Jochen Staiger - Auf der Suche nach dem Basismodul im Gehirn

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Jochen Staiger - Auf der Suche nach dem Basismodul im
Gehirn
Milliarden von Nervenzellen, Billionen von Verbindungen - wie schafft es das Gehirn, die
Welt in ihrer Ordnung abzubilden und adäquate Verhaltensweisen zu produzieren? In den
unterschiedlichen Arealen des komplexen Organs muss es geordnete
Verarbeitungseinheiten geben, die solche Prozesse ermöglichen. Der Neuroanatom Prof. Dr.
Jochen Staiger von der Universität Freiburg untersucht die sogenannten Tönnchen im
somatosensorischen Cortex von Nagetieren, die eine Körperkarte darstellen, mit denen die
„taktile Umwelt“ wahrgenommen werden kann. In dem erstaunlich geordnet strukturierten
Gehirnteil sucht er nach dem basalen Schaltkreis, der eine Verbindung zwischen
Wahrnehmung und Verhalten erlaubt.
Prof. Dr. Jochen Staiger © privat
“Ich bin von Haus aus Neuroanatom und als solcher habe ich ein großes Faible für Strukturen”,
sagt Prof. Dr. Jochen Staiger, Professor für Zellbiologie am Zentrum für Neurowissenschaften
der Universität Freiburg. “Als moderner Neuroanatom untersuche ich die Strukturen aber
immer auch im Hinblick auf ihre Funktion.” Das Gehirn, das grob betrachtet in verschiedene
Teile wie etwa Kleinhirn, Thalamus oder Großhirnrinde aufgeteilt werden kann, enthüllt unter
Einsatz der richtigen Methoden auch im Detail einen erstaunlich strukturierten Aufbau.
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Als Untersuchungsobjekt hat der 1964 in Karlsruhe geborene Staiger sich den sogenannten
somatosensorischen Cortex ausgesucht, über den er 2000 seine Habilitationsschrift verfasst
hat. Es handelt sich dabei um jenes Areal des Großhirns, in dem die Information aus den
Schnurrhaaren einer Maus oder Ratte verarbeitet wird. Mit entsprechenden Färbemethoden
sehen Wissenschaftler hier tönnchenartige Gebilde mit einem Durchmesser von rund 400
Mikrometern. Je ein Tönnchen (im Englischen auch Barrel genannt) liegt wiederum in einer
Kolumne der Hirnrinde, die im Querschnitt sichtbar wird und mehrere Schichten des Cortex
überspannt. Die Kolumnen liegen nebeneinander und lassen die Hirnrinde unter Einsatz von
Färbemethoden gestreift erscheinen. Die Streifen grenzen Neuronenverbände voneinander ab.
Und sie bilden auch in funktioneller Hinsicht zusammengehörige Einheiten.
Die verschiedenen Stationen der Informationsübertragung von den Schnurrhaaren der Maus bis in die Tönnchen in
der Großhirnrinde © Prof. Dr. Jochen Staiger
Die kleinste nötige Menge an Nervenzellen
Die Maus oder die Ratte ertastet sich mit ihren Schnurrhaaren die Welt. Jedes Schnurrhaar
sendet über mehrere Zwischenstationen im Gehirn seine Meldungen ganz bevorzugt in eine
bestimmte Kolumne des somatosensorischen Cortex. Die Tönnchen sind dabei die erste
Empfangsstation. Befühlt der Nager etwa die Oberfläche einer Walnuss, dann berühren
unterschiedliche Haare auf seiner Schnauze unterschiedliche Bereiche der Schale. Jedes Haar
projiziert seine “Erkenntnisse” in sein Tönnchen. Die räumlichen Zusammenhänge bleiben
dabei erhalten - Wissenschaftler sprechen von einer kartenähnlichen Abbildung des taktilen
Raums im somatosensorischen Cortex. Wahrnehmungsprozesse wie die Unterscheidung
zwischen fühlbar (personaler Raum) und nicht fühlbar (extrapersonaler Raum) oder rau und
glatt müssen jedoch von Schaltkreisen verarbeitet werden, die nicht nur den Eingang aus den
Schnurrhaaren integrieren. Diese Schaltkreise müssen zum einen höhere Abstraktionsstufen
berücksichtigen. Außerdem müssen sie auch Verhaltensweisen wie Greifen oder Beißen
hervorrufen können. “Was ist die kleinste Menge an Nervenzellen, die Wahrnehmungsprozesse
ermöglicht und das auch in Verhalten umwandeln kann”, fragt Staiger. Diese kleinste Menge
an Nervenzellen ist das Basismodul, nach dem er sucht und dessen Funktionsweise er
aufklären möchte.
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Histologischer Schnitt durch den somatosensorischen Cortex einer Maus. Das Tier hatte zuvor mit einem
Schnurrhaar (alle anderen wurden abgeschnitten) eine neue Umgebung für 2 Stunden abgetastet. Dieser Vorgang
führt zu einer Hochregulation von Genen (weißliche Flecken, hier: c-fos) in Abhängigkeit der elektrischen
Aktivitätsmuster in Nervenzellverbänden. Man kann klar eine Hochregulation in einem säulenförmig organisierten
Zellverband (kortikale Kolumne) erkennen. Maßstab: ca. 400 µm © Prof. Dr. Jochen Staiger
Zu diesem Zweck hat der studierte Mediziner mit seiner Arbeitsgruppe eine Methode
entwickelt, die ihm extrem zielgerichtete Eingriffe in die Schaltkreise innerhalb und außerhalb
bestimmter Kolumnen im somatosensorischen Cortex erlaubt. In Hirnschnitten können die
Forscher mittels Lichtblitzen, die sie auf ein extrem kleines Gebiet konzentrieren, zuvor
chemisch inaktiviertes Glutamat freisetzen. Glutamat ist ein Neurotransmitter und bringt
seinerseits die in dem Fokus liegende Nervenzelle zum Feuern. Damit haben die Forscher einen
Schalter in der Hand, mit dem sie ausgewählte Nervenzellen aktivieren können: Ein extrem
genaues Verfahren. Mit einer Elektrode können sie in weiter entfernten Bereichen des
Hirnschnitts dann messen, an welche Neuronen die Zelle ihre Erregung weiterleitet. Außerdem
können sie feststellen, ob sie eher eine hemmende oder eine erregende Wirkung auf ihre
Kommunikationspartner hat. Schritt für Schritt können sie damit den Weg bestimmen, den
Information innerhalb einer Kolumne und zwischen Kolumnen zurücklegt.
Ein überraschendes Verarbeitungsprinzip
„Viele der von uns auf diese Weise vorhergesagten Verbindungen im somatosensorischen
Cortex wurden später auch durch sogenannte Paar-Ableitungen mit zwei Elektroden
bestätigt“, sagt Staiger. Der wohl wichtigste Befund von Staiger und seinem Team war, dass es
innerhalb der Tönnchen des somatosensorischen Cortex sowohl Zellen gibt, die nur innerhalb
des eigenen Tönnchens Information austauschen, als auch welche, die mit benachbarten
Regionen kommunizieren. Damit zeigten sie, dass schon auf dieser relativ frühen Ebene der
Informationsverarbeitung ein Prinzip zum Tragen kommt, das bisher nur höheren Ebenen
zugesprochen worden war. Offenbar werden die Eingänge aus den Schnurrhaaren in den
Tönnchen nicht nur lokal abgegrenzt analysiert. Auch eine parallele Integration mit
Nachbarregionen ist möglich. Die Information, die in einem bestimmten Bereich des
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Tastraumes gewonnen wird, wird offenbar von Anfang an in Kontext mit der Information
gebracht, die von einem Nachbarfeld stammt.
„Wenn ich ein Objekt abtaste, dann sind sowohl lokale als auch globale Aspekte wichtig“, sagt
Staiger. So ist zum Beispiel beim Lesen von Blindenschrift die Anzahl und räumliche
Anordnung der jeweils eingeprägten Punkte entscheidend. Auf lange Sicht möchte Staiger das
Prinzip der parallelen Informationsverarbeitung in den Tönnchen auch in lebenden Tieren
nachweisen. Deshalb ist der Neuroanatom auf der Suche nach Nager-Mutanten, bei denen der
somatosensorische Cortex keine Kolumnen aufweist. Ist ein strikt kolumnärer Aufbau
notwendig, damit die Tiere rau von glatt oder spitz von stumpf unterscheiden können?
„Letztlich verstehe ich mich als Systemneurobiologe“, sagt Staiger. „Mich interessiert immer
auch die Frage nach dem Verhalten oder etwa nach Prozessen wie der Wahrnehmung oder der
Plastizität und dem Gedächtnis.“
Zellen ein- und ausschalten – ganz nach Bedarf
Vorerst möchte Staiger mit dem Methodenarsenal der sogenannten Optogenetik den Beitrag
einzelner Zelltypen zur Informationsverarbeitung besser einschätzen lernen. Mit diesem ganz
neuen molekularbiologischen Verfahren können Wissenschaftler in die neuronalen Schaltkreise
eingreifen und einzelne Zellen oder kleinere Zellverbände hemmen oder überaktivieren. Es
erlaubt, bestimmte Ionenkanäle in definierte Zellen einzuführen und sie durch Lichtpulse am
lebenden und sich verhaltenden Tier zu aktivieren. Diese Ionenkanäle stellen damit Schalter
dar, mit denen die Forscher ihre Zellen nach Bedarf ein- oder ausschalten können. Noch fehlt
der Gruppe das Know-how. Aber inzwischen hat Staiger einen Ruf an die Universität Göttingen
bekommen, wo er ab nächstem Jahr die Neuroanatomie leiten wird. Er plant bereits die
Zusammenarbeit mit einer dort angesiedelten Arbeitsgruppe, die die Optogenetik beherrscht.
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Fachbeitrag
15.12.2009
mn
BioRegion Freiburg
© BIOPRO Baden-Württemberg GmbH
Weitere Informationen
Prof. Dr. Jochen Staiger
Professor für Zellbiologie
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Institut für Anatomie und Zellbiologie
Abteilung für Neuroanatomie/Zentrum für Neurowissenschaften
Albertstraße 17
D-79104 Freiburg
Tel.: +49-761-203-8440
Fax:+49-761-203-8417
Universität Freiburg - Barrel
Group
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