www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Einführung in die Formen sozialer Organisation Hier eine Zusammenfassung des Skripts, die so kurz aber genau wie möglich gehalten ist; habe vielfach Sätze 1:1 aus dem Skript übernommen. Ergänzungen findet ihr unter der Datei „Abbildungen“. _________________________________________________________________ ETHNOSOZIOLOGIE/SOCIAL ANTHROPOLOGY/SOZIALANTHROPOLOGIE Social Anthropology == Ethnosoziologie =/= Sozialanthropologie (eine Richtung der physischen Anthropologie, die sich mit sozialen Bedingungen physischer Unterschiede beschäftigt). Ethnosoziologie beschäftigt sich mit dem Zusammenleben der Menschen, also mit der Art und Weise in der soziale Beziehungen konstitutiert werden und wie diese in den verschiedenen Gesellschaften konzeptualisiert werden. Ethnosoziologie hat ihr Interesse auf jeweils ganz spezifische Aspekte des „Sozialen“ gelegt. Eine der grundlegenden Annahmen war die Prämisse, dass es in den nicht-industrialisierten Gesellschaften vor allem die Verwandtschaft ist, die die sozialen Beziehungen determiniert. Die Verwandtschaft ihrerseits wurde im Wesentlichen als durch das „Blut“ konstituiert aufgefasst, d.h. durch die Abstammung bzw. durch Eltern-Kind-Beziehung etabliert. Diese Eltern-Kind-Beziehung, die häufig als „Kernfamilie“ bezeichnet wurde, wiederum bildete in den Augen der meisten damaligen Ethnosoziologen die kleinste soziale Einheit (Murdock). Eine weitere Grundannahme der älteren ethnosoziologischen Forschung war die Annahme, dass ein direkter Zusammenhang zwischen den verwandtschafts-terminologischen Systemen und der Sozialstruktur besteht, dass die Analyse der jeweils verwendeten Termini praktisch einen Schlüssel zum Verständnis des Sozialsystems schafft und bei einzelnen sehr frühen Autoren, die insbesondere dem Evolutionismus nahestanden, die Analyse der verwandtschafts-terminologischen Systeme auch Rückschlüsse auf die früheren Stufen der Menschheitsentwicklung liefern könnte (z.B. Morgan). Bis gegen Ende der 60iger Jahre lag der Schwerpunkt auf der Beschäftigung mit der Verwandtschaft und der Analyse der Verwandtschaftstermini und verwandtschaftsterminologischer Systeme. Dann wurden die Untersuchungen verwandtschaftlicher Beziehungen zu einem Teilaspekt, wo die Schwerpunkte zum Beispiel Geschlechterbeziehungen, die Person und gesellschaftliche Machtbeziehungen waren. Der Fokus von sozialen Einheiten wechselte zu Individuen der Gesellschaft. 1 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Pandoff und Parrin: Ethnosoziologie ist ein Zweig der Ethnologie, der ein vergleichendes Studium über das soziale Leben verschiedener Gesellschaften anstrebt. Ziel ist es, allgemeine Gesetzte für ALLE Gesellschaften aufzustellen und Handlungen der Gesellschaft zu begreifen. Hirschberg: „Ethnosoziologie, sozialwissenschaftlich orientierte Arbeitsrichtung der deutschen Ethnologie.“ Im Zentrum der Ethnosoziologie stand bzw. steht die Beachtung der Zusammenhänge zwischen den einzelnen Lebensbereichen. Gesellschaften und ihre Kulturen werden hier als ein integrierendes Ganzes betrachtet. Neben eine Betonung sozialer Phänomene (z.B. Herrschaft, Verwandtschaft) befasst sich die Ethnosoziologie auch mit der Untersuchung wirtschaftlicher, religiöser und rechtlicher Phänomene und ihrer sozialen Implikationen und Voraussetzungen. Der Begriff „Ethnosoziologie“ wurde zuerst von R. Thurnwald gebraucht. Hirschberg meinte, dass bei Thurnwald die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Lebensbereichen, stationäre Feldforschung, Auffassung von Gesellschaften und deren Kulturen im Vordergrund standen. Hier liegen auch viele Parallelen zwischen Thurnwald und den britischen Funktionalisten (Malinowski, Radcliffe-Brown). Die Funktionalisten betrachten soziokulturelle Erscheinungen unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktion, d.h. der Aufgaben oder Leistungen, die sie im Rahmen der übergeordneten Ganzheit soziokultureller Systeme erfüllen. Thurnwald bezog aber auch historische Überlegungen und allgemein soziologische und psychologische Fragestellungen in seine Arbeit mit ein. Kritik Vorstellung, dass die Verwandtschaft primär auf den Blutsbanden basiert (hier insbesondere durch die neuen Reproduktionstechniken), Annahme dass die „Kernfamilie“ eine universelle Verbreitung hätte und essentielle Aufgaben in der Gesellschaft „als Keimzelle“ der Gesellschaft besitzt etc. Viele dieser ehemals die ethnosoziologische Forschung dominierenden Themen wurden in den letzten Jahren, insbesondere im Zusammenhang mit dem sogenannten „Dekonstruktivismus“ für obsolet erklärt und ihnen ein „euro-amerikanischer“ und/oder ein „male“ Bias unterstellt. Die gegenwärtige Ethnosoziologie beschäftigt sich mit Verwandtschaft, Deszendenz, Heirat, Verwandtschaftssysteme, Verwandtschaftstermini, Familie und Haushalt, Sozialisation des Individuums, Rechtsvorstellungen diverse andere Formen der Sozialorganisation (z.B. Altersklassen, Kasten etc,.), diverse Formen politischer Organisation (z.B. Horde, Stamm, Häuptlingstum, Big Men, Staat). Als besondere neuere Schwerpunkte kommen GenderBeziehungen, ethnische Beziehungen, Nation Building, Fragen der sozialen Reproduktion, Individuum und Gesellschaft, Identität der Person und der Gesellschaft, soziales Status, Staat und Gesellschaft etc. dazu. 2 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 GRUNDLEGENDE BEGRIFFE UND „HILFSMITTEL“ Bedeutung der Abkürzungssymbole und Diagramme: Verwandtschaftsdiagramme und Notationssymbole spielen in der Social Anthropology, insbesondere in den Kinship Studies, eine wesentliche Rolle, zumal durch sie die oft recht komplizierten Verwandtschaftsbeziehungen verständlicher und klarer dargestellt werden können. Zeichnen von Verwandtschaftsdiagrammen und Verwendung von Abkürzungssystemen (Notationssystemen): Damit diese Diagramme und Abkürzungssymbole von allen Ethnologen und Ethnologinnen in unmissverständlicher Weise verwendet werden können, ist ein möglichst einheitliches System notwendig. Nur so lassen sich Daten vergleichen und daraus dann allgemeine Schlussfolgerungen ziehen. Als Grundeinheit und damit Ausgangspunkt verwandtschaftlicher Beziehungen wurde von vielen Ethnologen (z.B. George Peter Murdock) ursprünglich die Eltern-Kind/KinderBeziehung betrachtet, die häufig mit der „Kernfamilie“ (nuclear family) bestehend aus einem Vater, einer Mutter, ein oder mehreren Kindern, gleichgesetzt wurde. „Kernfamilie“ siehe unter ‚Wichtige Abbildungen‘ Innerhalb der Kernfamilie gibt es die Heiratsbeziehung zwischen einem Mann und einer Frau die Beziehungen zwischen Eltern und ihrem Kind/ihren Kindern (oft alt Filiation bezeichnet) und die Beziehungen zwischen Geschwistern. Daraus ergeben sich acht grundlegende Typen der Verwandtschaft: Vater (father), Mutter (mother), Ehemann (husband), Ehefrau (wife), Bruder (brother), Schwester (sister), Sohn (son) und Tochter (daughter), welche die grundlegenden genealogischen Beziehungen repräsentieren. (Schusky) Mit Hilfe dieser acht primary kin types lassen sich somit auch komplexe Verwandtschaftsbeziehungen, d.h. über die Kernfamilie bzw. die Eltern-Kind-Beziehung hinausreichende Verwandtschaftsbeziehungen darstellen. Die Bezugnahme auf die primary kin types ist aus mehreren Gründen essentiell: 1) Zum einen können damit, wie oben bereits festgestellt wurde, die genauen genealogischen Positionen bezeichnet und damit komplexere Verwandtschaftsbeziehungen eindeutig und klar wiedergegeben werden. 2) Zum anderen können, in Gesellschaften, in den dies bedeutsam ist, Unterschiede in der sozio-ökonomischen oder politischen Relevanz bestimmter Verwandtschaftsbeziehungen gegenüber anderen ausgedrückt werden. 3) Schließlich liefern uns die acht primary kin terms auch eine Art Schlüssel bzw. Hilfsmittel bei der Übersetzung der Termini, die wir in anderen terminologischen Systemen finden. 3 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 In einzelnen Gesellschaften ist eine präzise Darstellung der Verwandtschaftsbeziehungen und eventuell vorliegender Differenzierungen von Verwandten von erheblicher Bedeutung, da damit unterschiedliche Rechte und Pflichten und ein unterschiedliches soziales Verhalten verbunden sein kann. So wird in vielen Gesellschaften z.B. der Vater-Bruder als ein grundlegend anderer Verwandter als der Mutter-Bruder betrachtet. Eine Person kann bezüglich des Besitzes und der gesellschaftlichen Position von seinem Mutter-Bruder abhängig sein (z.B. in matrilinearen Gesellschaften), während der Vater-Bruder für ihn keine Rolle spielt. In unserem Verwandtschaftssystem, welches ein bilaterales Verwandtschaftssystem ist, werden beide Männer hingegen als zu einer gleichen Kategorie gehörend betrachtet und es wird keine terminologische Unterscheidung zwischen beiden vorgenommen. Beide werden als „Onkeln“ bezeichnet. (Schusky) Zusammenfassend ergibt sich daher: Um Konfusionen zu vermeiden und den jeweiligen Differenzierungsmustern der Verwandtschafts- und Statusbeziehungen zu entsprechen und ein umfassendes Verständnis fremder Systeme zu erlangen, ist daher eine exakte Differenzierung der Verwandtschaftsbeziehungen notwendig. Am besten lässt sich diese erforderliche Exaktheit dadurch darstellen, dass ausgehend von einem Bezugspunkt Ego, dessen verwandtschaftliche Beziehungen dargelegt werden, wobei die oben genannten primären Typen als Bezugsrahmen verwendet werden. Gleichzeitig vermeiden wir auf diese Weise die Heranziehung unserer eigenen Verwandtschaftstermini zur Übersetzung von Verwandtschafts-beziehungen aus anderen Gesellschaften. Abkürzungen im Deutschen Vater Va Mutter Mu Bruder Br Schwester Sw Sohn So Tochter To Ehemann Ma Ehefrau Fr Kreuz-Vetter KV Kreuz-Base KP Parallel-Vetter PV Parallel-Base PB älter als ä jünger als j Abkürzungen im Englischen Father Fa F Mother Mo M Brother Br B Sister Si Z oder S Son So S oder s Daughter Da Husband Hu Wife Wi Male Cross-Cousin CC Female Cross-Cousin Cc Male Parallel Cousin PC Female Parallel Cousin Pc elder e younger y male m female f Sibling Sb Nephew Ne Niece Ni 4 www.ksa-nadine.jimdo.com Kind 2012/2013 Parent Child Spouse In-Law Grandfather Grandmother Grandparent Ki Pa Ch Sp La Gf Gm Gp C E Beispiele: Vater-Bruder-Tochter-Sohn: VaBrToSo; FaBrDaSo; FBDS Mutter-Bruder-Sohn-Sohn: MuBrSoSo; MoBrSoSo; MBSS Br (e) Terminus für älteren Bruder Si (y) Terminus für jüngere Schwester Es gibt es Fälle, wo ein männliches Ego seinen Mutter-Bruder anders benennt als dies Ego´s Schwester tun würde. Dieses Problem der Terminologie wird dadurch gelöst, dass man vor den Verwandtschaftsterminus ein m (= male speaker = männlicher Sprecher) bzw. f (female speaker = weiblicher Sprecher) stellt. (Schusky) Beispiele: mMoBr Terminus, den ein männlicher Sprecher für seinen MuBr verwenden würde fMoBr Terminus, den eine weibliche Sprecherin für ihren MuBr verwenden würde Weitere Beispiele: mFBs (e): männlicher Sprecher, Vater-Bruder-Sohn, älter als Ego fMSs (e): weiblicher Sprecher, Mutter-Schwester-Sohn, älter als Ego mMBds (e): männlicher Sprecher Mutter-Bruder-Tochter-Sohn, älter als Ego fMBsds (y): weiblicher Sprecher, Mutter-Bruder-Sohn-Tochter-Sohn, jünger als Ego mFBs (y): männlicher Sprecher, Vater-Bruder-Sohn, jünger als Ego Das Zeichnen von Verwandtschaftsdiagrammen (kinship diagramme): Durch die Verwendung von Abkürzungssymbolen ist die Darstellung verwandtschaftlicher Beziehungen zwar erleichtert viel besser als verbale Beschreibungen eignen sich jedoch Diagramme. Sie ermöglichen nicht nur eine exakte Darstellung der Verwandtschaftsbeziehungen auf einen Blick, sondern sind auch sonst ein unentbehrliche Hilfsmittel bei der Analyse (z.B. Erstellung von Genealogien, Erhebung der Verwandtschaftstermini). „Diagrammsymbole“ siehe unter ‚Wichtige Abbildungen‘ Faktoren, die bei der Diagramm-Darstellung zu beachten sind: Auch bei der diagrammhaften Darstellung verwandtschaftlicher Beziehungen (d.h. den Verwandtschaftsdiagrammen) sind nun einige Faktoren zu beachten. Dazu gehört vor allem die Differenzierung nach dem Geschlecht, nach der Generationszugehörigkeit und die 5 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Unterscheidung von Bluts- und Affinalverwandten. (Schusky) Als Prinzip für das Zeichnen von Verwandtschafts-Diagrammen gilt, dass alle Personen, die zu ein und derselben Generation gehören, in einer Horizontalen stehen müssen. Um dies stets richtig durchzuführen, wählt man einen Fixpunkt aus, der im Diagramm als Ego bezeichnet wird. (Schmitz) Keesing: Ego= „The person from whose point of view one is looking at kinship relations“. Graphisch wird der Bezugspunkt Ego meist durch das Ausfüllen des jeweiligen Ego-Symbols gekennzeichnet. Ego ist über seine/ihre Eltern und seine/ ihre Kinder mit einer Reihe anderer Personen verbunden. Gleichermaßen bewirkt die Heirat Ego´s auch eine Ausdehnung seiner verwandtschaftlichen Beziehungen auf die Verwandten seiner Ehefrau/ihres Ehemannes. „Ego’s Blut- und Affinalverwandte“ siehe unter ‚Wichtige Abbildungen‘ Darstellung der kollateralen Verwandten Ego´s: Üblicherweise werden die Cross-Cousins in einem Diagramm am äußersten linken bzw. rechten Rand von Ego lokalisiert. Damit wird die Gruppierung der Parallel-Cousins mit den Geschwistern betont. Darstellung des Generationsunterschieds: Der unterschiedlichen Generationszugehörigkeit der Verwandten Ego´s wird u.a. dadurch Rechnung getragen, dass die Generation in der sich der Bezugspunkt Ego befindet, als Ego-Generation bezeichnet wird. Während die über Ego liegenden Generationen (z.B. Generation der Eltern, Großeltern) als aufsteigende Generationen und die unter Ego liegenden Generationen (z.B. Kinder, Enkelkinder) als absteigende Generationen bezeichnet werden. Bezüglich der Generationen wird oftmals auch eine numerische Bezeichnung vorgenommen, wobei es hier zwei Hauptformen gibt: Ego-Generation = 0, Ego’s-Eltern-Generation = +1, Ego’s-Kinder-Generation = -1 oder EgoGeneration als 1. Alle aufsteigenden Generationen werden mit römischen Zifferen und alle absteigenden Generationen mit arabischen Ziffern bezeichnet. Ego steht im Mittelpunkt eines Netzes von Verwandtschaftsbeziehungen. Will man die Vielzahl von Verwandtschaften, die diesem Netz von Beziehungen angehören, ordnen, so kann man drei unterschiedliche Gliederungen vornehmen: 1) Nach der Art der Verwandtschaftsbeziehung: Differenzierung in Bluts- und Affinalverwandte 2) Nach dem Grad der Verwandtschaft: Gliederung in Verwandte ersten, zweiten etc. Grades 3) Nach dem Generationsabstand: Gliederung in Aszendenten (Vorfahren) und Deszendenten (Nachfahren bzw. Nachkommen), z.B. erste aufsteigende, zweite aufsteigende, erste absteigende Generation etc. Neben den genannten Gliederungsmöglichkeiten gibt es noch eine Reihe andere (z.B. Differenzierung in lineare/kollaterale; Parallel und Kreuzverwandte), die insbesondere bei 6 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 der Analyse der Verwandtschaftstermini eine Rolle spielen. Davon sind v.a. die Blutsverwandten betroffen. 1) Differenzierung in lineare und kollaterale Verwandte „Darstellung der linearen und kollateralen Verwandten“ siehe unter ‚Wichtige Abbildungen‘ Definition von linearen Verwandtschaftsbeziehungen: „Lineare Verwandte sind die Eltern und deren Eltern in der Potenzkette, also die Vorfahren, und ebenso die Nachkommen.“ (Hirschberg) Definition von kollateralen Beziehungen: „Kollaterale Verwandte sind die Geschwister der Vorfahren und deren Abkömmlinge“. (Hirschberg) 2) Differenzierung in Parallel- und Kreuz- Verwandte Ein weiterer Differenzierungsaspekt, der insbesondere bei den theoretischen Konzeptionen rund um die Heiratsbeziehungen und die verwandtschafts-terminologischen Systeme eine große Rolle spielt, ist der der Differenzierung in gleichgeschlechtliche und andersgeschlechtliche Verwandte, d.h. in Parallel- und Kreuzverwandte. „Darstellung der Parallel- und Kreuzverwandten“ siehe unter ‚Wichtige Abbildungen‘ Definition von Parallel- und Kreuzverwandten: „In kinship, a parallel relative is any relative (e.g. a parallel uncle or aunt) whose relationship is traced through a same-sex sibling link; the contrast is with cross.“ (Barnard/Spencer) „Any relative whose relationship is traced through an opposite-sex sibling link, e.g. a crosscousin. Contrast parallel relative.“ (Barnard/Spencer) 3) Differenzierung in matri- und patrilateral Schließlich wird noch eine weitere Differenzierung vorgenommen. Ego ist, wie bereits mehrfach betont wurde durch seine Eltern mit einer Reihe von Personen, den Verwandten von Ego´s Vater ( = patrilaterale Verwandte) und von Ego´s Mutter (matrilaterale Verwandte), verbunden. „Darstellung der patri-lateralen und matri-lateralen Verwandten“ und „Kindred“ siehe unter ‚Wichtige Abbildungen‘ Dieses Netzwerk von patrilateralen und matrilateralen Verwandtschaftsbeziehungen wird in der KSA als Kindred bezeichnet. Definition von Kindred: „The culturally-recognized category to which an individual may trace kin relationship. It is by definition, egocentric and bilateral. In other words, each individual has his or her own kindred, and this kindred includes relatives on both the mother's and the father's sides.“ (Barnard/Spencer) 7 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Definition von Patrilateral: bezeichnet einen Verwandten auf der Seite des Vaters (Hirschberg) bzw. spezifischer: „On the father´s side“. Refers to those kin who are related to Ego through Ego´s father.“ (Seymour-Smith) Definition von Matrilateral: bezeichnet einen Verwandten auf der Seite der Mutter. (Hirschberg) bzw. spefizischer „On the mother´s side“. Refers to those relatives who are linked to Ego through Ego´s mother.“ (Seymour-Smith) Definition von patri-linear: „In kinship, through the father´s line. The term implies the recognition of a category of descent inherited by both males and females but transmitted to offspring only by males.“ (Barnard/Spencer) Definition von matri- linear: „In kinship, through the mother´s line. The term implies a recognition of a category of descent inherited by both females and males but transmitted to offspring only by females.“ (Barnard/Spencer) „Unterschied zwischen patri-lateral und patri-linear bzw. matri-lateral und matrilinear“ siehe unter ‚Wichtige Abbildungen‘ Unterscheidung patri-linear und patri-lateral bzw. matri-linear und matri-lateral: Beide dürfen nicht verwechselt werden. Im Gegensatz zu matri- bzw. patrilinear bezieht sich patrilateral bzw. matrilateral lediglich auf das jeweilige verwandtschaftliche Bindeglied (Alter, siehe oben) über das Ego mit anderen Personen verwandt ist. Patri-laterale Verwandtschaft impliziert somit die Verbindung Ego´s über seinen/ihren Vater zur Gruppe der Verwandten auf der väterlichen Seite. Bei der matri-lateralen Verwandtschaft ist hingegen Ego´s Mutter das Bindeglied zwischen Ego und der Verwandtschaftsgruppe seiner Mutter ist. (ENDE SKRIPT TEIL 1) FORMEN DER SOZIALEN ORGANISATION: Die beiden Begriffe „Sozialstruktur“ und „Sozialorganisation“ wurden in der Literatur oft als Synonym verwendet. Dennoch gibt es zwischen den beiden Begriffe feine Unterschiede und unterschiedliche Implikationen. Je nach dem theoretischen Ansatz der einzelnen Autoren wird jeweils entweder der Begriff Sozialstruktur oder der Begriff Sozialorganisation bevorzugt. Autoren, die sich mit der sozialen Aktion befassen, tendieren dazu sich auf die soziale Organisation zu beziehen, die die Rollen definiert, die die Individuen in den Beziehungen zu einander spielen. Autoren, die sich mehr auf die formalen Beziehungen zwischen den Leuten konzentrieren, tendieren dazu sich auf die Sozialstruktur zu konzentrieren, die die Statuse jener Akteure definiert, die diese Rollen spielen. 8 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Soziale Gruppen und Gruppenbildung Jede Gesellschaft oder Sozialstruktur besteht laut Keesing aus einer Reihe von Gruppierungen bzw. Arrangements von Leuten. Soziale Gruppen können auf sehr unterschiedliche Weise konstituiert werden. Auf der Grundlage bestimmter sozial relevanter Merkmale, die Personen miteinander verbindet (z.B. gemeinsame Abstammung von einem Ahnen X, Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe oder einer bestimmten Altersgruppe, Residenz an einem bestimmten Ort), können Individuen konzeptuell zu Gruppen zusammengefasst werden. Laut Schmitz kann man die sozialen Gruppen nach folgenden Gesichtspunkten gliedern: 1. Die personelle Zusammensetzung Dieser Gesichtspunkt sucht nach den Ordnungsprinzipien, aufgrund derer sich der Mitgliederbestand der Gruppe zusammensetzt. Diese Prinzipien können verwandtschaftlicher, politischer, religiöser, beruflicher, ethnischer, linguistischer Art, etc. sein. 2. Die Organisation innerhalb der Gruppe Anhand der Art der Beziehungen zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern lassen sich drei Formen unterscheiden: reziproke, gleichberechtigte und einseitige Beziehungen. 3. Die Wohnordnung (Residenz) Unterscheidung ob die Gruppe als Ganzes zusammenwohnt (z.B. in einem Dorf), ob sie teilweise zusammenwohnt oder ob die Mitglieder der Gruppe völlig verstreut wohnen, so dass die Gruppenexistenz im Siedlungsschema nicht zu erkennen ist. 4. Die Integration der Gruppe Unter Integration der Gruppe versteht man die mehr oder weniger starke Verflechtung der einzelnen Mitglieder einer Gruppe mit anderen Gruppen. 5. Die Funktionen der Gruppe Gruppen, die sehr viele Funktionen an sich ziehen, nennt man funktionsstark, Gruppen, die nur wenige Funktionen erfüllen, werden als funktionsschwach bezeichnet. Bezüglich der Gruppen ist noch folgender Unterschied zu beachten: Gruppen, die ständig Funktionen erfüllen (z.B. die Familie); Gruppen, die nur vorübergehend Funktionen erfüllen (z.B. Gruppen die zur Ernte, zur Jagd, für Kultfeste etc. gebildet werden) und Gruppen, die absolut keine Funktionen zu erfüllen haben (sie können höchstens über ein gemeinsames Gruppenbewusstsein zusammengehalten werden und meist verschwinden solche Gruppen nach relativ kurzer Zeit). 6. Die Grade des Gruppenbewusstseins Eine Gruppe ohne Gruppenbewusstsein ist letztlich keine Gruppe mehr. Das Gruppenbewusstsein kann die Existenz einer Gruppe verlängern, auch wenn diese längst aufgehört hat Funktionen im Gesellschaftsganzen zu erfüllen. Verwandtschaftsbeziehungen als wesentlicher Aspekt der Bildung sozialer Gruppen Die Verwandtschaftsbeziehungen (engl. Kinship ties) stellen ein wesentliches Element der 9 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Formierung sozialer Gruppen dar. Auf der Grundlage der Verwandtschaftsbeziehungen lassen sich unterschiedliche Formen verwandtschaftlicher Gruppen (engl. kin groups) bilden. 1) Gruppenbildung auf der Basis blutsverwandtschaftlicher Beziehungen Wer als Blutsverwandter gilt, wird jeweils von der betreffenden Gesellschaft festgelegt. Kritik: * Es gibt eine Reihe von Gesellschaften, wo andere Faktoren als das Blut wesentlich sind um „Gemeinsamkeit“ zu schaffen. * Es gibt ganz unterschiedliche Konzepte über die Zeugung von Menschen. * Die Eltern-Kind-Beziehungen muss nicht notwendigerweise auf der biologischen Elternschaft basieren. Kindred als eine Ego-zentrierte soziale Gruppe Bezogen auf die „Blutsverwandten“ ist jedes Individuum (Ego) durch seine Eltern sowohl mit den Verwandten seines/ihres Vaters (den patri-lateralen Verwandten) wie auch den Verwandten seiner/ihrer Mutter (den matri-lateralen Verwandten) verbunden. Das heißt jedes Individuum verfügt über bilaterale Verwandtschaftsbeziehungen (= Beziehungen zu beiden Seiten). Ein solches Netzwerk an bilateralen Verwandtschaftsbeziehungen wird in der Ethnologie als Kindred bezeichnet. 2) Abstammung (Deszendenz) als wesentliche Kategorie der Gruppenbildung Diese soziale Kategorie bezieht sich nun nicht mehr auf eine lebende Person (Ego) wie in der Kindred, sondern auf einen Vorfahren (Ancestor). Dadurch, dass nun die Abstammung (Deszendenz) als ein wesentliches Kriterium der Gruppenzugehörigkeit eingeführt wurde, konnte das Netzwerk der Kindred, welches keine dauerhaften korporativen Einheiten ermöglicht und sehr umfangreich ist, besser eingegrenzt werden und klar definierte soziale Einheiten geschaffen werden. Auf der Basis bestimmter Abstammungsregeln (descent rules) wurde/wird festlegt, wer Mitglied in einer bestimmten sozialen Kategorie ist und wer nicht. Unterschied zwischen Verwandtschaft und Deszendenz * EGO als Bezugspunkt * Ahnherr, bzw. Ahnfrau als Bezugspunkt * In allen Kulturen von Bedeutung * Kommt nur in einigen Kulturen vor * Status ist relativ * Status ist absolut Deszendenzregeln Ganz allgemein und vereinfacht können zwei Hauptarten von Deszendenzregeln und damit auch zwei Hauptarten der Bildung von Deszendenzgruppen unterschieden werden. 1. unilineare Deszendenzregeln Bei der unilinearen Deszendenzregel wird aus dem Spektrum von Ego´s Verwandten jeweils nur eine Linie für die Berechnung von Ego´s Abstammung als relevant angesehen. 2. cognatische (bilateral oder nicht-unilinear) Deszendenzregeln Bei der cognatischen Deszendenzegel hingegen nutzt Ego sowohl die männlichen wie auch 10 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 die weiblichen Verbindungen um seine Abstammung abzuleiten. UNILINEARE DESZENDENZ a) Patrilineare Deszendenz Die patrilineare Deszendenz, bisweilen auch agnatische Deszendenz genannt, ist eine Form der unilinealen Deszendenz, die nur über Männer abgeleitet wird. Patrilinearität kommt vor allem in pastoralen Gesellschaften mit einer männlich dominierten Arbeitsteilung und beträchtlicher Mobilität sowie in zahlreichen Gartenbau und Ackerbau treibenden Gesellschaften vor. Trotz der Vielfalt patrilinearer Deszendenzformen und der mit ihnen verbundenen unterschiedlichen Auswirkungen auf die soziale Organisation lassen sich doch einige allgemeine Grundzüge erkennen: Patrilinearität ist häufig mit der Formierung ganz spezifischer korporativen Deszendenzgruppen (Patrilineages und Patriklans) verbunden, desweiterem mit einem besonderen Geschlechterverhältnis (d.h. Mann-Frau-Beziehungen) sowie einer besonderen Residenzform (der Patrilokalität). b) Matrilineare Deszendenz Die matrilineare Abstammung, die bisweilen auch als uterine Deszendenz bezeichnet wurde, ist eine Form der unilinealen Deszendenz, die nur über Frauen abgeleitet wird. Insgesamt ist die Matrilinearität wesentlich seltener anzutreffen als die Patrilinearität oder die Bilateralität. Matrilinearität kommt primär in Ackerbau treibenden Gesellschaften vor, wo die Frauen einen Großteil der landwirtschaftlichen Aktivitäten durchführen. Besonderheiten, die in Gesellschaften mit matrilinearer Deszendenz anzutreffen sind: * die gleichmäßigere Bedeutung von Frauen und Männern in der Gesellschaft * die besondere Stellung des Mutter-Bruders * die Autoritäts- und Rollenkonflikte der Männern in ihrer Funktion als Vater und als Mutter-Brüder * die größere Flexibilität der sozialen Beziehungen. * besondere interne Organisation c) Double Descent/Doppelte Deszendenz Bei der Doppelten Deszendenz handelt es sich um Systeme, die sowohl patri-linear wie auch matri-linear organisiert sind. Double Descent kommt insgesamt nur in sehr wenigen Gesellschaften vor. In einem Double Descent System gehört Ego sowohl zur patrilinearen Gruppe seines Vaters, wie auch zur matrilinearen Gruppe seiner Mutter. Diese beiden Deszendenzgruppen sind aber immer unterschiedliche Arten von Gruppen, die in verschiedenen Kontexten wichtig sind. d) Parallel Descent Die parallele Deszendenz ist eine Form der unilinealen Deszendenz, bei welcher Frauen ihre 11 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Deszendenz nur durch Frauen, Männer ihre Deszendenz nur durch Männer ableiten. Insgesamt kommt Parallel Descent sehr selten vor. Lineage: Abstammungsgruppen, die auf der Basis der unilinearen Abstammung gebildet werden, werden als Lineages (Linien) bezeichnet. Die Mitglieder der Lineage führen ihre Abstammung entweder auf einen gemeinsamen Ahnherren (bei patrilinearer Deszendenz) bzw. auf eine gemeinsame Ahnfrau (bei matrilinearer Deszendenz) zurück. Hauptunterschied zwischen Klan und Lineage ist der, dass im Fall der Lineage, „...die einzelnen Mitglieder einer Lineage ihre Deszendenz von einem Vorfahren nachweisen können, während die eines Klans dies nicht können. Die Klanmitglieder haben zwar eine Vorstellung von gemeinsamer Abstammung, sind aber in Wirklichkeit nicht imstande, diese im Einzelnen zurückzuverfolgen und nachzuweisen.“ e) Hälften- und Sektionen-Organisation Abschließend ist noch auf eine weitere Besonderheit unilinearer Deszendenzgruppen einzugehen. In einzelnen Gesellschaften wird auch eine Gliederung in Hälften (Moieties) und Sektionen (sections) vorgenommen. Gliederung der Gesellschaft in Moities: Eine Gliederung der Gesellschaft in Moieties liegt dann vor, wenn die gesamte Gesellschaft auf der Basis einer unilinearen Deszendenzregel (entweder patrilinearer oder matrilinearer Deszendenz) in zwei Hälften (Moieties) gegliedert ist. Im Allgemeinen sind die Moieties exogam, d.h. ein Individuum muss seinen Partner immer aus der anderen Hälfte suchen. Z.B. ein Mitglied der Moiety A muß seinen Partner aus der Moiety B suchen und vice versa. Hälftenorganisation gibt es z.B. bei einzelnen nord- und südamerikanischen Gruppen sowie bei den australischen Aborigines. Sektionensysteme: Die Sektionen-Systeme, z.B. Vier-Sektionen, Acht-Sektionen, SechzehnSektionen Systeme, die auch als Klassen-Systeme (z.B. Vier-Klassen-System) bezeichnet werden, stellen im Wesentlichen eine Erweiterung der Moiety-Organisation dar. Sie kommen vor allem bei den Aborigines in Australien vor. Anzumerken ist, dass in der Ethnologie hier oftmals keine einheitliche Meinung darüber herrscht, ob diese Sektionensysteme einfache unilineare Systeme sind oder als Double Descent Systeme zu betrachten sind. KOGNATISCHE DESZENDENZ Im Unterschied zu den oben dargelegten unilinearen Systemen, wo jeweils nur eine Linie bedeutsam ist, sind im Fall der cognatischen Deszendenz beide Linien wesentlich. Im Rahmen der kognatischen Deszendenz-Ideologie kann eine Person sowohl zur Gruppe des Vaters, als auch zur Gruppe der Mutter gehören. Andererseits gehören der Theorie nach auch alle Nachkommen eines Ahnherrn bzw. einer Ahnfrau zur Deszendenzgruppe. In der Praxis kann man jedoch nicht alle damit verbundenen Rechte und Pflichten wahrnehmen, daher hat ein Ego Entscheidungen darüber zu treffen, welchen Gruppen es de-facto 12 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 anzugehören wünscht. Dies hat unter den Anthropologen für Verwirrung gesorgt, wie die Anzahl der Ausdrücke zeigt, mit denen man solche kognatischen Deszendenzgruppen belegte. In den späten 50iger und frühen 60iger, als sich die Ethnologen mit diesen cognatischen Deszendenzsystemen zu beschäftigen begannen, entwickelte sich eine umfangreiche Debatte über die Frage, wie diese Systeme funktionieren und wie sie klassifiziert werden sollten. Bilaterale Deszendenz/Cognatische Deszendenz Laut Harris stellt die bilaterale Deszendenz die häufigste Form der Anwendung der cognatischen Deszendenzregel dar. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch, dass auch die bilateraler Verwandtschaft (Kindred) als ein organisatorisches Prinzip zur Schaffung von dauerhaften Gruppen dienen kann. Ambilinearer Deszendenz Im Unterschied zur bilateralen Deszendenz, die gleichmäßig und symmetrisch über die maternalen und paternalen Linien erfolgt, nimmt Ego bei der ambilinearen Deszendenz eine Auswahl jener Vorfahren vor auf die er/sie sich zurückführen möchte. (ENDE SKRIPT TEIL 2) DARSTELLUNG DER RESIDENZFORMEN Wie aus den Darlegungen zur Deszendenz schon ersichtlich wurde, gibt es in zahlreichen Gesellschaften auch genaue Regeln, die festlegen, wo die einzelnen Individuen leben sollen. Solche Regeln werden in der Ethnosoziologie als Residenzregeln (Wohnfolgeordnung) bezeichnet. (Vivelo) Die Residenzregeln (Wohnfolgeordnungen) sind somit die Normen, die festsetzen, wo Menschen leben sollen. Sie sind jener Teil des konzeptuellen Systems einer Kultur, der mit dem angemessenen Wohnverhalten zu tun hat: wer soll wo und mit wem leben. Die statistische Zusammenfassung dessen, was die Leute tatsächlich tun, d. h. wo und mit wem sie tatsächlich leben, wird als Residenzmuster bezeichnet. (Vivelo) Anzumerken ist, dass sich die tatsächlichen Residenzmuster von den Residenzregeln unterscheiden können, z.B. durch Migration etc. Wie die Analyse der Heiratsbeziehungen und der Deszendenzbeziehungen, so ist auch die Untersuchung der Residenzregeln und der Residenzmuster ein wesentlicher Bestandteil der anthropologischen Untersuchung von Verwandtschaftssystemen. (Schusky) In Anbetracht der großen Fülle unterschiedlicher Arten und Kombinationsmöglichkeiten der Residenzregelung ist es in der Ethnosoziologie bislang nicht gelungen ein einheitliches Klassifikationsschema der Residenzregeln zu erstellen. Im Vordergrund der ethnologischen Betrachtung der Residenzregeln stehen meist die mit 13 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 der Heirat zusammenhängenden Residenzregeln. In den meisten vorindustriellen Gesellschaften lebt ein jung vermähltes Paar nicht isoliert, sondern verbringt zumindest die ersten Jahre in einem größeren Familienverband (z.B. in der paternalen extended family). In zahlreichen Gesellschaften gibt es daher genaue Regelungen, die festlegen, wo ein Individuum nach seiner Heirat leben soll. Definition von Wohnfolgeordnung bzw. postnuptiale Residenzregel: „Residence Rules: Conventions for residence by a couple after marriage, defining whether they reside with husband´s kin ,wife´s kin, or other.“ (Keesing) Hauptformen der Residenzordnung (Bargatzky): Name der Regel Virilokalität Wohnort des Ehepaars bei Verwandten des Ehemannes Uxorilokalität bei Verwandten der Ehefrau Patrilokalität am Wohnort des Vaters (eines der beiden Ehepartner) Matrilokalität am Wohnort der Mutter (eines der beiden Ehepartner) Neolokalität Neuer Haushalt – weder bei Verwandten des Ehemanns, noch bei den Verwandten der Ehefrau vorwiegend bei Verwandten des Ehemannes bzw. vorwiegend bei Verwandten der Ehefrau Ambilokalität Avunkulokalität bei Onkel (mütterlicherseits) des Ehemannes Anzumerken ist in Zusammenhang mit den in der Abbildung genannten Residenzformen, dass einzelne der oben angeführten Begriffe zweideutig sind, z.B. patrilokal, matrilokal, virilokal etc. Keine einheitliche Verwendung diverser Termini: Einzelne Begriffe, wie z.B. virilokal und uxorilokal werden von einzelnen Autoren ganz unterschiedlich verwendet. Ein Hauptgrund für das Abweichen der tatsächlichen Residenzmuster von der Residenzregel scheinen ökonomische Gründe zu sein. Es gibt somit in jeder Gesellschaft immer wieder Personen bzw. Paare, die aus ökonomischen oder auch anderen Gründen, ein anderes Residenzmuster aufweisen als es die Residenzregel implizieren würde. D.h. es gibt immer einen gewissen Prozentsatz abweichender Residenzformen. AFFINALVERWANDTE und HEIRATSBEZIEHUNGEN Affinalität (Verschwägerung): Affinalität bezeichnet Beziehungen, die zwischen Personen über irgendwelche Formen der Heirat hergestellt werden. Affinalverwandte: „In kinship studies, an affine is a person related to Ego 14 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 by a marriage link“. (Seymour-Smith)/„Affines, then, are people married to our consanguines.“ (Fox) Ehe bzw. Heirat: „Marriage: A socially recognized bond between two persons of opposite sex, with culturally variable implications, including economic cooperation, the transfer or sharing of property rights, sanctioned sexual intimacy, and the legitimation of children resulting from the union.“ (Winthrop) Obwohl der Heirat eine ganz wesentliche Bedeutung bei der Etablierung sozio-politischer und ökonomischer Beziehung zukommt und die Analyse der Heiratsbeziehungen zu den bedeutendsten Bereichen der ethnosoziologischen Forschung gehört, es insbesondere in diesem Bereich sehr schwierig ist eine universell anwendbare Definition von Heirat und Ehe zu entwickeln bzw. allgemeingültige Aussagen über die Funktion der Ehe und die Beziehungen zwischen den Ehepartnern zu machen. Dies hängt u.a. damit zusammen, dass es eine große Variabilität an unterschiedlichen, oft recht außergewöhnlichen Heiratsarrangement gibt und der Ehe bzw. Heirat im cross-cultural Vergleich sehr unterschiedliche Funktionen zukommen. (Seymour-Smith) Dennoch hat es in der Ethnosoziologie immer wieder Versuche gegeben eine minimale Definition der Begriffe Heirat und Ehe zu entwickeln. Ausgangspunkt dafür war und ist die Annahme einiger universell verbreiteter Schlüsselfunktionen der Heirat, wie z.B. dass durch die Heirat eine Kontrolle über oder ein Recht über die sexuellen Aktivitäten etabliert wird und die Legitimation von Kindern bzw. das Recht über die Kinder konstituiert wird. Sehr häufig wurde die Heirat auch entsprechend dem euro-amerikanischen Bias der Ethnologen (z.B. Murdock) als recht einflussreich für die Konzeptualisierung anderer sozialer Beziehungen angesehen. Bedeutung der Heiratsbeziehungen: Wie aus den obigen Darlegungen rund um die Definition des Begriffs Heirat schon ersichtlich ist, erfüllt die Heirat eine ganze Reihe von Funktionen. Sie dient einerseits der Legitimierung sexueller Beziehungen zwischen Mann und Frau und der Legitimierung der Nachkommenschaft. (Gough) Desweiteren dient die Heirat der Übertragung von Anrechten an der Sexualität, Reproduktivkraft und Arbeitskraft der Frauen. (Goodenough) Eine weitere wichtige Funktion der Heiratsbeziehung ist die soziale Gruppen miteinander zu verbinden. Im Gegensatz zu den westlichen Industriestaaten, wo es sich bei der Heiratsbeziehungen meist um eine private individuelle Beziehung zwischen den beiden Ehepartnern handelt, sind die Relationen in den von Ethnologen untersuchten Gesellschaften meist nicht privater Natur. Vielmehr erfüllt die Heirat hier die Funktion Beziehungen zwischen sozialen Gruppen zu etablieren bzw. zu erneuern. Die Funktion der Heirat besteht auch darin Allianzen zu formen und neue verwandtschaftliche Bande zu knüpfen oder zu festigen bzw. zu erneuern 15 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Insbesondere im Rahmen der „Allianztheorie“ (z.B. bei Lévi-Strauss) wurde dieser Aspekt der Verwandtschaft besonders betont und die Bedeutung der Heirat als Mittel zur Konstituierung von Verwandtschaft in den Vordergrund gerückt. Zusammenfassend ergibt sich, dass den Heiratsbeziehungen eine Fülle unterschiedlicher Funktionen zukommt, wie z.B. Legitimierung der Nachkommenschaft, Recht auf Sexualität und Reproduktivkraft der Frau, Kontrolle der weiblichen Sexualität, Schaffung von Allianzen etc. Heiratsformen, Heiratsregeln und Gütertrasnaktionen rund um die Verheiratung a) Heiratregeln Wie bei der Abstammung, so gibt es auch bezüglich der Etablierung affinaler Beziehungen oft Regeln, die festlegen wer geheiratet werden kann und wer nicht geheiratet werden kann. Im Allgemeinen wird in der Ethnologie zwischen präskriptiven und präferentiellen Heiratsregeln bzw. Heiratsordnungen unterschieden. Lévi-Strauss spricht in diesem Zusammenhang auch von positiven (legt genau fest wer geheiratet werden muss) und negativen Regeln (legt fest, wer nicht geheiratet werden kann). b) Präferentielle Heiratsordnung Unter einer präferentiellen Heiratsordnung versteht man eine Heiratsregelung, bei der die Regeln angeben, welche Kategorie oder Kategorien von Personen ein Individuum heiraten soll, d.h. welchen der Vorzug gegeben wird. Auch beim Levirat und Sororat, die in manchen Gesellschaften vorkommt, handelt es sich meist nur um eine präferentielle Heiratsregelung. c) Präskriptive Heiratsregeln Bei einem präskriptiven Heiratssystem bestimmen die Regeln, wen ein Individuum heiraten muss. d) Agamie Liegen keine Heiratsregeln vor, die festlegen würden wie geheiratet werden muss bzw. soll (z.B. endogam oder exogam), so spricht man von Agamie. e) Isogamie Unter Isogamie versteht man eine Heiratsbeziehung zwischen zwei Personen, die denselben Sozialstatus haben oder derselben Schicht oder Kaste in einer stratifizierten Gesellschaft angehören. f) Anisogamie Unter Anisogamie versteht man eine Heiratsbeziehung zwischen Personen unterschiedlichen sozialen Statuses bzw. unterschiedlicher Schichtzugehörigkeit. Die Anisogamie kann dabei zwei verschiedene Formen annehmen: * Hypergamie: Hier hat der Bräutigam einen höheren sozialen Status * Hypogamie: hier hat die Braut einen höheren sozialen Status. 16 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 g) Hypergamie Bei der Hypergamie handelt es sich, wie oben schon erwähnt wurde, um eine Heiratsform bei der eine Frau einen Mann höheren Statuses heiraten soll oder muss. Die Frau heiratet hier sozusagen "hinauf." h) Hypogamie Im Gegensatz zur Hypergamie, wo der Ehemann einer höheren Schicht als die Ehefrau angehört, handelt es sich bei der Hypogamie um eine Heiratsbeziehung, wo die Frau einer höheren Schicht bzw. Statusgruppe als der Ehemann angehört. (Vivelo) Hier heiratet die Frau sozusagen "nach unten" bzw. umgekehrt aus der Sicht eines Mannes niedriger Statuszugehörigkeit erfolgt bei der Hypogamie nun eine Hinaufheirat des Mannes in die statushöhere Gruppe seiner Frau. i) Endogamie und Exogamie Eine der wichtigsten Differenzierungen der Heiratsbeziehungen, die insbesondere auch in der ethnosoziologischen Theoriebildung eine große Bedeutung erlangt hat, ist die zwischen endogamen und exogamen Heiraten. Exogamie Die Exogamie wird bisweilen auch als "out-marriage" bezeichnet. Definition: "a requirement for marriage outside a particular social group or range of kinship or category". Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Inzesttabu zu. In fast allen Gesellschaften ist infolge des Inzesttabus die Heirat mit engen Blutsverwandten verboten. Endogamie Die Endogamie wird bisweilen auch als "in-marriage" bezeichnet. Die Endogamie ist gleichsam die umgekehrte Heiratspraxis. Hier muss die Frau innerhalb der eigenen Gruppe, sozialen Einheit oder Kategorie gesucht werden. Zu den bekanntesten und umfassendsten beschriebenen Formen endogamer Heiraten gehören die verschiedenen Formen der „Cousin Marriage“. Man unterscheidet zwei Formen: 1) Cross- Cousin-Marriage: Kreuzkusinen-Heirat: d.h. Ego heiratet seine VaSwTo oder seine MuBrTo; bzw. ego heiratet ihren VaSwSo bzw. MuBrSo. 2) Parallel-Cousin-Marriage: Parallelkusinen-Heirat: d.h. Ego heiratet seine VaBrTo bzw. MuSwTo und ego heiratet ihren VaBrSo bzw. MuSwSo. j) Heiratsformen Eine bedeutsame Unterscheidung ist die zwischen monogamen und polygamen Heiraten bzw. zwischen Monogamie und Polygamie. - Monogamie (oder Einfachheirat) Bei der Monogamie handelt es sich um eine Eheform bei der ein Mann bzw. eine Frau jeweils nur mit einem Partner zur gleichen Zeit verheiratet sein darf. Der Ausdruck „zur selben Zeit“ ist hier hinzugesetzt um diese Form der Heirat von der „seriellen Monogamie“ zu differenzieren. 17 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 - Polygamie Bei der Polygamie handelt es sich um die Eheform bei der eine Person mit zwei oder mehreren Partnern zur selben Zeit verheiratet ist. Es liegen hier somit Mehrfachheiraten eines Individuums vor. Die Gründe für diese Heiratsarrangements können sehr vielfältiger Natur sein, z.B. demographisch, politisch etc. Bei den polygamen Heiraten bzw. bei den Mehrfachheiraten können wiederum zwei verschiedene Formen unterschieden werden. * Polygynie: Heirat eines Mannes mit mehreren Frauen (non-sorale Polygynie, sorale Polygynie, occasional Polygynie) * Polyandrie: Heirat einer Frau mit mehreren Männern (non-fraternale/non-adelphische Polyandrie, fratale/adelphische Polyandrie) Insgesamt ist die Polygynie die verbreiteste Heiratsform überhaupt. - Levirat und Sororat Levirat und Sororat kommen in zahlreichen Gesellschaften als präferentielle oder präskriptive Sekundärheiraten vor. Levirat Ganz allgemein kann unter Levirat jene Heiratsform verstanden werden, bei der ein Mann verpflichtet ist oder das Recht hat die Witwe seines verstorbenen Bruders oder eines anderen nahen Verwandten zu heiraten bzw. eine verwitwete Frau dazu verpflichtet ist, sich vorzugsweise mit dem Bruder ihres verstorbenen Ehemanns, bisweilen auch mit einen anderen nahen Verwandten desselben wiederzuverheiraten. Sororat Ganz allgemein handelt es sich beim Sororat um eine Heiratsform bei der ein Witwer verpflichtet ist die Schwester oder eine andere nahe Verwandte der verstorbenen Frau zu heiraten bzw. wo ein Witwer ein Anrecht auf die Schwester oder eine andere nahe Verwandte seiner verstorbenen Frau hat. Letztere fungiert hier als Substitut für die Verstorbene. - Diverse andere Heiratsformen Frauen-Heirat (Woman-Woman-Marriage) Es gibt auch Gesellschaften, wo die Heirat zwischen Leuten des gleichen Geschlechts vorkommt, wie z.B. bei den Nuern. Ghost Marriage Dabei scheint es zwei Formen zu geben: Einerseits, dass eine Frau einen "toten Mann" heiratet, der dann zum genealogischen Pater ihrer Kinder wird. In einem anderen Fall der „Ghost Marriage“ geht eine Witwe anstelle ihres toten Ehemann, wenn dieser keinen Erben hat, eine Heirat ein bzw. eine Schwester für ihren verstorbenen Bruder, wenn dieser kein Nachkommenschaft hat. Die Kinder werden dann der Lineage des Toten zugerechnet. Raubheirat 18 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Bei der Raubheirat handelt es sich um eine Heirat bei welcher der Bräutigam oder seine Verwandtschaftsgruppe die Braut gewaltsam von ihrer Familie nehmen. Gruppenheirat Unter Gruppenheirat versteht man jene Eheform, bei der eine Gruppe von Männern kollektiv mit einer Gruppe von Frauen verheiratet ist. Tauschheirat „Tauschheirat: Eine Heiratsordnung, die durch ein zwischen zwei Männern geschlossenes Übereinkommen gekennzeichnet ist, nach welchem diese entweder ihre Schwestern tauschen, um diese zu ihren gegenseitigen Ehefrauen zu machen, oder ihre Töchter austauschen, um diese ihren Söhnen, ihren Brüdern oder sich selbst als Ehefrauen zuzuteilen.“ „Sororale Polygynie, fraternale Polyandrie, Levirat und Sororat“ siehe unter ‚Wichtige Abbildungen‘ Gütertransaktionen bei der Heirat: Brautpreis/Bridewealth, Mitgift, Brideservice Heiratsbeziehungen können auf sehr unterschiedliche Weise zustande kommen. Sehr häufig inkludiert die Etablierung von Heiratsbeziehungen eine Reihe von Gütertransaktionen (sogenannten Marriage payments). Diese finden sich vor allem in Gesellschaften, wo kein Austausch von Frauen (z.B. Schwestern oder Töchtern) zwischen sozialen Gruppen stattfindet. In der KSA sind diese Gütertransaktionen zwischen den beiden Gruppen meist unter dem Aspekt des Tausches bzw. der Gabe und Gegengabe abgehandelt worden. D.h. Frau gegen Frau bzw. Frau gegen Rinder oder andere Güter. Insbesondere in der Allianztheorie wird dieser Aspekt besonders betont. Die Heirat wird hier nicht nur als eine Gelegenheit verstanden neue soziale Bande zu knüpfen, sondern auch als eine Institution gesehen, die eng verbunden ist mit einer Reihe von Prestationen, größerer und kleinerer Wichtigkeit, die sowohl symbolisch wie materiell sein können. Der Begriff „Prestation“ wurde von Mauss in die Ethnologie eingeführt und bezieht sich auf ein „totales soziales Phänomen“, das durch das Geben von Geschenken und die Reziprozität (d.h. Gabe und Gegengabe) konstitutiert wird. Diese Prestationen sind nicht nur wesentlich für das Zustandekommen der Beziehung, sondern schaffen auch ein langandauerndes Band zwischen den beiden Gruppen, die Parteien dieses Austausches sind. Grundsätzlich lassen sich zwei Hauptformen der Marriage Payments, d.h. der Heiratszahlungen, unterscheiden: Bridewealth und Dowry. Man kann somit unterscheiden zwischen Gesellschaften, die „Bridewealth“ praktizieren 19 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 (dieser schließt Prestationen in Naturalien oder Gütern, die die Familie des Bräutigams an die Familie der Braut übergeben muss, ein) und solchen Gesellschaften, die „Dowry“ praktizieren (hier wird eine Sammlung von Gütern und Dienstleistungen seitens der Familie der Braut der Familie des zukünftigen Bräutigams angeboten. Daneben gibt es Gesellschaften, die das sogenannten „Bride-Service“ praktizieren, d.h. Gesellschaften wo der Bräutigam seine Arbeitskraft der Gruppe der Braut zur Verfügung stellen muss. Allgemeine Bedeutung des Gütertransfers bei der Heirat Die Struktur der Heirats-Prestations kann wichtige politische, ökonomische und rituelle Konsequenzen für die Gesellschaft als Ganzes haben und es hat mehrere Versuche gegeben einen großen Vergleich anzustellen. Für Jack Goody rührt die Wahl zwischen bridewealth and dowry von einer allgemeineren Opposition zwischen Gesellschaften, die unilineare Verwandtschaftsysteme haben und die Abstammung betonen, gegenüber Gesellschaften, die bilaterale Systeme haben und die Allianz hoch einschätzen. Bridewealth, Brautpreis Der Begriff „Bridewealth“ wurde geprägt um den kaufmännischen Beigeschmack des traditionellen Ausdruckes bride price zu vermeiden. Unter dem Begriff Brautpreis wird die Gesamtheit jener Waren, Wertgegenstände oder Geldzahlungen verstanden, die vom Bräutigam oder seiner Verwandtschaftsgruppe an die Braut bzw. die Verwandtschaftsgruppe der Braut übergeben werden. (vgl. Panoff/Perrin, Barnard/Spencer sowie Keesing) Die Höhe und Zusammensetzung des Brautpreises sind durch den Brauch festgelegt und hängt gewöhnlich vom sozialen Status der beiden vertragschließenden Parteien ab, wobei die bezahlte Summe häufig umso höher ist, je reicher oder mächtiger der Bräutigam ist. Die Zahlung eines Brautpreises ist vor allem unter Viehzüchtern verbreitet. Gründe für den Brautpreis: Als Gründe für den Brautpreis werden in der ethnosoziologischen Literatur eine Reihe von Aspekten angeführt. * U.a. sei der Brautpreis als eine Einrichtung zu verstehen, mit der in feierlicher Weise ein Ehevertrag besiegelt werden soll. * Der Brautpreis soll die Stabilität der Verbindung garantieren. * Der Brautpreis stellt eine Versicherung dar, dass die Frau von ihren Affinalverwandten gut behandelt wird. * Der Brautpreis stellt eine Entschädigung der Brautfamilie dar, die eine Arbeitskraft verloren hat. * Brautpreis dient der Legitimierung der Kinder dieser Ehe als Mitglieder der Lineage des Bräutigams. * Brautpreis ist eine Zahlung um Transfer von Rechten über die Sexualität, die Arbeit, die Dienstleistungen einer Frau, sowie ihre Fruchtbarkeit auszugleichen. * Der Brautpreis ist eine umgekehrte Mitgift. 20 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Am häufigsten wird der Brautpreis in der Ethnologie als eine Art Kompensation für den Verlust einer Arbeitskraft und als Ausdruck der Übertragung von Rechten von einer Gruppe (d.h. der Gruppe der Frau) auf eine andere Gruppe (d.h. die Gruppe des Ehemannes) interpretiert. Mitgift, Dowry „Mitgift: die Gesamtheit der Güter, die mit einer gewissen Feierlichkeit anlässlich einer Hochzeit von den Eltern oder der Gruppe der Frau dem Mann oder der Frau selbst übergeben werden.“ (Panoff/Perrin) Über die Funktion der Mitgift herrscht in der KSA ebenfalls keine einheitliche Meinung. Einige Ethnologen setzten die Mitgift mit Besitz gleich, der von der Gruppe der Frau an die Gruppe des Mannes gegeben wird. Die meisten Ethnologen betrachten die Mitgift jedoch als eine Art vorweggenommener Erbschaft (anticipated inheritance). D.h. dass die Frau anlässlich ihrer Verheiratung ihren Anteil am elterlichen Erbe (Eigentum oder Reichtum) erhält. Brideservice, Brautdienst und Dienstheirat Im Deutschen gibt es eine ganze Reihe von Bezeichnungen für diese Einrichtung, z.B. Brautdienst, Dienstheirat, Halbheirat. Der Begriff „Brautdienst“ bzw. Dienstheirat besagt, dass hier der Bräutigam eine bestimmte Zeit (die oft bis zur Geburt eines Kindes dauert) bei der Gruppe der Braut lebt, für sie arbeitet, und ihr Nahrung, Gaben usw. gibt. Der Brauch der Dienstehe inkludiert oft eine Periode der uxorilokalen Residenz des Paares. Nach Ende der Brautdienstperiode zieht das Paar dann zum Ehemann. Die Dauer des Brautdienstes kann unterschiedlich lang sein und ist meist Gegenstand der Verhandlungen zwischen den beiden Gruppen. In manchen Gesellschaften kann es sich aber auch um eine permanente Verpflichtung der Gruppe der Brautnehmer gegenüber der Gruppe der Brautgeber handeln. Der Brautdienst findet sich vor allem bei Jäger- und Sammler-Gruppen sowie bei Gartenbau treibenden Gesellschaften. Es ist u.a. für verschiedene Gruppen im Amazonas-Gebiet sowie für die Hupa- und Yurok-Indianer Kaliforniens belegt. Anzumerken ist in Zusammenhang mit dem Brautpreis und der Mitgift, dass es auch eine Reihe von Gesellschaften gibt, wo keine derartigen Gütertransfers stattfinden, sondern anlässlich der Heirat lediglich Geschenke ausgetauscht werden. Des Weiteren gibt es auch Gesellschaften, wo anstelle der Brautpreisübergabe ein Austausch von Frauen stattfindet, z.B .von Schwestern. Aspekte unter denen die Heiratsbeziehungen in der Ethnosoziologie untersucht wurden: Wie eingangs schon angedeutet wurde, kam der Untersuchung der Heiratsbeziehungen und ihrer Relevanz für das sozio-ökonomische und politische Gefüge der Gesellschaft in der 21 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Ethnosoziologie eine große Bedeutung zu. Insbesondere drei Fragestellungen bestimmten die Beschäftigung rund um die Heirat: 1) Die Entwicklung der verschiedenen Heiratsformen 2) Das Inzesttabu 3) Die Heirat als Tauschbeziehung, die Allianzen schafft 1) Die Entwicklung der verschiedenen Heiratsformen Zu den Schwerpunkten der frühen ethnosoziologischen Beschäftigung mit dem Bereich Ehe und Heirat, die stark geprägt war vom Evolutionismus, gehörte die Analyse der verschiedenen Heiratsformen (z.B. Gruppenheirat) und die Entwicklung derselben, sowie die Inzestproblematik und verschiedene rechtliche Aspekte. 2) Das Inzesttabu „Incest: Sexual relationship between prohibited categories of kin.“ (Seymour-Smith) Anzumerken ist in Zusammenhang mit dem Inzest, dass alle menschlichen Gesellschaften und, wie neuere Forschungen zeigen, auch mehrere Primatengesellschaften, den Inzest verbieten, wobei jedoch die Definition dessen was als inzestuöse Beziehungen angesehen wird, von Gesellschaft zu Gesellschaft sehr stark variieren kann. Alle bekannten Gesellschaften verbieten den Geschlechtsverkehr zwischen Personen, die als nahe Blutsverwandte klassifiziert sind, somit zwischen dem Vater und der Tochter sowie zwischen der Mutter und dem Sohn und fast überall auch zwischen Bruder und Schwester verboten. Es besteht in jeder Gesellschaft eine Norm, die den Inzest verbietet. Die Sanktionen gegen die Verletzung des Inzesttabus sind dabei jedoch nicht überall gleich streng. Die Heirat zwischen nahen Verwandten ist allerdings überall immer strikt verboten. Unterschied zwischen Inzesttabu und Exogamie: Das Inzesttabu ist in der Ethnologie häufig in Zusammenhang mit der Exogamie abgehandelt worden. Unter Exogamie versteht man eine Heiratsregel, die festlegt, dass außerhalb bestimmter, jeweils unterschiedlich definierter Gruppen, geheiratet werden muss. Die Exogamie wurde dabei entweder als Folge des Inzesttabus oder umgekehrt die Aufstellung des Inzesttabus als Resultat der exogamen Heiratsregel bzw. als Verstärkung derselben angesehen. Dynastischer Inzest: Zu verweisen ist in Zusammenhang mit dem Inzest auch darauf, dass bestimmte Gesellschaften inzestuöse Verbindungen zwischen den Mitgliedern bestimmter sozialer Schichten, Korporationen oder Bruderschaften tolerieren bzw. diesen sogar vorschrieben, obschon sie den Inzest streng verbieten. Es handelt sich dabei meist um Beziehungen innerhalb von königlichen oder aristokratischen Familien. Die bekanntesten Beispiele sind die Heiraten zwischen Bruder und Schwester bei den Ptolemäern des alten Ägyptens, beim früheren Adel von Hawaii und beim Königshaus der Inka, sowie das von der AzandeGesellschaft dem Adel zugestandene Recht die eigenen Töchter zu heiraten. Diese Form des Inzest wird als dynastischer Inzest bezeichnet. 22 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Untersuchung von Inzest in der Ethnosoziologie: Der Inzest und seine Vermeidung (d.h. das Inzesttabu) haben innerhalb der Ethnologie zu umfangreiche Untersuchungen und Erklärungsansätzen geführt. Bislang konnte laut Seymour-Smith dafür allerdings keine befriedigende Erklärung gefunden werden. Biologische Gründe: Vielfach wurde und wird das Inzesttabu in Zusammenhang mit den negativen Auswirkungen des „In-Breeding“ (der Inzucht) erklärt, das in umfassender Weise über einen längeren Zeitraum betrieben zu schweren körperlichen und geistigen Schäden der Nachkommenschaft führen kann und damit die Überlebensmöglichkeiten einer Population stark verringern würden. Dieser Erklärungsansatz ist laut Eriksen jedoch unbefriedigend. Damit wird nicht erklärt, was die Leute, die sich der möglichen negativen Auswirkungen des Inzests auf das genetische Material meist nicht bewusst sind, dazu veranlasst, den Inzest abzulehnen. Psychologische Gründe: Auch eine Reihe von psychologischen Gründen wurde in Zusammenhang mit dem Inzest bzw. mit der Vermeidung des Inzest in der Literatur abgehandelt. In seinem Buch „Totem und Tabu“ argumentierte Sigmund Freud, dass es eine universelle menschliche Tendenz zu inzestuösen Beziehungen gäbe. Das Inzesttabu resultiert laut Freud aus den Schuldgefühlen des Mannes, der seinen Vater tötet um einen sexuellen Zugang zur Mutter zu erlangen. Verallgemeinert gesagt, resultiert die Notwendigkeit den Inzest zu verbieten aus der Tatsache, dass die Menschen von Natur aus, zum Inzest tendieren, der jedoch um die zerstörerischen Auswirkungen desselben zu verhindern, vermieden werden muss. Im Gegensatz dazu wies Westermarck, darauf hin, dass dem Menschen keine Neigung zum Inzest inhärent sei, sondern dass vielmehr eine natürliche Aversion gegen sexuelle Beziehungen mit Personen bestünde mit denen man aufgewachsen ist bzw. mit denen man von Kindheit an in Kontakt stand. Anzumerken ist in Zusammenhang mit Westermarck´s These, dass er damit zwar nicht das Inzesttabu erklären konnte, dafür aber seine Einsicht, dass es eine sozio-psychologisch begründete Aversion gegen den Inzest gäbe, stimulierend auf die Untersuchung der Geschlechterbeziehungen gewirkt hat. Soziologische Gründe: Tylor verband das Inzesttabu mit der Notwendigkeit der primitiven Gesellschaften „to marry out or be killed out“. Er verwies in diesem Zusammenhang u.a. auf die sozialen und ökonomischen Vorteile, die die Schaffung von Allianzen mit sich bringen würde. L.White argumentierte, dass die affinalen Beziehungen als Allianzen betrachtet werden können, die der Sicherung der Existenz dienen. Die so verbundenen Gruppen verpflichten sich zu gegenseitigem Beistand. Er leitete daraus ab, dass jene Verbindung zuerst als inzestiös bezeichnet wird, welche der jeweiligen Gruppe die geringsten Vorteile einbringt. 23 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Claude Lévi-Strauss weist darauf hin, dass es einen engen Zusammenhang zwischen dem Inzestverbot und der Exogamie gibt, u.a. unterstreicht er, dass das Inzestverbot gleichzeitig ein natürliches Phänomen ist (weil es universell ist) und ein kulturelles Phänomen ist (weil es eine „Regel“ ist und eine Vielzahl unterschiedlicher Formen aufweist). Die Etablierung des Inzesttabus ist damit für Lévi-Strauss ein wesentliches Merkmal des Übergangs von Natur zu Kultur und somit ein Hauptunterschiedungsmerkmal zwischen Mensch und Tier. Erst das Verbot des Inzests schafft die Bedingungen für die menschliche Kultur indem sich die Natur nun selbst überwindet. Avoidance and Joking Relationship als Konsequenzen des Inzestverbots Anzumerken ist, dass auch einige Verhaltensweisen, wie z.B. das Vermeiden des Blickkontakts mit bestimmten Verwandten, das Verbot den Namen bestimmter Verwandter zu nennen in Zusammenhang mit dem Inzesttabu gesehen werden können. Jedoch wäre es unzulängliche die verschiedenen in der Literatur angeführten Formen des Meidungsbeziehungen (Avoidance) bzw. der Scherzbeziehung (Joking Relationship) ausschließlich vor dem Hintergrund der Inzestvermeidung zu beurteilen. Meidungsbeziehungen (Avoidance) sind solche, die durch formale Regeln gelenkt werden welche die Interaktion zwischen bestimmten Kategorien von Verwandten einschränken oder sogar vollständige Meidung zwischen ihnen fordern. Zum Beispiel zeigt sich aus dem interkulturellen Vergleich, dass eine Meidungsbeziehung zwischen einem Mann und seiner Schwiegermutter nicht selten ist. In gewissen australischen Gesellschaften darf ein Mann z.B. mit seiner Schwiegermutter nicht sprechen oder sogar nicht einmal ihren Namen aussprechen. Scherzbeziehungen sind das genaue Gegenteil davon. Sie gestatten Scherze, Necken, freien Zugang zu persönlichen Eigentum und möglicherweise auch sexuelle Freiheiten zwischen bestimmten Verwandtenkategorien. Eine solche Beziehung gibt es häufig zwischen der Frau und dem jüngeren Bruder eines Mannes (vor allem in solchen Fällen, wo das Levirat praktiziert wird). 3) Die Heirat als Tauschbeziehung, die Allianzen schafft Ein dritter wesentlicher Ansatz, der bis heute die ethnologische Untersuchung der Heiratsbeziehungen geprägt hat, ist die sogenannte Allianztheorie. Im Gegensatz zur Deszendenztheorie, die insbesondere in den 30iger bis 50iger Jahren des 20.Jahrhunderts zum Schlüsselkonzept der Kinship Studies avancierte, und davon ausging, dass die Ideologie der gemeinsamen Abstammung die Leute miteinander verbindet und die Heiratsbeziehungen jeweils nur ein Ausdruck der jeweiligen Deszendenzideologie sind, postulierten die Allianztheoriker, dass es nicht die Deszendenzideologie ist, welche die Beziehungen zwischen den Individuen und den Gruppen konstituiert, sondern dass es vielmehr die Heiratsbeziehungen sind durch welche die Verbindung zwischen Personen und Gruppen etabliert wird. So betrachtete z.B. Lévi-Strauss, einer der wichtigsten Allianztheoretiker, nicht die gemeinsame Abstammung, sondern die Entwicklung der Allianzen zwischen Gruppen, die durch den Austausch von Frauen zustande kommen. 24 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Der Terminus „Allianz“ so wie er in der Anthropologie verwendet wird, bezieht sich auf jene sozialen Beziehungen, die durch die Marriage (Heirat) geschaffen werden. Das Wort ist aus dem französischen abgeleitet, wo es verwendet werden kann um die Heirat zu beschreiben oder die Tatsache „of being in an ,in-law‘ relation.“ Bei diesen Heiratsallianzen kommt den Heiratsregeln eine wesentliche Bedeutung zu. Nur durch vorgegebene Heiratsregeln kann es nämlich eine dauerhafte, d.h. über mehrere Generationen währende Allianzbeziehung zwischen Gruppen geben. Die Allianztheoretiker interessieren sich dabei vor allem für die Austauschbeziehungen. Die Heiratsbeziehungen selbst werden primär vom Blickpunkt der Allianz, die durch die Heirat geschaffen wird, untersucht. Grundannahmen der Allianztheoriker Ausgangspunkt für die Allianztheoretiker war, wie eingangs schon angeführt wurde, die Annahme, dass nicht die Ideologie der gemeinsamen Abstammung die Leute miteinander verbindet, sondern dass es die Heiratsbeziehungen sind, die diese Verbindung zwischen den Leuten konstituieren. Die Heirat wird hier zu einem Strukturprinzip der Verwandtschaft. Die Allianztheorie selbst war stark vom Strukturalismus beeinflusst. Insbesondere zwei Aspekte spielten in diesem eine große Rolle: Zum einen die Betonung des Austausches und der Reziprozität, die vor allem auf Mauss´ s Konzept der Gabe und Gegengabe zurückgeht, und andererseits das Prinzip der binären Opposition. Der Ansatz von Lévi-Strauss: Claude Lévi-Strauss gehört, wie eingangs schon erwähnt wurde, zu den bedeutendsten Vertretern der Allianztheorie. Gleichzeitig war er auch der Begründer des anthropologischen Strukturalismus. Er beschäftigt sich mit der Analyse der Verwandtschaftsbeziehungen, insbesondere in Gesellschaften, in denen die Verwandtschaft das gesellschaftliche Strukturprinzip darstellte . Zu den Kernthesen Lévi-Strauss´s gehörte die Auffassung, dass Tausch und Reziprozität das soziale Verhalten bestimmten und somit die soziale Interaktion im Wesentlichen auf dem reziproken Austausch basiert. Als eine der grundlegendsten Austauschbeziehungen betrachtete er die Heirat, die er als Austausch von Frauen zwischen zwei Gruppen konzeptualisierte, der über einen längeren Zeitraum und in größerem Stil betrieben Allianzen zwischen diesen Tauschparteien erzeugt. Gesellschaft entsteht für Lévi-Strauss dann „when a man gives his sister away to another man, thereby creating ties of affinity.“ (Eriksen) Daraus ergeben sich vier fundamentale Verwandtschaftsbeziehungen: * Bruder/Schwester * Ehemann/Ehefrau * Vater/Sohn * Mutter-Bruder/Schwester-Sohn Diese vier fundamentalen Verwandtschaftsbeziehungen bezeichnet Levi-Strauss als Verwandtschaftsatom. 25 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 „Verwandtschaftsatom: Von Lévi-Strauss eingeführter Ausdruck, um die elementarste Verwandtschaftsstruktur, die es nur geben und die man sich vorstellen kann, zu bezeichnen. Sie besteht aus vier Elementen (Bruder, Schwester, Vater, Sohn), untereinander verbunden durch zwei ,korrelative Gegensatzpaare‘. Jegliche Verwandtschaftsstruktur umfasst notwendigerweise drei Typen familiärer Beziehungen: eine Kollateralitäts- eine Allianz- und eine Filiations-Beziehung, d.h. eine Beziehung zwischen Geschwistern, eine Beziehung zwischen Gatte und Gattin und eine Beziehung Elternteil- Kind.“ Innerhalb des Verwandtschaftsatoms kommt laut Lévi-Strauss dem Mutter-Bruder eine essentielle Bedeutung zu. Er ist jener Verwandte, der die Schwester (oder eine andere Frau aus der eigenen Gruppe) in eine andere Gruppe zur Heirat gibt. Für Lévi-Strauss stellte das Verwandtschaftsatom die Basis aller übrigen Verwandtschaftsbeziehungen dar und repräsentierte damit auch das kleinste Element der Allianztheorie. (Seymour-Smith) Ausgehend von der Bedeutung, die Lévi-Strauss den Heiratsbeziehungen als wesentlichem Element des Verwandtschaftssystems zumaß, unterschied er zwei Hauptformen der Heiratsregel: * positive Heiratsregeln: Heiratsregel, die genau festgelegt, wer geheiratet werden muss * negative Heiratsregeln: Heiratsordnung, die lediglich festschreibt, wer nicht geheiratet werden kann Auf der Basis dieser beiden Heiratsregeln (positive und negative) unterschied Lévi-Strauss nun zwei Arten von Gesellschaften: * Gesellschaften, die durch "elementare Strukturen der Verwandtschaft" geprägt sind * Gesellschaften, die durch "komplexe Strukturen der Verwandtschaft" geprägt sind In Gesellschaften mit elementaren Strukturen der Verwandtschaft wird eine deutliche Differenzierung der beiden Kategorien - mögliche Heiratspartner und verbotene Heiratspartner - vorgenommen und damit genau festgelegt welcher Personenkreis als Heiratspartner in Frage kommt, z.B. jemand, der in die Kategorie der Cross-Cousins fällt. Gesellschaften, in denen die Heiratsregel lediglich festlegt wer nicht geheiratet werden kann (z.B. die eigenen Eltern oder Vollgeschwister) ohne dabei aber genau festzuschreiben, wer als Heiratspartner auszuwählen ist, die somit negative Heiratsregeln aufweisen, bezeichnete Lévi-Strauss als Gesellschaften mit komplexen Strukturen der Verwandtschaft. Cross-Cousin Marriage (Kreuzbasen-Heirat) Zum einen führt der Tausch von Frauen (z.B. von Schwestern zwischen zwei Männern) über längere Zeit, d.h. über mehrere Generationen fortgesetzt zur Cousin Marriage. Zum anderen bewirkt das verwandtschaftsterminologische System, welches in den meisten Fällen die Parallelcousins terminologisch mit den Geschwistern gleichsetzt (vgl. z.B. Iroquois-, Crow- und Omaha-System), dass diese Parallel-Cousins infolge des Inzesttabus als Heiratspartner nicht in Frage kommen, somit lediglich die Cross-Cousins, die nicht dem Inzesttabu unterliegen als Ehepartner möglich sind. 26 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Lévi-Strauss hat in Anlehnung an Radcliffe-Brown drei unterschiedliche Formen der CrossCousin Marriage unterschieden: * die bilaterale Cross-Cousin Marriage: beide Ehegatten sind sowohl über die mütterliche wie über die väterliche Seite miteinander verwandt * die matrilaterale Cross-Cousin Marriage: ein Mann heiratet seine MuBrTo oder eine andere Frau, die in die selbst Verwandtschaftskategorie wie seine MuBrTo fällt * die patrilaterale Cross-Cousin Marriage: ein Mann heiratet seine VaSwTo oder eine andere Frau, die in die gleiche Verwandtschaftskategorie fällt, wie die VaSwTo Brautgeber und Brautnehmer Zur Bezeichnung der in einem Frauenaustausch miteinander stehenden Gruppen werden in der Literatur meist die Begriffe „Brautgeber“ (Wife-Giver) für jene Gruppe, die Frauen an andere Gruppen abgibt bzw. „Brautnehmer“ (Wife-Taker) für jene Gruppe, die Frauen als Ehepartnerinnen übernimmt, verwendet. (vgl. Hirschberg) Der soziale Status der Brautgeber und Brautnehmer kann dabei ident sein bzw. die Brautnehmer können einen höheren sozialen Status haben als die Brautgeber (z.B. in NordIndien) bzw. vice versa der Status der Brautgeber kann höher sein als jener der Brautnehmer (z.B. Beispiel der Kachin in SO-Asien). Typen von Gesellschaften mit elementaren Strukturen der Verwandtschaft: Ausgehend von seiner Grundthese, dass es sich bei den Heiratssystemen um Tauschbeziehungen handelt durch die Allianzen gestiftet werden, welche die Gesellschaften zusammenhalten, unterscheidet Lévi-Strauss zwei Haupttypen von Gesellschaften mit elementaren Strukturen der Verwandtschaft und somit zwei Hauptformen von Tauschsystemen: nämlich: Typ 1: Gesellschaften mit restringiertem bzw. direktem Frauentausch: Der restringierte bzw. direkte restringierte Austausch ist das einfachste Tauschsystem. Hier ist die gesamte Gesellschaft in nur zwei Gruppen gegliedert, die untereinander Frauen austauschen. In solchen Gesellschaften besagt die positive Heiratsregel, dass die Leute der Gruppe A Personen der Gruppe B heiraten müssen, während die Leute der Gruppe B Personen aus der Gruppe A heiraten müssen. Da die hier zwischen A und B ausgetauschten Cross-Cousins sowohl über die väterliche (patrilaterale) wie über die mütterliche (matrilaterale) Seite miteinander verwandt sind, wird diese Form der Cross-Cousin-Marriage auch als bilaterale Cross-Cousin Marriage bezeichnet. Da es sich beim direkten Austausch um eine permanente wechselseitige Übergabe von Heiratspartnern zwischen zwei festgelegten Gruppen handelt, wird diese Form des Austausches in der Literatur auch als reziproker bzw. symmetrischer Austausch bezeichnet. Unterformen des restringierten bzw. direkten Austausches: Der restringierte bzw. direkte Frauentausch kann nun seinerseits auf unterschiedliche Weise vor sich gehen. Er kann entweder innerhalb derselben Generation erfolgen oder zeitverzögert über mehrere Generationen stattfinden. 27 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Dementsprechend lassen sich bezüglich des restringiertem bzw. direktem Austausch wiederum mehrerer Formen unterschieden: * unmittelbarer Austausch: der gesamte Austausch findet innerhalb derselben Generation statt. * verzögerter Austausch: der Austausch von Frauen findet nicht in der gleichen Generation statt, sondern erstreckt sich auf mehrere Generationen Typ 2: Gesellschaften mit generalisiertem bzw. indirektem Frauentausch: Bei diesem Typus von Heiratssystem kann eine Gruppe, die einer oder mehreren anderen Gruppen Frauen als Ehefrauen abgibt, von derselben Gruppe bzw. denselben Gruppen niemals Frauen zurückbekommen, sondern muss diese anderswo herholen. Eine Gruppe kann irgendeiner anderen Einzelgruppe gegenüber nicht sowohl "Frauengeber" als auch "Frauennehmer“ sein. (Vivelo, Barnard/Spencer) Hier sind somit mindestens drei Gruppen notwendig, die in einer Austauschbeziehung zueinander stehen, wobei jede dieser Gruppen immer einer bestimmten Gruppe als Frauengeber und einer anderen Gruppe aus Frauennehmer gegenüber steht. Der indirekte Exchange umfasst somit Fälle, wo die Leute in einem Kreis oder in einer Kette heiraten. Es gibt aber einen großen Unterschied zwischen den beiden Fällen: Wenn die Leute in einem Kreis heiraten, dann ist die Beziehung zwischen den Gruppen egalitär, wenn der Kreis aber nicht geschlossen wird (=Kette), so ist die Beziehung zwischen den Gruppen hierarchisch. Diese Form des generalisierten Frauentausches wird auch als matrilaterale Kreuzbasenheirat bezeichnet, weil sie, in idealer Form in einem genealogischen Diagramm dargestellt dazu führt, dass jeder Mann seine MuBrTo heiraten muss. Theoretisch handelt es sich beim generalisierten Tausch um eine zyklische Beziehung, die auch als zirkulierendes Connubium bezeichnet wird. Eine andere oftmals verwendete Bezeichnung für den generalisierten Austausch ist der Begriff asymmetrische Allianz bzw. asymmetrisches Heiratssystem zumal hier kein reziproker Austausch zwischen zwei Gruppen stattfindet, sondern in diesen Frauentausch mindestens drei Gruppen involviert sind. Zusammenfassend ergeben sich laut Lévi-Strauss drei Hauptformen der Tauschbeziehung bzw. der Allianzsysteme in Gesellschaften mit elementaren Strukturen der Verwandtschaft, die mit spezifischen Formen der Cross-Cousin Marriage korrespondieren: * restringierter unmittelbarer Frauentausch mit bilateraler Cross-Cousin Marriage (Kariera-Typus) * restringierter verzögerter Frauentausch mit patrilateraler Cross-Cousin Marriage (Trobriand-Typus) * generalisierter Frauentausch mit matrilateraler Cross-Cousin Marriage (Kachin-Typus) „Heiratssysteme nach Lévi-Strauss“ siehe unter ‚Wichtige Abbildungen‘ 28 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Andere Klassifikationsform der Tauschbeziehungen in Gesellschaften mit elementaren Strukturen der Verwandtschaft: Die beiden ersten Tauschsysteme restringierter unmittelbarer und restringierter verzögerter Frauentausch wären dabei symmetrische Systeme (da hier Frauen zwischen zwei Gruppen entweder unmittelbar oder zeitverzögert ausgetauscht werden). Der generalisierte Frauentausch wäre hingegen ein asymmetrisches System. Diese Unterscheidung ist bei anderen Autoren wichtig, zumal sie ihre Gliederung der verschiedenen Austauschsysteme auf der Basis symmetrische bzw. asymmetrische Tauschbeziehung vornehmen. Und davon ausgehen, dass es lediglich zwei Formen der Allianzbeziehungen gibt, nämlich: symmetische Allianz und asymmetrische Allianz. Zusammenfassende Kritik an Lévi-Strauss‘ Konzept der elementaren Strukturen der Verwandtschaft: Seit seinem Erscheinen hat es viel Kritik an Lévi-Strauss´s Buch „die elementaren Strukturen der Verwandtschaft“ gegeben. Zu allererst wurden die allgemeinen evolutionistischen Implikationen des Buches entweder kritisiert oder ignoriert. Zum zweiten argumentiere z.B. Edmund Leach in einem Buch über das Hochland von Burma, dass die sozialen Implikationen von Heiratsregeln immer in Verbindung mit anderen politischen und ökonomischen Aspekten betrachtet werden müssen. Drittens wurde die Korrelation zwischen Heiratsregeln und dem Verbinden von Gruppen, wie sie im Buch vorgeschlagen wurde, in Frage gestellt. Z.B. wies L. Dumont darauf hin, dass obwohl die Art der Regel, die Lévi-Strauss ohne viel Zögern als Hinweis für das Vorhandensein elementarer Strukturen verwendet hätte, in Südindien und Teilen Sri Lankas existiert, die soziale Implikation einer solchen Regel sehr verschieden ist, von dem, was sie z.B. unter den australischen Aborigines bedeuten würde. Für ihn führt die Affinität nicht notwendigerweise zur „Allianz“ sozialer Einheiten. Besonders diskutiert wurde was eigentlich unter einer „positiven Heiratsregeln“ im Sinne Lévi-Strauss gemeint war. Die Kritik an Lévi-Strauss´ Thesen kam jedoch nicht nur von Seiten anderer Allianztheoretiker, sondern vor allem von Seiten der konventionellen Deszendenztheoretiker sowie von Seiten jener Anthropologen, die sich im Rahmen der kognitiven Anthropologen mit formalen semantischen Analysen befassten, wie z.B. von Scheffler und Lounsbury. Insbesondere in den 60iger Jahren gab es einen heftigen Disput zwischen den Deszendenztheorikern und den Allianztheoretikern. Trotz aller Kritik an der Allianztheorie und hier insbesondere an den Modellen, die oft auf sehr abstrakter Ebene abgehandelt wurden, liegt die große Bedeutung Lévi-Strauss und der anderen Allianztheoretiker darin, dass die Heiratsbeziehungen einer langen, von den britischen Funktionalisten dominierten Debatte rund um die Abstammung, wieder in den Blickpunkt des Interessens rückten und aufgezeigt haben, dass die Deszendenzbeziehungen alleine nicht ausreichen um die sozialen Beziehungen zu erklären. Heutiger Ansatz: Seit den 80iger Jahren haben sich die Ethnologen von der programmatischen Beschäftigung der Allianz oder des Deszendenz entfernt und anerkennen nun die Vielfalt der Verwandtschaftsbeziehungen (sowohl Deszendenz wie Allianz). 29 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Patrilaterale Parallel-Cousin Marriage: („Bint-Amm-Heirat“) Im Modell der „elementaren Strukturen der Verwandtschaft“ von Lévi-Strauss kommen die Heiratsbeziehungen mit den Parallel-Cousins nicht vor. In den meisten Gesellschaften werden die Parallel-Cousins mit den Geschwistern gleichgesetzt (vgl. z.B. Crow- und OmahaSystem) und unterliegen damit dem Inzestverbot und können daher nicht geheiratet werden. Allerdings gibt es in der Ethnologie eine Heiratsform, die VaBrTo-Heirat, d.h. die Heirat mit der patrilateralen Parallel-Cousin, die viel Aufmerksamkeit erregt hat, auch wenn sie nur in sehr wenigen Gesellschaften, z.B. im Nahen Osten (bei den Kurden, Arabern, Teilen der Turkvölker) vorkommt. Insbesondere in den 50iger und 60iger ist diese Heiratsform stark diskutiert worden. Bei der Patrilateralen Parallel Cousin Marriage heiratet ein Mann seine Vater-Bruder-Tochter (arab. Bint-amm). Diese Heirat kann sowohl in einer präskriptiven wie auch in einer präferentiellen Form vorkommen. In einzelnen Gesellschaften hat der VaBrSo ein Anrecht auf seine VaBrTo. Niemand anderer kann sie heiraten ohne ihn um seine Zustimmung zu fragen. Bisweilen ist ihm für die Abtretung seines Rechts auf die VaBrTo auch eine Entschädigung zu zahlen. Für die präskriptive bzw. präferentielle Vater-Bruder-Tochter-Heirat sind in der Literatur eine ganze Reihe von Gründen angeführt worden u.a. die folgenden: * durch sie wird das Eigentum zusammengehalten * durch sie wird die Blutreinheit der Deszendenzlinie garantiert * durch sie ist ein harmonischeres Familienleben möglich, als wenn eine „fremde Frau“ ins Haus kommt * der Brautpreis entfällt oder ist minimal * durch sie wird das Band zwischen einem Mann und seinem paternalen Neffen, d.h. dem BrSo gestärkt und dadurch eine Allianzbeziehung zu ihm hergestellt, damit wird die Solidarität innerhalb der Lineage gestärkt PFLICHTLITERATUR Thomay Hylland Erikson: Gender and Age (Small Places, Large Issues. Kapitel 8) FIKTIVE KINSHIP: ADOPTION, PATENSCHAFTEN ETC. Neben den oben ausgeführten Abstammungs- und Heiratsbeziehungen kommt auch den sogenannten „fiktiven Verwandtschaftsbeziehungen“ eine große Bedeutung zu. In der Kultur- und Sozialanthropologie wurden derartige Verwandtschaftsbeziehungen früher als „unechte“ bzw. „unwirkliche“ Verwandtschaftsbeziehungen bezeichnet und den „wirklichen“ Verwandtschaftsbeziehungen, d.h. Personen mit denen eine tatsächliche, d.h. Blutsverwandtschaftsbeziehung besteht, gegenüber gestellt. In Anbetracht der rezenten Debatte rund um die Bedeutung der Konsanguinität und der biologischen Verwandtschaft ist dieser Ansatz heute in Frage gestellt und die Grenzen zwischen „wirklichen“ und „unwirklichen“ Verwandten verschwimmen. Fiktive Verwandtschaftsverhältnisse wurden in der Ethnosoziologie lange Zeit als 30 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Verwandtschaftsbeziehungen betrachtet, die am Modell der Blutsverwandtschaft orientiert waren. Die Beziehung zu den „fiktiven“ Verwandten wird dabei nicht durch den Geburtsakt etabliert, sondern kommt auf andere Art und Weise zustande, z.B. durch bestimmte Rituale, Adoption oder Pflegekindschaft (engl. Fosterage). Der Begriff „fiktive Verwandtschaft“ ist laut Seymour-Smith jedoch von einigen Ethnologen kritisiert worden. U.a. wurde argumentiert, dass der Begriff „fiktive Verwandte“ irreführend sein, denn solche Beziehungen verhindern die natürlichen Beziehungen nicht, sondern werden eher mit ihnen kontrastiert und abgetrennt von den natürlichen oder biologischen Verwandtschaft. Diese Autoren haben den Begriffen `rituelle Verwandtschaft´ bzw. spirituelle Verwandtschaft“ den Vorzug gegeben. (Seymour-Smith 1986: S.116f) Bezüglich des Begriffs rituelle Verwandtschaft vermerkt Seymour-Smith u.a. folgendes: Rituelle oder spirituelle Verwandtschaft ist ein anthropologischer Terminus, der verwendet wird zur Beschreibung des Komplexes von Ritualen und Beziehungen, die verbunden sind mit der Taufe und Patenschaft. Damit wird eine soziale Beziehung hergestellt. Diese wurde in der Ethnologie aus verschiedenen Perspektiven untersucht. Auch durch die rituelle Verwandtschaft wird ein Netzwerk sozialer Beziehungen geschaffen. Diese mittels des Rituals etablierten Beziehungen werden von den sozialen Akteuren häufig manipuliert. (vgl. z.B. das Compadrazgo in Lateinamerika). Adoption Bei der Adoption handelt es sich um ein Verfahren bei dem Personen ein bestimmter Status im Rahmen eines Verwandtschaftssystems zugewiesen wird, der dem Status „wirklicher Verwandter“ gleicht. (vgl. Bargatzky) Die modernen Vorstellungen über die Adoption, einschließlich der Perzeptionen der Anthropologen über das was cross-cultural in der Praxis ausmacht, verbinden im Allgemeinen die gesetzlichen Aspekte der römischen Institutionen mit den „...nurturing and affective aspects of fostering and `true' parentage.“ (Barnard/Spencer 1997: S.5) Fosterage („Pflegschaftsverhältnisse) Ein anderer Begriff, der in der Ethnosoziologie oft in Zusammenhang mit der Adoption und der fiktiven Verwandtschaft steht ist der Begriff Fosterage (deutsch: Pflegekindschaft). Bei der Fosterage handelt es sich üblicherweise um ein feststehendes Verfahren der Übergabe von Kindern an Pflegeeltern, wobei die Bedingungen dieser Unterbringung, die Wahl der Pflegeeltern und die Art der Beziehungen zwischen diesen und den wirklichen Eltern durch die Normen der Gesellschaft vorbestimmt sind. Die Fosterage führt entweder zu einer echten Adoption oder aber zu einer Rückkehr in die Orientierungsfamilie. In beiden Fällen wird jedoch der Status des Kindes durch dessen Übergabe an Pflegeeltern verändert. Fast immer entstehen daraus fiktive Verwandtschaftsbeziehungen zu den Kindern der jeweiligen Pflegeeltern oder eine Solidaritäts-Verpflichtung diesen gegenüber. 31 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Patenschaftsverhältnisse In der ethnologischen Literatur werden die Patenschaftsverhältnisse auch oft unter den Begriffen „Godparenthood“ bzw. auch „Compadrazgo“, einer in Lateinamerika weit verbreiteten Patenschaftsform, abgehandelt. In einer Vielzahl von Gesellschaften gibt es auch die Institution der Patenschaft. So z.B. im Christentum die Tauf- und Firmpaten, im Nahen Osten das „Kirvelik“ bei der Beschneidung (z.B. in Südost-Anatolien bei den Kurden). Häufig wird durch die Patenschaft eine fiktive Verwandtschaft zwischen dem Patenkind und seinen Eltern und Geschwistern und den Pateneltern und deren engerer Verwandtschaft etabliert. U.a. besteht dann ein Heiratsverbot zwischen dem Patenkind und den Kindern seiner Pateneltern. Eine besonders häufig in der ethnologischen Literatur beschriebene Form der Patenschaft ist das Compadrazgo; wörtlich „Ko-Vaterschaft“ (engl. fatherhood). Compadrazgo ist ein generischer Terminus um den gesamten Komplex dieser rituellen Bande zu bezeichnen. Der spanische Terminus wird manchmal auch auf nichtspanisch-sprechende Länder zur Benennung der rituellen Verwandtschaft ausgedehnt. Theoretisch ist das Compadrazgo laut Panoff/Perrin dem Patenschaftsverhältnis („Gevatternschaft“) gleichzusetzen, d.h. dem Verhältnis zwischen den Eltern eines Kindes und dessen Taufpaten und - patin; die Anspracheformen, die zwischen ihnen verwendet werden, waren „Gevatter“ und „Gevatterin“. Das Compadrazgo ist eine spanische Form der rituellen Verwandtschaft, die zwischen einer Person, ihren Eltern und den Pateneltern (engl. god-parents) etabliert und aufrechterhalten wird durch die Riten der katholischen Kirche, vor allem anlässlich der Taufe, Erstkommunion, Firmung und Heirat. Der Hauptritus ist aber die Taufe. Bei der Taufe, der Firmung und der Heirat erhält ein Individuum einen oder mehrere Sets von Godpartens (padrino und madrina, die oft ein verheiratetes Paar sind und die biologische Verwandte, meist aber Freunde oder Arbeitgeber der biologischen Eltern sind). Ein Individuum ist „as his or her godparents´ahijado or ahijada, depending in his sex“ bekannt. Die Beziehung zwischen den biologischen Eltern und den Pateneltern (godparents), die einander reziprok Compadre oder comadre, entsprechend dem Geschlecht bezeichnen, ist zumindest genauso wichtig die die zwischen den Pateneltern und dem Patenkind und dauert ein Leben lang. (Barnard/Spencer) Normalerweise suchten die biologischen Eltern die Pateneltern für ihr Kind aus mit dem Blick auf Vorteile für das Kind und sich selbst. Compadrazgo etabliert häufig die Bande über die sozialen Klassen oder sogar ethnische Gruppen (z.B. zwischen Mestizos und Indianer in Mexiko, Guatemala, Peru, Bolivien und anderen lateinamerikanischen Ländern mit großen indigenen Bevölkerungsgruppen). Hinter dem Compadrazgo steht in Lateinamerika somit manchmal auch die Absicht einer wirtschaftlichen oder politischen oder sozialen Machtausübung. Dieser Brauch ist sehr verbreitet, besonders in Gegenden, wo Indianer in Akkulturation begriffen sind. 32 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Dies hat oft den Effekt die Klassensolidarität oder ethnische Solidarität zu unterminieren oder zu überschatten und paternalistische Patron-Client Beziehungen zwischen Personen von ziemlich ungleichen Status zu etablieren, die Loyalität, Gunstbezeugungen, Geschenke, Arbeit und Gastfreundschaft für viele Jahre austauschen. Laut Barnard und Spencer ist das Compadrazgo auch ein wichtiger Indikator für den sozialen Status in den Gesellschaften Lateinamerikas. Als Pateneltern zu fungieren ist hier eine Ehre, die nicht leicht zurückgewiesen werden kann. Je sozial prominenter, politisch einflussreicherer, moralisch aufrecht und ökonomisch zahlungsfähiger eine Person ist, desto häufiger wird er oder sie diesbezüglich kontaktiert werden und die Zahl der „Godparenthoods“ ist eines der besten Indizien für den sozialen Status in den hispanischen Gesellschaften. Viele örtliche Machthaber (sogenannte Kaziken) verdanken ihre Macht und ihr Ansehen der großen Zahl von „Gevattern“ (bis zu mehreren Hunderten), die sie sich unter der Bevölkerung der niederen und besitzlosen Klassen erworben haben. (Panoff/Perrin) (ENDE SKRIPT TEIL 3) FAMILIE, HAUSHALT, HÄUSLICHE GRUPPE Zum Begriff Familie Meist wurde der Begriff Familie mit der häuslichen Gruppe (domestic unit, household) gleichgesetzt. Dem Konzept der Kernfamilie kam in der Anthropologie eine große Bedeutung zu. Ursprünglich glaubten viele Anthropologen, dass das häusliche Leben überall um ein verheiratetes Paar und seine Nachkommen organisiert ist. Zudem wurde die Kernfamilie von zahlreichen Anthropologen als universell gültige Form menschlichen Zusammenlebens betrachtet. Manche Autoren behaupten sogar, dass es sich bei der Kernfamilie um die älteste menschliche Institution überhaupt handelt. Nach Murdock lassen sich vier Funktionen der Kernfamilie unterscheiden: 1. the sexual function: (die sexuelle Funktion) 2. the reproductive function: (die reproduktive Funktion): d. h. die Zeugung und Geburt von Nachkommenschaft) 3. the educational function (die Erziehungsfunktion): d. h. die Verantwortung für die Sozialisation und Erziehung der Kinder. 4. the economic function (die ökonomische Funktion): d. h. die Kooperation der Familienmitglieder bei der Bestreitung der Existenz. Basierend auf den 4 genannten Funktionen kann die Kernfamilie laut Murdock als durch die folgenden Merkmale charakterisierte Einheit dargestellt werden: 1) Die Kernfamilie ist eine zusammenwohnende Gruppe 2) Die Kernfamilie ist eine Wirtschaftseinheit 3) Die Kernfamilie ist die primäre Sozialisationsinstitution für die Kleinkinder 4) Die Kernfamilie ist die primäre Einheit für kultische/religiöse Belange 33 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Des Weiteren wurde von Murdock, aber auch von einzelnen anderen Autoren eine spezifische Arbeitsteilung in der Kernfamilie postuliert, die Großteils auf den biologischen Unterschieden zwischen Frauen und Männern basiert. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es bislang nicht gelungen ist, eine allgemein gültige Definition des Begriffs Familie zu formulieren. Zahlreichen Definitionsversuche, insbesondere den „klassischen“ liegen biologistische und funktionalistische Aspekte zugrunde, die stark geprägt waren von jenen Werten und Annahmen, die spezifisch sind für die euro-amerikanische Gesellschaft und denen von einzelnen Autoren universelle Gültigkeit zugeschrieben wurde. Differenzierung der verschiedenen Familienformen Im Allgemeinen erfolgt die Differenzierung der einzelnen Familienformen nicht so sehr auf der Basis von Funktionen, welche die Familie erfüllt, sondern nach der Zusammensetzung derselben, wobei die gemeinsame Residenz diverser Individuen das ausschlaggebende Kriterium darstellt. Diese Bezugnahme auf die Residenz wird in neuerer Zeit jedoch stark kritisiert. Ausgehend von der Gruppenzusammensetzung auf der Basis der gemeinsamen Residenz werden im Wesentlichen die folgenden Familientypen unterschieden: 1) Kernfamilie 2) verschiedene Formen der erweiterten bzw. der zusammengesetzten Familie 3) unvollständige, fragmentierte Familien (hier fehlt ein Ehepartner) 1) Kernfamilie Als Synonyme werden im deutschen oft die Begriffe Konjugalfamilie bzw. Nuklearfamilie verwendet. Panoff/Perrin: „Kernfamilie: Eine aus zwei Ehegatten und deren Kindern zusammengesetzte Gruppe. In den meisten menschlichen Gesellschaften sind die Kernfamilien miteinander zu größeren und komplexeren Aggregaten verbunden, wie die polygame Familie, die erweiterte Familie oder die joint family.“ Anzumerken ist, dass es bislang keine befriedigende Konzeptualisierung der Kernfamilie gibt und es rund um das Konzept der Kernfamilie immer wieder heftige Debatten und Diskussionen gab und gibt. Orientierungsfamilie: Der Begriff Orientierungsfamilie/family of orientation bezieht sich auf die KernfamilienGruppe in die Ego hineingeboren wurde und/oder wo er/sie aufgewachsen ist. Fortpflanzungsfamilie: Bei der Fortpflanzungsfamilie/family of procreation handelt es sich um jene Kernfamilie, die von Ego durch seine Heirat und die Geburt von Ego´s Kindern gebildet wird. Schließlich ist noch auf einige andere Begriffe hinzuweisen mit denen versucht wurde auf die besondere Position einzelner Familienmitglieder in der Kernfamilie hinzuweisen. Es gibt Gesellschaften, in denen die Mutter oder der Vater eine besondere Stellung haben. Diese 34 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Gesellschaften sind laut dann patrifocal oder matrifocal. patrifocal: Eine Form der Familie oder der häuslichen Gruppe, die um den Vater zentriert ist. matrifocal: Hierbei handelt es sich um eine Gruppe, die um die Mutter zentriert ist. Hier ist der Vater oft nicht vorhanden oder spielt eine sehr untergeordnete Bedeutung. 2) Diverse Formen erweiterter bzw. zusammengesetzter Familien Auch bezüglich der erweiterten Familien, die implizit von zahlreichen Autoren als Extentionen der Kernfamilie definiert werden, gibt es keine terminologische Einheitlichkeit. Im Allgemeinen werden die beiden Begriffe „erweiterte Familie“ (extended family) und „zusammengesetzte Familie (joint family bzw. composite family) sowohl in einem weiteren Sinne (d.h. alle verschiedenen Formen zusammenfassend), wie auch in einem engeren und damit spezifischeren Sinn verwendet. Begriff „erweiterte Familie“ (extended family) In seiner allgemeinen Bedeutung bezieht sich der Begriff erweiterte Familie, auf eine Familienkonstellationen, die über die Kernfamilie hinausreicht und Personen einschließt, die durch eine Ausweitung der Eltern-Kinder-Beziehung miteinander verbunden sind und einen gemeinsamen Wohnsitz haben. In einem engeren Sinn bezieht sich der Begriff „extended family“ auf jene Konstellation, wo die Kernfamilien durch die Eltern-Kind-Beziehung mit einander verbunden sind und die Erweiterung somit zwischen den Generationen stattfindet. Dieser Familientypus umfasst somit die Großeltern-Eltern und Kinder-Generationen und stellt in vielen Gesellschaften, z.B. im Nahen Osten, den bevorzugten Familientypus dar. Begriff „zusammengesetzte Familie“ (joint family) Auch der Begriff zusammengesetzte Familie „joint family“ wird in einem weiteren und engeren Sinn verwendet. In seiner umfassenden Verwendung hat der Terminus zusammengesetzte Familie die gleiche Bedeutung wie der Begriff extended family. In einem engeren Sinn bezieht er sich auf einen Familientypus, der aus zwei oder mehr Kernfamilien zusammengesetzt ist, die über Geschwister-Beziehungen miteinander verbunden sind. Bildung erweiterter bzw. zusammengesetzter Familien Es gibt mehrere Prinzipien nach denen diese erweiterten und zusammengesetzten Familien konstituiert werden: a) durch mehrfache Heiraten (polygame Familie) b) durch Verbindung mehrerer Generationen (extended families im engeren Sinn, umfassen mindestens drei Generationen) c) Durch Beziehungen innerhalb einer Generation (joint families im engeren Sinn) „Stammfamilie“ als Subtyp der erweiterten Familie Einige Autoren halten es für gut, einen Subtypus der erweiterten Familie zu unterscheiden, den sie eine „Stammfamilie“ nennen. Dies bezieht sich auf den Fall, dass nur ein 35 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 verheiratetes Kind mit seinem Ehepartner oder seinen Ehepartnern bei den Eltern oder einem Elternteil lebt. Begriff „Großfamilie“ Die Großfamilie stellt eine Sonderform der erweiterten Familie dar. Ihrer personellen Zusammensetzung und ihrer Wirtschaftseinheit nach ist die Großfamilie eine echte erweiterte Familie. Eine weitere wesentliche Bedingung bezieht sich auf die Autoritätsstruktur in diesem Familientypus. In der Großfamilie dominiert der Älteste (Patriarch) und bestimmt den Zusammenhalt für die gesamte Dauer seines Lebens. Nach seinem Tod zerfällt die Großfamilie. Diese Bedingung führt dazu, dass solche Großfamilien eine Lebensdauer haben, die von der individuellen Lebensdauer des jeweiligen Ältesten abhängig ist. Eine solche Großfamilie kann nur zwei Generationen dauern, sie kann aber auch aus fünf Generationen bestehen. PFLICHTLITERATUR C.J.Grossmith: The cultural ecology of Albanian Extended Familiy Households in Yugoslav Macedonia (Readings in Anthropology. pp.89-99) Erweiterungen durch Beziehungen innerhalb einer Generation (joint family) Eine zusammengesetzte Familiengruppe entsteht, wenn zwei oder mehr kolateral verwandte Personen mit ihren Ehegatten und Kindern zusammenleben. Hier kann man zwischen sororalen und fraternalen joint families unterscheiden. Der häufigste Typus ist die fraternale zusammengesetzte Familie. Sie besteht aus mindestens zwei Brüdern und deren Frauen und Kindern. Solche fraternal joint families entstehen oftmals aus patrilokalen erweiterten Familien, wo nach dem Tod des Vaters, die beiden Söhne zusammenbleiben und das ererbte Land gemeinsam bewirtschaften. 3) Die unvollständige bzw. fragmentierte Familie Eine unvollständige bzw. fragmentierte Familie liegt dann vor, wenn es sich um eine Familiekonstellation handelt, bei der einer der beiden Ehepartner in Folge von Scheidung oder Tod fehlt. Diese Familieneinheit kann auch unverheiratete Kinder inkludieren. Begriff „Haushalt“ Auch der Terminus Haushalt ist sehr unpräzise und wurde und wird in die Ethnologie für eine Vielzahl unterschiedlicher Konstellationen verwendet. Wie beim Begriff Familie so gelang es bisher auch nicht eine allgemein gültige Definition des Begriffs Haushalt zu finden. PFLICHTLITERATUR Thomay Hylland Erikson: Person and Society (Small Places, Large Issues. Kapitel 5) Unterschiede zwischen Familie und Haushalt Idealerweise sollten die Konzepte "Familie" und "Haushalt" unterschieden werden, wobei Haushalt sich auf eine häusliche residentielle Gruppe bezieht, wohingegen Familie, in einer transkulturell anwendbaren Minimaldefinition, sich auf eine intime Verwandtschaftseinheit (die nicht immer eine distinkte Gruppe bilden muss) bezieht, welche aus einer Mutter und 36 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Kindern besteht. Der Vater der Kinder (ob nun der Genitor oder der Pater) muss nicht unbedingt mit dieser Einheit verbunden sein, doch ist er dies in den meisten Gesellschaften. Klassifikation der Haushaltstypen Wie bei der Beschäftigung mit den Familien so wurde auch bei der Befassung mit den Haushalten versucht eine Klassifikation der verschiedenen Haushaltstypen vorzunehmen. Wie bei den Kategorisierungsversuchen rund um die verschiedenen Familienformen, so bestehen auch eine ganze Reihe unterschiedlicher Haushaltstypologisierungen. Eine der besten diesbezüglichen Klassifikationsversuche ist die von Hammel und Laslett vorlegte Differenzierung in fünf hauptsächliche Haushaltstypen: Solidarities are single-person households; subtypes consist of single, divorced, widowed or duolocally-married persons. Non family households have no spousal pair or parent-child members, but may be comprised of other relatives (siblings, cousins, grandparents and grandchildren), or only of nonrelated room-mates; Simple family households include both spousal couples with or without children, and male and female single-parent households; an important subtype in many societies are mother-child-households in which the father resides elsehwere, sometimes with another adult woman. Extended family households are simple family cores that add other kin, but not other soucal couples or parent-child units; they may be extended laterally (with siblings of simple family core adults) or lineally, both up (to include perhaps a parent of a married pair) and down (adding a co-resident grandchild). Multiple family households contain two or more discrete simple families (e.g. a couple and two married sons, two divorced sisters or widowed,co-wives and their children) and may be extended with other kin as well. Häusliche Gruppe/Domestic Group Allgemein kann man die „domestic group“ durch zwei Kernfunktionen umschreiben: 1) jene die sich auf die Beschäftigung, Zubereitung und Konsumption von Nahrung beziehen. 2) jene die sich auf die Zeugung, das Großziehen und die Sozialisation der Kinder beziehen. Zahlreiche Autoren, die dieses Konzept kritisch beleuchtet haben, haben darauf hingewiesen, dass viele nicht-häusliche Institutionen sich in diese Grundfunktionen einmischen. Außerdem hat die „domestic group“ selbst wichtige politische und ökonomische Funktionen innerhalb der größeren Gesellschaft. In der Praxis wird der Terminus „domestic group“ oft synonym mit „household“ verwendet, obwohl der Haushalt, wie er konventionellerweise definiert wird, nicht in allen Gesellschaften gefunden werden kann und die häuslichen Funktionen, die oben erwähnt wurden, unter verschiedenen sozialen Institutionen verteilt sind. 37 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Andere Formen und Prinzipien der sozialen Organisation Es existieren somit Faktoren, die Gemeinsamkeit schaffen und solche, die Differenzierung und Ausgrenzung bewirken. Diese Faktoren legen häufig die gesellschaftliche Position des Individuums bzw. einer bestimmten sozialen Gruppe im größeren Ganzen der Sozialstruktur fest. Gleichzeitig sind diese Faktoren meist auch wesentliche Kriterien für die Formierung spezifischer sozialer Gruppen und haben Einfluss auf die Selbstsicht eines Individuums bzw. einer Gruppe und die Art und Weise, wie das Individuum bzw. bestimmte gesellschaftliche Gruppen von der Gesellschaft als Ganzes bzw. von anderen gesellschaftlichen Gruppen wahrgenommen werden. Zu den wichtigsten Faktoren, die hier eine Rolle spielen gehören: Geschlecht, Alter, Abstammung, ökonomischer Reichtum, soziales Prestige. Religiöse, ethnische und SprachZugehörigkeit etc. Viele dieser Faktoren stehen häufig in einer Wechselwirkung zueinander. Insbesondere dem Lebensalter und dem Geschlecht eines Individuums kommt in zahlreichen Gesellschaften eine große Bedeutung zu. Soziales Prestige bzw. Status und Rang sind weitere wesentliche Kriterien. Ihnen kommt insbesondere in stratifizierten Gesellschaften (z.B. staatlichen Gesellschaften, Kastenwesen) eine große Bedeutung als Differenzierungsmerkmal zwischen Individuen und sozialen Gruppen zu. Status Der Begriff Status bezieht sich auf eine soziale Position und ist meist mit bestimmten Rollen verbunden. Der soziale Status kann sowohl zugeschrieben wie auch erlangt werden. Zugeschriebenen Status (ascribed status) resultiert aus der Gruppenmitgliedschaft auf der Basis der Geburt z.B. in Abstammungsgruppen oder Kasten. Erlangter Status (achieved status): resultiert aus individueller Aktion, wie die Akkumulation von Reichtum, welche die Basis für die Big-Man-Führerschaft in Melanesien ist. Prestige Der Begriff Prestige kann sich auf zwei unterschiedliche Aspekte beziehen: 1) Prestige kann einmal mit der Fähigkeit eines Individuums zusammenhängen, die Anerkennung anderer zu erfahren,d.h. eine Person hat Prestige, weil ihre Handlungen von anderen als ehrenwert, gut etc. aufgefasst werden. 2) Andererseits kann Prestige mit einer bestimmten sozialen Position, einem Rang, einem Amt etc. verbunden sein. Macht Auch unter dem Begriff Macht wird in der Ethnologie sehr vieles verstanden. Im Allgemeinen lässt sich Macht laut Seymour-Smith folgendermaßen definieren: „.... as the ability of a person or social unit to influence the conduct and decision-making of another through the control over energetic forms in the latter´s environment (in the broadest sense of that term).“ Macht kann aber auch im Sinne Max Weber verstanden werden als „die Wahrscheinlichkeit, dass irgendein Akteur innerhalb einer sozialen Beziehung in der Lage ist seinen Willen durchzusetzen ungeachtet des Widerstandes der Basis auf der diese 38 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Wahrscheinlichkeit basiert.“ Rang Unter Rang bzw. Rangreihung versteht man die Ordnung von Personen und Gruppen nach einer hierarchischen Klassifizierung in Bezug auf unterschiedliche Position, Macht oder Prestige. Soziale Rolle Laut Definition des US-amerikanischen Anthropologen Ralph Linton stellt die soziale Rolle die Gesamtheit der einem gegebenen Status (z. B. Mutter, Vorgesetzter, Priesterin etc.) zugeschriebenen „kulturellen Modelle“ dar. Dazu gehören insbesondere vom sozialen System abhängige Erwartungen, Werte, Handlungsmuster und Verhaltensweisen. Status, Rang, Macht und Prestige sind wesentliche Faktoren, die soziale Ungleichheit induzieren, die ihrerseits wiederum ein wesentliches Kriterium für die Gestaltung der sozialen Ordnung sein kann. Soziale Ungleichheit Der Begriff soziale Ungleichheit wird in der Ethnologie u.a. dazu verwendet um Klassifikationen unterschiedlicher Gesellschaftsformen vorzunehmen. So wird z.B. zwischen egalitären, nicht-egalitären und staatlichen Gesellschaften unterschieden. Egalitäre Gesellschaften wären demnach Gesellschaften, in denen die Arbeitsteilung und die Verteilung von Status und die Beziehungen der sozialen Ungleichheit lediglich auf dem Kriterium des Alters, des Geschlechts sowie auf persönlichen Merkmalen (z.B. guter Jäger) basieren und keine permanente Rangreihung erfolgen. In nicht-egalitären Gesellschaften besteht eine institutionalisierte Ungleichheit, die auf einer Serie hierarchischer Statuse basiert, die verbunden sein können mit Verwandtschaftsgruppen oder mit spezifischen Berufsrollen wie z.B. Krieger oder Priester. In staatlichen Gesellschaften basiert die Ungleichheit auf einer ausgeprägten sozialen Stratifikation. Hier sind alle Mitglieder der Gesellschaft nun gerangreiht, wobei die Kriterien der Rangreihung nun nicht mehr Alter, Geschlecht oder Verwandtschaftsbeziehungen sind, sondern andere Faktoren, wie Zugehörigkeit zu einer Klasse (z.B. Adelige, Kaste oder ethnischen Gruppe eine Rolle spielen. Soziale Stratifikation Synonym zu sozialer Stratifikation wird auch der Begriff „soziale Schichtung“ verwendet. Die soziale Stratifikation entsteht aus sozialer Ungleichheit und führt zur sozialen Ungleichheit. Sozial stratifizierte Gesellschaften sind u.a. durch die folgenden Elemente gekennzeichnet: hierarchisch angeordnete Gruppen mit relativ dauerhafter Position, die je nach ihrem Rang in der Hierarchie eine verschieden große Kontrolle der Machtmittel haben, durch kulturelle und individuelle Unterscheidungen voneinander getrennt sind und eine über ihren sozialen Standort hinausreichende Ideologie haben, welche die Rechtfertigung für das Gesamtsystem 39 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 bietet. Solche Gesellschaften zeichnen sich durch einen relativen Grad an Ungleichheit der Belohnungen und Privilegien aus. PFLICHTLITERATUR Thomay Hylland Erikson: Local Organisation (Small Places, Large Issues. Kapitel 4) KASTENSYSTEME Unter dem Begriff Kastensystem versteht man eine gesellschaftliche Ordnung, in der die Gesamtgesellschaft in eine Anzahl hierarchisch angeordneter, genau abgegrenzter Gruppen unterteilt ist, die eigene Funktionen im rituellen, juridischen und wirtschaftlichen Bereich haben. Die einzelnen Kasten können ihrerseits wieder in Sub-Kasten untergliedert sein. Die Kastenmitgliedschaft des Einzelnen wird dabei durch die Geburt zugeschrieben, man wird sozusagen in eine Kaste „hineingeboren“. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kaste legt nicht nur die gesellschaftliche Stellung des Einzelnen fest, sondern determiniert auch die Art der Arbeit, die ein Individuum zu verrichteten hat, und bestimmt wer geheiratet werden kann. Die ausgeprägteste Form des Kastensystems findet sich unter den indischen Hindus. Analoge Formen existieren aber auch unter den Muslimen, Christen, Sikhs und anderen religiösen Gruppe in Südasien. In Indien korrespondieren zwei Begriffe, nämlich „Varna“ und „Jati“ mit dem deutschen Begriff Kaste. Der Begriff „Varna“ bezieht sich auf ein Idealmodell, einen Plan oder ein Design der Gesellschaft, während sich der Begriff „Jati“ auf die aktuellen Gruppen, mit denen sich die Leute selbst identifizieren und auf deren Basis sie mit einander interagieren, bezieht. KLASSENSYSTEME Im Gegensatz zu den geschlossenen Kastensystemen, handelt es sich bei den Klassensystemen um offene Gesellschaften, die zumindest theoretisch eine soziale Mobilität zulassen, d.h. theoretisch kann eine Person in der Klassenstruktur auf- oder absteigen. Ein Klassensystem kann laut Vivelo daher definiert werden „...als eine Einteilung oder Anordnung der Gesellschaft in eine Serie von hierarchisch angeordneten Ebenen, die sogenannten Klassen, deren Mitgliedschaft zwar anfangs durch die Geburt bestimmt ist, aber durch persönliche Leistung geändert werden kann.“ Eine Person ist nicht an irgendeinen besonderen Beruf gekettet, der ihm durch seine Geburt zugeschrieben wird, und es besteht keine formalisierte Regelung, dass man innerhalb der eigenen Klasse heiraten muss. Besondere gesellschaftliche Gruppe auf der Basis sozialer Ungleichheiten Der Aspekt soziale Ungleichheit ist nicht nur relevant in Bezug auf Kasten- und Klassensysteme, auch andere Gruppen werden vor dem Hintergrund sozialer Ungleichheiten als besondere Gruppen konzeptualisiert, dazu gehören u.a. Sklaven und verschiedene PariaGruppen. Sozialverachtete (Parias) 40 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Sozial Verachtete (oder Paria) sind Personen, die vom normalen sozialen Umgang mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft ausgeschlossen sind. Sie sind "Unberührbare", unreine und verunreinigende Personen, die aus dem System "hinausgeworfen" worden sind. Die Pariagruppe führt oft Arbeiten aus, die für die Gesamtgesellschaft nützlich oder sogar lebenswichtig sind, die aber niemand anderer übernehmen will, weil sie als schmutzig angesehen werden. Sklaven Sklaven sind im Gegensatz zu den Parias Personen, die einen Platz in der Gesellschaft haben; sie sind von ihr nicht ausgeschlossen. Hauptcharakteristikum der Sklaverei ist das Fehlen von reziproken Beziehungen zwischen Sklaven und Herren sowie die Ausübung von Eigentums- und Verfügungsrechten seitens des Herrn über die Person des Sklaven. Die Sklaverei ist „eine Beziehung, in der der Großteil der Rechte beim Herrn und der Großteil der Pflichten beim Sklaven liegt.“ ALTERS ALS ORGANISATORISCHES PRINZIP Das Alter ist neben dem Geschlecht eines der wichtigsten Elemente bei der Strukturierung der Gesellschaft. Zum einen bestimmt das Lebensalter den Status und die Rollen einer Person in der Gesellschaft (z.B. Kinder, Erwachsene, Senioren) und ist eine der wesentlichsten Grundlagen für die Strukturierung des sozialen Verhaltens. Zum anderen gibt es eine Reihe von Gesellschaften, in denen das Alter nicht nur in informeller Weise zur Ordnung der sozialen Interaktion verwendet wird, sondern das Lebensalter die Grundlage für formelle Organisationsformen sein kann (z.B. Alterklassensysteme etc.) Bedeutung des Lebensalters Das Lebensalter hat eine große Bedeutung für die Zuschreibung bestimmter sozialer Rollen und Statuspositionen und stellt einen wesentlichen gesellschaftlichen Differenzierungsfaktor dar. In den meisten Gesellschaften werden die Menschen nach dem Kriterium des Lebensalters angeordnet, d.h. die einzelnen Individuen werden danach klassifiziert, wie alt sie sind. Dabei geht es weniger um eine exakte chronologische Zuordnung (z.B. drei-Jährige, zwanzigJährige), als vielmehr um die Zuordnung zu bestimmten Altersstufen (Age grades), denen ein bestimmter Status und bestimmte gesellschaftliche Aufgaben, zugewiesen werden. Solche Altersstufen können entweder informellen oder formellen Charakter haben. In einzelnen Gesellschaften (z.B. Ost-Afrikas) werden auf der Basis dieser Altersstufen formale Organisationen gebildet (z.B. Altersklassensysteme etc.; siehe unten), in anderen Gesellschaften bezieht sich die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Altersstufe lediglich auf den sozialen Status einer Person, der sich im Lauf der Zeit verändert. Z.B. vom Kind, zum Jugendlichen, Erwachsenen und Senior. Die Bedeutung, die einzelnen Altersstufen und dem damit verbundenen sozialen Status beigemessen wird, wird in zahlreichen Gesellschaften u.a. dadurch deutlich, dass diese Übergänge von einem Status zum nächsten deutlich markiert sind, z.B. durch Übergangsriten, bestimmte Bekleidungs- und Anredeformen. 41 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Seniorität/ Dominanz der Alten (=Gerontokratie) In zahlreichen Gesellschaften kommt insbesondere der Seniorität eine große Bedeutung zu. Sie ist oft eine wesentliche Voraussetzung für die Erlangung bestimmter gesellschaftlicher Positionen bzw. die Ausübung bestimmter Aufgaben, z.B. im politischen, juridischem und rituellen Bereich. Insbesondere in Gesellschaften mit ausgeprägten formalen Altersorganisationen (z.B. Altersklassensystemen) kommt den Senioren eine dominante Stellung. In Zusammenhang mit der Dominanz der Alten wird in der Literatur auch der Begriff Altenherrschaft bzw. Gerontokratie verwendet. Alter als wichtiger Organisationsfaktor Das Lebensalter und die Reihenfolge der Geburt sind jedoch nicht nur wichtig in Bezug auf Inheritance und Succession sowie Status und gesellschaftliche Rolle, sondern es stellt auch ein wichtiges Kritierium für die Schaffung formellerer Organisationsformen dar. In einer ganzen Reihe von Gesellschaften dient das Alter als Kriterium zur Bildung von spezifischen Gruppierungen, denen eine wichtige Funktion als Cross-Cutting Tie zwischen anders strukturierten Gruppen (z.B. Verwandtschaftsgruppen) zukommt. Sie verbinden dabei die einzelnen Individuen und Gruppen auf horizontaler Ebene und schaffen damit einen ähnlich hohen Grad an Solidarität, wie dies z.B. durch die Abstammung auf vertikaler Ebene erfolgt. Diese Organisationsformen auf der Basis des Alters werden in der Literatur meist summarisch unter dem Begriff „Alterssysteme“ (englisch: age systems) bzw. unter dem Begriff „Altersgruppen“ (engl. age groups) abgehandelt. Es gibt zwei verschiedene Arten von Altersgruppen-Systemen: 1) Die transitory age-group besteht aus jungen Männern, manchmal auch Frauen, die sich aber auflöst, wenn die Mitglieder älter werden. 2) Die comprehensive age-group hält ein Leben lang. Altersklassen-Systeme: „Altersklassen: eine Gesamtheit von Individuen ungefähr desselben Alters, männlichen oder weiblichen Geschlechts, die in geordneter Art und Weise in einer gesellschaftlich anerkannten Gruppe organisiert und denselben Rites de Passages unterworfen ist. Die Mitglieder einer Altersklasse haben denselben Status im Rahmen der Gesamtgesellschaft und üben dieselben Tätigkeiten aus.“ (Panoff/Perrin) Diese Altersklassen kommen in der Regel ganz spezifische Aufgaben zu (z.B. Kriegerklasse, Klasse der Entscheidungsträger, wie z.B .bei den Massai). Den einzelnen Altersklassen werden somit ganz spezifische Rechte und Pflichten zugeschrieben. Innerhalb der einzelnen Altersklassen gibt es einen hohen Grad der Gruppenidentität und Kooperation. Zyklische Altersklassensysteme sind solche, in denen der für eine vergangene Altersklasse verwendete Name wiederum für eine neue Altersklasse zu einer späteren Zeit verwendet werden kann. Mit anderen Worten, derselbe Name taucht periodisch immer wieder auf. 42 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Progressive Altersklassensysteme sind solche, in denen der Name für eine Altersklasse nur einmal verwendet wird; wenn das letzte Mitglied einer Altersklasse stirbt, wird der Name zurückgezogen und kann nie mehr benützt werden. Kriegerklasse: Nach ihrer Initiation wurden die männlichen Massai Jugendlichen zunächst in der Klasse der Krieger aufgenommen, wo sie rund 15 Jahre verblieben bis sie in die nächste Altersklasse aufstiegen. Klasse der verheirateten Männer: Nach ihrer Heirat wurden die jungen Männer Mitglieder der Klasse der verheirateten Männer. Sie kümmerten sich nun um die Angelegenheiten ihrer eigenen Familien und versuchten ihren Viehbestand zu erhöhen. Klasse der Familienväter: Im nächsten Grad, als Familienväter, erhielten sie die Entscheidungsgewalt in den lokalen Versammlungen, die ihre Position der Autorität unterstrich. Klasse der „Senior Elders“: Als Senioren zogen sie sich schließlich zurück. Die Klasse galt als hochrespektierte Inhaber der Tradition und wurde im Bedarfsfall zur Durchführung von Ritualen gebeten. (ENDE SKRIPT TEIL 4) FORMEN DER SOZIO-POLITISCHEN ORGANE Untersuchung des Politischen in der Ethnologie: Soweit man sich innerhalb der Ethnologie mit politischen Systemen als eigenständigen Systemen zu beschäftigen begann, konzentrierte man sich primär auf jene Gesellschaften, die keine formale Regierung aufwiesen, d.h. Gesellschaften ohne zentralisierten Staat und formalisierte Führung. Ganz generell wurde häufig eine Dichotomisierung politischer Systeme vorgenommen und zwischen Gesellschaften mit staatlicher Organisation und Gesellschaften ohne Staat unterschieden. Die Gesellschaften ohne staatliche Organisation wurde dabei oft stark idealisiert und den autoritären und zentralstaatlich organisierten politischen Systemen Europas gegenübergestellt. Ein weiterer wesentlicher Ansatz war die Differenzierung der politischen Systeme nach dem Bedeutungsumfang verwandtschaftlicher Beziehungen in denselben. U.a. wurde hier die Meinung vertreten, dass die verwandtschaftlichen Beziehungen insbesondere in den „staatenlosen Gesellschaft“ ein wesentliches Strukturelement der Politik darstellen. Den verwandtschaftlichen Beziehungen selbst wird heute eine eher untergeordnete Bedeutung beigemessen. Sie werden nun primär unter dem Gesichtspunkt ihrer Nützlichkeit für die politische Aktion betrachtet. Typologisierung politischer Systeme in der Ethnologie Im Vordergrund der Klassifikationsschemata stehen dabei meist zwei Aspekte: Einerseits wird davon ausgegangen, dass mit zunehmender Entwicklung der politischen 43 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Systeme, die Bedeutung der Verwandtschaft als Strukturelement abnimmt und Verwandtschaft als Determinante des Politischen obsolet wird. Insbesondere Service bezieht sich bei seiner Klassifikation auf diesen Aspekt. Anderseits wird auf den Aspekt der sozialen Gleichheit bzw. Ungleichheit Bezug genommen und davon ausgegangen, dass eine Entwicklung von egalitären sozio-politischer Beziehungen hin zur Ausformung stratifizierter sozio-politischer Strukturen gebildet. (Fried) Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass diese evolutionistischen Typologisierungen politischer Systeme heute stark kritisiert werden. So wird z.B. darauf verwiesen, dass es innerhalb dieser verschiedenen Typen politischer Systeme, wie z.B. Stamm, Chiefdom etc., große interne Unterschiede gibt und es zudem Gesellschaften gibt, wie z.B. jene wo sogenannte „Big Men“ als Führungsfiguren in Erscheinen treten, die in diese evolutionistischen Schemata gar nicht hineinpassen und daher oftmals schwierig zu klassifizieren sind. Zudem gibt es in den heutigen modernen Nationen sehr verschiedene Verbindungen diverser sozio-politischer Typen, die durch das Heranziehen einer evolutionistischen Typologisierung nur unzureichend dargestellt werden können. (Seymour-Smith) Trotz dieser berechtigten Kritik an den evolutionistischen Typologisierungen politischer Systeme möchte ich im folgenden einen kurzen Überblick über die am meisten verwendeten Typologisierungen geben, u.a. deshalb, weil sich auf diese Weise einige der wesentlichen Grundelemente der jeweiligen politischen Systeme kurz darstellen lassen. Evolutionistische Typologisierungen politischer Systeme: Service knüpft bei seiner Klassifikation der politischen Systeme in Horde, Stamm, Häuptlingstum und Staat u.a. auf die von Almond vertretene Ansicht an, dass die klassische Unterscheidung zwischen Staaten und Nicht-Staaten aufgegeben werden und man stattdessen von Gesellschaften sprechen sollte „in which the political structure is quite differentiated and clearly visible and those in which it is less visible and intermitted. We are dealing with a continuum and not a dichotomous destinction.“ Fried´s Typologisierung in „egalitarian, rank, stratified und state“ ist ebenfalls ein Versuch das sukzessive Hervortreten der politischen Dimension in Begriffe zu fassen. Fried betont hier vor allem den Übergang von sozialer Gleichheit zu sozialer Ungleichheit. Flannery unternahm den Versuch die beiden Typologien von Service und Fried miteinander zu verbinden. Flannery unterscheidet u.a. zwischen „egalitarian society, chiefdom, stratified society“. Die Horden und Stämme zählt er zu den egalitären Gesellschaften. Staaten führt es als Beispiel für stratifizierte Gesellschaften an. Ein wesentliches Unterschiedungsmerkmal bezüglich Horde, Stamm, Häuptlingstum und Staat ist u.a. die Relevanz, die der Verwandtschaft im politischen Bereich beigemessen wird. Horde, Stamm und Häuptlingstum basieren letztendlich auf verwandtschaftlich bestimmten, soziopolitischen Strukturen. a) Horde Das Wort Horde ist abgeleitet vom türk.-mongol. orda, ordu = Lager Die Horde weist u.a. folgende Charakteristika auf: 44 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 * kleine selbstgenügsame Gruppe * Subsistenzbasis ist eine Kombination aus Jagd, Sammeln und Fischfang * ungefähre Gleichheit des Reichtums * extensive Reziprozität * informelle Führerschaft * Fehlen einer signifikanten sozialen Stratifikation * relativ geringer Surplus * Fehlen signifikanter Eigentumsbeziehungen * Unmöglichkeit der Konzentration der Ressourcenkontrolle Politik und Verwandtschaftsbeziehungen in der Horde/Band: Die politischen Aktivitäten sind in den Hordengesellschaften vorwiegend auf der Ebene der Familie integriert. Die gesellschaftliche Differenzierung erfolgt primär auf verwandtschaftlicher Basis. Jede Person steht in einer affinalen oder Deszendenzbeziehungen zu einer anderen Person. Wo das Netz der Verwandtschaftsbeziehungen endet, dort sind auch die Grenzen der Gesellschaft. Die Arbeitsteilung existiert lediglich aufgrund von Alter und Geschlecht. Der Status des Individuums beruht entweder seiner Stellung im Rahmen des Verwandtschaftssystems (als Vater, Mutter, Bruder etc.) oder aufgrund persönlicher Fertigkeiten und Fähigkeiten (z.B. als großer Jäger). Die Hordengesellschaft wird als egalitär beschrieben. In diesen Gesellschaften gibt es keine herausgehobenen Statusposition. Hier hat potentiell jeder das Sagen. Die einzige soziale Organisationsform sind die durch verwandtschaftliche Bande zusammengehaltenen Haushalts- oder Residenzgruppen. b) Stamm deutsch: Stammes, tribale Gruppe; englisch: tribe, tribal group; franz. tribu. Der Stamm weist u.a. folgende Charakteristika auf: * kulturelle Homogentität * größere Bevölkerungszahl * signifikanter Surplus der wirtschaftlichen Aktivitäten * größerer ökonomischer Austausch als in Hordengesellschaften * nicht-stratifizierte Bevölkerung, die in ein gemeinsames Territorium eingebunden ist * Fehlen spefizischer zentralisierter Institutionen, wie sie z.B. der Staat aufweist * die Stammesmitglieder sind durch umfassende Verwandtschaftsbande miteinander verbunden Ein wesentliches Merkmal der Stammesorganisation ist die Deszendenzideologie. Sie ermöglicht es eine wesentlich größere Zahl von Personen als in einer Horde zusammenzufassen. Die einzelnen Lineages, Klans etc. werden hier durch die verwandtschaftliche Ideologie, d.h. durch die Postulierung einer gemeinsamen Deszendenz, nicht aber durch zentrale politische Autorität, zusammengehalten. Diese Deszendenzstrukturen können entweder nach dem Muster segmentärer gleichrangiger Lineages oder nach dem Prinzip der Conical Clans aufgebaut sein. (vgl. Ausführungen früher) Conical Clan: In Gesellschaften, die in Form der „conical clans“ aufgebaut sind, sind die einzelnen Gruppe entsprechend ihrer genealogischen Distanz zum realen oder fiktiven Ahnherrn hierarchisch geordnet. Solche „conical clans“ liefern die Basis für Unterscheidungen im sozialen Rang und treten daher vor allem in Häuptlingstümern in Erscheinung. 45 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Ein weiteres wesentliches Kennzeichnen der Stammesorganisation ist das Fehlen einer ausgeprägten Führerpersönlichkeit. Gemeinsamkeiten von Horde und Stamm: Horde und Stamm wurden in der Literatur meist als akephale Gesellschaften beschrieben, d.h. als Gesellschaften in denen es keine ausgeprägten Führungsinstanzen gibt und der Verwandtschaft eine wesentliche Bedeutung zukommt. Sowohl in der Horde wie im Stamm gibt es keine ständigen spezialisierten politischen und Verwaltungsinstanzen. Die Führerschaft ist „charismatisch“ bzw. an bestimmte Persönlichkeitscharakteristika gebunden und wird nur für bestimmte, klar definierte Bereiche anerkannt. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung beruht auf Alter und Geschlecht. Die einzelnen Haushaltseinheiten sind wirtschaftlich weitgehend autonom. Keine Gruppe ist der anderen - gemessen am sozialen Rang - übergeordnet. Stammesgesellschaften sind wie die Hordengesellschaften, noch egalitär. Allerdings können die Stammesgesellschaften bereits den Keim enthalten aus dem sich soziale Ungleichheiten entwickeln (vgl. führende Lineages). c) Big-Man-Systeme Gesellschaften, in denen sich politische Führer herauskristallisieren, die gegenüber anderen Personen dominieren und in denen im Keim soziale Ungleichheiten und eine gewisse soziale Stratifikation vorhanden ist, werden in der Literatur häufig als „Big-Man“ Systeme bezeichnet. Derartige Big Man-Systeme wurden vor allem für Melanesien und Polynesien beschrieben. Der Big Man ist ein Führer in einem relativ instabilen faktionalen politischen System. Seine Position hängt stark von seiner Fähigkeit ab persönliches Prestige zu erwerben. Der Big-Man ist mit einem ständigen Wettstreit mit anderen Big-Men konfrontiert. Er versucht seine Parteiung (d.h. seine Anhängerschaft) auf Kosten der anderen Big-Men zu erweitern und aufrechtzuerhalten. Das Big-Man System soll betrachtet werden als in der Mitte stehend zwischen dem Führerschaftsmodell in den Hordengesellschaften und dem Führer (Chief) in den Chiefdoms. (Seymour-Smith) Aus dem Big-Man System kann sich leicht ein Chiefdom entwickeln. Der Big-Man kann zum Häuptling (Chief) werden, wenn es ihm gelingt, seinen erworbenen Status auf einen Sohn oder sonstige nahen Verwandten zu übertragen. d) Häuptlingstum (engl. chiefdom) Um die Kluft zwischen egalitären Gesellschaften (Horde und Stamm) und den Staaten terminologisch und typologisch zu schließen wurde eine eigene Kategorie eingeführt. Charakteristika des Chiefdoms: * größere Spezialisation in der Arbeitsteilung * ökonomisches System mit vergrößertem Surplus, das auf der Redistribution basiert * Entstehung von sozialen Unterschieden, rudimentäre Ausbildung unterschiedlicher soziale Klassen * Entstehung einer zentralisierten Autorität, aber ohne formalen Apparat der Repräsentation oder der militärischen Macht. Das Häuptlingstum weist eine redistributive Wirtschaft auf. Beim obersten Häuptling 46 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 laufen regelmäßig über verschiedene Zwischenstufen Abgaben an Nahrungsmitteln, Handwerksprodukten und Rohstoffen ein, die dieser an seine nächsten Verwandten verteilt. Die Güterzirkulation im Häuptlingstum ist nicht mehr direkt und reziprok wie in der Horde oder im Stamm, sondern sie läuft über Zwischenträger. Die Güter gingen nun von den Produzenten zum Redistributionszentrum und von dort aus weiter zu den verschiedenen Konsumenten. Sie wurden dabei nach Maßgabe der Bedürftigkeit verteilt (Familiengröße, Ausgleich von Unglück etc.). Diese Redistributionen waren an regulär wiederkehrende Feste gebunden oder an Feste zur Feier sogenannter „Lebenskrisen“ (Rites de passage) des Häuptlings oder seiner nahen Verwandten, wie z.B. Geburt, Tod, Heirat etc. Gegenüber egalitäten Gesellschaften besitzt ein Häuptlingstum eine Reihe von Vorteilen, z.B. höhere Produktivität. Es ist arbeitsteiliger, unterschiedliche Berufssparten entstehen. Die Häuptlingsschicht ist in der Regel von den Arbeiten im Bereich der Sub-sistenzökonomie befreit und kann sich bevorzugt kriegerischem Training zuwenden. Der Häuptling kann mittels der Abgaben kriegerische Unternehmungen unterstützten. Im Gegensatz zu den akephalen politischen Systemen der tribalen Stufe der Evolution hat das Chiefdom eine zentralisierte Authorität, die eine Anzahl von lokalen Gemeinden verbindet, aber im Gegensatz zum Staat besitzt das Chiefdom keinen formalen Apparat der Repräsentation oder der militärischen Macht Ein Chiefdom besitzt ein ständiges „Nervenzentrum“ zur Koordination von Aktivitäten im ökonomischen, sozialen und religiösen Bereich. Es besitzt somit eine zentralisierte Führerschaft und ein „Regierungszentrum“. (Bargatzky) Zur Bezeichnung der Führer in den Chiefdoms wird meist der Begriff Chief bzw. Häuptling, bisweilen auch der Begriff Headman verwendet. Der Häuptling kann gewählt werden oder seine Position durch die Abstammung erlangen. Letzteres ist häufiger der Fall. e) Staat In der Ethnologie untersuchte man primär seine Entstehung, sowie seine Strukturen und Funktionen in der außereuropäischen Geschichte. In der Ethnologie und ihren Nachbardisziplinen geht man heute im Allgemeinen davon aus, dass der Staat eine historisch relativ späte Erscheinung ist, und dass er erstmals vor ca. 5.000 bis 6.000 Jahren in Südwest-Asien und Ägypten und im weiteren Verlauf selbstständig oder in Kontakt mit primären Staatsformationen in Asien, Europa, Afrika, Amerika sowie in Polynesien entstanden ist. Charakteristika des Staates (Streck): * ein Herrschaftsgebiet * monopolisierte Formen der Herrschaft und der politischen Gewalt (z.B. Heer, Polizei) * eine Instanz, welche die gesellschaftliche Zentralgewalt repräsentiert (z.B. in Gestalt eines Monarchen, einer lebenden Gottheit) * Delegierung der zentralen Gewalt u. Souveränität an untergeordnete Agenturen, z.B. staatl. Institutionen der Macht, des Rechtswesens, der Steuereinsammlung etc. * formelle und explizite Beziehungen zwischen Herrscher und Beherrschten * Vorhandensein einer übergreifenden nationalen Identität, einer Ideologie der Souveräntität, einer Mystik der Macht und der Erde, eines Kults und Ritus der Herrschaft 47 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Charakteristika des Staates (Bargatzky): * er ist zentralistisch organisiert, d.h. er wird von einer Klasse berufsmäßiger, administrativer Spezialisten verwaltet (z.B. Beamte, Priester, Militär, Manager) * die Stellung dieser berufsmäßigen administrativen Spezialisten beruht nicht mehr auf ihren Verwandtschaftsbeziehungen zu den ihnen unterstellten Personen, sondern hängt allein von der Autorität des Herrschers ab. Zur Aufrechterhaltung seiner Autorität ist der Herrscher auf min. drei Dinge angewiesen: 1) Er muss die Kontrolle über ein stehendes Heer oder eine Miliz ausüben, die ihm ergeben ist und durch Tribute unterhalten wird. 2) Seine Handlungsfähigkeit muss größer sein als es im Rahmen der verwandtschaftlichen Bindungen möglich ist. Diese Handlungsfreiheit wird durch die Kontrolle über das Heer gewährleistet. 3) Er muss über Güter verfügen können (z.B. um seine Soldaten zu entlohnen), ohne dabei auf die traditionellen Kanäle der Gütersammlung und Redistribution, wie dies im Häuptlingstum der Fall ist, Rücksicht nehmen zu müssen. Wesentlich für den Staat ist auch die Grundlage der Machtausübung. Im Staat sind nun die Formen der Machtausübung kodizfiziert, d.h. der Staat konstitutiert sich legal. Im Staat herrscht Vollspezialisierung bei der Arbeitsteilung vor. Im Rahmen der staatlichen Organisation haben wir es nun mit einer weitgehenden Arbeitsteilung zu tun, die bestimmten Gruppen der Bevölkerung ständig der Nahrungsmittelproduktion enthebt. Dies wird u.a. auch in der Kunst deutlich. Der Herrscher finanziert z.B. Künstler und Handwerker, die speziell und ausschließlich für repräsentative Belange des Hofes tätig sind. Mit der neuen gesellschaftlichen Arbeitsteilung im Staat, geht auch die Entstehung von sozialen Klassen einher, d.h. es entstehen nun Gruppen, die einen unterschiedlichen Zugang zu den lebenswichtigen natürliche und/oder sozialen Ressourcen haben. CROSS CUTTING TIES: ASSOZIATIONEN UND NETZWERKE Neben den bereits behandelten Aspekten Verwandtschaft, Alter und soziale Egalität bzw. Stratifikation gibt es noch andere Faktoren, die im Rahmen der Sozialstruktur bedeutsam sind. Dazu gehören u.a. jene Mechanismen, die Individuen bzw. Gruppen miteinander auf horizontaler Ebene verbinden. In der Ethnosoziologie werden diese Mechanismen der Gruppenbildung und der Schaffung von Netzwerken sozialer Beziehungen meist unter dem Begriff Cross-Cutting Ties bzw. Relationships behandelt. Begriff Cross-Cutting Ties: Wie der Name schon sagt, handelt es sich bei den Cross-Cutting Ties bzw. Relations um „überschneidende“ Bande. Individuen bzw. Gruppen werden dabei durch horizontale Beziehungen miteinander verbunden. (Seymour-Smith) Association: Bei den Assoziationen handelt es sich um Gruppen von Personen, die sich zusammenschließen bzw. zusammengeschlossen werden zu einem bestimmten Zweck, aus einem bestimmten Interesse oder wegen einer bestimmten Aktivität. (Seymour-Smith) 48 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Anzumerken ist, dass anstelle des Begriffs Assoziation auch der Begriff „Sodalität“ (engl. Sodality) verwendet wird. In der KSA erfuhr der Begriff „Assoziation“ meist eine noch umfassendere Bedeutung. Hier wird er meist verwendet für Gruppen, die nicht auf der Basis der Verwandtschaft oder des Territoriums gebildet werden. (Winthrop) Diverse Assoziationsformen: kontraktuell/nicht- kontraktuell, freiwillig/unfreiwillig, mit/ohne Zweck, formal/nicht formal, offen/beschränkt, inkorporiert/nicht-inkorporiert etc. Häufig vorkommende Assoziationsformen: a) Bünde/ Bundwesen Bünde als mehr oder weniger freiwillige Zusammenschlüsse sind ein in vielen Gesellschaften verbreitetes Phänomen. Es wird zwischen Männerbünden und Geheimbünden unterschieden. Männerbünde umfassen alle erwachsenen Männer einer Gemeinschaft. Geheimbünde haben nur wenige Mitglieder. Bünde haben ebenso wie die Verwandtschaftsgruppen verschiedenartige, politische, ökonomische und religiöse Funktionen. Die Aufnahme ist oft besonders ausgestaltet. Sie kann individuell erfolgen oder es werden größere Gruppen der männlichen oder weiblichen Bevölkerung in Initiationsriten aufgenommen. b) Stammesbruderschaften bzw. Stammesschwesterschaften Relativ häufig kommen sogenannten Stammesbruderschaften und Stammesschwesternschaften vor. Dies sind unfreiwillige Assoziationen auf der Grundlage des Geschlechts; das heißt, alle erwachsenen Männer oder alle erwachsenen Frauen müssen Mitglieder werden. Obschon die Stammesbruderschaften im interkulturellen Vergleich statistisch häufiger zu sein scheinen, werden in manchen Gesellschaften beide Typen vorgefunden, während Stammesschwesternschaften nur in wenigen vorkommen. c) Militärgesellschaften oder Kriegsbünde: Militärgesellschaften oder Kriegsbünde stellen einen anderen Assoziationstypus dar, bei dem die Mitgliedschaft freiwillig und aus diesem Grunde exklusiv ist (d. h. es werden nur einige Individuen Mitglieder). Viele nordamerikanischen Indianer, vor allem die Prärieindianer, hatten starke Kriegsbünde. d) Diverse Interessensgruppen Auch diverse Interessengruppen stellen einen Assoziationstypus dar. Interessensgruppen sind Gruppen, die von Personen gebildet werden, die irgendein Ziel durchzusetzen versuchen oder die ein Sonderinteresse miteinander gemeinsam haben. Beispiele dafür wären in unserer eigenen Gesellschaft z.B. die verschiedenen Autofahrerklubs, Greenpeace etc. Zwei weitverbreitete Formen von Interessengruppen in anderen Gesellschaften sind Vertragsfreundschaften und Handelspartnerschaften. Vertragsfreundschaften: Unter Vertragsfreundschaft versteht man eine Mehrzweck-Assoziation, die zwischen zwei Partnern von gleichem Sozialstatus eingerichtet wird, die das gleiche Geschlecht und ungefähr das gleiche Alter haben. Sie beinhaltet gegenseitige Verpflichtungen und Rechte, z.B. den Austausch von Geschenken und Gastfreundschaft, rechtliche, wirtschaftliche und 49 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 emotionelle Unterstützung usw. Handelspartnerschaften: Diese Handelspartnerschaften beziehen sich auf wirtschaftliche Austauschbeziehungen zwischen Individuen bzw. Gruppen. Besonders gut dokumentierte ethnographische Beispiele sind hier die Partnerschaften zwischen Hirtennomaden und sesshaften Bodenbauern. e) Friendship/Freundschaft: Schließlich ist noch auf die Freundschaften hinzuweisen. Diese wurden in der KSA jedoch sehr wenig untersucht. Am ehesten befasste man sich noch mit den sogenannte „formalen Freundschaften“, wo die Rechte und Pflichten jedes Partners genau festgelegt sind. Z.B. können Handelspartner solche „formalen Freundschaften“ eingehen. NETZWERKE und NETZWERKANALYSE Ein weiterer wichtiger Bereich der KSA, der insbesondere in neuerer Zeit an Bedeutung gewonnen ist, ist die Untersuchung von Netzwerken. Im Gegensatz zu den Assoziationen, wo es um die Organisationsstruktur von Gruppen geht, steht bei der Untersuchung von Netzwerken das Einzelindividuum, d.h. der einzelne Akteur, im Zentrum der Betrachtung. (Winthrop) Das Studium der sozialen Netzwerke und die Mobilisierung der Netzwerke muss in verschiedenen Kontexten ausgeführt und auf verschiedenen Ebenen betrieben werden, nämlich: * innerhalb einer formalen Organisation * innerhalb einer Gemeinde * innerhalb eines verstreuten Sets von Personen, die durch einige gemeinsame Interessen verbunden sind. (Seymour-Smith) PFLICHTLITERATUR Thomas Schweizer: Sozialstruktur als Problem der ethnologischen Forschung. (Muster sozialer Ordnung. Netzwerkanalyse als Fundament der Sozialethnologie. Kapitel 2) Netzwerk-Analysen entstanden nach dem 2.Weltkrieg: Ihr Ziel war es einen größeren Realismus in die Ethnographie zu bringen, indem die relativ informellen und oft vorübergehenden Beziehungen mit denen die Individuen in einem gegebenen sozialen Setting agieren, zu untersuchen. (Winthrop) Das Studium der Netzwerke befasst sich laut Seymour-Smith somit mit den interpersonalen Beziehungen und der Art in der diese arrangiert werden um Muster zu bilden, die wir soziale Netzwerke nennen. Die Netzwerk-Analyse ergänzt die Untersuchung stärker formaler und relativ permanenter sozialer Formen, wie z.B. Deszendenzgruppen oder Age-Sets. Die Netzwerkstudien legen Betonung auf die Untersuchung des persönlichen Verhaltens, 50 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 die Wahl und Strategien der Individuen. Sie sind daher auch eng verbunden mit der Aktion Theorie (Action Theory). Bei der Netzwerkanalyse nicht nur die Beziehungen Einzelner zu anderen Personen und Gruppen thematisiert, sondern auch soziale Gruppen (z.B. ethnische Gruppen) in Interaktion mit anderen Gruppen Gegenstand der Netzwerkanalyse sind. Unter dem Titel „Action Theory“ können ganz allgemein Studien der Gesellschaft und insbesondere der politischen Systeme zusammengefasst werden, die sich mit individuellen Akteuren und ihren Strategien in einem gegebenen sozio-politischen Kontext befassen. Themen der Action Theory: das Studium des politischen und wirtschaftlichen Wandels, das Studium der strukturellen Prinzipien die die politischen Aktionen ordnen, vergleichende historische Untersuchungen. Die Action Theory betont die dynamischen Arten des politischen Verhaltens z.B.: Strategien, Decision making, Maximierung. Die Manchester School of Anthropology ist eine interaktionistische Richtung der britischen Anthropologie, die von der Universität Manchester ausging. Zu ihren Hauptvertretern zählen: Max Gluckman, J. Clyde Mitchell, Victor Turner und Bruce Kapferer. Die Vertreter der Manchester School vertraten die Ansicht, dass das alte, von Bronisław Malinowski mit geprägte Prinzip des britischen Funktionalismus nicht mehr aufrecht zu erhalten sei, dass nur die Gegenwart zähle und Prozesse und historische Veränderungen als sekundär hintenanzustellen seien. Die „Manchester School“ ging erstmals in der Geschichte der britischen Sozialanthropologie dazu über, auch überlokale Faktoren (nämlich jene des Kolonialismus) mit zu analysieren seien und begannen, globale Systeme in ihrer Wechselwirkung mit den lokalen Strukturen zu untersuchen. DIE RITES DE PASSAGE deutsch: Übergangsriten, bisweilen auch als Transitionsriten bezeichnet „Übergangsriten, Rites de Passage, ein von A. van Gennep (1909) in die Völkerkunde eingeführter Begriff für Rituale und Zeremonien, die den in der Regel krisenhaften Übergang des Menschen von einem Lebensabschnitt zum anderen, etwa bei der Geburt, Heirat und Tod, kennzeichnen. Sie haben die Aufgabe, den Menschen beim Verlassen des bisherigen Zustandes vor den Anfeindungen feindlicher Mächte zu schützen. Van Gennep zufolge weisen alle Übergangsriten die gleiche Struktur auf: Trennung, das Übergangsstadium, bei dem das Individuum besonders gefährdet erscheint und die Inkorporation (Einfügung), bei der das Individuum in den neuen Stand versetzt wird, der mit einer neuen sozialen Rolle verbunden ist.“ (Hirschberg) Diese Abschnitte im Lebenszyklus (z.B. Erwachsenwerden, Heirat etc.) einer Personen, die einen Rollen- und Statuswechsel mit sich bringen, werden in zahlreichen Gesellschaften als gefährliche Situationen betrachtet. In der kultur- und sozialanthropologischen Literatur 51 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 werden diese Situationen oft unter dem Begriff „Lebenskrisen“ (engl. life crsis) abgehandelt. (Seymour-Smith) Aufgabe der Rites de Passage ist es nun diesen Übergang von einem Status zum nächsten bzw. vom einer Rolle zur nächsten zu erleichtern und die mit dem Verlassen des bisherigen Zustandes verbundenen Gefahren des Einzelnen, aber auch der Gesellschaft als Ganzes zu neutralisieren. Im Zentrum von van Gennep´s Analyse stand die Beschäftigung mit jenen Riten, die in zahlreichen Gesellschaften die einzelnen Lebenskrisen (Geburt, Heirat, Tod) begleiten und helfen sollen, dass der als gefährlich erachtete Status- und Rollenwechsel bewältigt werden kann. Dabei erkannte er, dass die Übergangsriten, trotz unterschiedlicher Ausgestaltung überall eine gleiche Grundstruktur aufweisen, die aus drei unterschiedlichen rituellen Stadien besteht: 1) Stadium der Trennung bzw. Separierung: hier erfolgt eine Trennung von der früheren sozialen Stellung oder dem früheren Leben. 2) Stadium des Übergangs, auch „Liminalität“ genannt: Diese Phase umfasst jene Periode, in der sich das Individuum in einem Zustand des „Zwischenzustandes“ (d.h. der Liminalität) zwischen dem vorherigen Lebensabschnitt bzw. der vormals eingenommenen Rolle und dem zukünftigen Lebensabschnitt und der neuen Rolle befindet. Diese Periode wird als ein besonders gefährlicher Zustand betrachtet. 3) Stadium der Re-Inkorporaton: hier erfolgt nun die Wiederaufnahme des einzelnen Individuums mit einem neuen sozialen Status und neuen Rollen in die Gesellschaft. Am deutlichsten tritt das oben kurz dargestellte Schema bei den sogenannten Initiationsriten in Erscheinung. Initiationsriten: „Initiation: Die individuelle oder kollektive Einführung in eine Lebensphase (Erwachsensein, heiliges oder profanes Amt) oder Menschengruppe (Bund, Orden, Zunft) wurde erstmals von Lafiteau Initiation genannt, der die Reifefeiern der Irokesen und Kariben mit den Weihezeremonien antiker Mysterienkulte verglich.“ Der Zeitpunkt der Initiation kann sehr verschieden sein. Er kann, muss aber nicht, mit der psychologischen Pubertät der Initianden zusammenfallen, da vielmehr die soziale als die geschlechtliche Reife markiert wird. Mädchen werden seltener initiiert als Knaben, deren Reifefeiern auch meist strenger und komplexer verlaufen. Die Initiationsriten, die meist von den Ethnologen studiert werden, sind jene, die für Knaben oder Mädchen durchgeführt werden um ihren Statuswechsel von Kindern zu reifen Mitgliedern der Gesellschaft zu markieren „...capable of sexual activity and/or marriage.“ In den meisten Gesellschaften umfassen diese Rituale physische Operationen am Körper wie z.B. Beschneidung oder andere Formen der Verstümmelung, der Markierung des Körpers. 52 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 ETHNISCHE GRUPPE/ETHNIZITÄT The orgins of the term “ethnic”: The term “ethnic” derives from the Greek terms “ethnos” and “ethnikos”, referring to a group of people sharing common customs. (Winthrop und Cahmore) Definition der ethnischen Gruppe: „ethnic group, minority: any group of people, or minority within a nation-state (ethnic minority), who define themselves as a group by reference to claims of common decent, language, religion, or race.” (Barnard/Spencer) Definition von Ethnicity: The term ethnicity refers as Seymour Smith points out to “… the identification and labelling of any grouping or any category of people. …. to the explicit or implicit contrasts made between the identified group and another group or category.“ Thus, the study of ethnicity focuses precisely on the interrelation of cultural and social process in the identification of and interaction between such groups.” PFLICHTLITERATUR Erwin Orywal und Katharina Hackstein: Die Konstruktion ethnischer Wirklichkeiten (Handbuch der Ethnologie. pp.593-608) The Study of Ethnic Groups in the Social Sciences: Systematische Studien über ethnische Gruppen wurden in den USA schon in den 1920iger Jahren von den Soziologen der „Chicago School“ durchgeführt. Hier ist vor allem auf die Untersuchungen W.I. Thomas und Ezra Park zu verweisen. U.a. ging es dabei um die Prozesse der Assimilation ethnischer Gruppen (z.B. ital. Einwanderer, afro-amerikanischer Gruppen) in die dominanten weißen Gesellschaft. Three approaches to the understanding of ethnicity (Sergey Sokolovskii und Valery Tiskov): They can be categorized as: * primordialist approach * instrumentalist approach * constructivist approach 1) The primordialist approach: The primordialist approach is also sometimes labelled as an “objectivist theory” which implies that it is “objective” factors, e.g. common or shared descent, language, territory, etc. that constitute ethnicity. According to the supports of the primordialist approach a number of real, tangible foundations of ethnic identification exist. 2) The Instrumentalist approach: The instrumentalist approach has is intellectual roots in sociological functionalism and therefore treats claims to ethnicity as a product of political myths. The instrumentalists are of the opinion that elite groups in society create and manipulate these political myths in their pursuit of advantages and power. 3) The constructivist approach: This approach, which is sometimes also labelled as „situationalist approach“, focuses rather on “subjective” factors in defining an ethnic group or ethnicity. 53 www.ksa-nadine.jimdo.com 2012/2013 Fredrik Barth, sein Ansatz und seine Bedeutung: Fredrik Barth´s edited volume “Ethnic groups and Boundaries”, published in 1969, became on of the most influential and widely cited anthropological essay on ethnicity. (Keys) Following Barth´s study the general approach to ethnicity shifted towards a social constructionist model of ethnic groups. (Jenkins) Schlüsselmerkmale von BARTH´s Ansatz: (1) First, the analysis of ethnicity starts from the definition of the situation held by social actors. (2) Second, the focus of attention then becomes how ethnic boundaries are maintained or changed in the structured interactions between “us” and “them” which, takes place across boundaries. (3) Third, the ethnicity of actors is not necessarily fixed; it is defined situationally. (4) Fourth, ethnic identity depends on ascription, by members of the ethnic group in question and by outsiders with whom they interact. (5) Fifth, ethnicity is not a matter of “real” cultural differentiations; differences are in the eye of the beholder, the “cultural stuff” which had been hitherto believed to determine group identification is somewhat irrelevant. PFLICHTLITERATUR Frederik Barth: Towards greater naturalism in conceptualizing societies (Conceptualizing Society. pp.17-33) (Ende Skript Teil 5) 54