Gioacchino Rossini Aschenbrödel Schlossfestspiele Sondershausen 2008 Angelina (Karita Jungar), Ramiro (Karol Cieplucha) „Rossini, divino Maestro, verzeih meinen armen Landsleuten, die deine Tiefe nicht sehen, weil du sie mit Rosen bedeckst, und denen du nicht gedankenschwer und gründlich genug bist, weil du so leicht flatterst, so gottbeflügelt!“ Heinrich Heine Gioacchino Rossini Aschenbrödel oder Der Triumph der Tugend Komische Oper in 2 Akten Libretto von Jacopo Ferretti Uraufführung am 25. Januar 1817 in Rom Eine Veranstaltung der Theater Nordhausen / Loh-Orchester Sondershausen GmbH im Auftrag der Stadt Sondershausen 4 Liebe Besucherinnen und Besucher der Schlossfestspiele Sondershausen, sehr geehrte Damen und Herren, nach den großen Erfolgen der vergangenen zwei Jahre mit „Die Hochzeit des Figaro“ und „Die Fledermaus“ freue ich mich, Sie bereits zum dritten Mal zu den Schlossfestspielen Sondershausen begrüßen zu können. Seien Sie herzlich willkommen! Gespannt sein dürfen Sie in diesem Sommer auf eine ganz besondere Oper des Italieners Gioacchino Rossini: Mit „Aschenbrödel“ schuf der Komponist aus dem uns allen sicherlich seit der Kindheit wohlvertrauten Märchen eine der lebendigsten komischen Opern mit einer zauberhaften Musik. Erneut darf ich Ihnen ein herausragendes internationales Ensemble junger Sänger präsentieren. Hier erleben Sie vielleicht schon die Stars von morgen. Auch Sondershäuser Schüler haben sich mit „Aschenbrödel“ beschäftigt: Die Patenklasse der Schlossfestspiele hat eigene Bühnenbilder und Kostüme entworfen, die wir Ihnen in der Ausstellung im Vestibül des Schlosses zeigen und zu der ich Sie herzlich einlade! Ich wünsche Ihnen unvergessliche Stunden mit „Aschenbrödel“ im historischen Schlosshof der Musik- und Bergstadt Sondershausen. Ihr Joachim Kreyer Bürgermeister der Stadt Sondershausen 5 Tisbe (Katharina Heiligtag), Don Magnifico (Amit Friedman), Clorinda (Sandra Spiess) Die Handlung 1. Akt: Der Beginn der Oper zeigt Angelina mit ihren beiden Stiefschwestern Clorinda und Tisbe: Die Schwestern schwärmen von der eigenen Schönheit, Angelina behandeln sie wie eine Magd. Sie selbst sitzt am Ofen und singt ein Lied von einem König, der sich bei der Wahl seiner Frau nicht von Schönheit und Eitelkeit blenden lässt. Auf der Suche nach einer Braut hat der Prinz Ramiro den Philosophen Alidoro losgeschickt, damit dieser sich nach einer für ihn passenden Frau umschaut. Alidoro taucht als Bettler im Hause Don Magnificos, dem Vater von Clorinda und Tisbe, auf. Seine beiden Töchter zeigen sich dem Bettler gegenüber ungnädig und wollen ihn fortschicken, während ihm die Stieftochter Angelina heimlich Kaffee und Brot gibt. Das sehen die Stiefschwestern gar nicht gern. Ihre Beschimpfungen gegenüber Angelina werden jedoch jäh unterbrochen durch die Ankunft von Höflingen, die eine Einladung des Prinzen Ramiro zu einem Ball überbringen. Er möchte sich dort seine zukünftige Braut suchen. In hektischer Aufregung bereiten sich Clorinda und Tisbe sogleich auf den Abend vor. Don Magnifico sieht sich schon durch die Hochzeit zwischen dem Prinzen und einer seiner zwei Töchter von seinen Schulden befreit, als Ramiro selbst das Haus betritt. Alidoro ist überzeugt, dass Angelina die passende Frau für den Prinzen ist. Ramiro hat sich jedoch als Diener verkleidet: Um nicht seines hohen Standes wegen geheiratet zu werden, möchte er zunächst unerkannt bleiben. Begleitet wird er von seinem Kammerdiener Dandini, der nun wiederum als Prinz erscheint und sich als der Brautsuchende ausgibt. Der verkleidete Ramiro und die in schlechte Kleider gehüllte Angelina verlieben sich sogleich ineinander, während der vermeintliche Prinz die Aufmerksamkeit der beiden Schwestern auf sich zieht. Angelinas Bitte, mit auf den Ball gehen zu dürfen, schlägt ihr Stiefvater aus. Als Alidoro ihn darauf hinweist, dass er doch – laut offizieller Dokumente – eine dritte Tochter haben müsse, erklärt Don Magnifico diese gar für tot, eine Verleumdung, gegen die Angelina heftig, jedoch vergeblich protestiert. Allein Alidoro kann sie trösten, prophezeit einen 6 baldigen Wandel ihres Schicksals und führt sie zum Fest. Auf dem Fest versuchen sich Tisbe und Clorinda im Gespräch mit Dandini gegeneinander auszuspielen. Eitel und arrogant seien die Schwestern, so kann Dandini dem Prinzen berichten, und dieser beschließt, keine der beiden Frauen zur Braut zu nehmen. Dandini, weiter mit ihnen spielend, bietet der Verliererin seiner Wahl den „Diener“ zum Ehemann an, was Tisbe und Clorinda mit größter Empörung abgelehnen . Alidoros Ankündigung, eine verschleierte Dame werde zum Fest erscheinen, sorgt für Aufregung. Angelina tritt in prachtvoller Kleidung auf und lüftet ihren Schleier. Ramiro ahnt, dass er die unbekannte Schöne aus dem Hause Don Magnificos vor sich hat. Auch der Vater und die beiden Schwestern meinen Aschenbrödel zu erkennen, doch suchen sie sich dies auszureden. Die Verwirrung ist groß. 2. Akt: Ramiro belauscht Dandini im Gespräch mit der unbekannten Schönen. Sie gesteht Dandini, dass sie seinen „Diener“ liebe, der nun voller Glück aus seinem Versteck stürzt: Ob ihr denn Macht und Reichtum nichts bedeute? Nein, sie suche nur die Liebe. Sie gibt dem vermeintlichen Diener einen Armreif und fordert ihn auf, sie zu suchen. Denn sie möchte ihrerseits prüfen, ob er sie auch als „Aschenbrödel“ noch lieben würde. Ramiro beschließt, dem Verkleidungsspiel ein Ende zu machen. So enthüllt auch Dandini dem empörten Don Magnifico seine wahre Existenz. Zurück im Hause Don Magnificos: Angelina trägt wieder ihre alten Kleider und singt erneut das Lied vom Königssohn, als ein Gewitter hereinbricht. Auf wundersame Weise gelingt es Alidoro, vor Don Magnificos Haus die Radachse von Ramiros Kutsche brechen zu lassen, so dass er und der Prinz dort Hilfe suchen müssen. Erneut herrscht allgemeine Verwirrung, als Ramiro sich als Prinz zu erkennen gibt und den Armreif hervorzieht. Er bittet Angelina, mit ihm zu kommen. Das alles gefällt den Stiefschwestern und Don Magnifico freilich nicht. Dennoch wird Hochzeit gefeiert, auf der Angelina Tisbe und Clorinda ebenso wie dem Stiefvater großherzig verzeiht. Angelina (Karita Jungar) Moral Die Schönheit ist ein seltner Schatz für unsre Damen, man wird nicht müde, Schönheit zu bewundern. Doch was wir wahre Anmut nennen, ist noch viel edler und bewundernswerter. Sie ist’s, mit der die Patin Aschenbrödel zierte; zur Anmut ward das Kind erzogen, und Anmut war’s, die seine Patin lehrte – mit dem Erfolg, dass eine Kön’gin aus ihm wurde. Und die Moral, die wir daraus gewinnen: Ihr Schönen, lernt, dass diese Gabe noch besser als ein hübscher Kopfputz ist, will man ein Herz entflammen und es ganz gewinnen. Es ist die wahre Anmut eine Feengabe, und ohne sie erreicht Ihr nichts, doch mit ihr, da gelingt Euch alles. Weitere Moral Es ist ein großer Vorzug, zweifellos, gewandten Geist und Mut, Vernunft und vornehme Geburt und ähnlich edle Eigenschaften als Anteile des Himmels zu empfangen. Es mag wohl gut sein, wenn Ihr sie besitzt, für Euer Weiterkommen aber sind sie ohne Wert, wenn Ihr nicht eine Patin, einen Paten habt, die Euch auch helfen, sie zu nutzen. Charles Perrault Asche Die Asche gilt seit den ältesten Zeiten bei den verschiedensten Völkern als mit besonders wirksamen, heilvollen Kräften ausgestattet, wohl deshalb, weil sie einerseits an die vernichtende Kraft des dämonenverscheuchenden Feuers erinnert, andererseits als Überrest des läuternden Feuers frei von dämonischen Stoffen ist. Ferner hat sie als Aschelauge etwas Reinigendes, die Haut von Schmutz Befreiendes; alles aber, was den Schmutz, der ja die Stätte der Dämonen ist, beseitigt, ist ein kathartisches und apotropäisches Mittel. Die aus verbranntem Kuhdung gewonnene Asche gilt bei den Indern als Lustrationsmittel (Weihemittel). Mit solcher Asche wurde der ganze Körper bestrichen. Zum Schutze gegen Dämonen pflegte man in manchen Gegenden Indiens bei der Hochzeit Asche nach der Braut zu werfen. Aus demselben Grunde unterzog sich der altindische König täglich einer Reinigung mittels Asche und wird der Leichnam hervorragender Gelehrter bis zur Verbrennung in Asche aufbewahrt. Asche wurde als Lustrationsmittel verwendet im alten Israel, bei den Griechen, Römern, Slawen und verschiedenen anderen Völkern. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (1927-1942) 7 8 Irmelin Bürgers Zur Entstehung von Rossinis Aschenbrödel Zwischen dem dramma Otello ossia Il moro di Venezia (Othello oder Der Mohr von Venedig) für Neapel (Uraufführung am 4. Dezember 1816), unbestritten einem der großen tragischen Stoffe der Weltliteratur, und La gazza ladra (Die diebische Elster) für die Mailänder Scala (Uraufführung am 31. Mai 1817), einem melodramma schon beinahe an der Grenze zur Operette, schrieb Rossini in 24 Tagen für das römische Teatro della Valle das dramma giocoso La Cenerentola ossia La bontà in trionfo (Aschenbrödel oder Der Triumph der Tugend), ein Werk, das über die Komik einer reinen Opera buffa entscheidend hinausgeht. Rossini ließ sich das Libretto von Jacopo Ferretti (1786-1852) schreiben, das auf der Märchenvorlage von Charles Perrault basiert. Auch Jules Massenet und Ermanno WolfFerrari sollte das Perrault’sche Märchen zu ihren Varianten einer AschenbrödelOper anregen. Im Gegensatz zum Barbiere Höflinge (Chor) di Siviglia (Barbier von Sevilla) wurde Aschenbrödel zu einem unmittelbaren Erfolg auch weit über Italien hinaus. Schon ein Jahr nach der Uraufführung wurde die Oper in Barcelona und München nachgespielt, 1820 kam sie als Cinderella in London heraus, im gleichen Jahr dirigierte Rossini selbst eine deutsche Version am Wiener Kärntnertor-Theater. Bis zur Mitte des Jahrhunderts hatte Aschenbrödel einen Siegeszug von Paris und Moskau bis New York und Rio de Janeiro vollzogen und blieb immer auf dem Spielplan der bedeutendsten Opernhäuser. Allerdings in (…) stark bearbeiteter Version (…). Erst die Kritische Ausgabe zeigte die Oper wieder in ihrer von Rossini komponierten Gestalt. Claudio Abbado dirigierte beim Edinburgh-Festival 1971 erstmals die rekonstruierte Fassung von Alberto Zedda mit Teresa Berganza in der Titelrolle und Luigi Alva als Don Ramiro. (…) 9 Tisbe (Katharina Heiligtag) Ulf Diederichs Aschenbrödel und ihre (Rezeptions-)Geschichte Was für die Deutschen Aschenputtel oder Aschenbrödel, ist für die Franzosen Cendrillon oder Finette Cendron, für die Italiener Cenerentola, für die Serben Pepeljuscha. Ein jeder kann sich auf landeseigene Märchen berufen, die Heldin „in der Asche“ ist allen vertraut. Nur die Angelsachsen kommen seit dem 18. Jahrhundert mit dem Lehnwort Cinderella aus, „Stocherin in der Schlacke“. Dieser Name ist zugleich der mit dem internationalen Flair, mit dem größten Glamour – und „Cinderella, dressed in yella“ ist seit Walt Disneys Kinohit ein geflügeltes Wort. Daneben gibt es auch das männliche Aschenbrödel, den Aschenhans, AschenIwan, Aschenpüster, im Norwegischen als Askeladd ausgeprägt. Auch er ist meistens der dritte und jüngste in der Geschwisterkette, dem die beiden Älteren, wie es zunächst scheint, haushoch überlegen sind. Unter den 400 zirkulierenden Aschenputtel-Märchen ragen zwei Versionen heraus: die ältere, höfisch-prächtige vom Glaspantöffelchen, die Charles Perrault 10 Clorinda (Sandra Spiess), Dandini (Robert Christian Merwald), Tisbe (Katharina Heiligtag), Höflinge (Chor) vor 300 Jahren verfasst hat (Cendrillon ou La petite pantoufle de verre, 1697), und die inniger erzählte der Brüder Grimm (1812), die nicht nur im Duktus, sondern auch in Motiven und vielen Einzelzügen von Perrault abweicht. Der Ausgangspunkt ist der gleiche: Ein Mädchen, sanftmütig und gut, verliert seine Mutter. Es sieht sich eines Tages einer schlimmen Stiefmutter gegenüber und außerdem zwei unguten Stiefschwestern. (…) Perraults Cendrillon kommt ohne die starke Bindung der Heldin an die tote Mutter aus. Von ihr heißt es lediglich, sie sei die beste Frau der Welt gewesen. Auch vom Vater wird nur gesagt, bei ihm sich zu beschweren sei sinnlos, er stünde unter dem Regiment seiner Frau. Dem Mädchen hilft statt des weißen Vogels und anderen Gefieders in der Version der Brüder Grimm eine Feenpatin; sie vermag einen Kürbis in eine vergoldete Kutsche zu verwandeln, Mäuse in ein Schimmelgespann und Eidechsen in Lakaien. Die wiederholten Linsenproben fehlen, damit auch die sinnbildliche Trennung in gut und schlecht. Cendrillons Gegenspielerin ist vor allem die Stiefmutter. (…). Carlo Goldoni schrieb die erste Aschenputtel-Oper, La Cecchina ossia La Buona figliuola, uraufgeführt in Rom 1760. Auf Perrault stützte sich vor allem Niccolò Isouards Oper Cendrillon (Paris 1810), diese wiederum inspirierte Gioacchino Rossini zu La Cenerentola ossia La Bontà in Trionfo (Rom 1817), die sich allen Märchenzaubers enthielt. Der Wagnerianer Jules Massenet komponierte die Oper Cendrillon (Paris 1899), Johann Strauß das Ballett Aschenbrödel (Berlin 1901) – er machte den Prinzen zeitgemäß zum Warenhausbesitzer. Hervorzuheben ist noch Sergej Prokofjews Ballett Soluschka (Moskau 1945). Als Jugenddrama erfolgreich war R. Lacys Cinderella am Londoner Covent Garden (1821), acht englische Verlage folgten daraufhin mit Ausschnittbögen für Papiertheater. Der Version Perraults verpflichtet waren auch August Graf von Platens Komödie Der gläserne Pantoffel (1823) und Christian Dietrich Grabbes frühe Gesellschaftssatire Aschenbrödel (1829). Aschenbrödel hieß auch die Heldin in Bechsteins Märchen (1845) – und in einem Dramolett von Robert Walser 11 (1901), sie allerdings begehrt auf. (…) Aschenputtel wurde seit jeher gern, weil in Figuren und Farben kontrastreich, illustriert. Im Deutschen bevorzugte man zwei Szenen, einmal die Heldin am Herd, umringt von den linsenlesenden weißen Tauben (…). Zum andern die berühmte Schuhprobe, die auch schon auf frühen französischen Ausgaben und auf einem englischen Holzschnitt (1744) zu sehen ist. (…) Der erste Märchenfilm überhaupt war der des französischen Filmpioniers Georges Méliès. Beeindruckt von der gerade uraufgeführten Oper Massenets, realisierte er Cendrillon bereits 1899. (…) Die folgenreichste Adaption gelang Walt Disney mit dem Zeichentrickfilm Cinderella (1950). Ihm kam der psychologische Realismus und Individualismus Perraults entgegen. Er pointierte ihn, indem er die Unternehmungslust der Heldin und den Kontrast zwischen der Stiefmutter und den eher lustigen Schwestern hervorhob. Disney schuf dazu eine ganze Industrie, Puppen, Posters, Cartoons, und baute in Disneyland Cinderellas Schloss auf. Wie schon in Snow White 1937 (Schnee- wittchen) gelang ihm die Kreation eines amerikanischen Idols, einer Leitfigur, die Hoffnungen, Ängste, Möglichkeiten auf sich vereinte. Für die einen ein Aufstiegsmodell („Rags-to-riches“), wurde es für andere zum Triumph des Guten, zur Belohnung und Anerkennung braven Verhaltens. (...) Später verfilmte Karin Brandauer den Stoff (1992), doch die Heldin war da längst von Feministinnen entdeckt, oder vielmehr „entlarvt“ (…), auch Parodisten waren bei ihr fündig geworden (z.B. Iring Fetscher mit Aschenputtels Erwachen, 1972). Furore machte Colette Dowling mit der Enthüllung des Cinderella-Complex (1981) als einer regelrecht antrainierten weiblichen Angst vor Unabhängigkeit. Das „Aschenputtel-Syndrom“, Kennzeichnung einer bestimmten Verhaltensstörung, ging als Terminus in den psychologischen Wortschatz ein. Kindertherapeuten wie Bruno Bettelheim hoben ihrerseits hervor, wie stark die Bewältigung innerer Konflikte in Aschenputtel/Cinderella angelegt sei; kein anderes Märchen spiegele so deutlich das Erleben kindlicher Geschwisterrivalität, auch im Sexuellen. 12 Norbert Miller Ferrettis und Rossinis Deutung des Märchens Der Untertitel Der Triumph der Tugend weist auf die vertrackte Lustspielidee hin, die Ferretti dem alten Stoff abgewann. Er wollte aus Perraults Märchen ein bürgerliches Rührstück mit adelskritischsatirischen Tönen machen. (…) In der (…) Vorbemerkung des Librettos erläutert Ferretti, warum er auf den Zauberapparat des Märchens, auf die wundersame Metamorphose des Aschenbrödels in die Ballkönigin und auf die Schuhanprobe verzichtet hat: Für die Entfaltung des Bühnenzaubers, den derlei Posse erforderten, sei das Teatro Valle untauglich, und außerdem wolle das römische Publikum auf der Bühne nicht durch die Kindereien eines Märchens unterhalten sein. (…) Es entstand eine einigermaßen in sich geschlossene Komödie für Musik, die auch das grotesk überzogene Gegeneinander von Fürstlichkeit, aufgeblasenem Bürgerstolz und edlem Blut zu einer suggestiven Bühnenwelt zusammenfasste. Ferretti richtete das Märchen zu einer „comédie larmoyante“ zu, die sich um den Aufstieg der zu Unrecht in Elend und Abhängigkeit gehaltenen Angelina dreht. Nirgends sonst war der Komödiant Rossini so sehr in die Nähe eines musikalischen Charakterporträts geraten wie hier, und er nahm die Herausforderung an, eine gefühlvolle Liebesgeschichte um Aschenbrödel zu komponieren. Schon in der Introduktion stellt er das Mädchen für sich, gibt der von ihr gesungenen „Ballade“ einen eigenen atmosphärischen Raum, der der Figur bis zum Schluss bewahrt bleibt. Rossini greift jede flüchtige Andeutung in Ferrettis Dialog auf, um den romantischen Zauber, der zu Angelina gehört, noch zu unterstreichen. Er verklärt die aufkeimende Liebe zu Ramiro durch die Hervorhebung aller rührenden Momente in Angelinas Tisbe (Katharina Heiligtag), Angelina (Karita Jungar), Clorinda (Sandra Spiess) 13 Dandini (Robert Christian Merwald), Don Magnifico (Amit Friedman) Schwärmerei für den Diener statt für den Herrn. Er hebt wieder und wieder durch Wendungen der Melodie ins StillVolkstümliche die Scheu des Mädchens hervor, aber nur um zugleich die derbe Genremalerei ihrer Küchenexistenz mitgestalten zu können. So wird das Fallenlassen des Geschirrs, so wird die Ungeschicklichkeit Aschenbrödels zu einer behaglich ausgespielten Pointe genutzt. (…) Schließlich ist keine seiner Koloraturpartien anspruchsvoller, eleganter und gebieterischer als diese: Dass man die ins Unglück geratene Würde durch alle Misshelligkeiten hindurch immer erkennt, ist für diesen genussvoll ausgespielten Gegensatz in der Figur nur eine bequeme Rechtfertigung. Aber Rossini ist doch so in sein Geschöpf verliebt, dass er ihr und dem verkleideten Ramiro das innigste und schönste seiner Liebesduette zuweist, „Un soave non so che“ – „Welch ein lieblich warmer Schein”. Zugleich aber greift er auch bereitwillig die possenhaften Elemente der Komödie auf, die ihm Ferretti bereitgestellt hatte: den lächerlichen Haushalt um den aufgepumpten Magnifico, die beliebig gackernden Töchter Clorinda und Tisbe, die Welt der vertauschten Hofordnung, in der der Kammerdiener Dandini auf groteske Weise das Zepter führt. Ferretti und Rossini haben, ohne auf die dramaturgische Entwicklung viel zu geben, für zahlreiche Anlässe gesorgt, an denen sich die Buffopartien aneinander reiben können. (…) Den meisten Zeitgenossen galt Aschenbrödel als das eigentliche Musterstück des komischen Genres, da hier alle Elemente der Opera buffa in gleichmäßiger Perfektion und wie aus einem Guss gestaltet waren: die vollkommene Kantilene in den Arien, die „pezzi concertati“ der Ensembles, die wirkungssicheren, aus der Szene in die Musik überführten buffonesken Situationen, die Turbulenzen einer bis ins Groteske vorangetriebenen komischen Handlung, die mitreißende Gewalt immer wieder neu gefundener Crescendi, um dem Taumel der Weltkomödie ein musikalisches Äquivalent zu geben, alles aber eingebunden in den Rahmen eines sentimentalen Liebes-Lustspiels. Nie waren in der Tat Rossinis Einfallsreichtum im Melodischen und seine abenteuerliche Kombinatorik in der charakterisierenden Niederschrift der Koloraturen, nie waren die Empfindsamkeit und der Übermut seines Naturells so gleichmäßig in jeder Einzelnummer gegenwärtig wie hier. Es ist vielleicht das erste Mal, dass Rossini bewusst als Rossini einer Partitur sein Markenzeichen aufprägt: Er will ein Meisterwerk für die Nachwelt, nicht nur für den Premierenerfolg schreiben. 14 Volker Scherliess Rossini – „Monsieur Crescendo“ Rossini war, nachdem 1813 in Venedig die grezza vitale“ bezeichnet. Damit ist nicht Oper Tancredi über die Bühne gegangen nur lebensvolle Fröhlichkeit im Sinne von war und Jahr für Jahr eine Reihe weiterer, Lustigkeit oder Komik gemeint, sondern ernster wie heiterer Opern folgte, zum eine spezifische Form von Heiterkeit: ein populärsten Komponisten Europas, zum Ausbruch von Lebensfreude (…). „Weltherrscher der Musik“ geworden. Es ist schwer, solche Begriffe analytisch Was an seiner Musik allgemein faszizu fassen. Aber ein charakteristisches nierte, war ihre wahrhaft „unerhörte“ musikalisches Phänomen bietet sich wohl Wirkung, für die es schlechterdings keine zur Betrachtung an: die Dynamik, verbunnüchternen Beschreibungen zu geben den mit insistierendem Wiederholen und schien. Man glaubte sich im Fieberrausch, Anwachsen des instrumentalen Appaman fühlte sich „elektrisiert“. Was da rates, kurz: das Rossini’sche Crescendo. erklang, brillant aufreizend, gewaltig Wodurch ist es charakterisiert, worin fortschreitend, sich steigernd und in ekunterscheidet es sich von anderen? statischem Fortissimo explodierend, ging Das Crescendo, ein allmähliches Lauterüber alles Dagewesene hinaus. Neben werden, war ein altes, grundlegendes dem zündenden, mitreißenden Schwung musikalisches Ausdrucks- und Wirkungs– in den Ouvertüren wie den instrumental mittel, das man seit dem frühen 18. Jahrgeprägten Gesangsnummern – stand hundert auch als dynamische Vorschrift eine berückende Anmut der lyrischen niederschrieb. In der zweiten Hälfte des Teile. Solche Extreme des Effektes, auf 18. Jahrhunderts wurde es überaus popuengem Raum nebeneinander, hatte es in lär. (...) In einem Bericht Johann Friedrich der Musikgeschichte noch nicht gegeben. Reichardts heißt es über eine JommelliIn unserer Zeit hat der Kritiker Fedele Aufführung 1774 in Rom, dass „die Zud’Amico den vorherrschenden Wesenshörer sich bey dem Crescendo allmählich zug von Rossinis Musik als „spirito orgias- von den Sitzen erhoben, und bey dem tico“ (überschäumenden Geist) und „alle- Diminuendo erst wieder Luft schöpften Dandini (Robert Christian Merwald), Ramiro (Karol Cieplucha) 15 Angelina (Karita Jungar), Alidoro (Sebastian Campione) und merkten, dass ihnen der Atem ausgeblieben war“. Wie viel stärker musste nun die Wirkung bei Rossini sein, als die traditionellen Mittel noch forciert wurden! Arbeit mit einfachen metrischen Modellen, zündende Melodik, strenger formaler Bau, Sequenzreihungen, dazu dynamische und instrumentale Wechsel mit glanzvollen Steigerungen: Insgesamt entsteht eine flächenhafte Anlage aus Spannungs- und Entspannungsfeldern, die den Hörer in den Bann zieht. Das wird am deutlichsten in den rein instrumentalen Kompositionen, den Ouvertüren. Ihnen legt Rossini ein Formschema zugrunde, das mit geradezu mechanischer Präzision abläuft: Einleitung (langsam), schneller Hauptteil mit zwei Themen, die sich frei entfalten, gerafft und erweitert werden, dann plötzlich in einem Ritardando innehalten, neu ansetzen und schließlich in eine krönende Coda münden. (…) Aber nicht nur in den Ouvertüren, sondern auch in Arien und Ensembles setzt Rossini sein Crescendo ein. Das Motivmaterial, das er verwendet, ist für sich genommen melodisch unbedeutend, ja oft von geradezu provokativer Banalität: kurze Motive oder nur Motivfetzen, aber rhythmisch prägnant und von zündender Schlagkraft, repetierende Begleitung und die Insistenz, mit der sie zum immer weiter hinausgeschobenen Ende vorwärtsdrängen. Das mechanische Element, die Präzision der ineinandergreifenden, steigernden Glieder war das entscheidend Neue des Rossini’schen Crescendo. (…) Kalkulierter Sturm, planmäßig fortschreitende Feuersbrunst – das waren Bilder für Rossini. Das Crescendo der Aschenbrödel-Ouvertüre etwa, eine stetig anwachsende Folge von Frage und Antwortgesten, kehrt im Finale des 1. Aktes wieder, wobei im Text das langsame Entstehen eines Brandes ausgedrückt wird. So unverwechselbar das Crescendo bei Rossini wurde – zeitgenössische Komponisten wie Giuseppe Mosca, Ferdinando Paër und andere machten ihm das Recht streitig, als sein Erfinder zu gelten. Daran mag etwas sein. (…) Wie dem auch sei – die Geschichte des Crescendo ist noch nicht geschrieben. Fest steht, dass Rossini derjenige war, der es populär gemacht hat, so sehr, dass man ihn bei seiner Ankunft in Paris „Monsieur Cresendo“ nannte. 16 Tisbe (Katharina Heiligtag), Clorinda (Sandra Spiess), Höflinge (Chor) Ich habe Aschenbrödel zum ersten Mal in Triest gehört, göttlich gesungen von Madame Pasta (…), von Zuchelli, dessen prachtvolle, reine Stimme das Pariser Publikum leider nicht genug zu schätzen weiß, und schließlich von dem herrlichen Buffo Paccini. Man findet kaum eine besser inszenierte Oper. Dieser Meinung war jedenfalls das Publikum von Triest; statt der dreißig Vorstellungen der Aschenbrödel, die Madame Pasta geben sollte, verlangte es nämlich hundert. (…) Es gibt Zuschauer, die wenig auf den Vorzug einer überwundenen Schwierigkeit achten und denen die Musik nur wegen der romantischen und glanzvollen Illusionen gefällt, in denen sie ihre Phantasie wiegt. Wenn die Musik schlecht ist, gibt sie der Vorstellungskraft nichts; wenn sie ohne Ideal ist, bringt sie Bilder, die als niedrig anstößig wirken, woraufhin die zurückgestoßene Phantasie anderswohin fliegt. Wenn ich Aschenbrödel auf dem Plakat sehe, würde ich gerne wie der Marquis von Moncada sagen: Heute Abend mische ich mich unter den Pöbel. Diese Musik lenkt meine Phantasie beständig auf Leiden und Freuden, die aus Eitelkeit entspringen, auf das Glück, in schönen Kleidern auf den Ball zu gehen oder von einem Prinzen zum Butler ernannt zu werden. Da ich nun aber in Frankreich geboren bin und dort lange Zeit gelebt habe, gebe ich zu, dass ich der Eitelkeit ebenso überdrüssig bin wie der Enttäuschungen aus Eitelkeit, der Prahlereien und der fünf- bis sechshundert Vaudevilles über enttäuschte Eitelkeit, die ich über mich ergehen lassen musste. Seit dem Tod der letzten genialen Männer, d’Eglantine und Beaumarchais, dreht sich unser ganzes Theater immer nur um eines: die Eitelkeit. Die ganze Gesellschaft (oder zumindest über 90 Prozent und davon wiederum die gewöhnlichen Elemente) wird nur aus einem einzigen Beweggrund, der Eitelkeit, tätig. Ich glaube, man kann dieser Leidenschaft, die bei uns alle anderen ersetzt, ein wenig überdrüssig sein (...). Stendhal (1824) 17 Textnachweise: S. 2: Heinrich Heine, zitiert nach: Volker Scherliess, Gioacchino Rossini, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 143; S. 7: Charles Perrault, „Moral“ zu seinem Märchen Aschenbrödel, in: Das Kabinett der Feen. Französische Märchen des 17. und 18. Jahrhunderts, hrsg. von Friedmar Apel und Norbert Miller, München 1984, S. 74; Artikel „Asche“, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, 1927-1942; S. 8: Irmelin Bürgers, Zur Entstehung von Rossinis Aschenbrödel, in: Attila Csampai, Opernführer, Hamburg 1989, S. 342-343; S. 9-11: Ulf Diederichs, Aschenbrödel und ihre (Rezeptions-)Geschichte, in: Ders., Who’s Who im Märchen, Düsseldorf 2006, S. 31-36; S. 12-13: Norbert Miller, Ferrettis und Rossinis Deutung des Märchens, in: Artikel La Cenerentola, in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 5, München, Zürich 1994, S. 400/401; S. 14-15: Volker Scherliess, Rossini – „Monsieur Crescendo“, in: Ders., Gioacchino Rossini, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 45-49; S. 17: Zitat Stendhal, in: Ders., Rossini. Aus dem Französischen von Barbara Brumm, Frankfurt/Main 1988, S. 205/206. Die Inhaltsangabe auf S. 5/6 ist ein Originalbeitrag für dieses Programmheft von Juliane Hirschmann. Die Texte werden teilweise gekürzt und redigiert veröffentlicht. Inszenierungsfotos von Roland Obst. Impressum Herausgeber: Theater Nordhausen/Loh-Orchester Sondershausen GmbH Spielzeit 2007/08, Intendant: Lars Tietje, Redaktion und Gestaltung: Juliane Hirschmann, Layout: Landsiedel | Müller | Flagmeyer, Nordhausen. Programmheft Nr. 3 der Schlossfestspiele Sondershausen. Für die freundliche Unterstützung danken wir dem Juventas Gästehaus und dem Schlossmuseum Sondershausen. Alidoro (Sebastian Campione) Schlossfestspiele Sondershausen Postfach 11 20 | 99701 Sondershausen Telefon (0 36 32) 6 22-7 02 Telefax (0 36 32) 6 22-4 04 [email protected] www.schlossfestspiele-sondershausen.de