Inkommensurabilität und Irrationalität

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Elemente der Analysis Prof. Dr. Hans‐Dieter Rinkens Inkommensurabilität und Irrationalität „Der Schock der Pythagoreer“ Die Pythagoreer ( vor ca. 2500 Jahren) waren überzeugt: Gleichartige Größen haben immer ein gemeinsames Maß, lassen sich folglich als Vielfache dieses gemeinsamen Maßes messen und durch das Verhältnis dieser beiden Zahlen miteinander vergleichen: „Alles ist (natürliche) Zahl.“ Doch sie erlebten einen Schock: Die Diagonale und die Seite eines regelmäßigen Fünfecks können kein gemeinsames Maß haben, sie sind inkommensurabel. Die Überlegungen, die die Pythagoreer zu dieser Einsicht führten, waren relativ einfach. Sie zeichneten in ein regelmäßiges Fünfeck alle Diagonalen ein. Dadurch entstand eine Gesamtfigur mit dem Fünfeck (Pentagon), einem Fünfeckstern (Pentagramm) und einem weiteren kleineren Fünfeck im Inneren des Fünfecksterns. In das kleine Fünfeck kann man sich wieder einen Fünfeckstern einbeschrieben denken, hier durch eine weitere Diagonale angedeutet, usw. D G
E
F H
C
K J Mit elementaren Kenntnissen über Winkel an A
B
Parallelen und die Winkelsumme im Dreieck überlegt man leicht, dass in dieser Gesamtfigur nur Winkel vorkommen, die Vielfache von 36° sind (72°, 108°) und dass man folglich viele gleichschenklige Dreiecke oder Parallelogramme hineinsehen kann. Das hat zur Folge, dass etliche Strecken gleichlang sind, dass es mehrere Sorten gleichlanger Strecken gibt, z.B. EC = AC, AB = GC = AK , EG = FC = HK Beweis der Inkommensurabilität der Diagonale EC und der Seite AB Zum Beweis wendeten die Pythagoreer eine einfache Eigenschaft eines gemeinsamen Maßes an: wenn zwei Größen und ein gemeinsames Maß haben, dann ist dies auch ein Maß für die Differenz der beiden Größen. Weil AB = GC ist, ist das gemeinsame Maß von EC und AB auch gemeinsames Maß von GC und EG und, weil EG = FC ist, auch von FC und GF und, weil FC = HK ist, auch von HK und GF. Also: Indem man von der längeren Strecke immer die kürzere abzieht („Wechselwegnahme“), ergibt sich schließlich: wenn es ein gemeinsames Maß für die Diagonale und die Seite des Ausgangsfünfecks gibt, dann ist dies auch gemeinsames Maß für die Diagonale und die Seite des kleinen Fünfecks im Innern des Fünfecksterns. Dann könnte man den Prozess aber fortsetzen und ein noch kleineres Fünfeck und ein noch kleineres Fünfeck usw. einzeichnen und das gemeinsame Maß von Diagonale und Seite des Ausgangsfünfecks müsste gemeinsames Maß der jeweiligen Diagonale und Seite der immer kleiner werdenden Fünfecke im Innern sein. Ein solches Maß kann es nicht geben, denn die Annahme, es gäbe eins, führt zum Widerspruch: man würde den Prozess solange fortsetzen, bis die Seite des letzten Fünfecks kleiner wäre als dieses angenommene Maß. 1 Elemente der Analysis Prof. Dr. Hans‐Dieter Rinkens Beweis der Irrationalität des Streckenverhältnisses der Diagonale EC und der Seite AB In Zahlen ausgedrückt bedeutet die Erkenntnis der Pythagoreer: Das Verhältnis von Diagonale und Seite eines regelmäßigen Fünfecks lässt sich nicht als Verhältnis natürlicher Zahlen, also nicht als Bruch darstellen: die Verhältniszahl ist eine irrationale Zahl. Man kann diesen Sachverhalt auch mit Hilfe einfacher arithmetischer Überlegungen, die allerdings in der Geschichte der Mathematik erst sehr viel später entwickelt wurden, beweisen. Wir bezeichnen das Verhältnis von Diagonale und Seite eines regelmäßigen Fünfecks mit g, also g = EC : AB. (Der Buchstabe g soll signalisieren, dass es sich dabei um die Verhältniszahl des „Goldenen Schnitts“ handelt.) Nun ist EC = EG + GC. Weil GC = AB ist, ergibt sich g = (EG : D AB) +1 und, weil EG = HK und AB = GC ist, g = (HK : GC)+1. Nach dem 2. Strahlensatz ist HK : GC = AK : AC und, weil AK = AC und G F E
C
AC = EC ist, gilt AK : AC = AB : EC = 1:g. Für die Verhältniszahl g gilt also insgesamt g = (1:g) + 1 bzw. g2 = 1 + g. H
K Der Beweis der Irrationalität der Verhältniszahl g erfolgt durch Widerspruch: Angenommen g ließe sich als (gekürzter) Bruch schreiben mit teilerfremden J A
natürlichen Zahlen p und q. Dann folgt aus g2 = 1 + g für 1
und nach Multiplikation mit q2 die Gleichung p
p und q die Gleichung B
q
p·
q. Natürliche Zahlen sind entweder gerade oder ungerade; aber wegen der Teilerfremdheit dürfen p und q nicht beide gerade sein. Wäre p gerade und q ungerade, stünde auf der linken Seite der Gleichung eine gerade Zahl, rechts dagegen eine ungerade, was nicht geht. Wäre p ungerade, dann stünde auf der linken Seite eine ungerade Zahl und auf der rechten, egal ob q gerade oder ungerade ist, eine gerade Zahl, was auch nicht geht. Mit anderen Worten: Es kann keine natürliche Zahlen p und q geben, so dass g
ist. 2 
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