Die Schule der Adlerkrieger

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AZTEKEN – KRIEGERISCHE GELEHRTE
Der Alltag der Azteken ist bis ins Detail überliefert: wie sie ihre
Geburten feierten, was ihre Kinder lernten und
wieso man besser als Krieger oder werdende Mutter starb
Die Schule der Adlerkrieger
Von RAINER LEURS
Schwangerschaft
und Geburt
„Hört alle, die ihr hier versammelt seid:
Wisset alle, dass unser Herr Erbarmen
mit uns gehabt hat, denn er hat in die
junge Frau einen Edelstein gelegt, eine
Schmuckfeder, denn die junge Frau ist
schwanger“ – mit derart blumigen Worten pflegten die Alten den Nachbarn mitzuteilen, dass eine verheiratete Frau aus
der Sippe ein Kind erwartet. Stets war
eine solche Nachricht Anlass für ein Fest,
bei dem zumindest reichere Familien ausgiebig ihren Leidenschaften frönten: Es
gab gutes Essen, natürlich, aber auch ausufernde Ansprachen, wie sie die Azteken
bei jeder Festivität zum Besten gaben.
Überliefert sind viele der schnörkelreichen Elogen im Florentiner Codex
von Bernardino de Sahagún aus der
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Mitte des 16. Jahrhunderts. Wie ein Ethnologe beschäftigte sich der Franziskanermönch mit Sitten und Gebräuchen
der Azteken; er lernte ihre Sprache und
verfasste ein umfangreiches Werk.
Demnach ist schon der Tag der Geburt geprägt von allerlei Festreden, mit
denen der neue Erdenbürger rührend
umständlich willkommen geheißen wird.
Das Erste, was ein Azteken-Baby von der
Welt zu hören bekommt, ist jedoch keine
Ansprache, sondern ein gellender Kampfschrei. Den stößt die Hebamme aus, um
der Mutter Respekt zu erweisen: Geburt
und Krieg, das ist in den Augen der Azteken dasselbe; mit der Niederkunft hat die
junge Frau eine lebensgefährliche und
blutige Schlacht gemeistert wie ein Krieger, sie hat im bildlichen Sinne einen Gefangenen gemacht: ihr Kind.
„Sei willkommen, meine Tochter, wir
freuen uns deiner Ankunft, vielgeliebtes
Jüngferchen, Edelstein, Schmuckfeder,
köstliches Ding!“, setzt die Hebamme, die
„Ticitl“, schließlich an: „Du sollst nicht
seufzen noch weinen, dass du gekommen
bist.“ Mitunter tagelang empfangen die
jungen Eltern Nachbarn, Verwandte und
Freunde, die das Baby ihrerseits mit zeremoniellen Reden preisen – und dafür, je
nach Einkommen, mit Essen und alkoholischem Pulque-Gebräu bewirtet werden.
Spätestens 20 Tage nach der Geburt
steht für den Säugling mit der rituellen
Namensgebung der nächste Festakt an.
Ein Wasserbecken wird dazu auf eine
Schilfmatte gestellt, daneben legt die Ticitl liebevoll gestaltete Mini-Requisiten:
Für kleine Jungs gibt es Pfeil und Bogen
sowie einen winzigen Schild aus Amaranthgebäck, Mädchen bekommen Spindel, Spinnwirtel und Webholz im Miniaturmaßstab. Die Hebamme, die bei den
Azteken auch die Funktion einer Pries-
terin erfüllt, badet den Täufling und hebt
ihn unter feierlichen Versen viermal gen
Himmel. Schließlich nennt sie den Namen des Babys.
Dass der neue Name sich herumspricht, dafür sorgen die Kinder aus der
Nachbarschaft: In alle Richtungen rennen sie nach der Zeremonie davon, krakeelen den Namen des Säuglings herum
und preisen ihn als Krieger, der der Sonne Speise und Trank verschaffen werde.
Das jedenfalls tun sie bei männlichen
Neugeborenen – ob Mädchen ebenfalls
so wohlwollend begrüßt werden, darüber verraten die Quellen nichts.
Kindheit und Schule
Die kriegerischen und manchmal auch
grausamen Azteken bilden eine Gesellschaft, in der Kinder wichtig genommen
und liebevoll behandelt werden. Bis zum
dritten oder vierten Lebensjahr lässt
man die Kleinen unbeschwert spielen,
bevor die Eltern sie behutsam an Aufgaben im Haushalt heranführen. Jungen
lernen zum Beispiel, Wasser zu holen,
Mädchen das Spinnen.
Wohl um die Aufnahme als nützliches Mitglied der Gesellschaft zu feiern, findet alle vier Jahre ein rituelles
Trinkfest statt für die Kinder, die in
diesem Zeitraum geboren wurden. Bei
dem Fest, genannt „Pillahuanaliztli“, bestimmen die Eltern Paten für ihren
Sprössling; vor allem aber lassen sie ihm
Ohrläppchen und Nasenscheidewand
durchbohren. Dort sollen sie später
Schmucksteine tragen, als Zeichen ihres
sozialen Status.
Den Abschluss der Feier bildet ein Saufgelage, an dem anscheinend auch die Kinder selbst teilnehmen – die Allerkleinsten
lässt man allerdings nur zum Schein am
SPIEGEL GESCHICHTE
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GLOWIMAGES
Blutorgien auf dem Templo Mayor,
Priester, die ihren Opfern mit Obsidianklingen die zuckenden Herzen
aus der Brust schneiden: Bis heute
sind es vor allem solche Bilder, die mit
der Kultur der Azteken verbunden
werden. Und tatsächlich gab es ihn ja
auch, den aus heutiger Sicht bizarren
Opferkult. Dass solche Riten jedoch
nur einen kleinen Teil des aztekischen
Alltags ausmachten, wird häufig vergessen.
Dabei weiß man verblüffend viel darüber, wie das normale Leben dieser
Menschen aussah: Überliefert sind faszinierende Schilderungen von Geburt,
Kindheit und Ausbildung, von Arbeitsund Festtagen – Bilder vom Werden
und Vergehen der Mexica, wie sich die
Azteken selber nannten.
Erziehung nach
Geschlecht – linke
Spalte Jungen, rechte
Mädchen. Der Knabe
wird über den Rauch
gehalten und muss
nackt im Kalten schlafen, das Mädchen nur
die Nähe des Feuers
erdulden. Später lernt
der Junge, Feuerholz
zu tragen und zu
fischen, das junge
Mädchen fegt, backt
Tortillas und webt.
Codex Mendoza
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AZTEKEN – KRIEGERISCHE GELEHRTE
Pulque nippen. Das weißlich-trübe Gebräu aus fermentiertem Agavensaft ist bis
heute ein Nationalgetränk Mexikos.
„Alle sind trunken, auch die Erwachsenen“, so Sahagún über den sinnenfrohen Ausklang des Fests. „Sie sind ganz
rot im Gesicht, sie lärmen, sie keuchen,
sie wälzen sich einer über den anderen.
Man sagt: Das ist das richtige Weinfest.
Das ist das Weintrinken der Kinder.“
Weniger ausschweifend geht es auf
den internatsartigen und nach Geschlechtern getrennten Schulen zu, die aztekische Kinder frühstens mit zehn Jahren
besuchen. Über die Ausbildung der Mädchen ist wenig bekannt. Jungen aus einfachen Familien besuchen das sogenannte „Telpochcalli“ – eine Art Volksschule.
Hier stehen praktische Fertigkeiten im
sollen die Krieger Gefangene machen,
als Nachschub für den Menschenopferbetrieb der Priesterschaft.
Präzise reguliert ein Beförderungsschema, welchen Rang ein Kämpfer einnimmt, sobald er eine bestimmte Zahl
Feinde gefangen hat: Drei davon machen
ihn etwa zum Leiter einer TelpochcalliSchule, bei vieren wird er Mitglied des
Kriegsrats. Als Belobigung gibt es vom
Herrscher jeweils besonders gemusterte
Umhänge, jede Veränderung im Rang
wird sichtbar gemacht.
Historiker glauben, dass auch die Waffentechnik der Azteken speziell darauf
ausgerichtet ist, Gegner lebend zu fangen. So sind Distanzwaffen wie Pfeil und
Bogen zwar bekannt, aber nicht weit verbreitet, ebenso wenig wie Speere. Das
„Alle sind trunken. Man sagt:
Das ist das richtige Weinfest.“
Vordergrund, Landwirtschaft, die Jagd
und nicht zuletzt das Kriegshandwerk.
Abkömmlingen des Adels wiederum
und in seltenen Fällen auch Jungen aus
dem Volk ist das „Calmecac“ vorbehalten, eine Eliteschmiede mit asketischen
Hausregeln, deren Besuch Voraussetzung ist für alle politischen wie religiösen Ämter. Unterrichtet werden dort der
Gebrauch des rituellen Kalenders, Geschichte, Mathematik, Architektur,
Astronomie, aber auch Ackerbau und
Kriegsführung.
Beachtlich ist dabei, dass die Wissensvermittlung komplett in mündlicher
Form stattfindet. Zu begrenzt ist die aztekische Bilderschrift, als dass sie in
Lehrbüchern funktionieren könnte. Rhetorikunterricht war daher stets eng mit
den übrigen Fächern verbunden, hebt
der US-amerikanische Azteken-Experte
Richard F. Townsend hervor: „Gelehrt
zu sein bedeutete gleichzeitig, ein Meister des Ausdrucks zu sein, ein Redner,
ein Dialektiker.“
Kriegsdienst und
Karriere
Militärischer Erfolg und gesellschaftlicher Aufstieg sind bei den Azteken untrennbar miteinander verbunden. Nur
wer sich auf dem Schlachtfeld bewährt,
kommt für Führungspositionen in Frage.
Vornehmstes Ziel im Kampf ist es allerdings nicht, möglichst viele Gegner zu
töten oder Städte zu erobern. Vielmehr
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Ideal stellt vielmehr der Nahkämpfer dar,
der Jaguar- oder Adlerkrieger, der mit
Obsidianschwert in der Hand auf den
Feind losgeht. Bei dieser Hiebwaffe handelt es sich um eine Art Holzpaddel, das
mit rasiermesserscharfen Splittern aus
Gesteinsglas versehen ist – ein effektives
Werkzeug, mit dem man sogar Arme
oder Beine abtrennen kann.
Um zu lernen, wie man damit im
Ernstfall umgeht, werden Jünglinge bereits auf der Schule im Nahkampf unterwiesen. So früh wie möglich schickt man
sie als Helfer auf Feldzüge mit; erfahrene Krieger nehmen sie unter ihre Fittiche. Zunächst dürfen diese Rekruten
nur Waffen und Gepäck schleppen, doch
schon bald tun sie sich in Gruppen zusammen, um gemeinsam einen Feind zu
fangen. Haben die Neulinge das geschafft, wird ihnen feierlich die Haarlocke abgeschnitten, die aztekische Jungen am sonst kahlgeschorenen Hinterkopf tragen.
Wer dagegen mehrfach ohne menschliche Beute nach Hause kommt, der ist
gesellschaftlich erledigt. „Den mit der
starken Hinterhauptlocke“ nennen ihn
die anderen mit beißendem Spott.
Sahagún berichtet von der traditionellen Abfuhr, die aztekische Mädchen
solchen Kriegernieten erteilten, wenn
sie von ihnen angesprochen wurden:
„Der mit der Hinterhauptlocke kann tatsächlich sprechen! Kannst du wirklich
sprechen? Kümmere dich lieber darum,
wie du deine Hinterhauptlocke loswirst!
Stinkende Haarlocke, bist du nicht auch
nur eine Frau wie ich? Deine Scheiße ist
auch noch nirgendwo anders verbrannt
worden.“
Hochzeit und Familie
Überraschend locker gibt sich die aztekische Gesellschaft bei der Eheanbahnung. Die Heirat aus Liebe, wie wir sie
heute anstreben, kommt durchaus vor;
geduldet wird auch eine Art vorläufige
Ehe, bei der Mann und Frau ohne Treueverpflichtung zusammenleben – bis zur
Zeugung des ersten Kindes jedenfalls.
Das größte gesellschaftliche Prestige
und das größte zeremonielle Brimborium bringt jedoch eine andere Art der
Eheschließung: jene, bei der die Eltern
einen Partner für ihr Kind aussuchen.
Detailliert beschreibt die deutsche Forscherin Caecilie Seler-Sachs 1919 in
ihrem Klassiker „Frauenleben im Reiche
der Azteken“ den Ablauf: Sobald die
Eltern demnach sehen, dass der Sohn
das heiratsfähige Alter erreicht hat,
kommt der Familienrat zusammen, und
der Vater ergreift das Wort. „Es ist an
der Zeit, dass wir für unseren armen
Sohn eine Frau suchen, damit er keine
Torheit begehe, keine Unzucht mit Weibern treibe, denn schon ist er ein Mann.“
Gemeinsam macht sich die Sippe daran,
eine geeignete Braut aufzutreiben. Ist
diese gefunden, werden Vermittlerinnen
engagiert – Frauen im Priesterrang, die
in der Folge eine höchst amüsante Form
der Verlobungsdiplomatie aufnehmen.
So ziehen die Vermittlerinnen zum
Elternhaus der Braut und berichten dort
von den Herzensnöten, die einen gewissen Jüngling aus der Nachbarschaft beklemmten. Natürlich geht das Ganze einher mit allerlei Höflichkeitsformeln und
Rhetorikgirlanden, wie Seler-Sachs beschreibt: „Man antwortete ihnen mit Ausflüchten, die Tochter sei noch zu jung für
die Ehe, zu unerfahren und des Bräutigams nicht würdig.“ Traditionell wiederholt sich das Schauspiel dreimal – erst
beim letzten Besuch willigen die Brauteltern schließlich ein und versprechen
mit gespieltem Widerwillen, die Tochter
zumindest um ihre Meinung zu bitten.
Sind alle Beteiligten mit der Verbindung einverstanden, beginnen die Vorbereitungen für das große Hochzeitsfest.
Kakaobohnen und Pulque werden gekauft, Blumen beschafft, Essgeschirr für
die Gäste organisiert. Mais muss gemahlen werden; tagelang bereitet die Familie
Tamales vor – jene in Mexiko noch heute
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ULLSTEIN BILD / ACTION PRESS
Azteken-Hochzeit:
Bei Anbruch der
Dunkelheit wird die
Braut zum Haus des
Bräutigams getragen
(unten). Dort
werden die Umhänge
der Brautleute
verknüpft. Nach
dem Hochzeitsmahl
geben die Älteren
dem Paar Ratschläge
für eine gute Ehe.
Codex Mendoza
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beliebten gefüllten Teigtaschen, die in
Mais- oder Bananenblätter eingewickelt
und gegart werden.
Am Vorabend der eigentlichen Hochzeit wird die Braut zeremoniell gebadet,
angekleidet und mit roten Federn geschmückt, ihr Gesicht mit goldglitzerndem Pyrit-Makeup geschminkt. Schließlich zieht die Hochzeitsgesellschaft in
einer Prozession zum Haus des Bräutigams: Fackelträger säumen den Weg, und
eine der älteren Verwandten trägt die
Braut in ein Tuch gewickelt huckepack.
Im Haus des Mannes angekommen,
nehmen die Brautleute nebeneinander
vor dem Herdfeuer Platz. Symbolisch
schließt eine Hebamme den Bund fürs
Leben, indem sie die Gewänder der beiden miteinander verknotet. Anschließend füttert die Schwiegermutter das
Paar mit Tamales, vier Bissen für jeden;
es ist die erste Mahlzeit, die beide als
Eheleute zu sich nehmen.
Schließlich wird das Paar in seine
Kammer geführt. Priesterinnen bewachen die Tür von außen, damit niemand
die Hochzeitsnacht stört. Unterdessen
feiern die Gäste draußen weiter – geschlagene vier Tage und Nächte.
Sex und Anstand
Auf den ersten Blick scheint im alten
Mexiko ein eher prüdes Regiment geherrscht zu haben. Großen Wert legen
die Azteken auf das Bedecken ihrer Blöße, anders als freizügigere Nachbarvölker wie die Huaxteken. Darstellungen
von Liebesszenen oder Phallussymbolen, wie man sie von anderen Kulturen
kennt, sind in der aztekischen Kunst unüblich. Der Altamerikanist und Ethnologe Berthold Riese stellt fest: „Nach
außen war die Gesellschaft sehr auf
Zurückhaltung und Respekt vor dem
Individuum, seinem Körper und seiner
Geschlechtlichkeit bedacht.“
Gleichzeitig gehen die Azteken pragmatisch mit ihren körperlichen Bedürfnissen um. Aufgedonnert und Chicle
kauend werben in den Gassen der Metropole Tenochtitlan Dirnen um Kundschaft. Kuppler und Transvestiten genießen zwar kein gesellschaftliches Prestige,
werden aber geduldet. Ein ausschweifendes Sexualleben billigen die Azteken
freilich nur jungen Männern zu, die sich
bis zur Hochzeit austoben dürfen. Was
von Mädchen erwartet wird, ist in der
Mahnrede einer Mutter an ihre Tochter
überliefert: „Gib dich keinem Manne hin,
lass dich von keinem nehmen, denn
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wenn du dein Jungferntum verlörest,
wirst du niemals gut mit deinem Gatten
leben!“
Ist die Ehe dann einmal geschlossen,
erwartet die Gesellschaft von beiden
Partnern Treue. Wer gegen dieses Gebot
verstößt, dem droht die Steinigung auf
offener Straße. Gelegenheit zum gesellschaftlich akzeptierten Fremdgehen bieten lediglich bestimmte Feiern mit sexueller Note, etwa das bereits beschriebene
Weinfest für die Kinder.
Dass es im Alltag dennoch zu außerehelichen Fehltritten kommt, versteht
sich von selbst. So berichtet ein azteki-
Azteken-Rentner hemmungslos betrinken, während der Pulque-Genuss für
alle Jüngeren streng limitiert war.
Obwohl Senioren als weise galten und
in Ältestenräten durchaus politisch Einfluss nahmen, bleibt fraglich, wie erstrebenswert ein hohes Alter war. Denn
nach Vorstellung der Azteken entscheiden vor allem Art und Zeitpunkt des
Todes, wie es dem Menschen im Jenseits
ergeht. So dürfen Krieger, die auf dem
Schlachtfeld fallen, die Sonne auf ihrem
Weg übers Firmament begleiten. Damit
erreichen sie die höchste Form des Paradieses – spannenderweise ebenso wie
„Ihr Männer, ihr seid ohne Lust,
ihr seid verbraucht.“
scher Herrscher von zwei Greisinnen,
die beim Verkehr mit jungen Priestern
ertappt werden und nun wegen Ehebruchs bestraft werden sollen. Voller
Erstauen werden sie befragt: „,Großmütter, hört! Habt ihr etwa immer noch
Verlangen nach den irdischen Dingen,
seid ihr nicht abgekühlt, da ihr doch
schon so alt seid?‘ Sie sagten ihm: ‚Ihr
Männer, ihr seid ohne Lust, ihr seid
verbraucht, es ist vorbei, da ist keine
Begierde mehr. Doch höre, wir Frauen,
wir haben Lust! Denn eine Höhle, ein
Abgrund ist in uns, die nur das erwartet,
was ihre Gabe ist. Und deshalb, wenn
du nicht mehr fähig bist, wenn du es
nicht mehr schaffst, wozu sollst du
dann noch gut sein?‘“
Die Klage der alten Frauen kam nicht
von ungefähr: Nach der aztekischen Vorstellung von Sitte und Anstand war
Sexualität auf das Notwendige zu reduzieren, wie Riese anmerkt. „Insofern haben die Azteken eine Sexualmoral gepflegt, die der europäischen zu Beginn
des 20. Jahrhunderts nicht unähnlich
war.“
Alter, Tod und Jenseits
Über die Lebenserwartung der Azteken
ist wenig bekannt. Erste Angaben dazu
stammen aus der Zeit der spanischen Eroberer, als in Mittelamerika bereits die
eingeschleppten Seuchen wüteten. Gesichert ist dagegen, ab wann man in dieser Hochkultur als alt angesehen wurde
– mit 52 Jahren nämlich, analog zum
rituellen Kalenderzyklus. In diesem
Alter begann der Ruhestand mit bestimmten Privilegien: So durften sich
Frauen, die im Kindbett sterben: Auch
hier sind Krieg und Geburt metaphorisch ein und dasselbe.
Nach aztekischer Überzeugung gelangen Ertrunkene und vom Blitz Erschlagene in das Reich des Wassergottes. Wer
dagegen von Alter oder Krankheit hinweggerafft wird, der geht in die Unterwelt „Mictlan“, die der Verstorbene nur
durch eine beschwerliche Reise erreicht.
„Du gehst nach dem finstersten Orte, wo
es kein Licht gibt und keine Fenster, und
du wirst nicht wieder von dort weggehen“, heißt es in der überlieferten Rede
eines Alten am Totenlager. „Deine armen Kinder und Enkel hast du verwaist
gelassen, du weißt nicht, wie sie die
Mühseligkeiten des Lebens überwinden
werden. Wir aber werden dir dahin folgen, wohin du jetzt gehst, ehe viel Zeit
verstrichen sein wird.“
Mit einem Jadestein zwischen den
Lippen wird der Tote verbrannt, seine
Asche in einer tönernen Urne beigesetzt,
oft im Boden des eigenen Hauses. Es ist
der Endpunkt eines Lebens, das die Azteken als Kreislauf begreifen, mit Kindheit, Jugend, Alter und Tod als immer
gleichen Stationen. Bestätigt sehen sie
sich auch dadurch, dass manche Greise
wieder zu Kindern werden.
Der Gedanke an die Vergänglichkeit
ist in den überlieferten Reden stets präsent – schon im Moment der Geburt. „So
klein du auch bist, kann dich doch der
rufen, der dich schuf“, spricht die weise
Hebamme, die Ticitl, vor dem Schnitt in
die Nabelschnur. „Dann wirst du sein
wie etwas, das vor unseren Augen vorüberzieht: Wir sehen dich einen Augenblick, und dann nicht mehr.“
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DE AGOSTINI PICTURE LIBRARY / AKG
Kriegertypen:
Die Azteken hatten
verschiedene militärische Orden – die
Garde „mit dem
geschorenen Kopf“,
die Jaguar-Kämpfer
oder Soldaten mit
dem QuetzalfederSchild.
Codex Mendoza
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