiom PA5 sichert dann M = N0 .
1.2 Elementare Zahlenmengen
27
Definition 1.6. Die Multiplikation · : N0 × N0 → N0 natürlicher Zahlen definieren
wir induktiv wie folgt: Sind m, n ∈ N0 , so sollen gelten
n · 0 := 0,
n · m′ := n · m + n.
Auch die Multiplikation ist für beliebige natürliche Zahlen wohldefiniert.
Addition und Multiplikation sind außerdem im folgenden Sinne eindeutig:
→
Innerhalb der Peanoschen Axiomatik der Menge N0 existieren genau eine Abbildung + : N0 × N0 → N0 und genau eine Abbildung · : N0 × N0 → N0 mit
den in den Definitionen 1.5 und 1.6 genannten Eigenschaften.
Auf einen Beweis dieser Aussage wollen wir verzichten und verweisen auf ein eingehendes Studium der Literatur.
Das Prinzip der vollständigen Induktion
Das Peanosche Axiom PA5 hat ein wichtiges Beweisverfahren zur Folge.
Satz 1.6. Für jedes n ∈ N0 sei eine Aussage An der Art gegeben, so dass gelten
(i)
(ii)
A0 ist richtig, und
aus der Richtigkeit von An für ein beliebig gewähltes n ∈ N0 folgt die Richtigkeit von An+1 .
Dann gilt An für alle n ∈ N0 .
Beweis. Wir definieren die Menge
M := {n ∈ N0 : An ist richtig} ⊆ N0 .
Diese Menge ist nichtleer, denn nach Voraussetzung (i) ist A0 richtig, d.h. es ist
bereits 0 ∈ M. Gemäß Voraussetzung (ii) ist M aber auch induktiv, so dass PA5
M = N0 impliziert, was die Richtigkeit aller Aussagen An beweist. ⊓
⊔
Man bezeichnet das Axiom PA5 auch als das Peanosche Induktionsaxiom. Der vorige Satz 1.6 beinhaltet das Beweisverfahren der vollständigen Induktion.
Die Voraussetzungen (i) und (ii) dieses Satzes bezeichnet man in nachstehender
Reihenfolge auch als
(i)
(ii)
Induktionsvoraussetzung,
Induktionsschluss.
Das in allen mathematischen Vorlesungen stets wiederkehrende Beweisverfahren
der vollständigen Induktion verlangt also beides: das Verifizieren der Induktionsvoraussetzung und das Durchführen des Induktionsschlusses.
Wie im folgenden Beispiel ausgeführt, gilt das Prinzip der vollständigen Induktion natürlich auch im Bereich N = N0 \ {0}.
28
1 Reelle und komplexe Zahlen
Beispiel 1.10. Wir zeigen die Aussage
n
An :
∑ k = 1 + 2 + . . .+ n =
k=1
n(n + 1)
2
für alle n ∈ N.
Zum Beweis mittels vollständiger Induktion gehen wir wie folgt vor:
(i)
Induktionsanfang: Die Aussage A1 ist offenbar richtig, denn wir verifizieren
1
einerseits
∑k=1
und andererseits
k=1
(ii)
n(n + 1)
2
n=1
= 1.
Induktionsschluss: Für ein n ∈ N sei An richtig, d.h. es gilt
n
∑k=
k=1
n(n + 1)
.
2
Um die Richtigkeit der Aussage An+1 zu beweisen, ermitteln wir unter Verwendung der Richtigkeit von An
n+1
n
∑ k = ∑ k + (n + 1) =
k=1
k=1
(n + 1)(n + 2)
n(n + 1)
+ (n + 1) =
,
2
2
d.h. aus der Gültigkeit von An folgt die Gültigkeit von An+1 .
Nach dem Prinzip der vollständigen Induktion ist die Richtigkeit Aussage An für
alle n ∈ N bewiesen. ⊓
⊔
Das Rechnen mit natürlichen Zahlen
Mit den bisherigen Kenntnissen ist es uns jetzt möglich, alle grundlegenden Regeln
für das Rechnen innerhalb der natürlichen Zahlen N0 zu beweisen.
Satz 1.7. Die folgenden Aussagen sind richtig:
◦
Rechenregeln für die Addition
(A1)
Es gilt das Kommutativgesetz der Addition
m + n = n + m für alle m, n ∈ N0 .
(A2)
Es gilt das Assoziativgesetz der Addition
k + (m + n) = (k + m) + n für alle k, m, n ∈ N0 .
(A3)
Es gilt die Kürzungsregel der Addition
aus m + k = n + k
für alle k, m, n ∈ N0
folgt stets n = m.
1.2 Elementare Zahlenmengen
◦
29
Rechenregeln für die Multiplikation
(M1)
Es gilt das Kommutativgesetz der Multiplikation
m · n = n · m für alle m, n ∈ N0 .
(M2)
Es gilt das Assoziativgesetz der Multiplikation
k · (m · n) = (k · m) · n für alle k, m, n ∈ N0 .
(M3)
Es gilt die Kürzungsregel der Multiplikation
aus k · m = k · n für alle m, n ∈ N0 , k ∈ N
folgt stets m = n.
Wir wollen lediglich die erste Aussage (A1) beweisen, um den technischen Umfang solcher Beweise zu verdeutlichen, zum anderen aber auch um die besondere
Bedeutung des Induktionsaxioms PA5 herauszustellen.
Doch vorher benötigen wir den
Hilfssatz 1.1. Es gilt
n + k ′ = n′ + k
für alle k, n ∈ N0 .
Beweis. Wir führen den Beweis vermittels vollständiger Induktion über k. Die zu
beweisende Aussage lautet also
Ak :
n + k ′ = n′ + k
für alle k ∈ N0 ,
wobei n ∈ N0 beliebig gewählt ist.
(i)
Induktionsvoraussetzung: Es gilt die Aussage
A0 :
n + 0′ = n′ + 0 = n für alle n ∈ N0 ,
denn es ist jeweils nach Definition 1.5
◦
◦
(ii)
n + 0′ = (n + 0)′ = n′ ,
n′ + 0 = n′ ,
woraus nach Vergleich die Richtigkeit der Aussage A0 folgt.
Induktionsschluss: Aus der Richtigkeit der Aussage Ak schließen wir nun auf
die Richtigkeit der Aussage
Ak+1 :
n + (k + 1)′ = n′ + (k + 1) für alle n ∈ N0 ,
denn zusammen mit Definition 1.5 ermitteln wir
n + (k′)′ = (n + k′ )′ = (n′ + k)′ = n′ + k′ .
Damit ist die Behauptung des Hilfssatzes gezeigt. ⊓
⊔
30
1 Reelle und komplexe Zahlen
Beweis von (A1). Wir gehen in zwei Schritten vor.
1.
Zunächst gilt
n+0 = 0+n = n
für alle n ∈ N0 ,
(∗)
was wir vermittels Induktion über n zeigen:
(i)
(ii)
Induktionsanfang: Nach Definition 1.5 ist 0 + 0 = 0 + 0 = 0 wahr.
Induktionsschluss: Es sei nun n + 0 = 0 + n für ein n ∈ N0 richtig. Wir
schließen mit vorigem Hilfssatz, der Definition 1.5 sowie der Induktionsvoraussetzung wie folgt auf n′ + 0 = 0 + n′ :
n + 0′ = n′ + 0 und n + 0′ = (n + 0)′ = (0 + n)′ = 0 + n′ .
2.
Damit ist die Zwischenbehauptung (∗) gezeigt.
Den Beweis von (A1) führen wir durch Induktion über m :
(i)
Induktionsvoraussetzung: Diese folgt sofort aus dem ersten Beweispunkt
0 + n = n + 0 für alle n ∈ N0 .
(ii)
Induktionsschluss: Es gelte m + n = n + m für ein m ∈ N0 . Es folgt mit
obigem Hilfssatz, der Definition 1.5 und der Induktionsvoraussetzung
m′ + n = m + n′ = (m + n)′ = (n + m)′ = n + m′ .
Damit ist die Aussage (A1) des Satzes bewiesen. ⊓
⊔
Addition und Multiplikation werden durch das Distributivgesetz zusammengeführt.
Satz 1.8. Es gilt das Distributivgesetz
k · (m + n) = k · m + k · n für alle k, m, n ∈ N0 .
Beweis. Übungsaufgabe.
Ordnungsstruktur der natürlichen Zahlen
Definition 1.7. Wir schreiben
m≤n
m<n
genau dann, wenn es ein k ∈ N0 gibt mit m + k = n,
genau dann, wenn m ≤ n und m = n.
Diese Strukturen ≤ und < sind mit der Addition + in dem Sinne verträglich, dass
folgendes Monotoniegesetz richtig ist (vergleiche mit Kürzungsregel der Addition)
m≤n
genau dann, wenn m + k ≤ n + k für alle k ∈ N0 .
Entsprechend sind Relationen ≥ und > erklärt.
1.2 Elementare Zahlenmengen
31
Subtraktion natürlicher Zahlen
Die vorige Definition hat im Falle m ≤ n die Lösbarkeit der Aufgabe
Finde zu gegebenem m, n ∈ N0 ein k ∈ N0 mit m + k = n
zur Folge, nämlich vermöge der Differenz
k := n − m.
Beachten Sie aber die einschränkende Voraussetzung m ≤ n.
1.2.2 Die ganzen Zahlen
Äquivalenzklassenbildung und Definition
Die Subtraktion innerhalb der natürlichen Zahlen ist nicht uneingeschränkt durchführbar und wird erst nach Einführung der negativen ganzen Zahlen in vollem Umfang möglich. Diese Konstruktion wollen wir nun vorführen, beschränken uns aber
auf wenige Bemerkungen und belassen notwendige Beweise als Übung.
Einleitend betrachten wir natürliche Zahlen m1 , m2 , n1 und n2 mit
n 1 ≥ m1
und n2 ≥ m2 ,
die außerdem erfüllen
n 1 − m1 = n 2 − m2
bzw. n1 + m2 = n2 + m1 .
Mit dieser letzten Forderung n1 + m2 = n2 + m1 haben wir uns aber von den obigen
Einschränkungen n1 ≥ m1 und n2 ≥ m2 befreit!
→
Wir fassen beliebige natürliche Zahlen m1 , m2 , n1 und n2 zu Zahlenpaaren
(m1 , n1 ) ∈ N0 × N0
bzw.
(m2 , n2 ) ∈ N0 × N0
zusammen und schreiben
(m1 , n1 ) ∼Z (m2 , n2 ) genau dann, wenn
m1 + n2 = n1 + m2 .
Beispiel 1.11. Die natürlichen Zahlen m1 = 5, n1 = 2, m2 = 11 und n2 = 8 fassen
wir zu den Paaren (5, 2) bzw. (11, 8) zusammen. Es gilt insbesondere
(5, 2) ∼Z (11, 8).
Genauso gilt aber auch
(2, 5) ∼Z (8, 11).
32
1 Reelle und komplexe Zahlen
Als Übung verifiziere man, dass ∼Z eine Äquivalenzrelation darstellt, wie wir es
bereits nach dem Beweis von Satz 1.5 kennengelernt haben:
→
Die Relation ∼Z eine Äquivalenzrelation, d.h. sie ist reflexiv, symmetrisch und
transitiv.
Wir wollen an dieser Stelle aber eine weitere wichtige Information aus diesen Eigenschaften der Relation ∼Z gewinnen:
→
Vermöge der Äquivalenzrelation ∼Z wird die Menge N0 × N0 in sogenannte
Äquivalenzklassen eingeteilt
[(m, n)]Z := {(k, ℓ) ∈ N0 × N0 : (m, n) ∼Z (k, ℓ)} .
Dabei handelt es sich um disjunkte, d.h. durchschnittsfreie Teilmengen von N0 × N0 ,
deren Vereinigung wieder N0 × N0 ergibt.
Beispiel 1.12. Es sind (5, 2) ∈ [(11, 8)]Z sowie (2, 5) ∈ [(8, 11)]Z .
Die Menge der ganzen Zahlen wollen wir nun als die Menge aller solchen Äquivalenzklassen verstehen.
Definition 1.8. Als die Menge der ganzen Zahlen Z erklären wir
Z := {[(m, n)]Z : (m, n) ∈ N0 × N0 } .
Die Elemente von Z heißen ganze Zahlen.
Rechenregeln in den ganzen Zahlen
Unter Verwendung der bekannten Operationen + und · zwischen natürlichen Zahlen
können wir nun Addition und Subtraktion zwischen ganzen Zahlen erklären.
Definition 1.9. Die Addition und die Multiplikation in den ganzen Zahlen sind definiert vermöge
[(k, ℓ)]Z + [(m, n)]Z := [(k + m, ℓ + n)]Z
sowie
[(k, ℓ)]Z · [(m, n)]Z := [(k · m + ℓ · n, k · n + ℓ · m)]Z .
Bemerkung 1.1. Addition bzw. Multiplikation zwischen den eben konstruierten
Äquivalenzklassen wird also zurückgeführt auf Addition bzw. Multiplikation zwischen natürlichen Zahlen und anschließender Äquivalenzklassenbildung.
Damit also Addition und Multiplikation zwischen Äquivalenzklassen überhaupt
wohldefiniert sind, müssen diese Setzungen auf Unabhängigkeit von der Auswahl
der Repräsentanten (m, n) geprüft werden. Wir belassen die notwendigen Argumente als Übung und verweisen auf unsere Ausführungen in Satz 1.14.
1.2 Elementare Zahlenmengen
33
Mit dieser Bemerkung verifizieren Sie sofort unter Anwendung der binomischen
Formel aus dem späteren Hilfssatz 1.4, dass die Setzungen für + und · aus der
Definition tatsächlich sinnvoll sind.
→
Aus den Rechenregeln in N0 schließen wir darüberhinaus, dass diese Addition
und Multiplikation kommutativ und assoziativ sind und auch dem Distributivgesetz genügen.
Führen Sie auch hier als Übung die notwendigen Details zum Beweis dieser Behauptungen aus.
Einbettung der natürlichen Zahlen in die ganzen Zahlen
Ausgehend von der vorgestellten Konstruktion der Menge Z wollen wir
◦
die Äquivalenzklassen [(n, 0)]Z mit den natürlichen Zahlen n
als auch
◦
die Äquivalenzklassen [(0, n)]Z als negative ganze Zahlen −n
identifizieren. Die natürlichen Zahlen N (ohne die Zahl 0) bezeichnen wir folgerichtig auch als positive ganze Zahlen.
Beispiel 1.13. Es ist (5, 0) ∼Z (8, 3) und somit (5, 0) ∈ [(8, 3)]Z . Wir interpretieren (5, 0) als die positive ganze Zahl 5. Genauso gelten auch (0, 5) ∼Z (3, 8) bzw.
(0, 5) ∈ [(3, 8)]Z . Wir interpretieren (0, 5) als die negative ganze Zahl −5.
Im vorigen Paragraphen 1.2.1 haben wir den Differenzausdruck k = n − m nur für
natürliche Zahlen n ≥ m erklärt. Mit der Einführung der negativen ganzen Zahlen
lässt sich die Subtraktion nun uneingeschränkt ausführen.
Insbesondere haben wir jetzt mit [(0, n)]Z zu jeder natürlichen Zahl n ∈ N0 ihre
additive Inverse zur Verfügung. Es gilt nämlich
[(n, 0)]Z + [(0, n)]Z = [(n, n)]Z = [(0, 0)]Z .
Nach dieser Identifizierung liegen die ganzen Zahlen in genau der Art und Weise
vor uns, wie Sie sie aus dem Schulunterricht kennen.
→
Insbesondere gelten alle in Satz 1.7 zusammengefassten Rechenregeln nicht
nur für natürliche, sondern auch für ganze Zahlen.
Beispiel 1.14. Die uneingeschränkte Ausführbarkeit der Subtraktion lässt sich in
Termen von Äquivalenzklassen wie folgt veranschaulichen:
[(k, ℓ)]Z + x = [(m, n)]Z
besitzt die ganzzahlige Lösung x = [(m + ℓ, k + n)]Z, denn es ist
[(k, ℓ)]Z + [(m + ℓ, k + n)]Z = [(k + ℓ + m, k + ℓ + n)]Z = [(m, n)]Z .
34
1 Reelle und komplexe Zahlen
Ordnungsstruktur der ganzen Zahlen
Nach der Identifikation der ganzen Zahlen [(m, n)]Z mit den positiven bzw. mit den
negativen ganzen Zahlen können wir uns auf die aus N0 bekannten Rechenregeln
zurückziehen.
Definition 1.10. Für zwei ganze Zahlen a ∈ Z und b ∈ Z schreiben wir
a≤b
genau dann, wenn b + (−a) = b − a ∈ N0
a<b
genau dann, wenn b + (−a) = b − a ∈ N.
und
Die ganze Zahl −a, d.h. die zur Zahl a ∈ Z additive Inverse, ist die eindeutig bestimmte Lösung x ∈ Z der Gleichung
a + x = 0;
innerhalb der natürlichen Zahlen ist diese Gleichung i.A. nicht lösbar. Im späteren
Abschnitt 1.3 gehen wir hierauf genauer ein.
Die Ordnungsstruktur der natürlichen Zahlen ist in unsere Definition berücksichtigt. In Z besitzt jede ganze Zahl einen Nachfolger und einen Vorgänger.
1.2.3 Die rationalen Zahlen
Multiplikative Vervollständigung der ganzen Zahlen
Innerhalb der ganzen Zahlen Z ist die Muliplikation nicht uneingeschränkt durchführbar. Die daher notwendige Vervollständigung der ganzen Zahlen zu den rationalen Zahlen wollen wir im Folgenden mit wenigen Bemerkungen andeuten.
Am Anfang steht das Problem, die Gleichung n · x = m mit m ∈ Z und n ∈ Z \ {0}
und der Unbekannten x zu lösen. Die Bestimmung von x wird Division genannt.
Wir gehen analog zu unseren obigen Betrachtungen über die Vervollständigung
der natürlichen Zahlen zu den ganzen Zahlen vor und betrachten eine Äquivalenzrelation ∼Q auf der Menge Z × (Z \ {0}) gemäß
(m1 , n1 ) ∼Q (m2 , n2 )
genau dann, wenn m1 · n2 = m2 · n1 .
Die letzte Identität ist innerhalb der Menge Z uneingeschränkt ausführbar. Die Relation ∼Q zerlegt die Menge Z × (Z \ {0}) in disjunkte Äquivalenzklassen.
Definition 1.11. Als die Menge der rationalen Zahlen Q erklären wir
Q := {[(m, n)]Q : (m, n) ∈ Z × (Z \ {0}} .
Die Elemente von Q heißen rationale Zahlen.
1.2 Elementare Zahlenmengen
35
Rechenregeln in den rationalen Zahlen
Auch hier greifen wir zurück auf die bekannte Addition und Multiplikation in N0 .
Definition 1.12. Die Addition und die Multiplikation in den rationalen Zahlen sind
definiert vermöge
[(k, ℓ)]Q + [(m, n)]Q := [(k · n + ℓ · m, ℓ · n)]Q
sowie
[(k, ℓ)]Q · [(m, n)]Q := [(k · m, ℓ · n)]Q .
Im Fall m = 0 existiert zur rationalen Zahl [(m, n)]Q stets eine multiplikative Inverse
[(m, n)]−1
Q := [(n, m)]Q ,
welche charakterisiert ist durch die Eigenschaft
[(m, n)]Q · [(m, n)]−1
Q = [(1, 1)]Q .
Diese Inverse ist eindeutig; die Zahl [(1, 1)]Q heißt das neutrale Element der Multiplikation. Für eine Zusammenstellung aller algebraischen Eigenschaften dieser
Operationen verweisen wir auf den späteren Paragraphen 1.3.1.
Bemerkung 1.2. Auch diese Rechenoperationen werden auf Elementen von Äquivalenzklassen definiert. Es verbleibt demnach, die Unabhängigkeit von der Auswahl
der Repräsentanten zu zeigen. Wir verweisen erneut auf Satz 1.14.
Einbettung der ganzen Zahlen in die rationalen Zahlen
Wir wollen
◦
◦
◦
die Äquivalenzklasse [(0, 1)]Q mit der ganzen Zahl 0,
die Äquivalenzklasse [(1, 1)]Q mit der ganzen Zahl 1,
die Äquivalenzklassen [(m, 1)]Q mit den ganzen Zahlen m
identifizieren.
Beispiel 1.15. Mit obiger Definition 1.12 ermitteln wir insbesondere
[(k, ℓ)]Q + [(0, 1)]Q = [(k · 1 + ℓ · 0, ℓ · 1)]Q = [(k, ℓ)]Q ,
[(k, ℓ)]Q · [(0, 1)]Q = [(k · 0, ℓ · 1)]Q = [(0, ℓ)]Q .
Ebenso gelten
[(k, ℓ)]Q + [(1, 1)]Q = [(k + ℓ, ℓ)]Q ,
[(k, ℓ)]Q · [(1, 1)]Q = [(k, ℓ)]Q ,
[(k, ℓ)]Q + [(m, 1)]Q = [(k + ℓ · m, ℓ)]Q ,
[(k, ℓ)]Q · [(m, 1)]Q = [(k · m, ℓ)]Q .
36
1 Reelle und komplexe Zahlen
Wir benutzen fortan die übliche Schreibweise
m
:= [(m, n)]Q
n
mit m ∈ Z, n ∈ Z \ {0} ,
d.h. ein Bruch ist nichts anderes als eine Äquivalenzklasse von Paaren ganzer Zahlen. Lässt sich ein Bruch kℓ auf einen Bruch mn auf die bekannte Art und Weise
kürzen, so sind kℓ und mn offenbar äquivalent“. Wir schreiben
”
k m
= .
ℓ
n
In dieser Notation wollen wir die obigen Rechenregeln noch einmal in bekannter
Form zusammenfassen:
k m k·n+ℓ·m
+ =
Addition von Brüchen
◦
ℓ n
ℓ·n
k m k·m
· =
Multiplikation von Brüchen
◦
ℓ n
ℓ·n
m
k m k
− = + −
◦
Subtraktion von Brüchen
ℓ ℓ
ℓ
n
k m k m −1
◦
Division von Brüchen
: = ·
ℓ n
ℓ
n
In jeder dieser Regeln darf nie durch 0 dividiert werden!
Wir bemerken zusammenfassend:
→
Es gelten alle in Satz 1.7 zusammengefassten Rechenregeln nicht nur für ganze, sondern auch für rationale Zahlen.
In Paragraph 1.3.1 unten werden wir die Menge Q der rationalen Zahlen als einen
mathematischen Körper auffassen und seine sämtlichen arithmetischen Eigenschaften detailliert vorstellen.
Ordnungsstruktur der rationalen Zahlen
Wir sagen, die rationale Zahl p = [(m, n)]Q mit n > 0 ist
◦
◦
positiv, falls m > 0,
und negativ, falls m < 0.
Q enthält die negativen und die positiven rationalen Zahlen wie die Zahl p = 0.
Vermittels obiger Rechenregeln für die Differenz q − p gelangen wir so zur
Definition 1.13. Für zwei rationale Zahlen p, q ∈ Q schreiben wir
p≤q
p<q
genau dann, wenn q − p ≥ 0 und
genau dann, wenn q − p > 0.
Die Ordnungsstruktur der ganzen Zahlen ist hierin berücksichtigt.
1.2 Elementare Zahlenmengen
37
1.2.4 Abzählbarkeit der rationalen Zahlen
Cantors Differenzierung unendlicher Mengen
Wir schließen nun an unsere Betrachtungen aus Paragraph 1.1.4 über den Begriff der
Mächtigkeit von Mengen an. Wir wissen zwar, wie endliche von unendlichen Mengen zu unterscheiden sind, jedoch ist es uns noch nicht gelungen, einen Mächtigkeitsbegriff für unendliche Mengen zu erklären.
Den Durchbruch erzielte G. Cantor mit der Einführung der folgenden Unterscheidungen:
Definition 1.14. Eine nichtleere Menge M heißt
◦
abzählbar endlich, falls ein n ∈ N und eine bijektive Abbildung existieren mit
f : M −→ {1, 2, . . . , n} ;
◦
abzählbar unendlich, falls eine bijektive Abbildung existiert der Form
f : M −→ N;
◦
überabzählbar, wenn M eine abzählbare Teilmenge enthält, selbst aber nicht
abzählbar ist.
Bemerkung 1.3. In dieser Definition können wir N auch durch N0 ersetzen.
Die Elemente einer abzählbar endlichen Menge mit n ∈ N Elementen lassen sich
mit Hilfe endlich vieler natürlicher Zahlen als Bezeichner“ abzählen. Wir sagen in
”
diesem Fall, M besitzt die Mächtigkeit
|M| = n < ∞ .
Eine abzählbar unendliche Menge lässt sich vermittels aller natürlichen Zahlen
abzählen und besitzt die Mächtigkeit der Menge N selbst. Wir schreiben
|M| = |N|
bzw. |M| = ℵ0
mit dem Cantorschen Symbol ℵ0 := |N| für die Mächtigkeit von N. Die Zahl“ ℵ0
”
ist die kleinste unendlich große bzw. die kleinste transfinite Zahl.
Überabzählbar unendliche Mengen besitzen unendlich viele Elemente und sind
nicht abzählbar, ihre Mächtigkeit ist (im transfiniten Sinne) größer als ℵ0 .
Abzählbarkeit der rationalen Zahlen
Das Ziel dieses Paragraphens ist ein Beweis des folgenden Cantorschen Satzes, nach
welchem die Menge Q der rationalen Zahlen und die Menge N bzw. – worauf wir
uns im Beweis beziehen – N0 , von gleicher Mächtigkeit sind.
38
1 Reelle und komplexe Zahlen
Satz 1.9. Die Menge Q ist abzählbar unendlich.
Beweis. Betrachte nämlich die folgende Abbildung:
Abbildung 1.2 Abzählbarkeit der rationalen Zahlen
0
1
1
−
1
1
2
1
−
2
1
1
2
−
1
2
2
2
−
2
2
1
3
−
1
3
2
3
−
2
3
1
4
−
1
4
2
4
−
2
4
1
5
−
1
5
...
Vermittels der durch die Pfeile angedeuteten Vorschrift
0 → 0,
1→
1
,
1
1
2→− ,
1
3→
1
,
2
4→
1
3
usw.
erhalten wir eine surjektive Abbildung der natürlichen Zahlen N0 auf Q. Überspringen wir hingegen alle diejenigen Brüche in diesem Schema, die bereits vorher vermittels der Kürzungsregel der Multiplikation erfasst wurden, erhalten wir auf diese
Art und Weise sogar eine bijektive Abbildung. ⊓
⊔
Wir beschließen diesen Paragraphen mit zwei historischen Paradoxa, deren Auflösungen wir als Übung belassen.
Beispiel 1.16. Bereits G. Galilei wies auf folgendes Paradox hin: Einerseits gibt es
weniger Quadratzahlen als natürliche Zahlen (ohne Null), da alle Quadratzahlen
natürlich, aber z.B. die Zahlen 3 oder 5 nicht als Quadrat darstellbar sind. Andererseits argumentierte er, dass es genauso viele“ Quadratzahlen wie natürliche Zahlen
”
gibt. Wie könnte Galileis Argument ausgesehen haben?
Beispiel 1.17. B. Bolzano behauptete, dass jedem Punkt des reellen Zahlenintervalls
[0, 5] genau ein Punkt des Intervalls [0, 12] zugeordnet werden kann und umgekehrt.
Besitzen diese Intervalle also gleich viele“ Punkte? Wie könnte Bolzano argumen”
tiert haben?
1.3 Einführung in die Körpertheorie
39
1.3 Einführung in die Körpertheorie
1.3.1 Definition und Eigenschaften von Körpern
Der Körper der rationalen Zahlen
Die in den vorigen Paragraphen vorgestellten Eigenschaften der Menge der rationalen Zahlen Q zusammenfassend, sagen wir:
→
Die Menge der rationalen Zahlen Q bildet einen Körper.
Der Begriff des mathematischen Körpers ist von zentraler Bedeutung. Tatsächlich
hätten wir, dem Vorbild D. Hilberts folgend, diesen Begriff an den Anfang unserer Untersuchungen stellen können und die reellen Zahlen R als einen solchen
Körper, dem zusätzlich ein Vollständigkeitsaxiom zur Seite gestellt wird, definieren
können. Die natürlichen, die ganzen und die rationalen Zahlen werden daraufhin
nachträglich vermittels gewisser charakteristischer Eigenschaften als Teilmengen
von R aus diesem Körper rekonstruiert.
Diesen Weg finden Sie u.a. in den Lehrbüchern Forster [7], Heuser [14] oder Hildebrandt [17] ausgeführt; ihren historischen Ursprung hat sie in D. Hilberts axiomatischer Einführung der reellen Zahlen aus seiner Festschrift zur Feier der Enthüllung
des Gauss-Weber-Denkmals in Göttingen [16] aus dem Jahre 1899.
In unserer Vorlesung gehen wir den umgekehrten Weg und konstruieren aus den
natürlichen Zahlen die Mengen der ganzen, der rationalen und später der reellen
Zahlen. Dass die reellen Zahlen R tatsächlich einen Körper bilden, ist für uns somit
ein zu beweisender Satz, keine Voraussetzung.
Kommen wir aber nun zur Definition des mathematischen Körperbegriffs.
Definition 1.15. Eine Menge K heißt ein Körper, falls zu jeweils zwei Elementen
x, y ∈ K eine Summe
x+y ∈ K
sowie ein Produkt
x·y ∈ K
erklärt sind, so dass die folgenden Körperaxiome erfüllt sind:
(K1)
Axiome der Addition + : K × K → K
(1)
(2)
(3)
(4)
Assoziativgesetz
Es gilt x + (y + z) = (x + y) + z für alle x, y, z ∈ K.
Kommutativitätsgesetz
Es gilt x + y = y + x für alle x, y ∈ K.
Existenz des neutralen Elements 0 ∈ K bez. der Addition
Es existiert ein Element 0 ∈ K mit x + 0 = x für alle x ∈ K.
Existenz des inversen Elements −x ∈ K bez. der Addition
Zu jedem x ∈ K existiert ein −x ∈ K mit x + (−x) = 0.
40
1 Reelle und komplexe Zahlen
(K2)
Axiome der Multiplikation · : K × K → K
(1)
(2)
(3)
(4)
(K3)
Assoziativgesetz
Es gilt x · (y · z) = (x · y) · z für alle x, y, z ∈ K.
Kommutativgesetz
Es gilt x · y = y · x für alle x, y ∈ K.
Existenz des neutralen Elements 1 ∈ K bez. der Multiplikation
Es existiert ein Element 1 ∈ K mit x · 1 = m für alle x ∈ K.
Existenz des inversen Elements x−1 ∈ K bez. der Multiplikation
Zu jedem x ∈ K \ {0} existiert ein x−1 ∈ K mit x · x−1 = 1.
Distributivgesetz
(1)
Es gilt x · (y + z) = x · y + x · z für alle x, y, z ∈ K.
Die in dieser Definition verwendeten zweistelligen Relationen = und ∈ bedürfen
eigentlich auch einer Einführung, auf die wir aber an dieser Stelle nicht eingehen
wollen.
Bemerkung 1.4. Die neutralen Elemente 0 und 1 der Addition bzw. der Multiplikation des Körpers K sowie die Inversen sind eindeutig.
Betrachten wir als Beispiel (K1.3): Angenommen, es gibt zwei neutrale Elemente
01 und 02 der Addition. In x + 01 = x ersetzen wir x = 02 , und in x + 02 = x ersetzen
wir x = 01 . Es gelten also
02 + 01 = 02
und 01 + 02 = 01 .
Wegen der Kommutativität stimmen aber beide linken Seiten überein, also auch
beide rechten Seiten, und wir haben 01 = 02 .
Beispiel 1.18. Verifizieren Sie bitte die hier vorgestellten Köperaxiome am Beispiel
der oben diskutierten Eigenschaften der Menge Q. Bilden die Mengen
◦
◦
N der natürlichen Zahlen,
Z der ganzen Zahlen
ebenfalls einen Körper?
Arithmetische Eigenschaften eines Körpers K
Auf Seite 26 unserer Vorlesung haben wir die fünf Peanoschen Axiome der natürlichen Zahlen kennengelernt und anschließend Eigenschaften dieses Zahlensystems
und Rechenregeln für dessen Elemente, den natürlichen Zahlen, vermittels dieser
Axiome bewiesen.
Auch die obigen Körperaxiome gestatten, eine Vielzahl arithmetischer Eigenschaften von Zahlenkörpern K und Rechenregeln für deren Elemente, z.B. den rationalen oder den späteren reellen Zahlen, abzuleiten, von denen wir mit dem folgenden Satz einige wichtige zusammenstellen wollen.
1.3 Einführung in die Körpertheorie
41
Satz 1.10. Die folgenden Aussagen sind richtig:
(i)
Für beliebige Elemente x, y ∈ K besitzt die Gleichung
x+z = y
(ii)
die eindeutige Lösung z = y + (−x) = y − x ∈ K.
Für beliebige Elemente x ∈ K \ {0} und y ∈ K besitzt die Gleichung
x·z = y
(iii)
(iv)
(v)
(vi)
die eindeutige Lösung z = y · x−1 = xy ∈ K.
Es gilt x · 0 = 0 für alle x ∈ K.
Es gilt (−1) · x = −x für alle x ∈ K.
Es gilt −(−x) = x für alle x ∈ K.
Es gilt x · y = 0 für alle x, y ∈ K \ {0}.
Beweis. Wir gehen nach Sauvigny [32], Beweis von Satz 1 aus §1 vor, wollen aber
nur die Aussage (i) zeigen.
(i)
Es muss Existenz und Eindeutigkeit einer Lösung gezeigt werden.
◦
Existenz: Wir zeigen, dass z = y − x die Gleichung x + z = y löst. Mit den
Axiomen (K1) berechnen wir dazu
x + z =x + [y + (−x)] = (x + y) + (−x) = (y + x) + (−x)
=y + [x + (−x)] = y + 0 = y.
◦
Eindeutigkeit: Unter Verwendung der Kürzungsregel der Addition sowie
den Axiomen (K1) erhalten wir aus x + z = y
(−x) + x + z = (−x) + y bzw.
z = 0 + z = (−x) + x + z = (−x) + y = y + (−x) =: y − x.
Es hat also z notwendig die behauptete Gestalt z = y − x.
Die Beweis der Eigenschaften (ii) bis (vi) verbleiben als Übung. ⊓
⊔
Angeordnete Körper
Bei der Konstruktion der natürlichen, der ganzen und der rationalen Zahlen haben
wir bereits von den Relationen ≥, > bzw. ≤, < Gebrauch gemacht.
Im Verlaufe unserer Vorlesung werden Sie sehen, dass diese Relationen für das
Rechnen in der Analysis von grundlegender Bedeutung sind. Oft gilt es, nicht
mit exakten Gleichheiten umzugehen, sondern vielmehr mit Ungleichungen, Abschätzungen usw. Der bereits in Paragraph 1.1.1 benutzte Stetigkeitsbegriff liefert
hierzu ein überzeugendes Beispiel.
42
1 Reelle und komplexe Zahlen
Definition 1.16. Ein Körper K heißt angeordnet, falls mit der Gleichheitsrelation =
und einer Größerrelation > die nachstehenden Anordnungsaxiome erfüllt sind:
◦
Anordnungsaxiom (A1)
Für jedes x ∈ K gilt genau einer der folgenden Beziehungen
x = 0,
◦
x > 0,
−x > 0.
Anordnungsaxiom (A2)
Für alle x, y ∈ K mit x > 0 und y > 0 gelten
x + y > 0 und x · y > 0.
Auch hier wollen wir nachträglich festhalten:
→
Der Körper Q der rationalen Zahlen bildet einen angeordneten Körper.
Für Elemente x, y ∈ K eines angeordneten Körpers K erklären wir wie gewohnt
x≥y
genau dann, wenn x > y oder x = y
mit der Vereinbarungen x ≥ y genau dann, wenn x − y ≥ 0 usw. Statt x > y schreiben
wir auch y < x. Im Fall x > 0 heißt x positiv, im Fall x < 0 negativ.
Mit dem nächsten Satz stellen wir wichtige Rechenregeln für die Relation < vor,
die Sie sicher selbstständig auf die Relation > übertragen können.
Satz 1.11. Es sei K ein angeordneter Körper. Dann sind folgende Aussagen richtig:
(i)
(ii)
(iii)
(iv)
Transitivität:
Aus x < y und y < z folgt stets x < z.
Monotonie bez. der Addition:
Aus x < y folgt stets x + z < y + z.
Monotonie bez. der Multiplikation:
Aus x < y und z > 0 folgt stets x · z < y · z.
Aus x < y folgt stets −x > −y.
Beweis. Wir gehen nach Sauvigny [32], Beweis von Satz 2 aus §1 vor, wollen aber
nur die Aussage (i) zeigen:
(i)
Wegen x < y und y < z wissen wir
y−x > 0
und z − y > 0,
so dass mit dem Anordnungsaxiom (A2) folgt
z − x = (z − y) + (y − x) > 0,
d.h. es ist x < z.
Die Beweise der Eigenschaften (ii) bis (iv) verbleiben als Übung. ⊓
⊔
1.3 Einführung in die Körpertheorie
43
Das Archimedische Axiom
Die Relation < auf den rationalen wie auch später auf den reellen Zahlen besitzt
eine ganz besondere Eigenschaft, die das Rechnen in Q bzw. in R auf ganz typische
Weise charakterisiert:
Definition 1.17. Ein angeordneter Körper K heißt archimedisch angeordnet, falls
nachstehendes Axiom erfüllt ist:
◦
Archimedisches Axiom
Zu je zwei positiven Zahlen x, y ∈ K mit 0 < x < y existiert stets eine natürliche
Zahl n ∈ N mit der Eigenschaft
y < n · x.
Es gilt auch jetzt:
→
Der Körper Q der rationalen Zahlen ist archimedisch angeordnet.
Der später zu konstruierende Körper R der reellen Zahlen ist ebenfalls angeordnet,
der Körper C der komplexen Zahlen kann nicht angeordnet werden.
Setzen wir aber in der jetzigen Situation speziell x = 1 und y = ε1 mit ε ∈ Q
positiv und hinreichend klein, so finden wir stets ein n ∈ N mit der Eigenschaft
1
< ε.
n
Das Archimedische Axiom, welches bereits auf Eudoxos zurückgeht, wurde von Archimedes vielfach zur Lösung geometrischer Probleme eingesetzt. Wir empfehlen
das Studium Archimedes’ gesammelter Werke in Heath [12].
Wir wollen auch bemerken, dass das Archimedische Axiom die Existenz un”
endlich kleiner Größen“, sogenannter Infinitesimalien, verhindert. Solche Größen
werden erst nach einer geeigneten Körpererweiterung innerhalb der Nichtstandardanalysis eingeführt.
1.3.2 Der Absolutbetrag
Der Absolutbetrag ist eine grundlegende Abbildung in der Mathematik.
Definition 1.18. Unter dem Absolutbetrag
|x| : K −→ K
eines Elementes x ∈ K eines angeordneten Körpers K verstehen wir die Abbildung


 x, falls x > 0
0, falls x = 0 .
|x| :=


−x, falls x < 0
44
1 Reelle und komplexe Zahlen
Wichtige Rechenregeln für diese Abbildung beinhaltet der
Satz 1.12. Es sei K ein angeordneter Körper. Dann sind folgende Aussagen richtig:
(i)
Es gilt
|x · y| = |x| · |y| für alle x, y ∈ K.
(ii)
Es gilt die Dreiecksungleichung
|x + y| ≤ |x| + |y| für alle x, y ∈ K.
(iii)
Es gilt die inverse Dreiecksungleichung
|x − y| ≥ ||x| − |y|| für alle x, y ∈ K.
(iv)
Es gilt
|x−1 | = |x|−1
für alle x ∈ K \ {0} .
Beweis. Wir gehen nach Sauvigny [32], Beweis von Satz 2 aus §1 vor, wollen aber
nur die Aussage (i) zeigen:
(i)
Es genügt, die Behauptung für alle x, y ∈ K \ {0} zu verifizieren. Mit Hilfe
der Vorzeichenfunktion
σ (x) :=
+1,
−1,
falls x > 0
,
falls x < 0
mit welcher wir
|x| = σ (x) · x
für alle x ∈ K
schreiben können, und welche insbesondere
σ (x) · σ (y) = σ (x · y) für alle x, y ∈ K
erfüllt (warum?), ermitteln wir
|x| · |y| =[σ (x) · x] · [σ (y) · y] = [σ (x) · σ (y)] · [x · y]
= σ (x · y) · (x · y) = |x · y|.
Die Beweise der Eigenschaften (ii) bis (iv) verbleiben als Übung. ⊓
⊔
Bemerkung 1.5. Die Definition des Absolutbetrages enthält die Aussage
|x| = 0
genau dann, wenn x = 0.
Ferner entnehmen wir der Behauptung (iv) des vorigen Satzes
|x|
x
=
y
|y|
für alle x ∈ K und alle y ∈ K \ {0}.
1.4 Die reellen Zahlen
45
1.4 Die reellen Zahlen
Die Konstruktion reeller Zahlen nach der Cantorschen Methode, die wir in unserer
Vorlesung vorstellen wollen, verläuft über die Identifizierung gewisser rationaler
Cauchyfolgen zu Äquivalenzklassen bez. einer geeigneten Äquivalenzrelation. Der
technische Aufwand hinter dieser Konstruktion ist allerdings beträchlich im Vergleich zu den vorgestellten Konstruktionen der ganzen Zahlen aus den natürlichen
Zahlen bzw. der rationalen Zahlen aus den ganzen Zahlen.
Wir werden in unserer Darstellung dem Lehrbuch Sauvigny [32] folgen. An den
Anfang stellen wir das Problem, die Diagonale des Einheitsquadrats durch eine Zahl
auszudrücken. Zunächst zeigt sich, dass keine rationale Zahl mit dieser Eigenschaft
existiert.
Die Aufgabe, der wir in den Abschnitten 1.4.2 und 1.4.3 nachgehen, besteht dann
in einer geeigneten Erweiterung des Körpers Q der rationalen Zahlen zu einem neuen Zahlenkörper, in welchem das gestellte Problem gelöst werden kann. Auf überraschende und auch diskussionswürdige Konsequenzen dieser Erweiterung werden
wir in Abschnitt 1.4.4 eingehen.
Mit der anschließenden Einführung n-dimensionaler reeller Zahlenkörper, insbesondere der Menge C der komplexen Zahlen, beschließen wir unseren Aufgabe der
Zahlensysteme.
1.4.1 Existenz nichtrationaler Zahlen
Die Diagonale des Einheitsquadrats
Wir beginnen mit dem
Hilfssatz 1.2. Es gibt keine rationale Zahl x ∈ Q mit der Eigenschaft
x2 = x · x = 2.
Beweis. Angenommen, es existiert ein x ∈ Q mit x2 = 2. Dann gibt es auch zwei
ganze Zahlen p ∈ Z und q ∈ Z, so dass
x=
p
.
q
Ohne Einschränkung können wir q ∈ N \ {0} wählen und annehmen, dass p und q
keine gemeinsamen Teiler besitzen (die wir sofort kürzen würden). Wir gehen nun
wie folgt vor:
x2 =
p
q
2
=
p p
p· p
p2
· =
= 2
q q
q·q
q
bzw.
p2 = 2q2 .
46
1 Reelle und komplexe Zahlen
Es ist also p2 eine gerade Zahl, und damit ist auch p selbst gerade : p = 2m mit
geeignetem m ∈ Z. Es folgt
p2 = (2m)2 = 4m2
und
p2 = 2q2 ,
also
4m2 = 2q2
bzw. q2 = 2m2 .
Daher ist auch q eine gerade Zahl. Die Zahlen p und q haben also beide den gemeinsamen Teiler 2 im Widerspruch zu unserer Annahme ihrer Teilerfreiheit. Es
⊔
gibt also kein x ∈ Q mit x2 = 2. ⊓
Die nichtrationale Zahl“
”
√
2 := x
lässt sich geometrisch deuten als die Länge der Diagonale des Einheitsquadrats. Es
ist aber Vorsicht geboten, denn es handelt sich hierbei um eine geometrische Größe,
von der nicht klar ist, dass sie sich überhaupt durch eine Zahl ausdrücken lässt.
Approximation von
√
2“
”
Dass keine rationale Zahl x als Lösung der Gleichung x2 = 2 existiert, bedeutet
nicht, dass es überhaupt keine Zahl mit dieser Eigenschaft gibt. Unser Ziel wird es
also sein, den Körper Q der rationalen Zahlen geeignet zu vervollständigen.
1. Schritt: Eine approximierende rationale Zahlenfolge
Zu diesem Zweck versuchen wir zunächst den (noch nicht gerechtfertigten) Ansatz
√
2=
∞
a1
ak
a2
∑ 10k = a0 + 10 + 100 + . . .,
k=0
um den oben definierten Ausdruck
stellen, und setzen
xn :=
ak ∈ {0, 1, . . ., 9},
√
2 in einen unendlichen Dezimalbruch darzun
ak
∑ 10k ,
k=0
n ∈ N0 .
(∗)
Damit ist die Hoffnung verbunden, dass√
mit fortschreitendem Index n die rationalen
Zahlen xn den noch unbekannten Term 2 hinreichend genau approximieren.
Definition 1.19. Eine Abbildung
(N oder auch) N0 ∋ n → xn ∈ Q
heißt eine rationale Zahlenfolge, in Zeichen
{xn }n=0,1,2,...
bzw. {xn }n∈N0 .
(In der Regel werden wir Folgen {xn }n=1,2,... betrachten.)
1.4 Die reellen Zahlen
47
2. Schritt: Ermittlung des Abstands |xn − xm |
Für Indizes n > m berechnen wir
n
|xn − xm | =
m
ak
n
ak
∑ 10k − ∑ 10k
ak
.
k
10
k=m+1
∑
=
k=0
k=0
Wir verwenden nun (in mehreren Schritten) die Dreiecksungleichung für den Absolutbetrag aus Satz 1.12 und ermitteln
k−1
n
n
10
1
|ak |
≤
=
∑
∑
k
k
10
10
10
k=m+1
k=m+1
k=m+1
n
|xn − xm | ≤
∑
,
da stets gilt |ak | ≤ 10. Wir substituieren nun den Laufindex k = m + 1 . . . n durch
ℓ := k − m − 1 mit ℓ = 0 . . . n − m − 1 und erhalten
n−m−1
|xn − xm | ≤
∑
ℓ=0
ℓ+m
1
10
=
1
10
m n−m−1
·
∑
ℓ=0
1
10
ℓ
.
3. Schritt: Die geometrische Summenformel
An dieser Stelle benötigen wir für die rechte Seite der letzten Abschätzung einen
expliziten Ausdruck, den uns die geometrische Summenformel liefern wird.
Hilfssatz 1.3. Es sei K ein Körper. Für alle z ∈ K \ {1} gilt dann
n
∑ zk =
k=0
zn+1 − 1 1 − zn+1
=
,
z−1
1−z
n ∈ N.
Beweis. Einerseits ermitteln wir
n
∑ (zk+1 − zk ) =(z1 + z2 + z3 + . . . + zn + zn+1) − (z0 + z1 + z2 + . . . + zn)
k=0
=zn+1 − 1,
denn in dieser Summe heben sich alle Terme z1 − z1 , z2 − z2 usw. weg, was man nach
geeignetem Umstellen der endlich vielen Summanden einsieht, und es verbleibt nur
der Ausdruck zn+1 − 1. Andererseits ist aber
n
∑ (zk+1 − zk ) =
k=0
n
n
k=0
k=0
∑ (z − 1)zk = (z − 1) · ∑ zk .
Ein Vergleich beider Identitäten beweist die Behauptung nach Division mit dem
Faktor z − 1 unter Beachtung der Voraussetzung z = 1. ⊓
⊔
48
1 Reelle und komplexe Zahlen
4. Schritt: Abschätzung des Abstands |xn − xm |
Die geometrische Summenformel wenden wir in unserer Situation wie folgt an
|xn − xm | ≤
wegen 1 −
→
1 n−m
10
1
10
m
·
1 n−m
10
1
1 − 10
1−
≤
1
10
m
·
1
=
1
1 − 10
1
10
m
·
10
9
≤ 1. Wir gelangen damit zu folgender Aussage:
Für alle n, m ≥ N ∈ N gilt
|xn − xm | ≤
10
1
·
9
10
N
.
Nach dem Archimedischen Axiom kann aber die rechts stehende Zahl mit wachsendem N ∈ N beliebig klein gemacht werden (einige technische Zwischenschritte
lassen wir in dieser Argumentation aus – welche?):
→
Zu vorgelegtem ε > 0 findet sich daher stets eine natürliche Zahl N = N(ε ),
so dass gilt
|xn − xm | ≤ ε für alle n, m ≥ N(ε ).
Damit sind wir an einem wichtigen Punkt angelangt:
→
Die Streuung“ der Elemente xn der rationalen Zahlenfolge {xn }n=1,2,... wird
”
mit wachsenden Indizes beliebig klein.
Aber genau solche Folgen spielen in der reellen Analysis eine zentrale Rolle.
In den folgenden beiden Abschnitten werden wir detailliert ausführen, wie nach
G. Cantor der Körper Q der rationalen Zahlen erweitert werden muss, um in dem
neuen, zu konstruierenden Zahlenbereich die Gleichung x2 = 2 zu lösen. Wie auch
bei den Erweiterungen von N zu Z bzw. Z zu Q werden diese neuen Zahlen als
geeignete Äquivalenzklassen zu verstehen seien.
1.4.2 Definition der reellen Zahlen
Rationale Cauchyfolgen und äquivalente rationale Cauchyfolgen
Zunächst die sich jetzt auf natürliche Art und Weise anschließende fundamentale
Definition 1.20. Eine rationale Zahlenfolge {xn }n=1,2,... heißt rationale Cauchyfolge, wenn es zu jedem ε > 0 ein N(ε ) ∈ N gibt mit
|xn − xm | < ε
für alle m, n ≥ N(ε ).
Ferner bezeichnen wir eine rationale Zahlenfolge {xn }n=1,2,... als Nullfolge, falls es
zu jedem ε > 0 ein N(ε ) ∈ N gibt mit
1.4 Die reellen Zahlen
49
|xn | < ε
für alle n ≥ N(ε ).
Mit diesen neuen Begriffen kommen wir auch gleich zur
Definition 1.21. Zwei rationale Cauchyfolgen {xn }n=1,2,... und {yn }n=1,2,... heißen
zueinander äquivalent, wenn die Differenzfolge
{xn − yn }n=1,2,...
eine rationale Nullfolge bildet. In diesem Fall schreiben wir
{xn }n=1,2,... ∼R {yn }n=1,2,...
Die hier eingeführte Relation ∼R ist eine Äquivalenzrelation. Sie ist nämlich
◦
reflexiv: es gilt {xn }n=1,2,... ∼R {xn }n=1,2,..., denn
{xn − xn}n=1,2,...
◦
ist eine rationale Nullfolge;
symmetrisch: aus {xn }n=1,2,... ∼R {yn }n=1,2,... folgt
|xn − yn | = |yn − xn | < ε
◦
für alle n ≥ N(ε ),
was aber {yn }n=1,2,... ∼R {xn }n=1,2,... bedeutet;
transitiv: aus {xn }n=1,2,... ∼R {yn }n=1,2,... und {yn }n=1,2,... ∼R {zn }n=1,2,... folgt
|xn − zn | = |(xn − yn ) + (yn − zn )| ≤ |xn − yn | + |yn − zn | < ε + ε = 2ε ,
was aber {xn }n=1,2,... ∼R {zn }n=1,2,... bedeutet.
Definition der reellen Zahlen
Die Äquivalenzrelation ∼R zerlegt die Menge der rationalen Cauchyfolgen in Äquivalenzklassen
[{xn }n=1,2,...]R = {yn }n=1,2,... : {xn }n=1,2,... ∼R {yn }n=1,2,... .
Statt [{xn }n=1,2,... ]R schreiben wir auch oft kurz [xn ]R .
Definition 1.22. Als die Menge der reellen Zahlen R erklären wir die Menge aller
solcher Äquivalenzklassen rationaler Cauchyfolgen
R := {[xn ]R : {xn }n=1,2,... ist rationale Cauchyfolge} .
Die Elemente dieser Menge heißen reelle Zahlen.
Führen wir uns einmal den grundlegenden Unterschied dieser Definition der reellen
Zahlen und unserer Definition der rationalen Zahlen vor Augen:
50
◦
1 Reelle und komplexe Zahlen
Definition 1.11 auf Seite 34 lautete
Q := {[(m, n)]Q : (m, n) ∈ Z × Z \ {0}},
d.h. eine rationale Zahl ist nichts anderes als eine Äquivalenzklasse [(m, n)]Q
mit natürlichen Zahlen m ∈ N und n ∈ N \ {0}, in gewöhnlicher Notation auch
geschrieben als mn . Die Menge Q besteht also aus den Elementen
1 1
3
7
Q = 0, 1, , , . . . , , . . . , , . . . .
2 3
4
29
◦
Obige Definition 1.22 beinhaltet qualitativ etwas ganz anderes und damit etwas
ganz Neues: In
R := {[xn ]R : {xn }n=1,2,... ist rationale Cauchyfolge}
finden wir keine zu Äquivalenzklassen zusammengefassten Zahlen, sondern rationale Zahlenfolgen. Für diese Folgen werden wir bald einen Konvergenzbegriff erklären, und dann werden wir natürlich die reellen Zahlen als diese Grenzwerte verstehen.
Einbettung der rationalen Zahlen in die reellen Zahlen
Die reelle Zahl [xn ]R identifizieren wir mit einer rationalen Zahl, wenn mit ganzen
Zahlen p ∈ Z und q ∈ Z \ {0} gilt
xn =
→
p
q
für alle n = 1, 2, . . .
Die rationalen Zahlen werden also durch die konstanten rationalen Cauchyfolgen repräsentiert.
Eine nicht rationale reelle Zahl nennen wir irrational.
Die im folgenden zu diskutierenden arithmetischen und algebraischen Eigenschaften der Menge der reellen Zahlen wird diese Einbettung näher begründen. Insbesondere handelt es sich dabei um
◦
die Beschränktheit reeller Zahlen,
◦
die Summe und das Produkt reeller Zahlen,
◦
das Negative reeller Zahlen,
◦
eine Ordnungsrelation auf den reellen Zahlen,
◦
das Inverse reeller Zahlen.
1.4 Die reellen Zahlen
51
1.4.3 Arithmetische Eigenschaften reeller Zahlen
Beschränktheit reeller Zahlen
Satz 1.13. Sei {xn }n=1,2,... eine rationale Cauchyfolge. Dann existiert ein C ∈ Q mit
der Eigenschaft
|xn | ≤ C für alle n ∈ N.
Jede rationale Cauchyfolge ist also beschränkt.
Beweis. Sei {xn }n=1,2,... eine rationale Cauchyfolge. Zu ε = 1 existiert dann ein
N(1) ∈ N mit
|xm − xn | < 1 für alle m, n ≥ N(1).
Für diese Zahl N := N(1) berechnen wir nun mit der Dreiecksungleichung
|xn | = |(xn − xN ) + xN | ≤ |xn − xN | + |xN | < 1 + |xN |
für alle n ≥ N(1).
Das schätzt |xn | für alle n ≥ N(1) nach oben ab – falls wir |xN | kennen. Um auch
noch die restlichen Elemente |x1 |, . . . , |xN−1 | abzuschätzen, setzen wir
C := max{|x1 |, |x2 |, . . . , |xN−1 |, |xN |, 1 + |xN |}
mit dem Maximum C der endlich vielen rationalen Zahlen |x1 |, . . . , 1 + |xN |, so dass
|xn | ≤ C
für alle n ∈ N
richtig ist, was behauptet wurde. ⊓
⊔
Achten Sie in diesem Beweis darauf, wie die Cauchyfolgeneigenschaft es uns erlaubt, aus der Kenntniss endlich vieler Elemente auf das Verhalten der gesamten
Folge zu schließen.
Definition Summe und Produkt. Negatives einer reellen Zahl
Die Addition und Multiplikation zweier reeller Zahlen führen wir zurück auf die
Addition und Multiplikation rationaler Zahlen und den daraus gebildeten Äquivalenzklassen.
Definition 1.23. Die Addition und die Muliplikation in den reellen Zahlen sind definiert vermöge
[xn ]R + [yn]R := [xn + yn]R
sowie
[xn ]R · [yn ]R := [xn · yn ]R .
Außerdem setzen wir als das Negative der reellen Zahl [xn ]R
−[xn ]R := [−xn ]R .
52
1 Reelle und komplexe Zahlen
Was wir bei der Einführung der entsprechenden Operationen in N, Z und Q ausgelassen haben, wollen wir an dieser Stelle nachholen: Um uns von der Wohldefiniertheit der Addition und Multiplikation zu überzeugen, müssen wir deren Unabhängigkeit von der Wahl der jeweiligen Repräsentanten nachweisen.
Satz 1.14. Es seien
{xn }n=1,2,... ,
{yn }n=1,2,... ,
{xn }n=1,2,... ,
{yn }n=1,2,...
rationale Cauchyfolgen mit den Eigenschaften
{xn }n=1,2,... ∼R {xn }n=1,2,... ,
{yn }n=1,2,... ∼R {yn }n=1,2,... .
Dann sind auch
{xn + yn }n=1,2,... ,
{xn · yn }n=1,2,... ,
{xn + yn }n=1,2,... ,
{xn · yn }n=1,2,...
rationale Cauchyfolgen, und es gelten
{xn + yn }n=1,2,... ∼R {xn + yn}n=1,2,... ,
{xn · yn }n=1,2,... ∼R {xn · yn }n=1,2,...
Beweis. Wir gehen nach Sauvigny [32], Beweis von Hilfssatz 3 aus Kapitel 1, §2
vor und zeigen nur die beiden behaupteten Äquivalenzen:
(i)
Nach Voraussetzung sind {xn − xn }n=1,2,... und {yn − yn }n=1,2,... rationale
Nullfolgen, d.h. zu vorgegebenem ε > 0 existiert ein N(ε ) ∈ N mit
|xn − xn| < ε ,
|yn − yn| < ε
für alle n ≥ N(ε ).
Wir wenden die Dreiecksungleichung an und berechnen für dieses ε > 0
|(xn + yn ) − (xn + yn )| = |(xn − xn) + (yn − yn)|
≤ |xn − xn | + |yn − yn | < 2ε
(ii)
für alle n ≥ N(ε ),
d.h. {(xn + yn ) − (xn + yn )}n=1,2,... ist eine rationale Nullfolge, was die erste
behauptete Äquivalenz zeigt.
Die Dreiecksungleichung liefert weiter
|xn yn − xn yn | = |xn yn − xn yn + xn yn − xn yn |
= |(xn − xn)yn + (yn − yn )xn |
≤ |(xn − xn)yn | + |(yn − yn )xn |
= |xn − xn | · |yn | + |yn − yn | · |xn| .
Die Absolutbeträge der Elemente der rationalen Cauchyfolgen {xn }n=1,2,...
und {yn }n=1,2,... lassen sich nun nach dem vorigen Satz 1.13 nach oben durch
eine gemeinsame obere Schranke C ∈ Q abschätzen.
1.4 Die reellen Zahlen
53
Eingesetzt in unsere Abschätzung, erhalten wir so
|xn yn − xn yn | ≤ C · (|xn − xn | + |yn − yn |) < 2Cε ,
d.h. {xn yn − xn yn }n=1,2,... ist eine rationale Nullfolge, was die zweite behauptete Äquivalenz zeigt.
Damit ist der Satz bewiesen. ⊓
⊔
Ordnungsstruktur der reellen Zahlen
Reellen Zahlen können wir durch folgende Typeneinteilung ein Vorzeichen“ zu”
ordnen. Dazu zunächst die
Definition 1.24. Wir sagen, die rationale Zahlenfolge {xn }n=1,2,... ist vom Typ
◦
R+ , falls es eine positive Zahl p ∈ Q gibt und ein N ∈ N mit
xn ≥ p
◦
für alle n ≥ N;
R− , falls es eine positive Zahl p ∈ Q gibt und ein n ∈ N mit
−xn ≥ p für alle n ≥ N.
Nun gilt der
Satz 1.15. Eine rationale Cauchyfolge {xn }n=1,2,... ist entweder
◦
◦
◦
eine Nullfolge,
vom Typ R+ ,
oder vom Typ R− .
Zum Beweis dieses Satzes führen wir mit sogenannten Teilfolgen von Zahlenfolgen einen fundamentalen Begriff der Analysis ein.
Beweis.∗ Wir gehen nach Sauvigny [32], Beweis von Hilfssatz 4 aus §2 vor. Angenommen, die
rationale Cauchyfolge {xn }n=1,2,... ist keine Nullfolge. Dann argumentieren wir wie folgt:
1.
Zu vorgegebenem ε > 0 existieren eine Teilfolge
{xnk }k=1,2,... = {xn1 , xn2 , xn3 , . . .} ⊂ {xn }n=1,2,...
von {xn }n=1,2,... und hierzu ein K(ε ) ∈ N mit der Eigenschaft
|xnk | ≥ 2ε
2.
für alle k ≥ K(ε ).
Beachte: Eine solche Abschätzung muss für die ursprüngliche Folge {xn }n=1,2,... selbst nicht
gelten, für eine geeignete Teilfolge von ihr ist sie aber erfüllt, da {xn }n=1,2,... nach Annahme
keine Nullfolge ist.
Da {xn }n=1,2,... rationale Cauchyfolge ist, gibt es zu vorigem ε > 0 eine natürliche Zahl p ≥
K(ε ) mit
|xm − xn p | < ε für alle m > n p .
54
1 Reelle und komplexe Zahlen
Nach dem ersten Beweispunkt gilt ebenfalls
|xn p | ≥ 2ε ,
da p ≥ K(ε ),
und damit ist entweder
◦
◦
3.
xn p ≥ 2ε > 0
oder xn p ≤ −2ε < 0.
Wir wollen diese beiden Fälle gesondert betrachten:
◦
Im ersteren Fall ermitteln wir für alle m ≥ n p
xm = xn p + (xm − xn p ) ≥ 2ε − |xm − xn p | ≥ 2ε − ε = ε > 0,
◦
weshalb {xn }n=1,2,... dann vom Typ R+ ist.
Im zweiten Fall ist analog für alle m ≥ n p
xm = xn p = (xm − xn p ) ≤ −2ε + |xm − xn p | ≤ −2ε + ε = −ε < 0,
weshalb {xn }n=1,2,... dann vom Typ R− ist.
Damit ist der Satz bewiesen.
⊔
⊓
Mit diesem Resultat können wir zur angekündigten Einteilung reeller Zahlen nach
ihrem Vorzeichen übergehen.
Definition 1.25. Es sei x = [xn ]R eine reelle Zahl. Dann setzen wir
x=0
sowie
genau dann, wenn {xn }n=1,2,... ist eine Nullfolge
x > 0 genau dann, wenn {xn }n=1,2,... gehört zum Typ R+ ,
x < 0 genau dann, wenn {xn }n=1,2,... gehört zum Typ R− .
Als Übung mache man sich klar, dass diese Einteilung unabhängig vom gewählten
Repräsentanten {xn }n=1,2,... der Äquivalenzklasse [xn ]R ist.
Wir sind jetzt in der Lage, die auf beliebigen angeordneten Körpern K definierte
Betragsfunktion aus Definition 1.18 auf unsere aktuelle Situation der reellen Zahlen
zu übertragen:


 x, falls x > 0
|x| :=
0, falls x = 0 .


−x, falls x < 0
Die Inverse in den reellen Zahlen
Wir setzen folgendes Resultat voran.
Satz 1.16. Es seien {xn }n=1,2,... und {yn }n=1,2,... zwei äquivalente Cauchyfolgen,
{xn }n=1,2,... ∼R {yn }n=1,2,... ,
die keine Nullfolgen sind.
1.4 Die reellen Zahlen
55
Darüberhinaus nehmen wir an
xn = 0
und yn = 0
für alle n = 1, 2, . . .
−1
Dann sind auch {x−1
n }n=1,2,... und {yn }n=1,2,... rationale Cauchyfolgen, und es gilt
−1
{x−1
n }n=1,2,... ∼R {yn }n=1,2,...
Beweis. Wir gehen wie in Sauvigny [32], Beweis von Hilfssatz 5 aus §2 vor:
1.
Wir überzeugen uns zunächst davon, dass {x−1
n }n=1,2,... eine rationale Cauchyfolge ist. Nach Satz 1.15 existieren ein positives p ∈ Q und ein N ∈ N mit
|xn | ≥ p
und |yn | ≥ p für alle n ≥ N,
unter Beachtung der gemachten Voraussetzungen. Die Cauchyfolgeneigenschaft folgt mit
1
1
x n − xm
1
1
−
· (xn − xm ) =
=
=
· |xn − xm |
xm xn
xm xn
xm xn
xn xm
=
2.
1
1
ε
1
· |xn − xm | =
· |xn − xm | ≤ 2 |xn − xm | ≤ 2 .
|xn xm |
|xn ||xm |
p
p
Aus demselben Grund ist auch {y−1
n }n=1,2,... eine rationale Cauchyfolge.
Und genauso zeigt man
1
1
1
−
≤ 2 |xn − ym |,
xn yn
p
und wegen {xn }n=1,2,... ∼R {yn }n=1,2,... existiert zu vorgegebenem ε > 0 ein
N(ε ) ∈ N, so dass
1
1
ε
−
≤ 2
xn yn
p
für alle m, n ≥ N(ε ).
−1
Also ist auch {x−1
n }n=1,2,... ∼R {yn }n=1,2,... .
Damit ist der Satz bewiesen. ⊓
⊔
Damit kommen wir zur
Definition 1.26. Es sei {xn }n=1,2,... eine rationale Cauchyfolge mit xn = 0 für alle
n = 1, 2, . . . und [xn ]R = 0. Dann definieren wir
[xn ]−1
R :=
1
xn
R
als die multiplikative Inverse der reellen Zahl [xn ]R .
56
1 Reelle und komplexe Zahlen
Reelle Zahlenintervalle
Die in Definition 1.25 eingeführten Relationen > und < ermöglichen es uns, offene, halboffene oder abgeschlossene reelle Zahlenintervalle zu erklären. Zu diesen
Zweck wollen wir noch festlegen
genau dann, wenn y − x > 0.
x<y
Definition 1.27. Seien x, y ∈ R zwei reelle Zahlen mit x < y. Dann setzen wir
(x, y) := {z ∈ R : x < z < y}
(x, y] := {z ∈ R : x < z ≤ y}
[x, y) := {z ∈ R : x ≤ z < y}
[x, y] := {z ∈ R : x ≤ z ≤ y}
offenes Intervall
halboffenes Intervall
halboffenes Intervall
abgeschlossenes Intervall
Außerdem benötigen wir folgende unbeschränkte Intervalle
(−∞, x) := {z ∈ R : z < x},
(−∞, x] := {z ∈ R : z ≤ x},
(x, +∞) := {z ∈ R : x > z},
[x, +∞) := {z ∈ R : x ≥ z} .
Die reellen Zahlen als angeordneter Körper
Unsere bisherigen Ergebnisse zusammenfassend, werden wir auf folgendes zentrale
Resultat geführt.
Satz 1.17. Die Menge R der reellen Zahlen x, y, z, . . . wird mit den nachstehenden
arithmetischen Operationen
x + y := [xn + yn ]R ,
x−1 :=
1
xn
,
x · y := [xn · yn ]R ,
−x := [−xn ]R ,
falls x = 0, xn = 0 für alle n = 1, 2, . . .
R
aus den Definitionen 1.23 und 1.26 und den Ordnungsrelationen
x=0
x>0
x<0
genau dann, wenn {xn }R Nullfolge ist,
genau dann, wenn {xn }R vom Typ R+ ist,
genau dann, wenn {xn }R vom Typ R− ist,
aus Definition 1.25 zu einem archimedisch angeordneten Körper.
Beweis. Übungsaufgabe.
1.4 Die reellen Zahlen
57
Die Lösung der Gleichung x p = z
Wir kommen auf unser eingangs betrachtetes Problem zurück: Sind wir nun im
Besitz einer Lösung der Gleichung
x2 = 2 ?
Wir wollen diese Frage ganz allgemein beantworten.
Es seien dazu p ∈ N und z > 0 eine positive reelle Zahl. Wir werden zeigen:
→
Unter diesen Voraussetzungen gibt es genau eine positive reelle Zahl x > 0
gibt mit der Eigenschaft
(∗)
x p = z.
Wir schreiben diese Lösung in der Form
x :=
√
p
z.
Im Falle p = 2 sprechen wir von der Quadratwurzel und schreiben auch
√
√
x = z statt x = 2 z ,
ansonsten von der p-ten Wurzel der Zahl z > 0.
Wir kommen jetzt zur Konstruktion der Lösung x.
◦
Eindeutigkeit der Lösung
Angenommen, mit x ∈ R und y ∈ R existieren zwei verschiedene Lösungen der
Gleichung (∗). Ohne Einschränkung sei dabei 0 < x < y. Man überlege sich als
Übung, dass dann aber auch
0 < xp < yp
richtig sein muss im Widerspruch zur Annahme x p = y p . Es kann also höchstens
eine Lösung von (∗) geben.
◦
Existenz der Lösung
Existiert eine Zahl x ∈ Q, das (∗) löst, so ist nichts mehr zu zeigen. Wir nehmen
also an, dass es keine Zahl x ∈ Q gibt mit dieser Eigenschaft.
Für n = 0, 1, 2, . . . betrachten wir, wie in Tabelle 1.3 schematisch dargestellt, die
rationalen Zahlenfolgen
i p
10n
i=0,1,2,...
Diese Zahlenfolgen zerlegen“ die nichtnegativen reellen Zahlen
”
[0, +∞) := {x ∈ R : x ≥ 0} ,
so dass beim Übergang von der n-ten Folge zur (n+1)-ten Folge jedes ursprüngliche
Teilintervall in zehn neue Teilintervalle aufgeteilt wird. Außerdem stellt jeder der
Zerlegungspunkte, d.h. jedes Element aller dieser Folgen, eine rationale Zahl dar.
58
1 Reelle und komplexe Zahlen
Tabelle 1.3 Veranschaulichung der Zerlegung von [0, +∞)
n=0:
0
1
2p
3p
4p
5p
6p
...
n=1:
0
1
10 p
2p
10 p
3p
10 p
4p
10 p
5p
10 p
6p
10 p
...
n=2:
0
1
100 p
2p
100 p
3p
100 p
4p
100 p
5p
100 p
6p
100 p
...
Die zu konstruierende Lösung x ∈ Q von (∗) muss sich also stets im Innern“
”
eines Zerlegungsintervalls befinden, d.h. zwischen zwei Zerlegungspunkten.
Es existiert daher eine rationale Zahlenfolge {xn }n=1,2,... mit Gliedern (verwende
die geometrische Summenformel)
n
xn =
n
bk
bk
∑ 10k = b0 + ∑ 10k ≤ b0 + 1
k=0
k=1
mit b0 ∈ N0 und sonst bk ∈ {0, 1, . . . , 9} für k = 1, . . . , n,
welche
xn ≤ xm ≤ xn +
1
≤ 2 + b0
10n
für alle m > n
erfüllt sowie (Übungsaufgabe)
xnp < z < xn +
p
1
10n
für alle n = 0, 1, 2, . . .
(α )
Die erstere Ungleichungskette besagt, dass es sich bei {xn }n=1,2,... um eine rationale
Cauchyfolge handelt. Außerdem können wir ohne Einschränkung xn > 0 für alle
n = 1, 2, . . . voraussetzen.
→
Wir definieren
x := [xn ]R .
Die so definierte reelle Zahl x ∈ R lässt sich nach unserer Definition der Relation ≤
in R zwischen zwei Zerlegungsgrenzen xn und xn + 101n wie folgt einschließen
xn ≤ x ≤ xn +
1
10n
für alle n = 1, 2, . . .
und genügt daher auch (Übungsaufgabe)
xnp ≤ x p ≤ xn +
1
10n
p
für alle n = 1, 2, . . .
(β )
1.4 Die reellen Zahlen
59
Zum Nachweis, dass die reelle Zahl x ∈ R auch wirklich (∗) löst, benötigen wir den
folgenden Binomialsatz.
Hilfssatz 1.4. Es sei K ein angeordneter Körper. Für alle m ∈ N0 und alle x, y ∈ K
gilt dann die allgemeine binomische Formel
(x + y)m =
n
∑
k=0
m k m−k
xy
k
mit den Binomialkoeffizienten
m!
m
:=
,
k
k!(m − k)!
k, m ∈ N,
wobei m! := 1 · 2 · . . . · m mit 0! := 1
Beweis. Übungsaufgabe.
Mit diesem Hilfssatz ermitteln wir nun wegen (α ) und (β ) (beachte xn > 0 für alle
n = 1, 2, . . . nach Voraussetzung)
0 ≤ |x p − z| ≤
=
xn +
1
+1
xn · 10n
p
≤ (2 + b0) p · ∑
k=1
p
1
10n
− xnp =
1+
p
p
− 1 xnp = xnp · ∑
k=1
1
xn · 10n
p
k
1
xn · 10n
p
k
p
xnp − xnp
1
xn · 10n
k
k
.
Nach dem Archimedischen Axiom wird aber mit wachsendem n ∈ N die rechtsstehende, aus endlich vielen Summanden bestehende Summe kleiner als jedes beliebig
vorgegebene ε > 0 ausfallen. Es muss also gelten
|x p − z| = 0
bzw. z = x p ,
d.h. x = [xn ]R löst die Gleichung (∗).
Bemerkung 1.6. Wir wollen noch einmal auf die obige Setzung
x := [xn ]R
aufmerksam machen, welche die Konstruktion der reellen Zahlen als Äquivalenzklassen rationaler Cauchyfolgen deutlich macht. Nach unseren bisherigen Diskussionen wäre es falsch zu behaupten, die Cauchyfolge {xn }n=1,2,... ⊂ Q konvergiere“
”
gegen die reelle Zahl z = x p , denn diese Zahl muss erst einmal konstruiert werden.
60
1 Reelle und komplexe Zahlen
1.4.4 Mengentheoretische Eigenschaften der reellen Zahlen I
Dezimaldarstellung reeller Zahlen
Wie wir bei der Konstruktion der Lösung x der Gleichung x p = z gerade vorgeführt
haben, so können wir jede reelle Zahl in Dezimalform darstellen.
Sei beispielsweise die reelle Zahl
x ∈ [0, 1] := {y ∈ R : 0 ≤ y ≤ 1}
vorgelegt. Ähnlich zu unseren vorigen Ausführungen betrachten wir sukzessive Verfeinerungen des Intervalls [0, 1] in jeweils zehn neue abgeschlossene Teilintervalle.
Nach jedem Schritt dieses Verfahrens liegt x innerhalb eines neuen Teilintervalls
oder auf dem Rand zweier angrenzender neuer Teilintervalle.
Bedeutet xn die linke Grenze eines Teilintervalls nach dem n-ten Schritt, so gilt
xn ≤ x ≤ xn +
1
,
10n
n = 1, 2, . . .
Die xn ∈ Q können wir dabei in der Form schreiben
n
xn =
xk
∑ 10k ,
n = 1, 2, . . .
k=0
mit x0 ∈ {0, 1} und xm ∈ {0, 1, . . . , 9} für m = 1, 2, . . .
Ausführlicher liegt uns also die rationale Cauchyfolge vor
x1 = x0 +
→
x1
,
10
x 2 = x0 +
x1
x2
+
,
10 100
x3 = x0 +
x1
x2
x3
+
+
10 100 1000
usw.
Wir nennen die Zahlen xm die Koeffizienten der Dezimaldarstellung
x0 , x1 x2 x3 x4 . . .
der reellen Zahl x ∈ [0, 1].
Die reelle Zahl x ∈ [0, 1] ist wieder die Äquivalenzklasse [{xn }n=1,2,... ]R . Als einen
ihrer Repräsentanten wählen wir einfach {xn }n=1,2,... ⊂ Q selbst. Beim praktischen
Rechnen hat man diese Konstruktion natürlich nicht stets vor Augen.
Beispiel 1.19. Die reelle Zahl 1 besitzt die Dezimalentwicklungen
1 = 1, 00000 . . .,
aber auch
1 = 0, 99999 . . .,
was man sich unter Verwendung der geometrischen Summenformel verdeutlicht.
Dezimalentwicklungen reeller Zahlen sind also nicht eindeutig.
1.4 Die reellen Zahlen
61
Als Übung beweise man aber das folgende Kriterium, welches wir im Beweis des
nachstehenden Satzes 1.18 zur Anwendung bringen werden (Sauvigny [32], Satz 4
aus Kapitel I, §2):
Hilfssatz 1.5. Weichen in der Dezimalentwicklung zweier reeller Zahlen x, y ∈ [0, 1]
die Ziffern an einer Stelle genau um den Betrag 2 ab, so folgt x = y.
Überabzählbarkeit
Aus Paragraph 1.2.4 wissen wir, dass die Menge der rationalen Zahlen abzählbar,
d.h. von der Mächtigkeit der natürlichen Zahlen ist. Die Situation für die reellen
Zahlen ist hingegen völlig anders: R ist nicht abzählbar und damit von größerer
Mächtigkeit als N bzw. Q.
Satz 1.18. Die Menge der reellen Zahlen ist überabzählbar.
Beweis. Wir gehen wie in Sauvigny [32], Beweis von Satz 2 aus Kapitel I, §3 vor.
1.
Mit G. Cantor betrachten wir nur das abgeschlossene Intervall
M := {x ∈ R : x ∈ [0, 1]} .
2.
Angenommen, die Menge M ist abzählbar. Dann können wir alle Elemente
x ∈ M vermittels einer Folge {xn }n=1,2,... anordnen.
Jedes Element xn ∈ [0, 1] lässt sich, wie oben diskutiert, in Dezimaldarstellung
schreiben und durch eine rationale Cauchyfolge mit Gliedern
m
xn =
bnk
∑ 10k
k=1
3.
m=1,2,...
mit bnk ∈ {0, 1, . . . , 9}
repräsentieren, wie in nachstehender Tabelle 1.4 dargestellt.
G. Cantors entscheidendes Diagonalisierungsargument, welches unsere Annahme zu einem Widerspruch führen wird, verläuft nun (in leicht abgewandelter Form) wie folgt: Wähle eine Folge {bn }n=1,2,... ⊂ N natürlicher Zahlen
bn ∈ {0, 1, . . ., 9} mit der Eigenschaft
|bn − bnn| = 2 für alle n = 1, 2, . . .
und definiere die reelle Zahl

→
z := 
m
bk
∑ 10k
k=1


m=1,2,... R
Dann stimmt diese Zahl z mit keiner der reellen Zahlen aus der Abzählungsfolge {xn }n=1,2,... überein.
62
1 Reelle und komplexe Zahlen
Denn wäre z = xn für irgendein n ∈ N, so unterscheiden sich nach Konstruktion
z und xn wenigstens in den Ziffern der n-ten Stelle ihrer Dezimalbruchentwicklungen um den Betrag 2 und können daher nach vorigem Hilfssatz 1.5 nicht
gleich sein: Es gilt z ∈ M.
Dieser Widerspruch beweist den Cantorschen Satz.
⊔
⊓
Tabelle 1.4 Zum Cantorschen Beweis der Überabzählbarkeit der reellen Zahlen
x1 :
b11 b12 b13 b14 b15
+
+
+
+
+...
10 102 103 104 105
x2 :
b21 b22 b23 b24 b25
+
+
+
+...
+
10 102 103 104 105
x3 :
b31 b32 b33 b34 b35
+
+
+
+
+...
10 102 103 104 105
· · ·· · · · · ·· · ·
G. Cantors Diagonalisierungsverfahren zählt zu den einfallsreichsten Beweismethoden in der Mathematik überhaupt. Sein Anwendungsbereich reicht bis in die
Grundlagen der modernen Logik. So bewies K. Gödel seinen berühmten ersten Unvollständigkeitssatz vermittels genau dieser Methode.
Beeindruckt vom Ideenreichtum G. Cantors, von dem sein Diagonalisierungsverfahren nur ein Beispiel ist, formulierte später der berühmte Zahlentheoretiker
E.G.H. Landau: Cantor gehört zu den größten und genialsten Mathematikern aller
”
Länder und aller Zeiten.“
1.4.5 Reelle Zahlenfolgen I
Grenzwerte reeller Zahlenfolgen
Wir wollen nun verschiedene Grenzwertbegriffe für reelle Zahlenfolgen kennenlernen und diskutieren.
Zunächst übertragen wir Definition 1.20, Seite 48:
Definition 1.28. Eine reelle Zahlenfolge {xn }n=1,2,... ⊂ R heißt reelle Cauchyfolge,
wenn es zu jedem ε > 0 ein natürliches N(ε ) ∈ N gibt mit
|xn − xm | < ε
für alle m, n ≥ N(ε ).
Ferner heißt {xn }n=1,2,... ⊂ R eine reelle Nullfolge, falls es zu jedem ε > 0 ein
N(ε ) ∈ N gibt, so dass gilt
|xn | ≤ ε
für alle n ≥ N(ε ).
1.4 Die reellen Zahlen
63
Damit kommen wir bereits zur
Definition 1.29. Eine reelle Zahlenfolge {xn }n=1,2,... ⊂ R heißt konvergent gegen
eine reelle Zahl x ∈ R, falls
{xn − x}n=1,2,... ⊂ R
eine reelle Nullfolge ist. In diesem Fall bezeichnen wir x ∈ R als den Grenzwert der
Folge {xn }n=1,2,... und schreiben
x := lim xn .
n→∞
Ein nicht konvergente Zahlenfolge heißt divergent.
Wir bemerken, dass der Grenzwert eindeutig ist, denn wären x = y zwei verschiedene reelle Zahlen mit
x = lim xn und y = lim xn ,
n→∞
n→∞
so existiert zu beliebig vorgegebenem ε > 0 ein N(ε ) ∈ N mit
|x − y| = |(x − xn ) + (xn − y)| ≤ |xn − x| + |xn − y| ≤ ε + ε = 2ε
für alle n ≥ N(ε ). Also gilt notwendig x = y.
Rechenregeln für Grenzwerte reeller Zahlenfolgen
Wir beantworten nun die Frage der Addition, der Multiplikation und der Division
reeller Grenzwerte.
Satz 1.19. Es seien {xn }n=1,2,... ⊂ R und {yn }n=1,2,... ⊂ R zwei konvergente reelle
Zahlenfolgen mit
x = lim xn und y = lim yn .
n→∞
(i)
n→∞
Dann gelten
lim (xn + yn) = x + y
n→∞
sowie
lim (xn · yn ) = x · y.
n→∞
(ii)
Falls xn = 0 für alle n = 1, 2, . . . und x = 0, so gilt
lim
1
n→∞ xn
=
1
.
x
Beweis. Übungsaufgabe.
Gemäß unserem nächsten Satz sind konvergente reelle Zahlenfolgen außerdem beschränkt, und unter Kenntnis einer absoluten Schranke an ihre Glieder folgt auch
sofort eine absolute Schranke an ihren Grenzwert.
64
1 Reelle und komplexe Zahlen
Satz 1.20. Die folgenden Aussagen sind richtig:
(i)
Es sei {xn }n=1,2,... eine konvergente reelle Zahlenfolge. Dann existiert eine
reelle Zahl C ∈ R mit der Eigenschaft
|xn | ≤ C
(ii)
für alle n ∈ N.
Es sei {xn }n=1,2,... eine konvergente und nach oben beschränkte reelle Zahlenfolge, d.h. es existieren ein x ∈ R mit
lim xn = x
n→∞
sowie ein C ∈ R mit
xn ≤ C
für alle n = 1, 2, . . .
Dann gilt auch
x ≤ C.
Eine analoge Aussage gilt für konvergente und nach unten beschränkte reelle
Zahlenfolgen.
Beweis. Übungsaufgabe.
1.4.6 Mengentheoretische Eigenschaften der reellen Zahlen II
Dichtheit von Q in R
Wir wollen uns nun davon überzeugen, dass sich jede reelle Zahl x ∈ R beliebig
genau durch eine rationale Zahlenfolge annähern lässt.
Diese Aussage bildet zusammen mit dem darauffolgenden Satz über die Vollständigkeit der reellen Zahlen das Grundgerüst für unsere anschauliche Interpretation der reellen Zahlenachse als geometrisches Kontinuum. Im Rahmen der Nichtstandardanalysis wird diese Identifizierung kritisiert.
Satz 1.21. Die Menge der rationalen Zahlen Q liegt dicht in der Menge R der reellen Zahlen, d.h. zu jedem x ∈ R existiert eine rationale Zahlenfolge {xn }n=1,2,... ⊂ Q
mit der Eigenschaft
lim xn = x.
n→∞
Beweis. Wir gehen wie in Sauvigny [32], Beweis von Hilfssatz 4 aus §3 vor.
1.
Es sei die reelle Zahl x = [xn ]R vorgelegt mit xn ∈ Q für n = 1, 2, . . . Wir erinnern an die auf Seite 50 diskutierte Einbettung der rationalen Zahlen in die
Menge der reellen Zahlen und betrachten die rationale Zahl
xm := [yn ]R
mit {yn }n=1,2,... = {xm , xm , xm , . . .} .
1.4 Die reellen Zahlen
65
Dann gilt
x − xm = [{xn − yn }n=1,2,...]R = [{xn − xm }n=1,2,...]R .
2.
Als Repräsentant der reellen Zahl x stellt {xn }n=1,2,... eine rationale Cauchyfolge dar. Zu jedem ε > 0 existiert also eine natürliche Zahl N(ε ) ∈ N mit
|xn − xm | < ε
für alle m, n ≥ N(ε ).
Man mache sich nun als Übung klar, dass damit auch gilt
|x − xm | = |[{xn − xm }n=1,2,... ]R | ≤ ε
für alle m ≥ N(ε ),
d.h. die Abschätzung |xn − xm | < ε für alle m, n ≥ N(ε ) überträgt sich auf die
Äquivalenzklasse [{xn − xm }n=1,2,... ]R für m ≥ N(ε ). Somit folgt
lim xm = x.
m→∞
Damit ist der Satz bewiesen. ⊓
⊔
Übertragen auf unser Bild der anschaulichen, kontinuierlichen Zahlengeraden besagt dieser Satz, dass die Folge {xn }n=1,2,... rationaler Cauchyfolgen die reelle Zahl
x approximiert“.
”
In diesem Sinne können wir die reellen Zahlen als Grenzwerte rationaler Cauchyfolgen verstehen, oder: Wir identifizieren rationale Cauchyfolgen mit ihren Grenzwerten.
Vollständigkeit von R
Unser nächster Satz besagt, dass jede konvergente reelle Zahlenfolge zugleich eine
reelle Cauchyfolge ist und umgekehrt. Man sagt, R ist vollständig.
→
Dieses auch als Cauchysches Konvergenzkriterium bekannte Resultat ist fundamental für die Mathematik insgesamt.
Einmal bestimmt es unser Bild von der Übereinstimmung der reellen Zahlenachse
und des geometrischen Kontinuums und löst somit ein jahrtausende altes philosophisches Problem, nämlich das Auflösen der Zenonschen Paradoxien.
Wir zitieren aus T.L. Heaths A history of Greek Mathematics I, Seite 275 ff.:
1.
2.
The Dichotomy
There is no motion because that which is moved must arrive at the middle (of
its course) before it arrives at the end.
The Achilles
This asserts that the slower when running will never overtaken by the quicker;
for that which is pursuing must first reach the point from which that which is
fleeing started, so that the slower must necessarily always be some distance
ahead.
66
1 Reelle und komplexe Zahlen
3.
The Arrow
If, says Zeno, everything is either at rest or moving when it occupies a space
equal (to itself), while the object moved is always in the instant (in the now),
the moving arrow is unmoved.
The Stadium
The fourth is the argument concerning the two rows of bodies each composed of an equal number of bodies of equal size, which pass one another on a
race-course as they proceed with equal velocity in opposite directions, one row
starting from the end of the course and the other from the middle.
4.
Auf Seite 279 schreibt T.L. Heath: It appears then that the first and second arguments, in their full significance, were not really met before G. Cantor formulated his
new theory of continuity and infinity.
Wir haben aber bereits erwähnt, dass die Nichtstandardanalysis dieses Bild kritisiert und sogar ablehnt. Zum Selbststudium empfehlen wir hierzu D. Laugwitz:
Zahlen und Kontinuum, Seite 228 ff.
Zum anderen liefert es die technische Grundlage für ein sehr viel allgemeineres
mathematisches Problem, nämlich der Vervollständigung metrischer Räume, z.B. in
der funktionalanalytischen Theorie der Banachräume. Die gleichwertige Rolle, die
konvergente Folgen und Cauchyfolgen in der hier vorgestellten Konstruktion der
reellen Zahlen nach G. Cantor spielen, ist in weiteren Bereichen der mathematischen
Analysis durchaus keine Selbstverständlichkeit.
Satz 1.22. Eine reelle Zahlenfolge {xn }n=1,2,... ⊂ R ist genau dann in R konvergent,
wenn sie eine reelle Cauchyfolge ist.
Beweis. Wir gehen wie in Sauvigny [32], Kapitel I, Beweis von Satz 3 aus §3 vor.
1.
Es sei {xn }n=1,2,... eine gegen x ∈ R konvergente reelle Zahlenfolge. Zu jedem
ε > 0 existiert dann ein N(ε ) ∈ N mit
|xn − x| < ε
für alle n ≥ N(ε ).
Damit ermitteln wir mit Hilfe der Dreiecksungleichung
|xn − xm | = |(xn − x) + (x − xm)| ≤ |xn − x| + |xm − x| ≤ 2ε
2.
für alle m, n ≥ N(ε ), d.h. {xn }n=1,2,... ist eine reelle Cauchyfolge.
Es sei {xn }n=1,2,... eine reelle Cauchyfolge, d.h. zu vorgelegtem ε > 0 existiert
ein N(ε ) ∈ N mit
|xn − xm | < ε
für alle m, n ≥ N(ε ).
Gemäß obigem Satz 1.21 liegt die Menge Q dicht in R, d.h. für jedes reelle
Glied xn dieser Cauchyfolge {xn }n=1,2,... finden wir auch ein rationales an ∈ Q
mit der Eigenschaft
1
|xn − an| ≤ .
n
1.4 Die reellen Zahlen
67
Wir wenden erneut die Dreiecksungleichung an und erhalten
|an − am | = |(an − xn ) + (xn − xm ) + (xm − am )|
≤ |an − xn | + |xn − xm | + |xm − am |
≤
1
1
+ε +
n
m
für alle m, n ≥ N(ε ). Nun existiert zu dem vorgelegtem ε > 0 ein M(ε ) ∈ N mit
M(ε ) ≥ N(ε )
sowie
1
1
≤ ε,
≤ε
n
m
für alle m, n ≥ M(ε ),
|an − am | ≤ 3ε
für alle m, n ≥ M(ε )
so dass wir auf
gelangen. Also ist {an }n=1,2,... eine rationale Cauchyfolge. Wir setzen nun
z := [an ]R ∈ R,
und die Dreiecksungleichung liefert wie im Beweis zu Satz 1.21
|xn − z| = |(z − an) + (an − xn )| ≤ |z − an| + |an − xn | ≤ ε +
1
≤ 2ε
n
für alle n ≥ M(ε ). Es ist also {xn }n=1,2,... konvergent mit dem Grenzwert z ∈ R.
Damit ist der Satz vollständig bewiesen. ⊓
⊔
Beispiel 1.20. Die Menge Q der rationalen Zahlen ist nicht vollständig, denn bereits
die rekursiv definierte rationale Zahlenfolge
p1 := 1,
pn+1 :=
pn
1
+
2
pn
konvergiert in Q nicht.
→
Erst die Vervollständigung der rationalen Zahlen√Q zur Menge der reellen
Zahlen R, wie wir sie vorgestellt haben, stellt mit 2 einen Grenzwert dieser
Zahlenfolge bereit:
√
lim pn = 2 .
n→∞
Nach einem Studium der folgenden Paragraphen werden Sie sicherlich einen eigenen Beweis dieser Identität vorbringen können.
68
1 Reelle und komplexe Zahlen
1.4.7 Reelle Zahlenfolgen II
Häufungsstellen von Zahlenfolgen
Im Beweis zu Satz 1.15 haben wir bereits den Begriff einer Teilfolge eingeführt.
Unser Ziel in den folgenden beiden Paragraphen ist es, aus beschränkten, aber
sonst beliebigen, insbesondere also nicht unbedingt konvergenten reellen Zahlenfolgen solche Teilfolgen auszuwählen, welche konvergieren.
Dazu dient uns die
Definition 1.30. Wir nennen ξ ∈ R eine Häufungsstelle der reellen Zahlenfolge
{xn }n=1,2,... , falls es eine konvergente Teilfolge {xnk }k=1,2,... ⊂ {xn }n=1,2,... mit der
Eigenschaft
lim xnk = ξ .
k→∞
Bemerkung 1.7. Unter den in R eingebetteten natürlichen Zahlen finden wir keine
Häufungsstellen. Hingegen ist R nichts anderes als die Menge aller Häufungsstellen
von Teilfolgen {xnk }k=1,2,... der Menge Q = {x1 , x2 , x3 , . . .} der als eine Abzählung
dargestellten rationalen Zahlen.
Der Weierstraßsche Häufungsstellensatz
Auf K. Weierstraß geht nun folgendes Resultat zurück.
Satz 1.23. Es sei {xn }n=1,2,... ⊂ R eine beschränkte reelle Zahlenfolge mit
|xn | ≤ C
für alle n ∈ N
mit einem C ∈ [0, ∞). Dann existiert eine konvergente Teilfolge {xnk }k=1,2,... von
{xn }n=1,2,... mit Grenzwert
lim xnk = x ∈ R,
k→∞
wobei außerdem |x| ≤ C richtig ist.
Beweis. Wir gehen nach Sauvigny [32], Kapitel I, Beweis von Satz 4 aus §3 vor.
1.
2.
Betrachte das abgeschlossene Intervall I0 = [−C,C]. Dann gilt nach Voraussetzung xn ∈ I0 für alle n = 1, 2, . . .
Setze a0 := −C und b0 := C und betrachte die Aufteilung von I0 in die zwei
gleich langen abgeschlossenen Teilintervalle
1
L0 := a0 , (a0 + b0) ,
2
R0 :=
1
(a0 + b0 ), b0 .
2
In wenigstens einem dieser beiden Teilintervalle befinden sich unendlich viele
Folgenelemente xn .
1.4 Die reellen Zahlen
3.
69
Ohne Einschränkung befinden sich in L0 unendlich viele Elemente xn . Setze
I1 := L0
sowie a1 := a0 , b1 :=
1
(a0 + b0 ),
2
und teile I1 in die zwei gleich langen abgeschlossenen Teilintervalle auf
1
L1 := a1 , (a1 + b1) ,
2
R1 :=
1
(a1 + b1 ), b1
2
In wenigstens einem dieser beiden Teilintervalle befinden sich unendlich viele
Folgenelemente xn .
4.
Setzen wir dieses Intervallhalbierungsverfahren nun fort, erhalten wir eine Folge {Ik }k=0,1,2,... von Teilintervallen
Ik = [ak , bk ]
der Längen bk − ak =
2C
.
2k
Nach Konstruktion gelten I0 ⊃ I1 ⊃ I2 ⊃ I3 ⊃ . . . sowie
a0 ≤ a1 ≤ a2 ≤ . . . . . . ≤ b2 ≤ b1 ≤ b0 .
5.
Die Folge {ak }k=0,1,2,... der linken Eckpunkte der Intervalle Ik ist eine Cauchyfolge, denn zu vorgegebenem ε > 0 finden wir natürliche Zahlen ℓ(ε ) ∈ N als
auch m, n ∈ N mit n ≥ m ≥ ℓ(ε ), so dass gilt
|an − am | = an − am ≤ bm − am = |bm − am | =
2C
2C
≤ ℓ(ε ) < ε .
2m
2
Nach dem Cauchyschen Konvergenzkriterium aus Satz 1.22 existiert daher eine
reelle Zahl a ∈ R mit
lim ak = a,
k→∞
und Satz 1.20 sichert
ak ≤ a ≤ bk
6.
für alle k = 0, 1, 2, . . .
Wir kommen nun zur Konstruktion der konvergenten Teilfolge {xnℓ } : Zu vorgelegtem ε > 0 wählen wir zunächst eine natürliche Zahl k(ε ) ∈ N mit
a − ε < ak(ε ) ≤ a ≤ bk(ε ) < a + ε
(beachte bk − ak ≤ 2C · 2−k → 0). Nach unserer Konstruktion der Intervalle
Ik = [ak , bk ], wonach jedes unendlich viele Elemente xn enthält, finden wir zu
diesem ε > 0 auch stets eine Zahl m(ε ) ∈ N mit
a − ε < ak(ε ) ≤ xm(ε ) ≤ bk(ε ) < a + ε .
70
1 Reelle und komplexe Zahlen
7.
Setze jetzt ε := 1ℓ , wobei ℓ die Zahlen ℓ = 1, 2, 3, . . . durchläuft. Nach dem
vorigen Beweispunkt existiert zu jedem dieser Indizies ℓ ein natürliches nℓ ∈ N
und damit eine Folge {nℓ }ℓ=1,2,... ⊂ N mit n1 < n2 < n3 < . . . , so dass
a−
1
1
≤ xn ℓ ≤ a +
ℓ
ℓ
bzw. |xnℓ − a| ≤
1
ℓ
für alle ℓ = 1, 2, . . .
Das liefert uns aber
lim xnℓ = a
ℓ→∞
mit a ∈ Ik für alle k = 0, 1, 2, . . .
Damit ist der Beweis des Satzes abgeschlossen. ⊓
⊔
Monotone Zahlenfolgen
Für sogenannte monotone Zahlenfolgen existiert ein oftmals sehr handlich anzuwendendes Konvergenzkritium.
Definition 1.31. Die reelle Zahlenfolge {xn }n=1,2,... heißt monoton wachsend (bzw.
streng monoton wachsend), wenn gilt
xn ≤ xn+1
(bzw. xn < xn+1 )
für alle n = 1, 2, . . .
Die Zahlenfolge heißt monoton fallend (bzw. streng monoton fallend), wenn gilt
xn ≥ xn+1
(bzw. xn > xn+1 )
für alle n = 1, 2, . . .
Der Weierstraßsche Häufungsstellensatz liefert uns nun den
Satz 1.24. Es sei {xn }n=1,2,... ⊂ R eine monoton wachsende und beschränkte reelle
Zahlenfolge mit den Eigenschaften
xn ≤ xn+1 und xn ≤ C
für alle n ∈ N
mit einer festen Zahl C ∈ R. Dann ist die Folge konvergent.
Beweis. Wir folgen Sauvigny [32], Kapitel I, Beweis von Satz 5, Kapitel I, §3.
1.
Beschränktheit und Monotonie sichern zunächst (die xn könnten negativ sein)
|xn | ≤ c1 := max{|x1 |,C}
für alle n = 1, 2, . . .
Der Weierstraßsche Häufungsstellensatz Satz 1.23 garantiert daher die Existenz einer konvergenten Teilfolge {xnk }k=1,2,... ⊂ {xn }n=1,2,... mit
lim xnk = x ∈ R.
k→∞
Es verbleibt damit zu zeigen, dass die gesamte Folge {xn }n=1,2,... gegen dieses
x ∈ R konvergiert.
1.4 Die reellen Zahlen
2.
71
Die Folge {xn }n=1,2,... ist monoton wachsend, so dass insbesondere gilt
xn ≤ xn k
für alle k ≥ n.
Unter Verwendung von Satz 1.20 folgt damit
xn ≤ lim xnk = x ≤ C
k→∞
3.
für alle n = 1, 2, . . .
(∗)
Auf Grund der Konvergenz der Teilfolge {xnk }k=1,2,... existiert nun zu vorgegebenem ε > 0 eine natürliche Zahl K(ε ) ∈ N mit
|xnk − x| < ε
für alle k ≥ K(ε )
bzw. nach Auflösen und wegen der Monotonie
x − ε ≤ xn k ≤ x
für alle k ≥ K(ε ).
(∗∗)
Zur Zahl K(ε ) ∈ N finden wir aber auch ein natürliches N(K(ε )) ∈ N mit
xnK(ε ) ≤ xn
für alle n ≥ N(K(ε ))
bzw. zusammen mit (∗) und (∗∗)
x − ε ≤ xnK(ε ) ≤ xn ≤ x
für alle n ≥ N(K(ε )).
Da nun ε > 0 beliebig gewählt wurde, folgt die Aussage des Satzes.
⊔
⊓
Bemerkung 1.8. Genauso beweist man, dass jede monoton fallende und nach unten
beschränkte reelle Zahlenfolge konvergent ist.
Infimum und Supremum reeller Zahlenmengen
Das Studium des Beweises des nachfolgenden Satzes, mit welchem wir die Theorie
konvergenter reeller Zahlenfolgen und die Cantorsche Mengenlehre zusammenbringen, belassen wir als Übung.
Satz 1.25. Es sei M eine nichtleere, nach oben beschränkte Menge reeller Zahlen,
d.h. es gilt
x ≤ C für alle x ∈ M
mit einem festen C ∈ C. Dann existiert ein durch M eindeutig bestimmtes σ ∈ R mit
der folgenden Eigenschaft:
→
Für alle x ∈ M gilt
x ≤ σ,
und zu jedem ε > 0 existiert ein y ∈ M mit
σ − ε ≤ y ≤ σ.
72
1 Reelle und komplexe Zahlen
Beispiel 1.21. Ist M = {1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10} ⊂ R eine Teilmenge der natürlichen
Zahlen, so ist einfach σ = 10, insbesondere also auch σ ∈ M. Für die Menge
M′ = 1 −
1
: n∈N ⊂R
n
ist σ = 1, aber es gilt σ ∈ M ′ .
Bemerkung 1.9. Analog können wir Satz 1.25 auch für nichtleere, nach unten beschränkte Mengen reeller Zahlen formulieren:
→
Es existiert ein τ ∈ R, so dass für alle x ∈ M gilt
x ≥ τ,
und zu jedem ε > 0 finden wir ein y ∈ M mit
τ ≤ y ≤ τ + ε.
Die Zahl τ ∈ R ist durch die Menge M eindeutig festgelegt. Sie muss nicht notwendig Element der Menge M sein.
Beweis von Satz 1.25.∗ Wir gehen nach Sauvigny [32], Beweis von Satz 7, Kapitel I, §3 vor.
◦
Eindeutigkeit: Angenommen, es existieren σ1 , σ2 ∈ R mit den im Satz angegebenen Eigenschaften. Wir nehmen o.B.d.A. σ1 < σ2 an. Zu jedem ε > 0 gibt es also ein y ∈ M mit
σ2 − ε ≤ y ≤ σ2 .
Setzen wir aber speziell ε := 12 (σ2 − σ1 ) > 0, so folgt
y ≥ σ2 − ε = σ2 −
◦
1
1
(σ2 − σ1 ) = (σ2 + σ1 ) > σ1 ,
2
2
was aber der Voraussetzung σ1 − ε ≤ y ≤ σ1 widerspricht. Es gibt also höchstens ein σ mit
den im Satz angegebenen Eigenschaften.
Existenz: Wir gehen in mehreren Schritten vor.
1.
Zunächst gibt es ein Element x0 ∈ M nach der Voraussetzung M = 0.
/ Setze hiermit
I0 := [x0 ,C],
und hieraus konstruieren wir wie folgt ein neues Intervall I1 : Zerlege zunächst das Intervall I0 in die zwei gleich langen Teilintervalle
1
L := x0 , (x0 +C) ,
2
R :=
1
(x0 +C),C .
2
Setze jetzt
I1 := [a1 , b1 ] = L, falls M ∩ R = 0/ ,
Dann existiert ein Punkt x1 ∈ I1 ∩ M, und es gilt
x ≤ b1
für alle x ∈ M.
I1 := R
sonst.
1.4 Die reellen Zahlen
2.
3.
73
Dieses Verfahren wenden wir nun auf I1 an und erhalten so ein neues abgeschlossenen
Intervall I2 = [a2 , b2 ] usw. Das nächst folgende Intervall In muss dabei jeweils so gewählt
werden, dass wenigstens ein Punkt y ∈ M in In enthalten ist.
Auf diese Weise erhalten wir eine Folge {Ik }k=1,2,... von Intervallen mit
Ik = [ak , bk ],
bk − ak =
C − x0
2k
(∗)
sowie
a0 ≤ a1 ≤ . . . ≤ b1 ≤ b0 ,
4.
k→∞
5.
I0 ⊃ I1 ⊂ I2 ⊃ . . .
(∗∗)
In jedem Intervall Ik liegt wenigstens ein Punkt y ∈ M, und es gilt x ≤ bk für alle x ∈ M
und k = 0, 1, 2, . . .
Die Folge
− {ak }k=0,1,2,... der linken Endpunkte der Ik ist monoton steigend und nach oben beschränkt.
− {bk }k=0,1,2,... der rechten Endpunkte der Ik ist monoton fallend und nach unten
beschränkt.
Nach Satz 1.24 und der nachfolgenden Bemerkung besitzen diese Folgen daher jeweils
einen Grenzwert
lim ak = η , lim bk = σ .
k→∞
Wir schätzen nun wie folgt ab
|η − σ | = |(η − ak ) + (ak − bk ) + (bk − σ )| ≤ |ak − η | + |ak − bk | + |bk − σ |.
Zu vorgegebenem ε > 0 finden wir daher ein K(ε ) ∈ N, so dass unter Beachtung von
(∗) die rechte Seite dieser Ungleichung kleiner als 3ε für alle k ≥ K(ε ) ausfällt, d.h.
insgesamt
|η − σ | < ε + ε + ε = 3ε
6.
richtig ist und damit η = σ .
Zu vorgegebenem ε > 0 existiert nun eine Zahl N(ε ) ∈ N mit
σ − ε ≤ ak < bk ≤ σ + ε
für alle k ≥ N(ε ),
weshalb gilt
σ −ε ≤ y ≤ σ +ε
für wenigstens einen Punkt y ∈ Ik ∩ M.
Andererseits wissen wir y ≤ bk für alle y ∈ M sowie bk → σ , und wir schließen
y≤σ
Damit ist der Satz vollständig bewiesen.
für alle y ∈ M.
⊔
⊓
Definition 1.32. Es sei M ⊂ R eine nichtleere, nach oben beschränkte Menge reeller
Zahlen. Dann heißt die Zahl σ ∈ R aus Satz 1.25 ihr Supremum, in Zeichen
σ = sup M.
Die Zahl τ ∈ R aus der Bemerkung 1.9 heißt Infimum der nichtleeren, nach unten
beschränkten Menge M, und wir schreiben
τ = inf M.
74
1 Reelle und komplexe Zahlen
Unter den Begriffen Minimum und Maximum einer Menge M wollen wir ihr Infimum bzw. ihr Supremum verstehen, falls diese auch Element der Menge M sind.
Ferner bezeichnen wir eine reelle Zahl τ ∗ ∈ R als untere Schranke einer Menge
M, falls gilt
τ ∗ ≤ x für alle x ∈ M,
und entsprechend heiße σ ∗ ∈ R eine obere Schranke von M. Dann lassen sich Infimum τ ∈ R und Supremum σ ∈ R von M (insofern existent) charakterisieren als
◦
◦
Infimum von M als ihre größte untere Schranke,
Supremum von M als ihre kleinste obere Schranke.
Limes inferior und limes superior reeller Zahlenfolgen
Mit diesem neuen Rüstzeug kommen wir auf den Begriff der Häufungsstelle aus
Definition 1.30 zurück.
Definition 1.33. Es sei {xn }n=1,2,... ⊂ R eine reelle Zahlenfolge und E ⊂ R die Menge ihrer Häufungsstellen. Dann bezeichnen wir mit
lim inf xn := inf E
n→∞
den limes inferior (unterer Grenzwert) der Folge und mit
lim sup xn := sup E
n→∞
ihren limes superior (oberer Grenzwert).
Beispiel 1.22. Für die reelle Zahlenfolge {xn }n=1,2,... ⊂ R mit den Elementen
xn = (−1)n ,
n = 1, 2, . . . ,
gelten
lim inf xn = −1,
n→∞
lim sup xn = +1.
n→∞
Für die reelle Zahlenfolge {yn }n=1,2,... ⊂ R mit yn = n, n ∈ N, sind hingegen
lim inf yn = ∞,
n→∞
lim sup yn = ∞ ,
n→∞
d.h. beide Grenzwerte sind nicht beschränkt und werden erst im erweiterten reellen
Zahlensystem
R := R ∪ {−∞} ∪ {+∞}
angenommen.
Auch den nächsten Satz lassen wir unbewiesen, wenden ihn aber wiederholt an.
1.4 Die reellen Zahlen
75
Satz 1.26. Es sei {xn }n=1,2,... ⊂ R eine reelle Zahlenfolge, und es sei
ξ := lim sup xn .
n→∞
(i)
Dann existiert eine Teilfolge {xnk }k=1,2,... ⊂ {xn }n=1,2,... mit der Eigenschaft
lim xnk = ξ .
k→∞
(ii)
Zu jedem C ∈ R mit C > ξ existiert ein N(C) ∈ N mit der Eigenschaft
xn ≤ C
für alle n ≥ N(C).
Beweis.∗ Wir gehen wie in Sauvigny [32], Kapitel I, Beweis von Satz 12, §3, vor, wo separat die
drei Fälle
ξ = −∞, ξ = +∞ und ξ ∈ R
behandelt werden. Wir werden uns allerdings nur auf den Fall ξ ∈ R konzentrieren.
(i)
Es bezeichne wieder E ⊂ R die Menge der Häufungswerte der Folge {xn }n=1,2,... . Wegen
ξ = sup E existiert eine Folge {yk }k=1,2,... ⊂ E mit
lim yk = ξ .
k→∞
Jedes Element yk dieser Folge ist aber auch Häufungswert von {xn }n=1,2,..., d.h. jedes yk
ist Grenzwert einer Teilfolge von {xn }n=1,2,... . Eine solche Teilfolge bezeichnen wir mit
(k)
{xnℓ }ℓ=1,2,... ⊂ {xn }n=1,2,... und erhalten mit dieser Schreibweise
(k)
lim xnℓ = yk .
ℓ→∞
Aus der Menge aller dieser Teilfolgen können wir also Elemente xnk derart auswählen, so
dass die Einschließungen erfüllt sind
|xnk − yk | <
1
k
für k = 1, 2, . . .
Mit diesen Elementen gehen wir zu der folgenden Abschätzung über
|xnk − ξ | = |xnk − yk + yk − ξ | ≤ |xnk − yk | + |yk − ξ | <
1
+ε
k
bzw.
lim xnk = ξ ,
k→∞
und die Behauptung (i) ist gezeigt.
(ii)
Angenommen, die Behauptung (ii) wäre falsch, d.h. es gibt ein C ∈ R mit
xn > C > ξ
für unendlich viele n ∈ N.
Dann existiert aber auch ein Häufungswert ω ∈ R der Folge {xn }n=1,2,... mit ω ≥ C im
Widerspruch zur Voraussetzung sup E < C.
Damit ist der Satz vollständig bewiesen.
⊔
⊓
76
1 Reelle und komplexe Zahlen
1.5 Die komplexen Zahlen
1.5.1 Definition der komplexen Zahlen
Die komplexen Zahlen führen wir als reelle Zahlenpaare ein, zwischen denen wir
geeignete arithmetische Operationen definieren.
Definition 1.34. Eine komplexe Zahl z ist ein Paar
z = (x, y)
reeller Zahlen x ∈ R und y ∈ R. Es heißen x der Realteil und y der Imaginärteil der
komplexen Zahl z, in Zeichen
x = Re z,
y = Im z.
Die Menge der komplexen Zahlen bezeichnen wir mit
C := {z = (x, y) : x, y ∈ R} .
Durch Definition geeigneter arithmetischer Operationen werden wir nun diesen neuen Zahlenraum C zu einen Zahlenkörper ausgestalten.
1.5.2 Arithmetische Eigenschaften der komplexen Zahlen
Rechenregeln
Definition 1.35. Die Addition und die Multiplikation zwischen zwei komplexen
Zahlen z1 = (x1 , y1 ) ∈ C und z2 = (x2 , y2 ) ∈ C sind definiert vermöge
z1 + z2 := (x1 + x2 , y1 + y2),
z1 · z2 := (x1 x2 − y1 y2 , x1 y2 + x2y1 )
für zwei komplexe Zahlen z1 = (x1 , y1 ) und z2 = (x2 , y2 ).
Hiermit gelangen wir unmittelbar zu dem
Satz 1.27. Seien z1 , z2 , z3 ∈ C drei komplexe Zahlen. Dann gelten:
◦
◦
◦
◦
◦
(z1 + z2 ) + z3 = z1 + (z2 + z3 )
z1 + z2 = z2 + z1
(z1 · z2 ) · z3 = z1 · (z2 · z3 )
z1 · z2 = z2 · z1
(z1 + z2 ) · z3 = z1 · z3 + z2 · z3
Beweis. Übungsaufgabe. ⊓
⊔
(Assoziativität bez. Addition)
(Kommutativität bez. Addition)
(Assoziativität bez. Multiplikation)
(Kommutativität bez. Multiplikation)
(Distributivität)
1.5 Die komplexen Zahlen
77
Desweiteren führen wir ohne Beweis an:
Bezüglich der Addition
◦
existiert genau ein neutrales Element 0C = (0, 0) ∈ C mit
z + 0C = z für alle z ∈ C,
◦
und zu jedem z ∈ C existiert genau ein inverses Element −z ∈ C mit
z + (−z) = 0C .
Bezüglich der Multiplikation
◦
existiert genau ein neutrales Element 1C = (1, 0) ∈ C mit
z · 1C = z für alle z ∈ C,
◦
und zu jedem z ∈ C \ {0C} existiert genau ein inverses Element z−1 ∈ C mit
z · z−1 = 1C .
Genauer lautet das inverse Element z−1 einer komplexen Zahl z = (x, y) ∈ C \ {0C }
z−1 =
→
x
x 2 + y2
,
−y
x 2 + y2
.
Die Menge der komplexen Zahlen C mit den oben erklärten Verknüpfungen
der Addition + und der Multiplikation · bildet einen Körper.
Einbettung der reellen Zahlen in die komplexen Zahlen
Hierzu müssen wir nur noch einmal aus dem Vorigen herausstellen:
◦
Eine komplexe Zahl (x, 0) ∈ C identifizieren wir mit der reellen Zahl x ∈ R.
Die komplexe Einheit i =
√
−1
Die komplexe Zahl
i := (0, 1)
bezeichnen wir als die komplexe Einheit. Auf Grund von
i2 = (0, 1) · (0, 1) = (−1, 0) = −1
werden wir schreiben
i=
√
−1 .
78
1 Reelle und komplexe Zahlen
Hiermit ermitteln wir für eine beliebige komplexe Zahl z = (x, y) die sogenannte
Eulersche Darstellung
z = (x, y) = (x, 0) + (0, y) = (x, 0) + (0, 1) · (y, 0) = x + iy.
Beispiel 1.23. Für die quadratische Gleichung
x(10 − x) = 40,
welche im reellen Zahlenbereich R nicht lösbar ist, gab G. Cardano im Jahre 1545
die folgenden komplexwertigen Lösungen an:
√
√
5 + −15 und 5 − −15 .
√
Unter Verwendung der komplexen Einheit i = −1 lauten seine Lösungen
√
√
5 + 15 i, 5 − 15 i.
An diesem Beispiel lesen wir die historische Notwendigkeit zur Einführung der
komplexen Zahlen ab: die uneingeschränkte Ausführbarkeit des Radizierens.
Beispiel 1.24. Was läuft in der nachfolgenden Rechnung“ falsch?
”
√
√
√
2
−2 = 2i = i · (2i) = −1 · −4 = (−1) · (−4) = 4 = 2.
1.5.3 Die komplexe Ebene
Komplexe Zahlen z = a + ib können in der sogenannten Gaußschen Zahlenebene
veranschaulicht werden:
Im
z = a + ib
b
a
C
−b
Re
z = a − ib
Der in dieser Skizze neben z = a + ib weitere eingezeichnete Punkt
z = a − ib
heißt die zu z konjugiert komplexe Zahl.
1.5 Die komplexen Zahlen
79
In der Gaußschen Zahlenebene werden komplexe Zahlen als zweidimensionale
Vektoren dargestellt. Es liegt daher nahe, deren Euklidische Länge als ihren Betrag
zu definieren.
→
Der Betrag |z| einer komplexen Zahl z = (x, y) ist definiert als
|z| = |(x, y)| :=
x 2 + y2 .
Wir wollen schließlich wichtige Rechenregeln für das Konjugieren einer komplexen Zahlen und für ihren Betrag notieren.
Satz 1.28. Für beliebige komplexe Zahlen z, z1 , z2 ∈ C gelten die Aussagen:
◦
◦
◦
◦
◦
◦
|z| ≥ 0, und |z| = 0 genau dann, wenn z = 0;
z · z = |z|2 ;
z = z;
z1 + z2 = z1 + z2 ;
z1 · z2 = z1 · z2 ;
|z1 · z2 | = |z1 | · |z2 |.
Beweis. Übungsaufgabe. ⊓
⊔
1.5.4 Vollständigkeit der komplexen Zahlen
Wir im Reellen, so können wir auch im Komplexen Zahlenfolgen {zn }n=1,2,... mit
zn = (xn , yn ) ⊂ C betrachten. Die Aufspaltung in Real- und Imaginärteil und vorige
Betragsdefinition erlauben die Übertragung der uns bereits bekannten Begriffe, wie
Grenzwert, Cauchyfolge usw., auf komplexwertige Folgen.
Satz 1.29. Es sei {zn }n=1,2,... ⊂ C eine Cauchyfolge. Dann existiert ein z ∈ C mit
der Eigenschaft
lim zk = z.
k→∞
Umgekehrt ist jede konvergente komplexe Zahlenfolge eine Cauchyfolge.
Das ist natürlich nichts weniger als die Vollständigkeit der komplexen Zahlen.
Auch der Weierstraßsche Häufungsstellensatz 1.23 aus dem Reellen findet seine
Übertragung in dem
Satz 1.30. Es sei {zn }n=1,2,... ⊂ C eine komplexe Zahlenfolge mit der Eigenschaft
|zn | ≤ C
für alle n = 1, 2, . . .
Dann existieren eine Teilfolge {znk }k=1,2,... ⊂ {zn }n=1,2,... und ein z ∈ C mit
lim znk = z.
k→∞
80
1 Reelle und komplexe Zahlen
1.5.5 Die Cauchy-Schwarzsche Ungleichung
Wir wollen das erste Kapitel unserer Vorlesung mit einer zentralen Ungleichung
abschließen, auf die wir wiederholt zurückgreifen werden.
Satz 1.31. Es seien u1 , . . . un ∈ C und v1 , . . . , vn ∈ C beliebige komplexe Zahlen.
Dann gilt
n
2
∑ u i vi
i=1
n
n
∑ |ui |2
≤
i=1
∑ |vi |2
·
.
i=1
Beweis. Wir gehen nach Sauvigny [32], Kapitel I, Beweis von Satz 4, §6 vor und
berechnen mit den Regeln aus den Sätzen 1.27 und 1.28
n
0≤
∑
i, j=1
|ui v j − u j vi |2 =
n
∑ (ui v j − u j vi ) · (ui v j − u j vi )
i, j=1
n
=
∑ (ui v j − u j vi ) · (ui v j − u j vi )
i, j=1
n
=
∑ (ui ui v j v j + u j u j vi vi − ui u j v j vi − u j ui vi v j )
i, j=1
n
n
= 2·
∑
i, j=1
n
= 2·
∑
i, j=1
ui ui v j v j − 2 ·
|ui |2 |v j |2 − 2 ·
∑
u i vi u j v j
i, j=1
n
∑
u i vi u j v j .
i, j=1
Die Trennung der Indizes i und j in der letzten Zeile erlaubt es uns, beide Summen
wie folgt als Produkte zu schreiben:
∑ |vi |2
i=1
i=1

= 2·

= 2·
∑ |ui |2
·
∑ |ui |2
Das zeigt die Behauptung. ⊓
⊔
∑ |vi |2
i=1
·
∑ |vi |2
i=1
n
∑ u i vi
i=1
∑ u i vi
·
i=1
n
−
−
n
∑ u i vi
·
i=1
n
n
n
i=1
−
n
n
i=1
n
n
n
∑ |ui |2
0 ≤ 2·
∑ u i vi
i=1
2

.
∑ u i vi
i=1


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