DIE JUGENDHILFE UND DIE KRISE DES FORDISMUS

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III
TEIL B: JUGENDHILFE
FELD DES SOZIALEN
UND DIE
ENTWICKLUNGSDYNAMIKEN
IM
Gewohnheitsmäßig verdrängen wir schon das Faktum, dass die physische Qualität der
Gesellschaft vermindert wird, wenn wir ihre schwächsten Mitglieder künstlich am Leben
erhalten. Doch wir verschließen außerdem die Augen davor, dass auch das moralische und
intellektuelle Niveau sinkt, wenn wir jene mitschleppen, die am wenigsten imstande sind, für
(Herbert Spencer)
sich selbst zu sorgen.
131
III. 1 JUGENDHILFE UND DIE KRISE DES FORDISMUS
Die allgemeinste Aufgabe Sozialer Arbeit besteht in einer vermittelnden und führenden Bearbeitung
des Verhältnisses von vergesellschaftetem Subjekt und subjektivierender Gesellschaft. Diese
‚Vermittlung’ geschieht innerhalb der Regelmäßigkeiten, die der Sozialen Arbeit in Form des Standes
und Entwicklungsgrad jenes ‚space of rule’, der ‚das Soziale’ bezeichnet, zu Grunde liegen. Vor diesem
Hintergrund ist es theoretisch notwendig, Jugendhilfe als eine gesellschaftliche Tätigkeit zu
analysieren, die sowohl bezogen auf die gesellschaftliche Konstitution der Bereiche, die sie fokussiert,
als auch hinsichtlich ihrer Konzepte, Methoden und Strategien durch die Rationalitäten der
vorherrschenden sozialen Regulationsweise einer gesellschaftlichen Formation figuriert wird.
Die Hochphase der Jugendhilfe als die Pädagogik des Sozialstaats (vgl. Böhnisch 1982) ist durch ihre
enge und existenzielle Verknüpfung mit den Anforderungen und politischen Logiken und Rationalitäten
des keyenesianisch-fordistischen Sozialstaats gekennzeichnet. Die Form der Hilfeleistungen wie die
damit verknüpften Kontrollfunktionen der Jugendhilfe folgen im Wesentlichen den Anforderungen
dieser Form des Sozialstaats an ‚seine’ Pädagogik. Strategisch und konzeptionell kann die Jugendhilfe
in so fern als eine typische Profession des wohlfahrtsstaatlichen Nachkriegsfordismus betrachtet
werden.
Mit einer Neugestaltung der Rationalitäten, Arrangements und politischen Funktionen des
Sozialaalstaates ebenso wie einer Modulation des Ensembles der Regelmäßigkeiten im Sozialen am
Ende des ‚Fordismus’ wandelt sich auch die Jugendhilfe als dessen Teil. Die Dominanz ‚traditioneller’
Deutungs- und Handlungslogiken und Selbstverständnisse der Jugendhilfe wird dabei durchbrochen.
Das bedeutet nicht, dass diese völlig verschwunden sind oder durch völlige ‚Neuerfindungen’ ersetzt
worden sind. Die ‚fordistischen’ ‚Gegenstände’ sozialer Arbeit und die Art und Weise ihrer Bearbeitung
werden nicht einfach obsolet, aber durch neue Entwicklungen sowie innerprofessionelle und disziplinäre Diskurse moduliert, relativiert, neu kontextuiert und dabei teils neu gestaltet, teils aber
auch nur umetikettiert.
Auf einer fachlichen Ebene ist es nicht zuletzt der verstärke Ruf nach Prävention als einer zentralen
Strukturmaxime einer ‚modernen’ Jugendhilfe (vgl. Thiersch 1995), der den sukzessiven Niedergang
des ‚alten’ Hilfe- und Kontrollparadigmas einläutet. Dabei beinhaltet die vorangetriebene, präventive
Orientierung sowohl eine Zuspitzung der ‚traditionellen’ Widersprüche und Probleme des Sozialstaats
wie der Funktion der Jugendhilfe in der ‚fordistischen’ Formation des Sozialen, als auch eine Kritik und
Reaktion
auf
die
Krise
der
Organisation,
Gestaltung
und
Regulation
der
fordistischen
Gesellschaftsformation des modernen Kapitalismus. Die institutionalisierte Entsprechung dieser
Gesellschaftsformation auf der Ebene des Sozialen stellt eine Staatsform dar, die in so fern als ein
‚sozialdemokratischer’ Interventionsstaat (vgl. Dahrendorf 1987) bezeichnet werden kann, wie auch im
- auf nationalökonomischer Ebene deutlich durch die Erhard’sche Variante des ‚Ordoliberalismus’ (vgl.
Erhard 1962, Eucken 1949) geprägten - ‚konservativen’ Wohlfahrtsregime der Bundesrepublik (EspingAnderson 1990) eine ‚strukturelle, d.h. parteienabhängige bzw. -übergreifende (vgl. Aspalter 2001) -
132
‚sozialdemokratisch-keynesianische Symbiose’ (vgl. Scharpf 1992) ein wesentliches Charakteristikum
sozialpolitischer Regulation darstellt.
Wie für alle (sozial)staatlichen Institutionen gesellschaftlicher Regulation lässt sich nun auch für die
Jugendhilfe davon sprechen, dass tiefgreifende gesellschaftliche und politische Wandlungsprozesse
Veränderungen des Referenzrahmens ihrer Organisations- und Interventionsstategien, -technologien
und Ziele induzieren und zumindest langfristig betrachtet auch eine Veränderung dieser Institutionen
selbst. Es zunächst ist es kaum mehr als eine unspektakuläre, historische und sozialwissenschaftliche
Wahrheit, dass sich moderne Gesellschaften - als historisch kontingente, ideologische, ökonomische
und politische Formationen (vgl. Althusser 1968) - ebenso permanent wandeln, wie die in ihr
vorherrschenden Muster und Rationalitäten ökonomischer, kultureller und sozialer Produktion,
Reproduktion und deren politische Regulation. Auch wenn institutionellen Dynamiken ein mitunter
erstaunliches Maß an Eigenlogik aufzeigen wirkt sich Veränderungsdynamik auch auf die Institutionen
– ihrerseits selbst Teil der Gesellschaft – aus (und vice versa). Solche permanenten Dynamiken und
‚Krisen’ müssen kein Indikator für Unstabilität oder Diskontinuität einer gesellschaftlichen Formation
sein, vielmehr lässt sich die permanente politische Herstellung einer Balance dieser Prozesse – ein
Hinweis auf die Tatsache, dass eine ‚Ordnung’ hergestellt werden muss und d.h. auf die Tatsache von
‚Regierung’ –
auch als Hinweis für ‚Stabilität’ begreifen: Sie sind, wie es Durkheim (1961: 157)
formuliert, „Bestandteil einer jeden gesunden Gesellschaft“.
Seit Ende der 1970er Jahre befinden sich westlichen Gesellschaften jedoch in einer zunehmend
fundamentalen und strukturellen Umbruchsituation. Insbesondere seit den 1980er Jahren lauten die
Schlagworte ‚Krise des Sozialstaats’ und ‚Krise der Arbeitsgesellschaft’, sowie damit je im
Zusammenhang stehend ‚Ökonomisierung’, ‚Deregulierung’, ‚Entindustrialisierung’, ‚Globalisierung’
etc.. Zugleich hätten die alten Klassen, Großorganisationen und sozialen Milieus ihre integrative Kraft
verloren, die ‚Normalität des Normalarbeitsverhältnisses’ (Mückenberger 1986) und gesellschaftliche
‚Normalbiographien’ würden erodieren, Solidaritäten brüchig und Sicherungssysteme fragil: die
kapitalistischen Gesellschaften des ausgehenden 20. Jahrhunderts würden sich zu ‚Konkurrenz-’ und
‚Risikogesellschaften’ wandeln. In diesem Kontext wird die Frage nach der gesellschaftlichen
‚Normalität’ - oder besser nach dem faktischen und wünschenswerten gesellschaftlichen Staus quo neu verhandelt und damit auch die Frage nach dem Gegenstand an dem sich die Soziale Arbeit in
ihrer helfenden und kontrollierenden Dimension orientiert.
Um diese gesellschaftliche Umbruchsituation theoretisch angemessen zu fassen, reicht eine
sozialstrukturelle Analyse auf der Basis der theoretischen Werkzeugen Pierre Bourdieus alleine nicht
aus. Eine Analyse, die sich nicht nur auf innerfeldspezifische Prozesse in einer gegebenen
Gesellschaftsformation beziehen soll, sondern ihren Blick zugleich auch auf die sich wandelnde
gesellschaftliche Formation richtet, d.h. auf die politischen, ökonomischen und ideologischen
Regelmäßigkeiten der Regulation und Konstitution des sozialen Raums, verlangt andere und weitere
Analysewerkzeuge. Auch mit Blick auf die Jugendhilfe kann sich eine sozio-analytische Einordnung
nicht auf Rekonstruktion klassenstruktureller Einbettungen und Relationierungen zu den gegebenen
133
gesellschaftlichen Verhältnissen zu beschränken, sondern hat darüber hinaus den politischen Ort der
Jugendhilfe analytisch zu systematisieren:
„[P]olitics and social work have been intertwined even before the profession had a name. Unless we recognize how
politics shape the creation of many social policies and institutions we often take for granted, we will never
comprehend the intrinsically political nature of the work we do“ (Reisch 1997: 80, vgl. Groenemeyer 2001, Sünker
2000).
Für eine solche Rekonstruktion bietet sich ein auf metatheoretische Kompatibilität bedachter Rekurs
auf Konzepte an, wie sie insbesondere durch Analysen im Kontext der politisch-ökonomischen ‚Theorie
der Regulation’ und durch die in Anschluss an die Arbeiten Michel Foucaults elaborierten
‚Governmentality Studies’ repräsentieren.
III. 1.1
GRUNDZÜGE EINER REGULATIONSTHEORETISCHEN PERSPEKTIVE
Eine heuristische Basis für die Analyse von (Trans)Formationen kapitalistischer Gesellschaften lässt
sich in Form der - in Abgrenzung zu einem ökonomisch verkürztem Marxismus, ebenso wie zu
funktionalistischen
Vorstellungen
und
in
Auseinandersetzung
1
entwickelten - ‚regulationstheoretischen’ Ansätze
mit
Althussers
Strukturalismus
finden. Diese bieten ein breites theoretisches
Angebot, „das es erlaubt, mit Blick auf die Konfliktstrukturen und Krisenprozesse, die Brüche und
Diskontinuitäten kapitalistischer Entwicklung sowie ihre gesellschaftlichen und sozialen Folgen [in]
einem Zusammenhang zu rekonstruieren“ (Schaarschuch 1995: 74). Die zentralen, vornehmlich
produktions- und reproduktionstheoretischen Annahmen dieses Theorieentwurfs zur Krise des
fordistischen Gesellschaftsmodells erweisen sich dabei als kompatibel mit den ‚sozioanalytischen’
Werkzeugen des feldtheoretischen Zugangs Bourdieus (vgl. Bourdieu 1989, Bourdieu/Wacquant 1996,
Hepp 2000).
Aufgrund der Analyseprobleme im Kontext einer seit Ende der 1970er Jahren beobachtbaren
Entwicklung westlicher Industriegesellschaften entwickelt sich ein ‚regulationstheoretischer’ Versuch
einer
Weiterentwicklung
marxistischer
Theorietraditionen
zunächst
in
Frankreich.
Die
regulationstheoretisch vorgeschlagene Perspektive zielt vor allem auf die Analyse der Art und Form
staatlicher Operationen in fortgeschritten kapitalistischen Gesellschaftsformationen. Gegenüber
ökonomisch verkürzten Annahmen wird eine Verselbstständigung der Sphären von Wirtschaft, Staat
und Gesellschaft behauptet (vgl. Lehnhardt/Offe 1977, Offe 1972), wobei die Prämisse zentral ist,
dass
„[even if] the structural forms may determine state forms in the sense that the create certain pressures and generate
certain parameters, the nature of state cannot simply be ‚read off’ form economic developments and that processes
of capital accumulation are not themselves automatic but accomplishment” (Edwards/Matthews 1996: 214).
Der analytische Vorteil des regulationstheoretischen Analysemodells liegt dabei in der Möglichkeit, die
ökonomischen Verkürzungen instrumentell-marxistischer Ansätze, ebenso zu vermeiden wie eine
Vernachlässigung ökonomischer und politischer Dimensionen zugunsten einer einseitigen Dominanz
kultureller
und
kommunikativer
Ansätze
(vgl.
Dangschat
1998).
Die
Überlegungen
der
Diese Ansätze lassen sich auf Arbeiten aus den Kreisen der französischen ‚Ecole de la Régulation’ und der USamerikanischen , Social Structures of Accumulation School’ zurückführen.
1
134
Regulationsschule
münden
jedoch
nicht
in
eine
eindeutig
ausformulierte
eigenständige
‚Gesellschaftstheorie’, sondern stellen eher eine ‚heuristische Konzeption’ dar (vgl. Hübner 1990), die
es ermöglicht ein theoretisches Gerüst zu liefern, um die Umbrüche seit den 1970er Jahren zu
analysieren. In diesem Sinne richten regulationstheoretisch beeinflusste Ansätze – hier besteht eine
Korrespondenz zu Bourdieus ‚Sozioanalyse’ - ihren analytischen Blick auf „das durch spezifische Macht, Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse strukturierte gesellschaftliche Ordnungsgefüge und die in
diesem eingeschrieben Kämpfe“ (Bieling 2000: 197), ohne dabei die je historisch gültige
gesellschaftliche Ordnung einseitig aus ökonomischen Gegebenheiten und Gesetzmäßigkeiten
abzuleiten (vgl. Hradil 1999, dazu auch: Bourdieu 1982, 1985, 1987, Bourdieu/Wacquant 1996).
Kapitalistisch organisierte, gesellschaftliche Formationen werden als ein mehrdimensionaler, teils
widersprüchlicher
Ausdruck
des
jeweiligen
Standes
der
gesellschaftlichen
Kräfteverhältnisse
verstanden (vgl. Röttger 1997). Die Analyse eines spezifischen Verweisungsverhältnisses von
Ökonomie und Politik wird mit der Analyse gesellschaftlicher Kraftfelder, Kräfteverhältnisse und
Konfliktlinien verbunden. In den Vordergrund rückt aus einer regulationstheoretischen Perspektive die
Frage nach Schaffung und Gestaltung der inneren Stabilität sozialer Ordnungen, die die Grundlage für
die Herausbildung eines gesellschaftlich wirksamen Wertesystems darstellt und es ermöglicht jenen
symbolischen Raum zu generieren, der die Entsprechungsverhältnisse und Austauschprozesse
zwischen
den
Rationalitäts-
und
Regelmäßigkeitssystemen
des
Politischen,
Sozialen
und
Ökonomischen zulässt, die für eine Erzeugung stabiler Gesellschaftsformation erforderlich sind.
Die Grundprämisse regulationstheoretischer Ansätze besteht darin, dass der Erfolg kapitalistischer
Arbeitsmärkte und ihres Geld- und Güterverkehrs aufgrund ihrer inhärenten Widersprüchlichkeit und
Instabilität nur durch (sozial)politische Einbettungen und Steuerungen sichergestellt werden kann (vgl.
Roth 1998). Eine solche Einbettung ist notwendig, da die ‚reine’ ökonomische Rationalität alleine nicht
im Stande ist die Produktions- und Reproduktionsweisen einer wie auch immer organisierten
Gesellschaft im konjunkturellen, zeitlichen Verlauf gleichgewichtig und reibungslos zu vollziehen (vgl.
Aglietta 1998). Auf der Basis dieser Grundeinsicht rückt die Regulationstheorie jene gesellschaftlichen
Kräfte in das Zentrum ihrer Analyse, die eine langfristige Stabilität des gesellschaftlichen Systems
garantieren oder eben eine Transformation einer gesellschaftlichen Formation notwendig erscheinen
lassen. Dabei nimmt neben der Analyse der Produktionsverhältnisse im engeren Sinne, auch die der
Konsum-, bzw. sozialen Lebensformen, der politische und rechtliche Gestaltung der Klassenkämpfe
wie rechtliche und soziale Ausformungen der Lohnarbeit (vgl. Aglietta 1979), kurz: die Analyse der
sozialen und politischen Institutionen wie der sozio-kulturellen Normen und Ideologien zur Regulation
der technologisch-ökonomischen Entwicklung, eine zentrale Stellung ein.
Als analytische Einheiten dienen den regulationstheoretischen Ansätzen dabei die Begriffe des
‚Akkumulationsregimes’, der ‚Regulationsweise’ und der ‚hegemonialen Struktur’ einer Gesellschaft,
deren
Interdependenz
den
Fokus
regulationistischer
Überlegungen
darstellen.
Dabei
wird
angenommen, dass die Herausbildung, Stabilisierung und Reproduktion einer spezifischen,
gesellschaftlichen Formation, bzw. eines ‚historischen Blocks’ (vgl. Gramsci 1991 ff, Jacobitz 1991) auf
ein Entsprechungsverhältnis von Akkumulationsregime und Regulationsweise verwiesen ist.
135
Das Akkumulationsregime beschreibt „die makro-ökonomischen Regelmäßigkeiten und das besondere
sozio-ökonomische Reproduktionsmuster der kapitalistischen Akkumulation“ (Bieling 2000: 200), d.h.
es kennzeichnet eine Korrespondenz von Mustern der Produktion und des Konsums (vgl. Jessop 1986:
11). Bestandteil eines Akkumulationsregimes ist sein ‚technologisches Paradigma’, das die allgemeinen
Prinzipien der Technikverwendung und Organisation von Arbeit bezeichnet, auf denen das jeweilige
Akkumulationsregime
basiert.
Der
Gesellschaftsstruktur
besteht
in
maßgebliche
der
Einfluss
Sicherstellung
des
einer
Akkumulationsregimes
systematischen
auf die
Reallokation
des
gesellschaftlichen Produkts (vgl. Lipitz 1985). Diese manifestiert sich im Wesentlichen über die
Revenuen des Lohnverhältnisses aber auch über den Geld-, Waren- und Kreditverkehr in einem
allgemeinen Sinn. Entscheidendes Element eines solchen Akkumulationsregimes ist die je dominante
Produktionsweise, die auf die Arbeits- und Produktionsorganisation, auf die vorherrschenden Formen
der Kapitalbildung und Kapitalreproduktion und auf die Mehrwertproduktion, Kapitalverwertung sowie
Mehrwertrealisierung verweißt. Die Reproduktionsform eines solchen Regimes kennzeichnet die
Struktur des gesellschaftlichen Verbrauchs entsprechend produzierter Güter und Dienstleistungen und
damit verbunden auch die vorherrschenden Investitionszyklen und Konkurrenzformen.
Untrennbar der mit Form des Akkumulationsregimes verknüpft, ist aus einer regulationstheoretischen
Perspektive auch auf Frage der (sozial)staatlichen Regulation und der klassenspezifischen Weise des
Konsums und der Reproduktion von Arbeitskraft.
Regulationstheoretisch wird davon ausgegangen, dass soziale, institutionelle und politische
Gegebenheiten konstitutiv und regulierend auf die kapitalistische (Re)Produktion einwirken. Diese
‚Regulationsweise’ bezeichnet die Steuerung der divergierenden, teils antagonistischen Interessen, die
auf eine Weise geformt, verbunden oder kanalisiert werden, dass die gesellschaftliche und
wirtschaftliche Struktur, bzw. die ‚Reproduktion der Produktionsbedingungen’ (vgl. Althusser/Balibar
1972) – insbesondere hinsichtlich der Verfügung über genügend qualifizierter Arbeitskräfte (vgl. Lipitz
1992: 49) – gewährleistet und aufrecht erhalten werden kann. Die Regulationsweise umfasst also die
„Gesamtheit institutioneller Formen, Netze und expliziter oder impliziter Normen, die die Vereinbarkeit
von Verhaltensweisen im Rahmen eines Akkumulationsregimes sichern“ (Lipitz 1985: 121). Sie bezieht
sich nicht nur auf Unternehmensformen, Lohnverhältnisse, Geld- und Kreditbeziehungen etc., sondern
umschießt auch Fragen nach den nationalen Spezifika der Regime und der Staatsinterventionen in
ihren ökonomischen, sozialen, kulturellen symbolischen und rechtlichen Dimensionen. In den
grundsätzlich als ‚krisenhaft’ verstandenen Prozessen der Regulation von Akkumulationsverhältnissen
zielt das Funktionsprinzip der Regulation auf die Balance bzw. den Ausgleich von Störungen (vgl.
Diettrich 1999).
Epistemologisch
unterscheiden
sich
regulationstheoretische
von
ableitungstheoretischen
und
funktionalistischen Annahmen dadurch, dass aus dieser Perspektive eine bestimmte Form der
Regulation nicht kausal durch das Akkumulationsregime determiniert wird. Vielmehr ist ein
Akkumulationsregime prinzipiell mit einer ganzen Reihe von verschiedenen Regulationsweisen
kompatibel. Sowohl das Akkumulationsregime, als auch die Regulationsweise sind ein je mögliches,
strukturiertes Resultat des historischen und kontingenten Handelns, ökonomischer, gesellschaftlicher
136
und politischer Akteure und kein alleiniges Produkt ‚objektiver’ exogenen Determinanten. Die
historisch konkrete Gesellschaftsformation wird daher als eine spezifische Form des Zusammenwirkens
von Akkumulationsregime und Regulationsweise interpretiert.
Eine solche Formation kann nur dann einen stabilen und dauerhaften Regulationszusammenhang
darstellen, wenn die gesellschaftlichen Konflikte und Antagonismen beider Ebenen ausbalanciert und
regulativ bearbeitet werden können (vgl. Hirsch 1990). Von einem Entwicklungsmodell oder einer
Gesellschaftsformation, ist deshalb dann die Rede, wenn durch ein relatives Entsprechungsverhältnis
der ökonomischen, sozialen, kulturellen, politischen und symbolisch-ideologischen Dimensionen einer
Gesellschaft eine bestandsfähige und dynamische Kräftekonstellation erreicht wird. Umgekehrt wird
die Reproduktion des ‚Gesamtsystems’ - als historische Artikulation einer gesellschaftlichen Formation
- durch die Erzeugung und Aufrechterhaltung eines solchen Entsprechungsverhältnisses als
‚hegemoniales Entwicklungsmodell’ abgesichert. Ein hegemoniales Entwicklungsmodell ist weder das
Ergebnis eines funktionalistischen ‚Masterplans’ hinter dem Rücken handelnder Akteure, noch kann es
alleine auf bewusste und strategische Einflussnahmen identifizierbarer Akteure zurückgeführt werden.
Es
umfasst
auch
die
strukturgenerierenden
Momente
präreflexiv
strukturierter
Praktiken,
inkorporierter Deutungsmuster und Routinen des Alltags. ‚Hegemonie’ ist deshalb als ein doppeltes
Verhältnis zu begreifen: als ein in institutionalisierten Kompromissen und sozialen Regelmäßigkeiten
verobjektiviertes materielles Substrat und als ein gelebtes soziales Verhältnis (vgl. Bieling 2000).
Vor allem dieser Bezug auf die Akteure und sozialen Praxen macht eine Kompatibilität der
regulationstheoretischen und der ‚praxeologischen’ Annahmen Bourdieus deutlich. So hat in Bourdieus
Ansatz die Verinnerlichung von Spielregeln, Gewohnheiten und Vorstellungen (Habitus, Doxa) einen
zentralen Stellenwert. Die Konstitution der Kapitale als Machtmittel und Common Sense der Felder
kann daher in einer differenztheoretischen, mirko- und mesologischen Korrespondenz zu der
regulatorischen Fassung hegemonial strukturierter gesellschaftlicher Verhältnisse verstanden werden.
Mit Blick auf moderne, ausdifferenzierte und komplexe Gesellschaften besteht der analytische Vorzug
des Kapitalmodells Bourdieus dabei in der Einsicht, dass die Kapitalen nicht einheitlich, gleichmäßig
und in gleicher Weise umfassend funktional den gesamten sozialen Raum strukturieren, sondern ihre
Wirksamkeit feldspezifisch differenziert verortet wird. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass
ein Wandel der gesellschaftlichen Formation - der auf Basis einer regulationstheoretischen Heuristik
analytisch fassbar ist - bezogen auf einzelne soziale Felder nicht gleichförmig wirkt und umgekehrt
auch die Veränderung in einzelnen Feldern nicht direkt auf eine allgemeine und homologe Ursache
zurückzuführen sind. Die Verschiebungen von einer ‚fordistischen’ zu einer ‚nach-fordistischen’
Gesellschaftsformation bzw. von einem übergreifenden wohlfahrtstaatlichen Arrangement zu einem
‚fortgeschrittenen Liberalismus’2 (vgl. Rose 1996a, O'Malley 2001a) müssen in unterschiedlicher Weise
Der Ausdruck ‚fortgeschritten liberal’ bzw. ‚fortgeschrittener Liberalismus’ (advanced liberalism) wurde vor allem von
Nikolas Rose etabliert. Er bezeichnet eine bestimmte Form der Regulations- bzw. ‚Regierungsweise’ (im weiten Sinne
Foucaults), die sich, so die These, (gleichberechtigt) in eine Reihe anderer ‚Liberalismen’ einordnen lässt. Diese anderen
‚Liberalismen’ wären der ‚klassische Liberalismus’, der im 19. Jahrhundert vorherrschte, und der ‚soziale Liberalismus’ als
eine Art Synonym für den fordistischen Wohlfahrtskapitalismus im ‚kurzen’ 20. Jahrhundert.
2
137
in die relativ autonomen Regelmäßigkeitssysteme einzelner sozialen Felder transformiert werden, um
dort strukturierend zu wirken und damit mittelbar handlungswirksam zu werden.
Wenn Akkumulationsregime und Regulationsweise nur dialektisch verknüpft in Erscheinung treten
können, stellt eine gesellschaftliche Formation die Gesamtheit der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse
als Produkt gesellschaftlicher Auseinersetzungen auf synchroner Ebene dar. Eingebunden in diese
constraints, sind es die strukturierten (kollektiven) Dispositionen der Akteure, die in einer diachronen
Entwicklungsdimension die Legitimation dieses Konsenses aufrechterhalten und somit zu Reproduktion
und
Sicherstellung
der
Voraussetzungen
der
Wirksamkeit
und
Gültigkeit
ökonomischer
Verwertungsprinzipien und ihren politischen, sozialen und kulturellen Entsprechungen beitragen. Nur
so sind sowohl die relative Bestandsfähigkeit der Reproduktion des Gesamtsystems als auch die
Hegemonialverhältnisse
zwischen
den
Klassen
(vgl.
Häusler/Hirsch
1987)
langfristig
und
‚spannungsarm’ – d.h. auch mit überschaubaren Transmissions- und Kontrollkosten – zu sichern.
Durch den Rekurs auf die Regulationsperspektive als polit-ökonomischer Theorieansatz kann die bei
Bourdieu implizit bleibende, in bezug auf spezifische Gesellschaftsformen insgesamt eher vage
Thematisierung der gesellschaftsorganisatorischen Ursachen für unterschiedliche Kapitalausstattung
und ihrer relationalen Wertigkeit ausglichen werden. In diesem Sinne stehen beide Ansätze eher in
einem komplementären Verhältnis, als auf metatheoretische Inkompatibilität zu verweisen.
III. 1.2
DER FORDISTISCHE WOHLFAHRTSTAAT
Die Verfestigungen und Wandlungen historisch konkreter gesellschaftlicher Formationen geschehen in
Abhängigkeit von der Reproduktion der hegemonialen Strukturen, oder mit Bourdieu, den Logiken der
Felder, der ‚objektiven’ Zwänge und je gültigen, common sensusalen Symbolformen und
Machtverhältnissen. Bezüglich der gegenseitigen Konstitution und Begrenzung der zwar strukturell
kompatiblen, aber nicht-identischen Beziehung von Akkumulationsregime und Regulationsweise, ist
ein gesellschaftliches Entwicklungsmodell in so fern nicht nur ökonomisch, sondern auch und in erster
Line hegemonietheoretisch zu fassen.
Störungen
des
spannungsreichen
Entsprechungsverhältnisses
von
Akkumulationsregime
und
Regulationsweise werden im Rahmen der Regulationstheorie durch den Begriff der ‚Krise’ verhandelt.
Während
‚kleine
Krisen’
-
wie
zum
Beispiel
konjunkturelle
ökonomische
Krisen,
oder
Regierungswechsel - im politischen Feld als ‚adaptive Prozesse’ innerhalb der gegebenen
gesellschaftlichen Reproduktionsformen verlaufen (vgl. Altvater 1983: 228), stellen ‚große Krisen’
einen gesellschaftlichen Formbruch dar, in dem die hegemonialen Entsprechungsverhältnisse auf
prima faci nicht vorhersagbare Weise strukturell neu organisiert werden:
„In den großen Krisen und den damit verbundenen ökonomischen, politischen und ideologischen
Auseinandersetzungen verschieben sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, werden soziale Kompromisse
aufgekündigt und zerbricht das vorhandene institutionelle Gefüge der Regulation“ (Hirsch 1995: 63).
In einer solchen Krise bilden sich zugleich die sozialen und institutionellen Strukturen heraus, die als
Ensemble die kohärenzstiftende Grundlage für eine neue strukturell hegemoniale Artikulations- und
Vergesellschaftungsform bieten.
138
Eine solche ‚große’, strukturelle Krise stellt das sukzessive Ende der ‚Fordismus’ und der Übergang von
einer ‚fordistischen’ in eine ‚post-fordistische’ bzw. ‚fortgeschritten liberale’ Gesellschaftsformation dar.
Der Begriff ‚Fordismus’ lässt sich vor allem auf die Analysen Antonio Gramscis (vgl. 1967: 376 ff)
zurückführen und bezeichnet dabei zunächst ein ‚industrielles Paradigma’, wie es in den Fabrikhallen
Henry
Fords
vorherrschte.
Ford
entwickelte
nicht
nur
eine
taylorisierte,
massenhafte
Fließbandproduktion für sein T-Modell, sondern trat – da für Massenproduktionen auch ein
massenhafter Absatzmarkt erforderlich war - auch für eine gesellschaftliche Reproduktionsform ein,
die es auch den Arbeitern ermöglichte, die Produkte ihrer Arbeit selbst zu kaufen (vgl. auch Keynes
1973 [1936]). Die strukturbestimmenden Prinzipien beschrieb Henry Ford im Jahre 1928 in seiner
‚Philosophie der Arbeit’:
„Stellt eine Ware so gut und billig her, wie es möglich ist, und zahlt so hohe Löhne, daß der Arbeiter das, was er
erzeugt, auch selbst zu kaufen vermag; schaltet jede Verschwendung aus und spart vor allem das kostbare Gut, die
Zeit; laßt alle Arbeiten, die eine Maschine verrichten kann, von Maschinen verrichten, da Menschenkraft zu wertvoll
ist; erschließt immer neue Kraftquellen – und ihr müßt prosperieren“ (zit. nach Bischoff 1999: 27).
Das fordistische Entwicklungsmodell bedient in weiten Bereichen nicht nur einen ex ante vorhandenen
Absatzmarkt, sondern zielt zugleich darauf ab, diesen erst aktiv zu schaffen. Vor allem aber zielt es
auf eine – v.a. auf einer tayloristische Arbeitsorganisation basierende - hohe und preisgünstige
Produktivität des Akkumulationsregimes. Auf der Ebene der Produktionsprozesse wird das
Produktionswissen der vormals eher handwerksförmig produzierenden Lohnarbeiter, innerhalb der
Prozesse der Arbeitsteilung auf die Ebene des Managements übertragen. Bezogen auf das industrielle
Akkumulationsregime kann dieser Prozess als Teil einer Zerstörung der bisherigen Arbeits- und
Subsistenzform im Sinne einer massenhaften und anhaltenden Prozess der „passiven Proletarisierung“
(Lenhardt/Offe 1979: 102) betrachtet werden, der einen wesentlichen sozialstrukturellen Aspekt des
Industrialisierungsprozesses darstellt.
III. 1.2.1
REGULATIONSPERSPEKTIVE
Da im Rahmen des fordistischen Entwicklungsmodells mit dem Produktionszuwachs auch die
Nachfrage expandiert, verläuft die ökonomische Reproduktion relativ dynamisch und störungsfrei, was
durch die Beteiligung der Lohnabhängigen an dem Wachstum der Produktion über Tarifabschlüsse
verstärkt und darüber hinaus durch die Expansion des Wohlfahrtsstaates – insbesondere in seiner
‚christdemokratisch-korporatistischen’ (vgl. Mann 1997: 116) Form als Sozialstaat - sowie staatlicher
Dienste in den Gebieten der Bildung, Gesundheit und des Wohnens ergänzt wird.
Auf der Akkumulationsebene kennzeichnet der ‚Fordismus’ zunächst ein Regime, in dem
Massenproduktion durch eine Form des Massenabsatzes ermöglicht werden soll, die gleichsam
Massenkaufkraft voraussetzen. Insofern geht mit der fordistischen Ära des Industriekapitalismus eine
grundlegende ‚Durchkapitalisierung’ der Gesellschaft - sowohl im produktiven als auch im konsumtiven
Bereich - einher, in der immer mehr gesellschaftliche Bereiche von industriellen Massenprodukten aber
auch kommerzialisierten Dienstleistungen durchdrungen werden (dazu auch Habermas 1981).
Abgesichert durch eine sozialstaatlich orientierte Regulationsweise führt diese ‚Durchkapitalisierung’,
139
insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg in Form eine ‚Gewinner-Koalition’ für die meisten
gesellschaftlichen Akteure zu einer beachtlichen Steigerung ihres materiellen und kulturellen
Lebensstandards und damit verbunden zu gesteigerten Möglichkeiten der Lebensgestaltung (vgl. Beck
1983, 1986). Dieses ‚Fortschritts-Paradigma’ (vgl. Lipitz 1991: 680 f) ermöglicht eine materielle und
ökonomische Einbindung der überwiegenden Mehrheit der abhängig Beschäftigten in das hegemoniale
Entwicklungsmodell des Fordismus (vgl. Bieling 2000: 207). Es versicherte zugleich, dass der
grundlegende bürgerliche Modus der Vergesellschaftung über die Zirkulation von Waren relativ
reibungslos auf tendenziell alle Teile der Bevölkerung ausgeweitet werden kann, die nunmehr
alternativlos darauf verwiesen sind ihre Arbeitskraft warenförmig zu veräußern. Dies wird sowohl
durch verhältnismäßig attraktive Löhne begünstigt, wie durch bestimmte – insbesondere gegenüber
Diversität verhältnismäßig ‚intoleranten’ (vgl. Young 1999) - Formen der sozialen Kontrolle verfestigt.
Der ‚Sozialtyp des Massenarbeiters’ ist die Referenz und stellt der Ebene der Arbeitskraft eine
Entsprechung dar, zu einer „durch Taylorisierung, durch Fließband und [… korespendierende]
Fertigungs- und Absatzmethoden sich ausweitende[n], in die ganze Stadt, in Polizei, Gefängnisse,
Schulen, ja in das Denken der Menschen sich hineinfressenden Massenproduktion“ (Negt/Kluge 1978:
343 f) verbilligter Konsumgüter3: „Lohnarbeit wird zur verallgemeinerten Normal-Existenzform“
(Schaarschuch
1990:
60)
eines
Gesellschaftsmodells
das
auf
tayloristisch
organisierter,
standardisierter Massenproduktion sowie einer staatlich-bürokratischer Verteilung eines nicht
unerheblichen Teils des Mehrprodukts beruht (vgl. Hirsch 1995).
Sowohl als Reaktion auf die Anliegen einer starken Arbeiterbewegung vor dem Hintergrund der
Systemkonkurrenz während des Ost-West-Konflikts, als auch aufgrund ihrer ruinösen Wirkung auf die
Ressource Arbeitskraft, wird in diesem Zusammenhang der Versuch Armut und Verelendung zu
verhindern bzw. zu kompensieren, zunehmend in Form ausgeweiteter sozialer Rechte staatlich
institutionalisiert.
Ein
‚um
den
Arbeitsmarkt
herum‘
gebautes
(vgl.
Narr
1999),
auf
Sozialversicherungsbeiträgen basierendes - und daher tendenziell eher restitutiv als umverteilend
ausgestaltetes (vgl. Sachße 1990) - Sicherungssystem des Sozialstaates stellt in diesem Sinne den
eher ‚arbeiter-’ als ‚bürgerallgemeinen’ Versuch (vgl. Narr 1999), einer breitgetragenen, administrativ
organisierten bzw. ‚erzwungen solidarischen‘ Form der sozialen Risikoversicherung dar (vgl. Ewald
1993). Den Kern dieser administrativen Solidarität, stellt eine Form der Verbindung des Ökonomischen
und des Sozialen dar, die dem keynesianischen, sozialen Staat - als der zentralen Regulationsinstanz
des Fordismus - das Paradox ermöglicht, das Soziale und das Ökonomische gleichzeitig führend zu
artikulieren und es dem einen nicht zu erlauben über das andere zu dominieren (vgl. Donzelot 1994).
Die auf einer solchen synchronisierten Artikulation basierende, kollektivierte Risikoversicherung kann
als eine Art ‚Gesellschaftsvertrag’ betrachtet werden, der durch den sozialen Staat und seine
Institutionen geregelt wird. Die Rolle des Staates beinhaltet dabei die Beförderung kollektiver
Wohlfahrt durch den Einsatz keynesianischer sozialer und ökonomischer Techniken der Intervention.
Sowohl die Frage der (Voll)Beschäftigung als auch die assimilatorische Eingliederung von
Auch wenn Hannah Arendt in ihrer ‚Vita Activa’ von einer ‚Massengesellschaft’ und der „‚sozialsten’ aller Staatsformen,
nämlich der Bürokratie’ (Arendt 1994: 41) spricht, artikuliert sie in erste Line eine Kritik am fordistischen Gesellschaftsmodell
in seinen beiden Varianten: dem Sozialstaat und Staatssozialismus.
3
140
ausgeschlossenen oder sozial geschädigten Akteuren fällt nicht alleine den betroffenen Akteuren
selbst zu, sondern wird in erster Linie als ‚kollektivierte’ Verantwortung des Staates verstanden.
Die Etablierung des fordistischen Sozialstaats ist zentral mit der Aufgabe verbunden, „ein
Gleichgewicht zwischen dem Block an der Macht und den subalternen Gruppen herzustellen“
(Schaarschuch 1990: 49). Diese Ausbalancierung dient nicht nur den Interessen der Subalternen, und
sichert nicht nur deren ‚Loyalität’ (vgl. Schimank/Lange 2003), sondern geschieht in Form eines
‚Klassenkompromisses’, der zugleich auch den Interessen des ‚Machtblocks’ zweckdienlich ist (vgl.
Schaarschuch 1990).
Für die Verwirklichung der Interessen des hegemonialen Blocks ist neben dem Faktum der Zerstörung
traditioneller
Subsistenzformen
–
und
dem
damit
einhergehenden
„stummen
Zwang
der
ökonomischen Verhältnisse“ (Marx 1953: 777) als ‚passive Proletarisierung’, durch eine strukturelle
Erschwerung von Existenzen außerhalb einer marktbezogenen, lohnabhängigen Erwerbsarbeit (vgl.
Scherr 1998) - ein staatlich durchgesetzter Prozess der ‚aktiven Proletarisierung’ notwendig (vgl.
Lenhardt/Offe 1979, Müller/Otto 1980), da aufgrund der bestehenden Möglichkeit „von funktional
äquivalenten ‚Auswegen’ aus dem Zustand passiver Proletarisierung […] die Bereitschaft der
Arbeitskräfte sich tatsächlich zu verkaufen nicht als selbstverständlich angesehen werden kann“
(Lenhardt/Offe 1979: 104). Der Sozialhistoriker John Forster (1974: 33) sieht genau darin die Essenz
der ‚großen Transformation’ in die kapitalistische Moderne: „The overriding priority was to bind the
emergent labor force to the new employer class - and to do so during a period in which the old selfimposed disciplines of peasantcraft society were (at once and at the same time) both disintegrating
and still dangerously potent“.
Im Unterschied zu anderen Waren wird Arbeitskraft im Kapitalismus zwar als Ware behandelt, jedoch
ist ihre Existenz und ihr Einsatz selbst, von dieser Warenförmigkeit logisch unabhängig. Die
Bereitschaft zur warenförmigen Veräußerung der Arbeitskraft musste in so fern durchgesetzt, und
gesellschaftlich bzw. institutionell reguliert werden. Mit der Durchsetzung auf die kapitalistische
Produktion bezogener, gesellschaftlich flexibel gestaltbarer, ‚produktiver’ und ‚nicht-produktiver’ (z.B.
Kinder, Schüler, Hausfrauen, Rentner etc.) Rollen (vgl. Döbert/Nunner-Winkler 1973) kann die Frage
nach der gesellschaftlichen Reaktion auf eine Nicht-Integration in den Arbeitsmarkt flexibel bearbeitet
und differenziert legitimiert werden. Zugleich ist es möglich für die soziokulturelle „Integration
derjenigen [… zu sorgen], die auf dem Markt nicht unterkommen können, mithin der disziplinierenden
Wirkung von Arbeit entzogen sind.“ (Lenhardt/Offe 1979: 110). Diese Integrationsbemühungen gelten
aber nur für nicht direkt über Lohnarbeit im fordistischen Akkumulationsregime integrierte Akteure in
‚legitimen’ ‚nicht-produktiven’ Rollen, d.h. für diejenigen, die im Sinne einer politischen Regelung nicht
als Lohnarbeiter in Frage kommen, oder über keine um die Lohnarbeiterrolle organisierte
Rollenidentität verfügen (vgl. Döbert/Nunner-Winkler 1973: 319). Für alle anderen Formen der
Lebensführung und Identitätsbildung, ist das Ziel fordistischer Regulation eine ‚Vergesellschaftung
durch Lohnarbeit’. Eine arbeitsmarkt-externe Subsistenzform wird damit faktisch dem Belieben der
Träger von Arbeitskraft enthoben. In diesem strukturellen Kontext wird von Seiten des fordistischen
Staates – quasi als Kehrseite der Sozialpolitik – auf das
141
„Dauerproblem der ‚sozialen Integration’ der Lohnarbeiterschaft […] mit Mechanismen der sozialen Kontrolle
reagiert […], die von den Mechanismen des Arbeitsmarkes nicht zuverlässig erzeugt werden. In diesem
Zusammenhang ist einerseits die Kriminalisierung und Verfolgung solcher Subsistenzweisen zu nennen, die als
Alternativen zum Lohnarbeitsverhältnis infrage kommen (vom Verbot des Bettelns bis zu Repressionsakten vom
Typ des Sozialistengesetzes), und andererseits die staatlich organisierte Vermittlung von Normen und Werten, deren
Befolgung auf den Übergang ins Lohnarbeitsverhältnis hinausläuft.“ (Lenhardt/Offe 1979: 105)
Auch die Sozialpolitik selbst formuliert dabei Zugangskontrollen und definiert den angemessenen
Gebrauch der zu Verfügung gestellten Leistungen, welcher sich ebenfalls an der Lohnarbeit als
Normalexistenz ausrichten. Für potentiell Erwerbstätige, die sich noch in legitimen ‚nicht-produktiven
Rollen’ (z.B. Schüler) bewegen, werden Disziplinaraspekte durchgesetzt, die ihrer Rolle als zukünftiger
Träger der Ware Arbeitskraft entsprechen. Neben der Erzeugung der Bereitschaft die eigene
Arbeitskraft warenförmig zu veräußern, erscheint es notwendig, die Voraussetzungen des Fungierens
der Lohnarbeiter als Lohnarbeiter im umfassenden Sinne zu etablieren. Dies setzt zumindest
idealtypisch voraus, es allen Bürgern zu ermöglichen, in den gesellschaftlichen Tauschprozess (als
Lohnarbeiter) einbezogen zu werden (vgl. Offe/Ronge 1976 siehe auch Böhnisch 1994). Es beinhaltet
aber auch die gesellschaftliche Bereitstellung von außerhalb des Produktionsprozesses platzierten
‚Auffangbecken’ zur Sicherstellung der Reproduktion der Arbeitskraft für den Fall, dass ein aktueller
Einsatz im Produktionsprozess nicht gesichert werden kann (vgl. Böhle/Sauer 1975: 64). Das gesamte
wohlfahrtsstaatliche Arrangement des Fordismus beruht somit auf bestimmten Normalitätsannahmen,
„centered on mass production, strong labor unions, and the normativity of the family wage“ (Fraser
2001: 1) sowie
„der dauerhaften Erwerbstätigkeit der Männer bei lediglich sporadischer Erwerbstätigkeit der Frauen, der
Selbstverständlichkeit des Eheschlusses und der Familiengründung für beide Geschlechter sowie einer interfamilialen
Arbeitsteilung im Sinne des Modells der Hausfrauenehe“ (Kaufmann 1997: 60).
Im Zusammenhang mit der Erfüllung elementarer Reproduktionsfunktionen unter den Bedingungen
des abhängigen Lohnarbeiterdaseins als Normal-Existenz, erwächst zum einen eine starke
Orientierung an der traditionellen Kernfamilie als markt-externes Subsystem (dazu Donzelot 1980),
zum anderen, das Erfordernis einer Reihe von (sozial-)staatlich institutionalisierten Vorkehrungen als
Regulativ zum Verhältnis von Produktion und Reproduktion.
III. 1.2.2
AKKUMULATIONSPERSPEKTIVE
Während mit den fordistischen Interventionslogiken auf der Ebene der Regulation darauf reagiert
wird, dass „die faktisch massenhaft vollzogene Transformation der depossedierten Arbeitskräfte in
Lohnarbeit […] nicht ohne staatliche Politiken möglich [ist]“ (Lehnhardt/Offe 1979: 103), wird auch
aus der Perspektive des Akkumulationsregimes spätestens seit dem ‚Schwarzen Freitag’ (25. Oktober
1925) deutlich, dass sich der Laissez-faire Kapitalismus und der liberale Nachtwächterstaat als
untaugliche
Mittel
zur
Stabilisierung
eines
möglichst
krisenfreien
Produktions-
und
Reproduktionszusammenhangs erwiesen haben.
In diesem Zusammenhang wird der nach John Maynard Keynes (vgl. 1973 [1936]) benannte
‚Keynesianismus’, als eine auf Stabilität gerichtete, nachfrageorientierte Wirtschaftsdoktrin, die einen
142
Interventionismus eines gesamtwirtschaftlich bewussten Staates zur krisenentschärfenden Moderation
und antizyklischen Konjunkturpolitik beinhaltet, unter der Hegemonie der USA zunehmend zur
weltweit vorherrschenden Regulationsform kapitalistischer Industriestaaten und behält diese
Vormachtstellung auch bis in die 1970er Jahre hinein. Während die Außenhandelsbeziehungen in
Folge des Abkommens von Bretton-Woods4 reguliert werden, wird der Nationalstaat in vielfacher
Hinsicht in den kapitalistischen Reproduktionsprozess integriert und soll in erster Line über die
Regulation des Kapital-, Waren- und Lohnverhältnisses ex ante für die Berücksichtigung der
gesellschaftlichen Realisierung des produzieren Mehrwerts sorgen (vgl. Bieling 2000). Eine
nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik versucht die Verstetigung der kaufkräftigen Nachfrage im
Binnenmarkt, nicht nur durch antizyklische Konjunkturpolitik zu erreichen, sondern – innerhalb des
Paradigmas der Vollbeschäftigung und eines allenfalls konjunkturellen Arbeitskräftemangels – auch
durch vielerlei beschäftigungssichernde Maßnahmen, durch ein produktivitätsorientiertes Lohnniveau,
durch Niedrigzinspolitik sowie durch gesetzliche Kranken-, Renten-, und Arbeitslosenversicherung zu
stützen.
Diese Regulationsformen sind keinesfalls nur den Interessen des ‚Blocks der Macht’ – aus dessen
Perspektive andere, weit weniger ‚soziale’ Regulationsformen ebenfalls möglich, funktional und auch
politisch gefordert worden waren (vgl. Dixon 2000) – geschuldet, sondern werden auch durch den
gesellschaftlichen
Druck
‚von
unten’,
forciert
und
ausgeweitet.
Insbesondere
durch
eine
vergleichsweise starke und aktive Arbeiterbewegung wird ein kompromisshaftes Zusammenspiel des
Ökonomischen und des Sozialen im Sinne eines wohlfahrtsstaatlichen Umbaus, und einer
sozialpartnerschaftlichen
Integration
der
gewerkschaftlichen
Arbeiterbewegung
unausweichlich
gemacht (vgl. Buci-Glucksmann/Therborn 1982):
„[I]m Widerstreit von Kapitalinteressen und Forderungen der Arbeiterbewegung, [sieht sich] der Staat genötigt, die
Zuständigkeit für die Lösung sozialer Probleme in seine Verantwortung zu übernehmen, um, im Rahmen der
gegebenen Produktions- und Herrschaftsverhältnisse, neue Formen der Arbeits- und Lebenssicherung für alle
durchzusetzen und damit Bestand und Entwicklung der gegebenen Gesellschaft zu ermöglichen und zu garantieren“
(Thiersch/Rauschenbach 1984: 994).
Die Balance zwischen dem Ökonomischen und dem Sozialen in einem ‚keynesianischen
Wohlfahrtsstaats’ (vgl. Jessop 1992) ist wesentlich durch quantitativ umfassende und auf qualitativ
relativ hohem Niveau standardisierte arbeitsmarkt- und sozialpolitische Formen der Regulation und
Staatsintervention sowie durch ein dichtes Netzwerk organisierter Interessen gekennzeichnet. Diese
Regulationsform wird vor allem in der Bundesrepublik durch korporatistische Verhandlungsnetzwerke
und sozialpartnerschaftlich ausgerichtete Gewerkschaften unterfüttert. Insbesondere das - auf eine
Wahlkampfparole der SPD im Jahre 1976 zurückgehende - ‚Modell Deutschland’ steht für ein
politisches Modell der Konfliktverarbeitung auf der Grundlage der Integration der Gewerkschaften als
Vertreter der Arbeiterschaft in Verhandlungsnetzwerken. Auf einer makroökonomischen Ebene besteht
das wesentliche Ziel des korporatistischen Modells darin, den Widerspruch von gesamtwirtschaftlich
als
sinnvoll
erachteten
hohen
und
gesicherten
Löhnen
und
Gehältern,
und
dem
Im 1944 getroffenen Abkommen von Bretton-Woods wurden – unter der Vorherrschaft der USA - feste internationale
Wechselkurse vereinbart. Mit der Gründung des IWF und der IRBD wurde zugleich der Grundstein für das
Institutionensystem der Nachkriegszeit gelegt.
4
143
betriebswirtschaftlichen Interesse der Geringhaltung der ‚faux frais de production’ (vgl. Marx 1956)
auszubalancieren.
Im
Sinne
einer
Regulationsweise
makroökonomischen
zuweilen
die
bzw.
Globalsteuerung,
ökonomischen
erfordert
Einzelinteressen
die
keynesianische
betriebswirtschaftlicher
Kapitalverwertung zu durchkreuzen und verlangt von daher auch selbst sozialpartnerschaftlich
ausgerichtete Gewerkschaften als Verhandlungspartner und Transmissionsriemen. Im Gegenzug stützt
der keynesianische Staat diese Formen gewerkschaftlicher Organisation durch gesetzliche Garantien,
Mitbestimmungsrechte und eine Sicherstellung der Tarifautonomie. Dadurch ist es möglich, die
Differenzen von Lohnarbeit und Kapital in Gremien aus – idealtypisch – gleichberechtigten,
korporativen Verbänden der Kapitaleigner und Gewerkschaften zu verhandeln.
Insgesamt fungiert der keynesianisch-fordistische Sozialstaat demnach
„unbeschadet seiner im einzelnen lebenswichtigen Qualitäten […als] ein Aufsatz auf einer privat strukturierten, also
kapitalistischen Ökonomie [, …in dem ö]konomische Interessen […] einen Definitionsfaktor für die gesamte Politik
dar[stellen …]. Der Staat als sozialer Staat sollte das kapitalistische Vergesellschaftungsprinzip nicht abschaffen. Er
sollte jedoch das Maß an Ausbeutung und Verelendung so modifizieren, daß die Klassengesellschaft überwunden
werden konnte (Narr 1999: 23 f).
Die fordistische Gesellschaftsformation stellt als das ‚golden age of capitalism’ (vgl. Marglin/Schor
1991) zumindest zwischen dem 2. Weltkrieg und den 70er Jahren (vgl. Lenonard 1997), teilweise bis
in die 1980er Jahre, eine ‚Welt der Inklusion’ (vgl. Young 2001) dar, die auf Vollbeschäftigung,
sicheren Arbeitsplätzen, der Entwicklung des Binnenmarktes, einer Stabilisierung des Massenkonsums
sowie einem durch ‚aufgeklärte’ Sozialpolitik und professionelle ‚Sozialexperten’ institutionalisierten,
und gleichzeitig korporativ organisierten, Klassenkompromiss basiert (vgl. Hirsch 2000, Lenonard
1997). Diese Regulationsform ermöglicht auch dem Durchschnittsbürger seit den 1950er Jahren dabei
einen Lebensstil, „den sich eine Generation zuvor allerhöchstens die Wohlhabensten hätten leisten
können“
(Hobsbawm
1994:
323).
Die
fordistische
Phase
des
Kapitalismus
ist
insgesamt
gekennzeichnet durch:
„den Taylorismus […] in Wirtschaftsunternehmen, ständigen Produktionsfortschritt, stetige Lohnerhöhungen, den
Ausbau sozialer Sicherungssysteme, Massenkonsum, der Ausweitung der Beschäftigung, der Vorherrschaft der
Kernfamilien, die auf Konsum und die Reproduktion der Arbeitskraft konzentriert waren, die Sozialpartnerschaft
zwischen Arbeit und Kapital, Korporatismus (d.h. die Beteiligung großer Verbände und Organisationen an
staatlicher Herrschaft), eine keynesianistische nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik, einen ungebrochenen
Fortschrittsglauben sowie das Vertrauen auf die Steuerbarkeit ökonomischer und sozialer Verhältnisse“ (Hradil 1999:
116).
Dabei sorgen eine qua Verrechtlichung und Durchstaatlichung durchgesetzte quasi-universalistische
Perspektive sozialer Sicherung und sozialer Ordnung auf nationalstaatlicher Ebene sowie steigende
Reallöhne und sichere Beschäftigungsverhältnisse insbesondere nach Ende des Zweiten Weltkriegs für
eine relative Stabilität dieser Gesellschaftsformation.
144
III. 1.2.3
DER ‚STRAF-WOHLFAHRTSKOMPLEX’
Devianztheoretisch kann davon ausgegangen werden, dass sich - auch wenn formale ‚Strafe’ im
engeren Sinne sich vor allem seit dem 12. Jahrhundert sich zu entwickeln beginnt, und demnach von
‚Kriminalität’, im Sinne strafbarer Handlungen, schon länger existiert - eine verallgemeinerte Kategorie
von ‚Kriminalität’ erst mit der Durchsetzung der Lohnarbeit zu entwickeln beginnt. Die Formen sozialer
Kontrolle mit denen ‚Kriminalität’ qua Definition verbunden ist, sind in den dörflichen Gemeinschaften
der Neuzeit noch eher partikularistisch orientiert,
„d.h. was als Abweichung und Verbrechen in einer Gemeinde gesehen wurde, konnte in der anderen als normales
Verhalten wahrgenommen werden. Mangels einer uniformen und eindeutigen Definition von Verbrechen und
Abweichung war soziale Kontrolle eher eine Angelegenheit des Aushandelns als der Durchsetzung vorgegebener
Standards. […Erst mit] der Durchsetzung der kapitalistischen Form der Fabrik- und Lohnarbeit und der damit
einhergehenden Zerstörung traditioneller Lebensstile, etablierten sich allmählich uniforme Vorstellungen sozialer
Normalität, die die Durchsetzung umfassender und allgemeiner Definitionen und Vorstellungen von Devianz und
Normalität erleichterten. Bezugspunkte dieser neuen Verhaltensstandards waren die Fabrikdisziplin und das
Verhältnis von Kapital und Arbeit. Beide liefern universalistische Kriterien, die nicht mehr auf kommunale und
lokale Standards angewiesen sind.“ (Kreissl 1987: 273 f)
Die Etablierung einer prototypisch verallgemeinerten Kategorie von ‚Kriminalität’ ist eng verbunden mit
einer
Zentralisierung
sozialer
Kontrolle
und
mit
zentralstaatlichen
Lenkungs-
bzw.
Regulationsversuchen qua Recht. Beide Elemente werden insbesondere unter den Bedingungen der
Notwendigkeit einer ‚aktiven Proletarisierung’ forciert.
Regulationstheoretisch ist das (Straf-)Recht als Element der Regulation und Reproduktion eines
Entwicklungsmodells zu analysieren und kann als ein Teil der Schutz und Funktionsgewährleistung des
Gesamtsystems betrachtet werden. Im Verbund mit anderen formellen Formen sozialer Kontrolle geht
es dem Strafrecht in seiner übergreifenden Funktion um die Legitimation von Herrschaft, insbesondere
mit Blick auf die Regelung von Warentausch, Produktion und Reproduktion (vgl. Plewig 1990). Im
Einzelnen können als zentrale Schutzzonen des in fordistisch organisierten kapitalistischen
Gesellschaftssystems „1. die Produkte menschlicher Arbeit, 2. die sozialen Bedingungen der
kapitalistischen Produktion, 3. die Muster von Verteilung und Konsum, 4. der Prozess der Sozialisation
in produktive und nichtproduktive Rollen und 5. die Ideologie, die das Funktionieren der
kapitalistischen Gesellschaft sichert“ (Janssen 1997: 99) benannt werden.
Die Aufgabe des Staates besteht damit im Paradox einer Förderung kapitalistischer Akkumulation und
der gleichzeitigen Bewahrung der Legitimität der Produktionsweise wie seiner selbst (vgl. Michalowski
1988). Im Rahmen einer fordistischen Gesellschaftsformation beinhaltet dies, auch Devianz in erster
Line wohlfahrtsstaatlich zu bearbeiten.
Zwar expandieren in der Hochphase des Fordismus die (registrierten) Kriminalitätszahlen trotz eines
relativ
umfassenden
keynesianischen
Wohlfahrtsstaates
in
einem
beachtlichen
Maße
(vgl.
Cohen/Felson 1979, Smith 1995, Wouters 1999) - auch die Vereinten Nationen (2000: 3) machen
darauf aufmerksam, dass „crime has unexpectedly increased in Western countries in times of
increased affluence and improved social security“ - aber letztlich geht es den wohlfahrtsstaatlichen
Strategien im Kern nicht ausschließlich darum, Kriminalität selbst durch einen wohlfahrtsstaatlich
organisierten sozialen Ausgleich zu verhindern. Im Zentrum steht vor allem die Maxime ‚Sozialstaat
145
statt Strafrecht’ (vgl. Ludwig-Mayerhofer 2000: 322), bzw. mehr Wohlfahrt und weniger Gefängnisse.
Wohlfahrtsstaatliche Interventionen sind ex ante nicht nur als eine mögliche Alternative zur
Kriminalität konzipiert, sondern auch und primär als eine ‚produktive’ Form der Kontrolle, ein Versuch
der Assimilation und der Hervorbringung spezifischer ‚fordistischer’ Normalidentitäten, d.h. dem
Versuch die Regeln der fordistischen Lebensführungen - als eine regulierte ‚Einverleibung der
Gesellschaft’ - in den Individualhabitus der Akteure zu verankern und so die Prinzipen des
präreflexiven Ethos zu fördern, der die ‚vernünftigen’ von den ‚unvernünftigen’ Verhaltensformen
trennt (vgl. Bourdieu 1976, 1987).
Dieser Versuch geschieht auf der Basis einer Amalgamierung der Felder des Sozialen und der
Kriminalitätskontrolle in einem umfassenden ‚Straf-Wohlfahrtskomplex’ (vgl. Garland 1981, 2001) bei
dem auch das Gefängnis der Logik nach nur den Extrempol einer „welfare providing agency“
(Newburn 2002: 550) darstellt: Es soll nicht nur und nicht in erster Line „a place of punishment“,
sondern vor allem auch „a place of social training“ sein (Coyle 2001: 2).
Behandlungs-
und
Resozialisierungsbemühungen,
die
im
Kontext
des
‚wohlfahrtsstaatlichen
Optimismus’ der 1960er und 1970er Jahre ihren Höhepunkt erreichen (vgl. Ludwig-Mayerhofer 2000:
330 f) - und diesen im Verlauf der 1980er Jahre überschreiten - zielen ebenso wie die extra-justiziellen
Bereiche des Wohlfahrtsstaats im wesentlichen auf eine Lohnarbeiterexistenz, als die für die
gesellschaftliche Normalität konstitutive Form der Lebensführung.
Dies ist vor allem im Jugendstrafrecht nicht nur eine professionelle Perspektive - die ihren Höhepunkt
in der theoretisch konsequenten, praktisch einflussreichen aber letztlich gescheiterten Bewegung
findet das Jugendstrafrecht in Jugendhilferecht aufzulösen und damit als Strafrecht abzuschaffen sondern stellt das dominante, verallgemeinerte Deutungsmuster des Straf-Wohlfahrtskomplexes5 und
seiner vernehmlich resozialisierenden, individuelle Defizite ausgleichenden Form und Legitimation der
Strafe dar (vgl. Mathiesen 1989). In diesem Kontext ist der ‚Straf–Wohlfahrtskomplex’ jenseits
formulierter Strafzwecke ein der fordistisch formierten ‚Arbeitsgesellschaft’ (vgl. Matthes 1983)
inhärenter Bestandteil. Die formelle Strafe fungiert dabei vor allem als ein
„‚ultima ratio’ - System sozialer Kontrolle [, … dass] erst dann auf den Plan tritt, wenn die normalen
Routineeinrichtungen sozialer Kontrolle, wie Familie, Nachbarschaft oder Arbeit, versagen. Auf letztere bleibt es
ausgerichtet, von ihnen erhält die Strafe ihren ‚Sinn’“ (Sack 1998: 98, vgl. Rutter/Giller 1983).
Das Strafrecht stellt in diesem Sinne funktional betrachtet eine Art erzwingende Steigerung der
Interventionsrationalitäten sozialerzieherischer und anderer psychosozialer Dienste und Institutionen
dar. Darüber hinaus hat es aber nicht nur ‚herstellende’, sondern auch ‚darstellende’ bzw. expressive
Funktion (vgl. Cremer-Schäfer/Steinert 1986, Steinert 1997) und in dieser Form selbst a priori
spezifische Adressaten (vgl. auch Smaus 1998), bei denen sich die justizielle Kriminalitätskontrolle und
ihre Dichotomie ‚schuldig’ versus ‚nicht schuldig’ mit einer Beurteilung und Bearbeitung der
Lebensführung vermischt, in der der Frage der ‚Arbeitsmoral’ eine entscheidende Bedeutung zukommt
(Cremer-Schäfer/Steinert 1998, Schumann 2002).
So waren es nicht nur die Vertreter der Wohlfahrtsverbände sondern Bundesgerichthof, der höchstrichterlich feststellte,
dass auch die Jugendstrafhaft – als das schärfste Schwert des Jugendstrafrechts - nichts anderem als dem Ziel der
Erziehung und Wohlfahrt des Jugendlichen diene (vgl. BGHSt 16: 261, 263, nach Frehsee 1995: 370)
5
146
Seiner Kernstruktur nach folgt insbesondere das JGG zumindest in so fern nach wie vor – und
möglicherweise verstärkt - dieser fordistischen Logik, wie es gezielt und beabsichtigt den sozialen
Status des Angeklagten des Angeklagten ins Visier nimmt (vgl. Cicourel 1968, Geißler 1996,
Bereswill/Greve 2001) und eben „nicht nur auf seine Tat, sondern auch auf seine Person (‚Erziehung’)
reagiert“ (Plewig 1986: 259). Der soziale Status und die Formen der Lebensführung – die, neben der
Tat als ‚Anlass’ über die Sanktions-, Erziehungs- oder Besserungsbedürftigkeit entscheiden – liefern in
der Straf-Wohlfahrtsrationalität selbst entscheidende Anhaltspunkte für die ‚eigentlich’ zentralen
Formen der Abweichung von einer fordistischen ‚Normalität’, auf deren Aufrechhaltung und
Reproduktion das Strafrecht im wesentlichen zielt. So kommen etwa Prein/Seus (1999: 65) in einer
Untersuchung aus den späten 1990er Jahren zu dem Ergebnis, dass für jugendliche Angeklagten,
sobald ihnen
„die Etablierung einer sogenannten männlichen ‚Normalbiographie’ (siehe Heinz 1996) […gelingt] der Staus ‚guter
Lehrling’ oder ‚guter Arbeiter’ dominant [wird]; die Etikettierung ‚sozialer Abweichler’ kann trotz hoher
Delinquenzbelastung abgewehrt werden“ (vgl. auch Dietz et al. 1997, Schumann 2002, Anhorn/Bettinger 2002).
Das Strafrecht wird vor allem im Fordismus von einem Instrument, das nur der nachgehenden
Ahndung und Bestrafung dient, zu einem Mittel bzw. einer Sozialtechnologie disziplinierender
Prävention und Kontrolle. Die wesentliche Institution des fordistischen Sozialdisziplinierungsmodells
sozialer Kontrolle bleibt aber die Fabrik selbst (vgl. Steinert 1993, Deleuze 1993) - das Gefängnis,
ebenso wie andere Zwangsanstalten sind ihr Reflex (Melossi/Pavarini 1981), durch die der ‚soziale
Staat’ zur Verstärkung sub- und extra-justizieller ‚Disziplinarapparate’ zurückgreifen kann.
Neben
dem
dadurch
induzierten
(und
legitimierten),
im
wesentlichen
klassenspezifischen
Selektionscharakter der ‚wohlfahrtsstaatlichen’ Strafe ergibt sich noch ein anderer, paradoxer Effekt
der ‚sozialen Ideologie’ des Straf-Wohlfahrtskomplexes, der in seinem Ausmaß und seiner Form aus
einer klassisch liberalen Perspektive kaum zu rechtfertigen gewesen wäre: Wenn das Gefängnis, oder
eine Reihe von weiteren gestaffelten Behandlungs- und Sanktionsmaßnahmen unter- und außerhalb
der Gefängnisses „could turn men and women who had committed crimes into law-abiding citizens,
that in itself might become a justification for sending more people to prison”6 (Coyle 2001: 2).
Gleichwohl können solche ‚Disziplinierungs-‚ und ‚Assimilationspraktiken’ nicht in einem schlichten
Sinne mit Unterdrückung von Individualität und Subjektivität gleichgesetzt werden. Im Gegenteil sind
sie als eine gesellschaftliche Praxis zu verstehen, durch die bestimmte ‚Individualitäten’ und ‚Subjekte’
erst hervorgebracht werden7. Die disziplinierenden und normierenden Praktiken des StrafWohlfahrtskomplexes lassen sich im Sinne von zugleich ‚vermassenden und individualisierenden
Technologien’ einer „Verschränkung der Regulierung der Gesamtgesellschaft mit den Modi der
Subjektkonstitution“
verstehen
(Bublitz
2002:
4).
Eine
der
je
hegemonial
artikulierten
Gesellschaftsform entsprechende ‚Normalität’, ist dabei nicht nur die Basis, sondern auch das Produkt
Andrew Coyle (2001: 2 f) paraphrasiert die Rationalität dieser Denkweise in einer idealtypischen Form wie folgt: „The
magistrate or judge faced with the dilemma of what to do with the young man who persisted in petty offending was now
presented with a positive option. He was now able to say to this young man, ‘I will send you to prison, where you will be
trained to lead a law-abiding life’”.
7 „Die Disziplin“, schreibt Michel Foucault (1996) in der ‚Mikrophysik der Macht’, sei im Wesentlichen „die Kehrseite der
Demokratie“.
6
147
der selbst permanenten praktischen Diskursen und politisch-symbolischen Kämpfen unterworfenen
Rationalitäten und Technologien. Insofern kann ‚Normalität’ - auch in der vergleichsweise stabilen,
fordistischen
Form
einer
um
die
öffentlichen
und
privaten
Bedingungen
eines
Normalarbeitsverhältnisses zirkulierende Normalität (vgl. Böllert 2001a) - nicht als ein statisches,
rigides Regelsystem betrachtet werden, das von ‚Staatsapparaten’ (Althusser 1977) einfach
durchgesetzt wird. Vielmehr ist es – auch in seiner Form als ‚gesellschaftliche Normalität’ mit
Gültigkeitsanspruch für den tendenziell gesamten sozialen Raum einer Gesellschaftsformation - ein
verallgemeinertes System von Regelmäßigkeiten, in denen systematische Praktiken normierender
Normalisierung zugleich für dessen Inkorporierung und Habitualisierung in individuelle und kollektive
Dispositionssysteme Sorge tragen. In diesem Sinn stellt Normalität auch keinen Zwang außerhalb
eines ansonsten freien und den Normalisierungsinstitutionen gegenüberstehenden ‚Subjekts’ dar8,
sondern eine Regelmäßigkeit der Konstitution, Wahrnehmung und Beurteilung sozialer Wirklichkeit,
die auf ein ‚gesellschaftlich-externales’ und ‚subjektiv-internales’ Entsprechungsverhältnis verweist.
Normalisierungspraktiken bezeichnen dabei ein Arrangement von Technologien, die darauf zielen das
verallgemeinerte Regelmäßigkeitssystem zugleich als Dispositionssystem (Habitus) im ‚Subjekt’ selbst
zu verankern. ‚Idealerweise’ stellt dies die Basis für eine ‚Subjektwerdung’ dar und wird dabei als
Regelmäßigkeit der ‚subjektiven’ Konstitution sozialer Wirklichkeit vom handelnden ‚Subjekt’ selbst qua
Handlung aktualisiert. Kurz: ‚Normalität’ ist eine „Ökonomie der Praxis“, die einer Logik unterliegt, die
„gleichzeitig in den Institutionen, in den Mechanismen und in den Dispositionen, im Kopf der Leute ist“
(Bourdieu 1997: 80), während das fordistische ‚Sozialdisziplinierungsmodell’ als eine spezifische
Möglichkeit - unter andern - zur regulativen Gestaltung dieser ‚Ökonomie der Praxis’ analysiert werden
kann.
III. 2
JUGENDHILFE IM FORDISMUS
Obwohl bereits in der ‚prä-fordistischen’ Phase des Kapitalismus von ihrer Existenz gesprochen werden
kann, erhält die – in diesem sinne typisch fordistische Profession - Jugendhilfe vor allem in der
Hochphase9 des fordistisch-keynesanischen Staates, d.h. in der „wohlfahrtsorientierten BildungsBeschäftigungs- und sozialen Infrastrukturpolitik der 60er und 70er Jahre […] ihre professionelle
Struktur und wohlfahrtlichte Legitimation“ (Böhnisch 1994: 16). Das Verhältnis von Sozialpolitik und
Jugendhilfe bzw. allgemeiner, Sozialer Arbeit ist dabei dadurch gekennzeichnet, dass Soziale Arbeit
und ihre Institutionen als eine Form organisierter Hilfe zwar relativ autonom die Art der je
vorliegenden
Hilfsbedürftigkeit
als
ihren
spezifischen
Ansatzpunkt
selbst
festlegte
und
professionsadäquat begründet und legitimiert, hierbei jedoch zugleich innerhalb der sozialpolitischen
Logik bleibt. Soziale Arbeit funktioniert dabei als eine „pädagogische Entlastung der Sozialpolitik“
(Böhnisch 1982: 166): „Was die Sozialpolitik nicht lösen kann oder will, wird der Jugendhilfe zur
pädagogischen Befriedung oder Verwaltung […] zugewiesen.“ (Böhnisch 1982: 166).
8 Eine Vorstellung, wie sie beispielsweise im Kontext der ‚Lebensweltorientierung’ in der Jugendhilfe zumindest implizit zum
Ausdruck gebracht wird.
9 Retrospektiv kann zugleich ab den 1970er Jahren auch von der Endphase des Fordismus gesprochen werden.
148
Der Aufgabenbestimmung fordistischer Sozialpolitik entsprechend ist die Jugendhilfe funktional auf
„die
Integrationsfunktion
in
ein
bestimmtes
Modell
der
Lohnarbeit
nach
Maßgabe
des
Normalarbeitsverhältnisses […] ausgerichtet“ (Schaarschuch 1999: 63). Kennzeichnend für den
deutschen Wohlfahrtsstaat ist dabei eine besondere ‚Doppelstruktur’ (vgl. Sachße/Tennstedt 1991:
411), die sich bis heute in einer ‚historischen Arbeitsteilung’ zwischen Sozialpolitik und Sozialer Arbeit
zeigt (vgl. Münchmeier 1997, Peters 1995). In diesem Zusammenhang ist Soziale Arbeit in der
fordistischen Gesellschaftsformation „Teil der staatlichen oder jedenfalls öffentlich organisierten
Reproduktion der Individuen in dieser Gesellschaft und [dient] als Ergänzung oder Teil der
Sozialpolitik“ (Auernheimer 1984: 101) bzw. als dispositionssensible Form einer „aktive[n] Gestaltung
des Proletarisierungsprozesses“ und mithin als „spezifische Strategie der staatlichen Sicherstellung der
Lohnarbeiterexistenz“ (Müller/Otto 1980: 8 f).
Ihre integrative Ausrichtung, d.h. ihre Form sozialer Hilfe ist zugleich die Integration des Individuums
in das Ensemble „der Zwänge, Normen und Werte der erwerbsgesellschaftlich-bürgerlichen
Normalität10“
(Scherr
‚identitätsstützend’
und
1998:
509).
Wie
auch
immer
‚subjektivitätsverbürgend’
bzw.
‚helfend’,
‚bedürfnisbefriedigend’
–generierend
die
spezifische
Sozialisationsarbeit der Jugendhilfe für den je betroffenen sozialen Akteur auch ist, bleibt in der
fordistischen Phase des Kapitalismus die „Arbeitsfähigkeit des einzelnen und damit auch die jeweils
gegebenen und erreichbaren Arbeitsverhältnisse“ (Böhnisch/Schefold 1985: 24) unhinterfragbarer
Kern ihrer Zielorientierungen. Der keynesianisch-fordistische Sozialstaat hat in der Jugendhilfe vor
allem eine Instanz gefunden, um seine eigenen Reproduktionsleistungen zu bearbeiten und in ihrem
Bestand zu sichern (vgl. Winkler 1995). Das zentrale Reproduktionsproblem, auf das (auch) mit
Jugendhilfe, als Teil der sozialstaatlich regulativen Strategie ‚aktiver Proletarisierung’ gesellschaftlich
zu reagieren hat, stellt die Tatsache dar, dass die Quelle ‚legitimer Identität’ im Fordismus - d.h. die
Lohnarbeiterexistenz - eine sich nicht ‚automatisch’ einstellende, sondern zunächst vergleichsweise
„unwahrscheinliche Form der menschlichen Existenz ist [. Weil] ihre Erhaltung hochkomplexe und differenzierte
Strukturen erfordert, und sie zudem noch kulturell, sozial und personell äußerst voraussetzungsvoll ist, muss sie in
aufwendigen Prozessen ‚als Pflicht normiert’ und ‚als Zwang installiert’ werden.“ (Sünker 1995: 78)
Mit Norbert Elias (1969) kann die Geschichte der Neuzeit als eine Geschichte der Durchsetzung der
Lohnarbeit – und mithin des disziplinierten Arbeitsbürgers – als Standardmodell gesellschaftlicher
Teilhabe gelesen werden. Lohnarbeit im heutigen Sinne ist, so André Gorz (1994: 27), eine Erfindung
der Moderne, der auf der Ebene sozialer Kontrolle das Modell einer ‚Disziplinargesellschaft’ entspricht,
die durch eine Verlegung der Kontrolle in das Innere des Menschen gekennzeichnet ist und ihre
Interventionen mithin von der Körperstrafe hin zur Therapie, Erziehung, Besserung verlagert (vgl.
Foucault 1994). Diese Form der Kontrolle, als die Hauptkontrollform des Fordismus, ist zugleich die
wesentliche Kontrollform der Jugendhilfe. Der für diese Kontrollform adäquate ‚Kontrollstil’ (vgl. Cohen
1993) der Jugendhilfe ist in der Regel weder punitiv ausgerichtet (vgl. Peters/Cremer-Schäfer 1973),
Wie Albert Krölls (2003: 18) ausführt ist „der inhaltliche Maßstab sozialarbeiterischer Hilfe und sozialer Kontrolle […]
vollständig identisch. Die Hilfestellung, welche die Sozialarbeit ihren Klienten bietet, ist nämlich darauf gerichtet, Bürgern, die
von den Ordnungsvorstellungen der Instanzen sozialer Kontrolle abweichen, ihre (Re)Integration als ordentlichem
Staatsbürger in eben diese Gesellschaft zu ermöglichen“.
10
149
noch auf einen engen juristischen Kontrollbegriff bezogen, der an ein ‚Konzept der Kriminalität’
angelegt ist und auf die negative Sanktion abweichender Handlungsweisen verweist (vgl. Sack 1993).
Die Kontrolle der Jugendhilfe reagiert vielmehr ‚präventiv’ und ‚reaktiv’ auf ‚absehbar’ drohende oder
aktual manifestierbare praxislogische Unterbietung und Infragestellungen der fordistischen Normalität
– ob sie im juristischen Sinne ‚kriminell’ sind oder nicht. Dieser Kontrollstil kann im Wesentlichen als
‚Sozialdisziplinierung’11 charakterisiert werden (vgl. Oestreich 1969, Sachße 1986, Sack 1993c,
historisch: Schilling 1999). Vor allem in seiner fordistischen Form ist die disziplinierende Form der
Kontrolle dadurch gekennzeichnet, dass sich äußeren Zwang mit innerer Selbstregulierung koordiniert
und dabei sie „nicht repressiv, sondern produktiv [ist], rational statt charismatisch […operiert und
primär darauf gerichtet ist] ‚nützliche’ (wenn auch nicht vollkommen fügsame) Körper in national
begrenzten Gesellschaften der Massenproduktion und des Massenkonsums“ zu mobilisieren (Fraser
2003: 247).
Im Sinne dieses ‚sozialdisziplinierenden’ Kontrollmodus der Jugendhilfe geht es weniger um die
Aufrechterhaltung von Normen als quasi juristische Prinzipien oder um die Befolgung bestimmter, dem
Handeln äußerlicher Regeln, sondern vor allem um die Aufrechterhaltung, Reproduktion und habituelle
Inkorporierung der Gesamtheit der wesentlichen ‚Regelmäßigkeiten’12 (dazu: Bourdieu 1992), des
herrschenden Common Sense fordistischer ‚Normalität’ und ‚Normalidentität’, der sich für alle
aufzwängt, die in die ‚inklusive Welt’ der sozialen Moderne (Young 2001) aufgenommen werden
sollen13. Ziel ist die Erzeugung einer Form ‚praxislogischer Zustimmung’, die keiner bewussten,
aufgeklärten und reflexiven Form der freiwilligen Entscheidung bedarf, sondern auf einer
Inkorporierung sozialer (Macht)Relationen, einer, wie es Bourdieu (1997: 166) formuliert,
„unmittelbaren, vorreflexiven Unterwerfung der sozialisierten Körper“ beruht, die sich nur in actu
vollziehen und realisieren kann (vgl. Bourdieu 1992, 1997, Sack 1993c).
‚Disziplinierung’ ist dabei im Vergleich zu sozial ausschließenden Formen sozialer Kontrolle als eine
gestaltende und produktive Herrschaftsform zu verstehen, die insbesondere in Form der
(psycho)sozialen Dienste institutionalisiert werden kann. Das ‚object of knowledge’ der Disziplinierung
stellt das einzelne Individuum als ein soziales, biographisches ‚ganzheitlich’ zu fassendes Wesen, als
die - vermeintlich – kleinste ‚individierbare’ Einheit dar, auf dessen Habitus, innere Haltungen,
Gesinnungen, Motivationen etc. disziplinierende Interventionsformen gerichtet sind.
Die zentrale Technologie der personenbezogenen sozialen Dienste besteht dabei in dem Versuch einer
normierenden Normalisierung ihrer Adressaten als ‚Subjekte’. Eine solche Technologie beinhaltet
zuvorderst die Spezifizierung einer verallgemeinerten Norm in einer Form, durch die die individuelle
Im Modell Gerhard Oestreichs ist Sozialdisziplinierung ein seit dem Absolutismus rekonstruierbarer Kontrollmodus der
nicht mehr alleine auf die Ebene zentraler Regierungs- und Verwaltungsbehörden verweist, der auf alle einzelnen Individuen
durchgreift und nicht nur auf ihr ‚äußerliches’ Verhalten, sondern auch auf ihre innere psychische Disposition zielt.
12 Diese Regelmäßigkeiten stellen eine Art soziale ‚Hintergrundgrammatik’ (P. Veyne) dar, die weder die Professionellen der
Jugendhilfe noch ihre Adressaten expressis verbis formulieren zu wissen müssen.
13 Dem steht nicht entgegen, dass auch diese inklusive Welt fraglose Zugehörigkeit eine Fiktion ist, die gerade auf der
Zurückdrängung von Differenz und Differentem beruht. „Nicht Zugehörigkeit“, so Paul Mecheril (2003: 35) aus einer
kulturtheoretischen Perspektive, „sondern ‚Nicht-Zugehörigkeit’ ist das Prinzip der Moderne, und das Insistieren auf
Reinheitsvorstellungen, Vollkommenheits-, Gleichheits-, Homogenitäts- und Kohärenzkonzepte kann als semantische
Selbstbeschreibungs-Konsequenz dieser Realität per se eingeschränkter Zugehörigkeit verstanden werden“.
11
150
Einzigartigkeit der Normunterbietungen zu identifizieren, zu charakterisieren, zu klassifizieren und
entsprechend zu standardisieren ist. Auf Basis einer solchen Standardisierungslogik und der daraus
entwickelbaren, kausalen Wissensbestände über Normalität und Devianz zielt eine Normalisierung im
disziplinierenden Sinne nicht nur auf die Korrektur des Individuums (vgl. O´Malley 1992), sondern vor
allem
auf
die
Hervorbringung
einer
korrigierten
Individualität,
d.h.
einer
Generierung
‚handlungsfähiger’, ‚normaler’ Subjekte und stabiler Identitäten innerhalb einer politisch regulierten
Normalität.
Dass die vorherrschenden präventiven Strategien der Jugendhilfe im fordistischen Sozialstaat im Kern
personenbezogene, individualisierende Strategien sind, impliziert jedoch nicht ‚dem Sozialen’ keine
Aufmerksamkeit zu schenken. Im Gegenteil. Basierend auf einer professionsadäquaten ‚evil causes
evil’ Perspektive, der gemäß ‚schlechte Ursachen’ (‚Defizite‘ in Umwelt und Person) zu ‚bösen
Konsequenzen’ (z.B. Devianz) führen, besteht die zentrale Annahme über die Gense aller möglichen
‚sozialen’ und ‚Lebensführungsproblemen’ darin, dass es zuforderst defizitäre soziale Umstände sind,
die auf den einzelnen Akteur ‚abstrahlen’ (vgl. Sack 1993). Entsprechend der jugendhilfetypischen
Positions-Dispositions-Relationierung kann die ‚unmittelbare Problemursache’ in die Person des Täters
gelegt14 und dieser damit das Objekt der Intervention werden (vgl. Walklate 2002). Zugleich aber
kann der ‚tieferliegende Grund’ dafür, dass dieser Akteur ‚fehlgeleitet, bzw. ‚kriminell’ geworden ist mit
-
‚nicht
selbst
15
Bedingungen
verschuldeten’
-
sozialisatorischen
Wirkungen
‚schlechter’
gesellschaftlichen
verbunden und ursächlich erklärt werden.
Der sozialpädagogischen Kontrollform einer sozialen Disziplinierung entspricht insofern eine
Interventionslegitimation, die es der Jugendhilfe ermöglicht, den moralisch verwerflichen Täter zu
bestreiten und an seine Stelle die Figur eines ‚Opfers’ innerer und äußerer Verhältnisse zu setzen. In
sofern kann die dominante ‚Ursachentheorie’, die den ‚fordistischen’ Interventionslogiken Sozialer
Arbeit in Lebensführungsproblemen zu Grunde liegt (vgl. Thiem-Schräder 1989), als eine ‚soziale’
Variante eines „Lombrosian project“ verstanden werden, „based on the premise that criminals can
somehow be scientifically differentiated from [conformist actors]“ (Garland 2002: 8, vgl. Peters 1973).
Damit ist es der Jugendhilfe zugleich möglich „nicht primär nach Schuld und Verantwortung, sondern
nach individuell nicht zurechenbaren Ursachen und Gründen“ (Scherr 1998: 64 f; vgl. Brumlik 1999)
zu fragen und den ‚Gefährdeten’ und potentiellen oder inzident festgemachten ‚Kriminellen’,
‚Verwahrlosten’, ‚Abweichler’ etc. als identifizierbare und identifizierte einzelne Person, trotzdem zum
Ausgangspunkt ihrer präventiven und reaktiven Interventionen zu machen.
Jugendhilfe ist in diesem Sinne eine zentrale Institution und zugleich ein Produkt einer spezifischen
Form der Bearbeitung des Sozialen, die es dem fordistischen Sozialstaat ermöglicht, die Frage ‚sozialer
Probleme’ an die Stelle der ‚sozialen Frage’ zu setzen und damit verbunden auch das kompensatorisch
zu bearbeitende Problem ‚sozialer Schichtung’ an das Problem ‚sozialer (politischer) Klassen’. Dabei
gelingt es die ‚gefährlichen Klassen’ des frühen Kapitalismus (vgl. de Swaan 1993) zu ‚pathologischen’
(vgl. Peters 1973) bzw. von Sozialpathologien beeindruckten Individuen zu disaggregieren, und damit
Auch in dieser Strategie bleibt also letztlich positivistisch-individualisierende Problemdeutung im Hintergrund erhalten und
wirksam.
15 Dieser ‚tieferliegende’ Ursachenkomplex wird demnach im Wesentlichen der sozialstrukturell-positivistisch interpretiert.
14
151
zu Objekten der empirischen Human- und Sozialwissenschaften und der Technologien sozialer
Dienste, wie zunächst der Psychiatrie, dann der Psychologie und allen voran der Sozialen Arbeit,
werden zu lassen (vgl. Garland 1981, Pratt 1998, O’Malley 2001a).
In bezug auf die Normalitätserwartungen fordistischer Akkumulations- und Regulationsbedingungen
wird damit ein Kontrolltypus forciert, der die gesellschaftlich erwarteten Verkehrsformen nicht nur
äußerlich schützt und zwangsförmig aktualisiert, sondern zugleich durch den Zugriff auf das Innere,
des nach den fordistischen Regelmäßigkeiten erst hervorgebrachten ‚Subjekts’ sicherstellt.
Mit Rekurs auf die Straf- und Wohlfahrtslogiken im Fordismus seit der Nachtkriegsära verweist Jock
Young (1999a: 390) darauf, dass der zu bearbeitende Gegenstand vor dem Hintergrund der Messlatte
gegebener, allgemeinverbindlicher Normalitätsstandards, in die es den ‚Abweichler’ positional und
dispositional zu assimilieren gilt, in erster Linie im Problem der Diversität besteht. Der Logik nach ist
die wohlfahrtsstaatliche Moderne
„not afraid of the difficult individual. It was not difficulty which threatened modernity, but diversity. A whole
barrage of experts—psychiatrists, social workers, criminologists—were in the business of explaining away diversity; a
positivist social science was evolved which sought to explain the, remarkable’, why differences in values, attitudes
and behaviour could possibly occur in a world which was both economically and socially so successful—the
endpoint of historical development. Their task was to convert diversity into deviance”.
Die zentralen instrumentellen Stützpfeiler ‚disziplinargesellschaftlicher’ Subjektivierungsweisen stellen
Methoden der Generierung ‚fordistischer Identitäten’ mit einem ‚genormten Inventar’ an basalen
Persönlichkeitsmerkmalen dar (vgl. Bröckling 2000), d.h. alle Formen und Techniken der „Normierung,
Normalisierung, Subordination, Kolonialisierung und Assimilation“ (Cremer-Schäfer 1995: 97) oder
kurz, des Produktiv- und Nützlichmachens. Diese ‚Stützpfeiler’ verweisen gleichsam auf den
Stellenwert der ‚Integration’, die – im Sinne einer Gleichzeitigkeit von Einbeziehung und Formierung einen zentralen Garant für die soziale Kohärenz der Gesellschaftsformation darstellt. Die Rationalitäten
sozialer Regulation im politischen Keynesianismus zeichnen sich durch den Versuch aus „[to] gran[t]
social embeddedness [and] strong certainty of personal and social narrative, and a desire to assimilate
the deviant, the immigrant, the stranger […] into a massive, homogeneous culture” (Young 2001a).
‚Integration’ und ‚Disziplinierung’, als normierende Normalisierung ist im Idealfall darauf ausgerichtet,
dass der einzelne sich freiwillig in den normativen Konsens der Gesellschaft fügt, wobei die Basis
dieser Freiwilligkeit nicht zuletzt durch den Wohlfahrtsstaat selbst sichergestellt wird (dazu Peters
2002, Schimank/Lange 2003).
Im Rahmen der Entschärfung der sozialen Frage unter den Bedingungen eines fordistischen
Wohlfahrtsstaates verkörpert Soziale Arbeit, als ein historisch zwar variabler aber integraler
Bestandteil sozialpolitischen Handelns (vgl. Müller/Otto 1980), nicht nur die Sozialisierung und
Einpassung der – aktualen und künftigen - Lohnabhängigen in die Verhaltensanforderungen und
Verhältniszwänge einer kapitalistischen Gesellschaft, sondern auch „das sozialintegrative Versprechen,
dass jedem in Not oder mit dem Gesetz in Konflikt Geratenen durch Beratung, Therapie und
Pädagogik geholfen und der Anschluss an die Gesellschaft ermöglicht werden kann“ (Klatetzki/von
Wedel-Parlow 1998: 574). Die normierend normalisierende Kontrolldimension Sozialer Arbeit wird
dabei untrennbar mit den Modi ihrer Hilfeleistungen verbunden und nicht nur in ökonomischer,
152
sondern vor allem auch in sozialer, kultureller politischer und administrativer Hinsicht mittels Inklusion
sichergestellt (vgl. Schaarschuch 1999).
Die inkludierende Funktion Sozialer Arbeit im Sozialstaat, lässt sich insofern nicht ausschließlich als
Versuch einer Hilfe im Sinne Generierung individueller gewünschter Gebrauchswerte für ihre
Adressaten fassen. Vor dem Hintergrund der Einsicht „that the welfare state produces legitimacy and
mass loyalty” (Peillon 1998: 219, vgl. Habermas 1981) wird Soziale Arbeit vor allem seit den 1970 ein
Mittel zur Befriedigung von Randgruppen und als Formung und Einschränkung individueller
Autonomie-, Freiheits- und Selbstverwirklichungsinteressen zu Gunsten einer Zurichtung von
Individuen zu arbeitsfähigen und -willigen Lohnarbeitern und kritisiert16 (vgl. Autorenkollektiv 1977,
Barabas et al. 1976, Brake/Bailey 1980, Danckwerts 1981, Hollstein/Meinhold 1973, Janowitz 1976,
Pinker 1971, Piven/Cloward 1971, Simpkin 1979): „Social work came under attack as form of social
control exercised under the humanitarian disguise of caring and this attack was developed into a more
theoretically sophisticated analyses of the controlling and ideological function of welfare in the
capitalist state” (Clarke 1979: 125). Gleichwohl hat der Sozialstaat - und mit ihm auch die Soziale
Arbeit „mit seiner Politik der sozialen Balance einen Begriff von Normalität befördert […,] der abweichendes Verhalten
nicht aussondert, sondern zu integrieren [… versucht. In diesem Zusammenhang ist Soziale Arbeit] zur allgemeinen
sozialstaatlichen Institution der Bearbeitung ‚sozialer Probleme’ geworden [… und hat als,] Teil der sozialstaatlichen
Politik der Sozialintegration, eine allgemeine gesellschaftspolitische Funktion erhalten“ (Böhnisch 1984: 83 f).
Jene, durch die verallgemeinerte Normalität und den durchschnittlichen Lebensentwurf des
keynesianischen Sozialstaats vorgezeichnete Form der Sozialintegration beinhaltet zugleich „die
tendenzielle Übereinstimmung der lebensweltlichen Werthaltungen und Lebensführungen mit den
geltenden gesellschaftlichen Normen“ (Böhnisch 1994: 31). Dies gilt bereits alleine, weil die Diagnose
einer Hilfsbedürftigkeit einen „Aussage- bzw. Informationsgehalt [erst] bei gleichzeitiger Angabe der
‚Regeln’, der Normen, der ‚Demarkationslinie’“ (Rössner 1973: 259) erhält, an der sich diese
orientieren kann. Die ‚sozialintegrative Kraft’ Sozialer Arbeit liegt in diesem Sinne in ihrem Beitrag,
dass „Kinder und Jugendliche in die vorgegebenen gesellschaftlichen Normen hineinwachsen und
diese trotz kontroversen Erfahrungen, die mit dieser Integration verbunden sind, anerkennen“
(Böhnisch 1982: 24). Dabei wandelt sich Soziale Arbeit in dem Maße von einem „repressiven zum
‚‚strategischen’ Instrument sozialer Integration“ (Böhnisch 1982: 25), wie sich
„die Überzeugung durchsetzt, daß Formen abweichenden Verhaltens von Individuen und Gruppen sozial erzeugt
sind und durch wissenschaftlich gegründete Sozial- und Psychotechniken (Beratung, Therapie, Erziehung,
Resozialisation) der Möglichkeit nach in angepaßtes Verhalten verwandelt werden können, […] Praktiken der
sozialen Aussonderung ihre Legitimation. An ihre Stelle treten die Ziele der Normalisierung abweichender
Individuen orientierter Institutionen und Professionen in Verbindung mit den gleichwohl nicht obsolet werdenden
Formen der polizeilich-strafrechtlichen Überwachung, Kontrolle und Sanktionierung“ (Scherr 1998: 509).
Die Form der sozialintegrativen Vermittlung des Subjekts durch die Jugendhilfe, kann als Versuch
einer Erzeugung eines sozio-moralischen Habitus verstanden werden, der die basale Disposition des
16 Ähnliches gilt auch für die treffende, feministische Kritik am Wohlfahrtsstaat: „A unifying theme of th[e] feminist critiques of
social policy has been an analysis of the welfare state in relation to the family: as supporting relations of dependency within
families: as putting women into caring roles; and as controlling the work of reproduction” (Pascall 1986: 3).
153
‚freiwilligen’ Fügens in einen umfassenden hegemonialen Konsens beinhaltet. Im Rahmen der
integrativen Funktion Sozialer Arbeit dominierten in der fordistischen Formation des Kapitalismus
„Begriffe der Integrationswilligkeit und -fähigkeit, begleitet allerdings von ausgrenzenden und stigmatisierenden
Etiketten für solche, die weder das eine noch das andere waren (z.B. gruppenfähig/nicht-gruppenfähig;
resozialisierungsfähig/ nicht resozialisierungsfähig; therapiefähig/ therapieresistent)“ (Kunstreich 1998: 399).
Eine ‚Freiwilligkeit’ oder zumindest ‚Willigkeit’ fungiert dabei als die entweder vorhandene oder zu
erzeugende
individuelle
‚Bringschuld’
des
‚hilfebedürftigen’
d.h.
‚autonomisierungs-’
und
‚integrationsbedürftigen’ Individuums gegenüber den herrschenden Verhältnissen. Erst an den
Grenzen dieser Form wohlfahrtsstaatlicher Inklusion setzt die ‚ultima ratio’ Lösung des ‚StrafWohlfahrtskomplexes’
an
(vgl.
Garland
1981).
Zwar
gibt
es
auch
in
der
fordistischen
Gesellschaftsformation institutionalisierte Prozesse und juridische Formen von sozialem Ausschluss in
verschiedenen Formen und Ritualen, aber diese sind mehr oder weniger selbstverständlich mit der
moralischen Erwartung verbunden, dass ein solcher Ausschluss „nur vorläufig sei und vor allem dazu
diene, das ausgeschlossene Subjekt früher oder später in die Gesamtheit der sozialen Beziehungen, in
die ‚Gesamtgesellschaft’ wiedereinzugliedern“ (de Marinis 2000: 59). In dieser Form ist ein temporärer
punitiver Ausschluss selbst - der fordistischen Logik des Nützlich-Machens folgend - weniger darauf
gerichtet, Personen oder Risiken ‚unschädlich’ zu machen, sondern vor allem darauf spezifische
Identitäten hervorzubringen. In diesem Sinne folgt selbst noch der ‚Ausschluss’ einer produktiven
Logik: Er hat vor allem eine disziplinierend-normalisierende Funktionen und ist als Versuch der
Erzeugung einer gesellschaftlich duldbaren Form des Habitus konzipiert17. Der Vollzug der Strafe als
episodischer Ausschluss innerhalb eines integrierenden Rahmens des Wohlfahrtsstaats stellt insofern,
als Disziplinierung qua Einschließung einen integralen Bestandteil eines Kontinuums von ‚Hilfe’ und
‚Kontrolle’ dar, in dem auch die Jugendhilfe angesiedelt ist. Als institutioneller Bestandteil dieses
Kontinuums fungiert die Jugendhilfe nicht sowohl als auch, sondern in einer synonymen Form zugleich
als lebensweltliche Hilfe, als Instrument der Sozialpolitik und als Kontrollagentur. Dieser prinzipielle
Charakter der Jugendhilfe, eine Form der sozialen Unterstützung zu bieten, die systematisch mit einer
dispositionsmodifizierenden Form sozialdisziplinierender Kontrolle verknüpft ist, materialisiert sich in
der fordistischen Gesellschaftsformation vor allem darin, dass ihr als ein Instrument der Sozialpolitik
die Aufgabe zukommt,
„die zunehmend staatlich regulierte Reproduktion der Arbeitskraft sowohl durch öffentliche
Sozialisationsprogramme zu verwirklichen (z.B. Vorschulerziehung, Jugendhilfe, subsidiäre Familienerziehung) als
auch auf die Verletzung gesellschaftlicher Verkehrsformen (z.B. Diebstahl, mangelnde Arbeitsmotivation, Gewaltund Drogendelikte) durch unterschiedliche miteinander gekoppelte Maßnahmeprogramme (z.B. Beratung, Therapie,
Heimerziehung) sanktionierend zu reagieren und durch materielle Hilfen (z.B. wirtschaftliche Jugendhilfe,
Sozialhilfe) eine zeitlich fixierte, marktunabhängige Reproduktionssicherung zu übernehmen“ (Müller/Otto 1980: 9).
Damit ist zumindest das in der sozialen Regulation der fordistischen Gesellschaftsformation
rekonstruierbare Verhältnis von Hilfe und Kontrolle durch die Jugendhilfe gerade nicht „das von
Zuckerbrot und Peitsche. Beide Maßnahmenvarianten zielen ja auf ‚Integration’, sind insofern
Dem steht nicht entgegen, dass dieser Versuch in empirischer Hinsicht zu vergleichsweise unbefriedigenden Ergebnissen
geführt hat (vgl. Martinson 1974, Schumann 2001, Stehr 2002). Allerdings war die Strategien und Technologien dieses
Paradigmas bis zum Ende der 1970er Jahre von der Beweislast der empirischen Wirkungsforschung weitgehend entlastet
(vgl. Dünkel/Rehn 2001)
17
154
äquivalent“ (Peters 1998: 21 f, vgl. Krölls 2003). Soziale Kontrolle in ihrer Form als
Sozialdisziplinierung ist selbst ein zur Erhaltung des gesellschaftlichen Normen- und Wertebestands
notwendiger Teil der Vorgänge sozialer Integration (vgl. Steinert 1995: 82). Vermittelt durch
personenbezogene soziale Dienste stellt sie vor allem den inkludierenden und normalisierenden
Versuch der Schließung der Kluft zwischen der Bandbreite empirisch feststellbarer Handlungsweisen
und Dispositionen und den gesellschaftlich tolerierten und - normativ nicht faktisch – erwarteten und
(symbolisch) durchgesetzten Lebens- und Handlungsformen dar, aus genau deren Unterbietung sich
auch der Anspruch auf Hilfe und Unterstützung speist.
Die Aufgaben subsidärer Existenzsicherung und Kontrolle - je als ‚Normalisierungsarbeit’ (vgl.
Brunkhorst 1988) im Sinne einer normativen Integration sozial abweichender Gruppen und Individuen
- sind demnach, zumindest von der Integrationsperspektive her betrachtet, nicht zu trennen, sondern
Elemente einer vergleichsweise umfassenden sozialen Absicherung in der Hilfe Kontrolle einschließt
und nicht im Widerspruch zu dieser steht (vgl. Bommes/Scherr 2000: 45). Gerade diese
Gleichzeitigkeit kennzeichnet die fordistische Moderne als eine soziale ‚Welt der Inklusion’ (Young
1999: 57, Taylor 1999), deren wesentliche Kontrollrationalität darin besteht, Diversivität zugunsten
einer umfassenden Form deiner fordistischen Normalität dadurch zu reduzieren, dass Abweichler im
Sinne einer assimilierenden Normalisierung und Anpassung möglicht umfassend integriert werden. Die
inklusive Welt des Nachkriegsfordismus ist entsprechend ‚intolerant’ gegenüber Verschiedenheit (vgl.
Young 1999) – d.h. Habitus und Lebensweisen ‚unterhalb’ und ‚außerhalb’ der Normalitätsstandards
bzw.,
mit
Max
Weber
gesprochen,
jenseits
des
‚Rationalismus
der
ethisch-methodischen
Lebensführung’ - aber ‚tolerant’ gegenüber Kriminellen, die durch eine Bearbeitungen ihrer inneren
und äußeren Bedingen als ‚behandelbar’ und ‚integrierbar’ betrachtet werden (vgl. Young 1999).
Mit der Krise des Fordismus als die Krise der ‚inklusiven Welt’ verlieren auch diese synonymisierten
Kontroll-
und
Integrationsmodi
ihren
dominierenden
und
unhinterfragten
Stellenwert.
Nichtsdestoweniger hat sich die Gleichzeitigkeit kontrollierender und integrativer Funktionen, die die
Jugendhilfe als Profession des fordistischen Wohlfahrtsstaats charakterisieren in weiten Bereichen
erhalten (vgl. Böhnisch 1999).
III. 2.1
EXKURS: DAS PROBLEM DER FUNDAMENTALKRITIK DER KONTROLLFUNKTION DER JUGENDHILFE
Der Verweiß auf die Kontroll- bzw. Herrschaftsfunktion der Jugendhilfe ist zugleich ein Verweiß auf
den der Jugendhilfe inhärent notwendigen Gesellschaftsbezug und damit verbunden auf die
Widersprüchlichkeit ihrer Beziehung zur kapitalistischen Gesellschaftsformation.
Jugendhilfe im Kapitalismus als sozialstaatlich erbrachte, dispositionssensible Antwort auf eine
Unterbietung von ‚Kulturidealen’ beinhaltet nicht nur deren Bearbeitung als bedürfnisorientierte
Unterstützung, sondern zugleich auch als deren symbolische Regulation im Sinne der Kontrolle von
normativ abweichendem Verhalten (vgl. Bommes/Scherr 2000: 41). Dies geschieht untrennbar
miteinander verknüpft und mit Bezug auf ein und dasselbe Phänomen im Sinne einer Vermittlung
zwischen subjektivierender Gesellschaft und vergesellschaftetem Subjekt.
155
Der Verweiß auf die notwenige Gleichzeitigkeit einer Herrschafts- und Kontrolldimension der
Jugendhilfe bzw. -fürsorge im Prozess der Erbringung von ‚Hilfe’ ist daher nicht als ihre Reduktion auf
eine „Agentur der Reproduktion und Stabilisierung kapitalistischer Produktionsverhältnisse“ (Brumlik
1976: 242) oder ihrer Vertreter als ‚Agenten’ oder ‚Durchsetzer’ der Klasseninteressen der Bourgeoisie
(vgl. Paulsen 1971, kritisch: Schmidt-Kowarzik 1995) und Verhinderer einer gesellschaftsverändernden
Mobilisierung von Widerstandspotentialen zu interpretieren18 (dazu auch: Offe 1984).
Diese und ähnliche Formen der Kritik vernachlässigen mit den fordistischen Formen sozialer
Regulation einhergehenden „fortschrittliche[n] und emanzipatorische[n] Aspekte. Insbesondere
schätz[en] sie die individualisierenden und subjektivierenden Momente sozialer Kontrolle zu gering;
und sie reduzier[en] eine autonomieförderliche Orientierung allzu rasch auf normalisierende Kontrolle“
(Fraser
2003:
247f).
Zurecht
weist
Abram
de
Swaan
(1993)
darauf
hin,
dass
die
‚fremdherrschaftlichen’ Prozesse der Kollektivierung, Bürokratisierung und Professionalisierung der
Daseinsfürsorge sozialhistorisch eher mit einer Autokomisierung der Klienten einhergehen19 (vgl.
Hirschman 1995, Kreissl 1990, Kübler 1985). Neben der empirischen Fragwürdigkeit ist der in den
Kontroll- und Zurichtungsvorwürfen an die soziale Arbeit häufig der angelegte Funktionalismus auch in
‚funktionalistischer’ Hinsicht kaum einsichtig: Eine ‚reine’ Unterdrückungsfunktion ließe sich - rein
funktional betrachtet - durch ‚repressive Staatsapparate’ (Althusser 1971) vielfach ‚effizienter’
bewerkstelligen. In mancherlei Hinsicht verweißt die US-amerikanische Verschiebung vom ‚wohltätigen
zum strafenden Staat’ in der Bearbeitung ‚sozialer Probleme’ in diese Richtung (vgl. Wacquant 2000),
ohne dass man ernsthaft annehmen könnte, das kapitalistische System der USA sei dadurch gefährdet
oder in bei einer Mehrheit der Bevölkerung delegitimiert – im Gegenteil20. Ebenfalls rein funktional
betrachtet, spricht wenig dagegen, die Mehrzahl der ‚Unterbietungen’ gesellschaftlicher Ordnungsund Normalitätszumutungen - die ja häufig vor allem auch subjektives Leid erzeugen - einfach so
lange zu ignorieren und unbearbeitet zu lassen, wie sie das (kapitalistische) System oder seine Teile
nicht gefährden. Wenn sich demnach auch eine große Zahl ökonomisch, kulturell und sozial
Deprivierter, Marginalisierter oder Ausgeschlossener weder als absehbar der Selbstversorgung fähig
noch als mittelfristig ‚rentabel’ integrierbar noch als politisch systembedrohend erweist, könnte man wiederum rein funktionalistisch betrachtet und der ökonomischen Vernunft kapitalistischer Ökonomie
gehorchend - den eigentumslosen und auf dem Arbeitsmarkt nicht nachgefragten Proletarier (vgl.
Cohen 1995) bzw. die Adressaten von Wohlfahrtssystem und Fürsorge auch einfach verhungern
lassen (vgl. Peters 1999).
Der Wegfall der Jugendhilfe würde für ihre Adressaten in aller Regel weniger eine Befreiung von
Kontrollmutungen als eine Verschlechterung ihrer Situation bedeuten (Bommes/Scherr 2000: 14).
Dies gilt nicht nur für die Bundesrepublik und die Kritik kam keinesfalls nur von ‚links’. Insbesondere seit dem Ende der
fordistischen Expansionsphase der Wohlfahrtsstaats wird Soziale Arbeit, wie Younghusband (1981: 9) ausführt, „accused,
and sometimes accused itself, of being moralistic, authoritarian, knowing best what was good for other people, permissive,
soft, manipulative, ineffective, damaging, essential, or a waste of public money”.
19 Darüber hinaus weisen van der Loo und van Reijen (1997: 250) darauf hin, dass ‚Disziplinierungsinteressen’ nicht immer
den Interessen der Adressaten zuwiderlaufen. Es sei zumindest die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass die „Klienten
oder Patienten bewusst annehmen oder sogar darum ersuchen“.
20 Mit dem Slogan ‘Taxes down, Deathpenalty up’ wollten US-amerikanische Konservative Wahlen gewinnen.
18
156
Auch für die ‚aktive Proletarisierung’ gibt es Alternativen zur Disziplinierung durch soziale Dienste. So
konnte eine Reihe von Untersuchungen nachzeichnen, dass es schon alleine durch Masseninhaftierung
in einem durchaus beachtlichen Maße möglich ist, Arbeitsmärkte zu regulieren ((vgl. Weiss / South
1998, Beckett / Western 1999, Garland 2001c)). Bruce Western et al. (2001: 139) zeigen z.B. auf,
dass „die konstant niedrige Arbeitslosenquote in den Vereinigten Staaten [auch] von einer ständig im
Wachsen begriffenen, erhöhten Inhaftierungsquote abhängt [… In diesem Sinne ist der]
amerikanische Arbeitsmarkt nicht etwa ‚dereguliert’, sondern tatsächlich ‚hyper-reguliert’“. Statt einem
Sozialstaat ist dabei aber ein ‚Gefängnis-industrieller Komplex’ die bevorzugte Arbeitsmarktpolitik für
junge Männer deprivierter Bevölkerungsminoritäten (vgl. Wacquant 2002a).
Wenn der Anspruch Hilfe, als quasi-universelle Garantie und Sicherung gesellschaftlicher Teilhabe, zu
erbringen, mit der Wahrung der Teilhabeform - und d.h. mit sozialer Kontrolle - verbunden ist, so
kann diese niemals herrschaftsfreie und neutrale Form gesellschaftlicher Regulation als Ganze nicht in
Frage gestellt werden, ohne zugleich zu beachten, ob das Klientel Sozialer Arbeit der Hilfe bedarf, und
diese Hilfe auch in ihrem, oder zumindest in Bezug auf ihr Interesse erbracht wird (vgl. Brumlik 1976).
Das analoge Argument gilt für jenen Strang der Kontrollkritik, der sich in einer Gegenüberstellung von
- nicht ideal-, sondern realtypisch gefasster - System- versus Sozialintegration gegen systemische
Imperative
richtet.
Das
entscheidende
Problem
einer
Überbetonung
einer
systemischen
Kolonialisierung der Lebenswelt der Adressaten durch die Jugendhilfe und der ‚Alltagswende’ in ihrem
Kotau, besteht vor allem darin, dass ihr herrschaftskritischer Impetus im wesentlichen auf den Bereich
‚System’ beschränkt bleibt. Was Horkheimer (1970) und Adorno (1983) als ‚verwaltete Welt’
analysieren und kritisieren, wird bei Habermas (1981) zu einer ‚Kolonialisierung von Lebenswelten’
und erfährt in eben dieser Lebenswelt zumindest implizit und tendenziell seinen positiven
Gegenbegriff. Vor allem in der Sozialen Arbeit21 wird der Lebensweltbegriff als positiv konnotierter
Konterpart zum System adaptiert und liefert die Basis für eine Konzentration sozialpädagogischer
Denk- und Handlungsrationalitäten auf den ‚tatsächlichen’ unmittelbaren Alltag der Adressaten als
Opus
Operandi
Sozialer
Arbeit.
Ein
problembezogenes
und
administrativ
angeleitetes
Bearbeitungsprogramm soll dabei zugunsten einer eher ethnographisch angeleiteten, ‚dialogisch’
konzipierten und (wie auch immer) ‚ganzheitlichem’ Vorgehensweise abgelöst werden (vgl. Thiersch
1986, 1992, 2000). Gegenüber dem System bzw. einem ‚juristisch-administrativ-therapeutischen
Staatsapparat’ (Fraser 1994) wird dabei eine Lebensweltnähe im genannten Sinne zumindest
präferiert22: die Bewältigung des Alltags solle ‚im gelingenden Falle’ gänzlich der ‚Selbstregulierung’
der Betroffenen überlassen bleiben (vgl. Thiersch 1992). Die Dechiffrierung sozialer und
‚Lebensführungsprobleme’ erfolgt dabei der Tendenz nach vor allem als eine Frage der
‚Sozialintegration’ als – vermeintliche – Alternative oder Opponent einer ‚kolonialisierenden’
‚Systemintegration’, die ‚dem einzelnen äußerlich bleiben’ würde (vgl. Opielka 2002a).
Dies geschieht nicht immer mit systematischem Rekurs auf Habermas
In einer radikalen Variante, erhebt sich mitunter sogar das Votum für eine Non-Intervention nach systemischen Prämissen
(zur Staatsskepsis oder gar ‚Staatsfeindschaft’ in der Sozialen Arbeit im allgemeinen siehe Schaarschuch 2003).
21
22
157
Wie sinnträchtig die Kritik am ‚System’ auch immer sein mag23, besteht das Problem der implizit oder
explizit einseitig positiven Konnotierung der ‚Lebenswelt’ darin, die Aspekte von Klassenherrschaft,
objektiven Interessen, Ungleichverteilungen von praxiswirksamen Kapitalen, Kämpfen um ihre
hegemoniale symbolische Form etc. der Tendenz nach zu vernachlässigen wenn nicht völlig zu
ignorieren24. Tatsächlich besteht die Tendenz im Namen der Lebenswelt der Adressaten eine
vermeintliche „aktive Politisierung der Sozialarbeit“ zurückzudrängen, und dies damit zu begründen
das der Blick auf „die Menschen in Not“ und „das Pädagogische an der Sozialpädagogik [dadurch] in
den Hintergrund gedrängt“ worden seien (Fatke/Hornstein 1987: 590f). Es bleibt weitgehend
unreflektiert, dass die Frage von (Klassen)Antagonismen, nicht nur Fragen des Staates oder
‚Staatsapparates’ bzw. ‚systemischer Institutionen’ sind, sondern auch und vor allem – und in aller
Gewalt-
und Herrschaftsförmigkeit
-
in
die
Ökonomie
der
(‚lebensweltlichen’)
Praxis
der
gesellschaftlichen Akteure eingeschrieben sind. Der naive Blick, dass das bürokratische ‚kalte
Ungeheuer‘ Staat (Foucault 2000) einer ‚guten‘ Zivilgesellschaft gegenübertritt, und dabei gängelnd
und bevormundend für einen Großteil gesellschaftlichen Unbills verantwortlich zu machen ist, fällt weit
hinter die von Marx und Engels (1972: 128) formulierte Einsicht zurück, dass „[n]ur der politische
Aberglaube […], sich noch heutzutage ein[bildet], dass das bürgerliche Leben vom Staat
zusammengehalten werden müsse, während umgekehrt in Wirklichkeit der Staat durch das
bürgerliche Leben zusammengehalten wird“. Wie es Antonio Gramsci (1991 ff: 783) formuliert hat, „ist
festzustellen, dass in den allgemeinen Staatsbegriff Elemente eingehen, die dem Begriff der
Zivilgesellschaft zuzuschreiben sind (in dem Sinne, könnte man sagen, dass Staat = politische
Gesellschaft + Zivilgesellschaft, da heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang).
Selbstregulierte lebensweltliche Gemeinschaften mögen einen Ort der Sozialintegration darstellen, der
eine
relative
Autonomie
von
den
Zumutungen
des
staatlichen
Institutionengefüges
und
möglicherweise auch von kapitalistischen Marktordnungen verspricht. Wie sich im Verlauf dieser Arbeit
jedoch noch deutlich zeigen wird, ist ein solcher sozialintegrativer Partikularismus (vgl. Kaufmann
2002) der Lebenswelt jedoch eines mit Sicherheit nicht: ein herrschaftsfreier Raum, der die
Möglichkeit zur Entfaltung individueller Autonomiepotentiale für die am wenigsten Begünstigten
umfassender gewährleisten würde als der soziale Staat und seine Institutionen.
III. 3
KONTUREN
EINES
‚FORTGESCHRITTENEN
LIBERALISMUS’
ALS
‚NACH-FORDISTISCHE’
GESELLSCHAFTSFORMATION
Bereits Mitte der 1970er Jahre - auf die der Geschichtswissenschaftler Wolfgang Reinhard (1999: 517)
„beginnenden Zerfall des Sozialstaats“ datiert - werden die unkalkulierbaren, staatlich kaum mehr
steuerbaren Risiken der Massenproduktion deutlicher. Eine fundamentale Erosion der fordistischen
Prosperitäts-Konstellation der Nachkriegsphase bahnt sich an, in der die „enge Verbindung von
Zu einer pointierten Kritik von Habermas’ Trennung von Lebenswelt und System siehe Hauck 1984
Aus einer feministischen Perspektive fragt Kuhlmann (2003: 44) nicht zu Unrecht kritisch danach, ob ,Selbstregulierung’ in
der Lebenswelt nicht vor allem bedeute, dass „Frauen wieder unbezahlt und unsichtbar im Alltag der privaten Reproduktion
verschwinden“.
23
24
158
Massenkonsum,
Sozialstaat
und
Akkumulation,
die
das
‚goldene
Zeitalter’
der
Fordismus
gekennzeichnet hatte“ zerbricht (Hirsch 2002: 94).
Diese ‚Krise des Fordismus’ kann weder als monokausaler Krisenprozess, noch als zufällige Anhäufung
unabhängiger gesellschaftlicher Probleme angemessen analysiert werden (Bieling 2000: 28). Das
krisenhafte Ende der fordistischen Phase steht zunächst im Zusammenhang mit der Erschöpfung einer
‚langen Welle’ technologischer Entwicklung in den westlichen Industrienationen. Im Anschluss an die
von Nikolai Kondratieff (1926) entwickelte Theorie von Regelmäßigkeitsmuster des Wandels in der
Ökonomie, die nicht nur in konjunkturellen, sondern in strukturellen, wellenförmigen Zyklen den
langfristigen Auf- und Abstieg der zentralen Produktionsweisen und -technologien bezeichnen, lässt
sich davon sprechen, dass ein Ende des ‚vierten Kondratieffzyklus’ von einem weitreichenden,
strukturellen Prozess der De-Industrialisierung gekennzeichnet ist (vgl. Dangschat 1998). In den 80er
Jahren kommt es zu weltweit zu einer rückläufigen Realakkumulation im güterproduzierenden Bereich,
in dem „in Folge des sinkenden Produktivitätszuwachses die organische Zusammensetzung des
Kapitals [steigt] während sich seine Profitabilität“ verringert (Bieling 2000: 209). Der Fall der relativen
Profitrate kann durch die Mobilisierung von ‚Gegentendenzen’ – etwa den Druck auf das, mittlerweile
als ‚profit squeeze’ thematisierte, Lohnverhältnis und die Ausweitung und Intensivierung taylorisierter
Arbeit - nicht mehr ausreichend kompensiert werden (vgl. Schaarschuch 1990). Zugleich verstärken
sich auch die kulturellen und ökologischen Wiedersprüche des fordistischen Entwicklungsmodells (vgl.
Altvater 1992), dessen strukturelle Krise sich nicht nur auf der Ebene des Akkumulationsregimes
manifestiert, sondern auch eine Krise der kulturellen Hegemonie darstellt, in die im Rahmen einer
„sinkenden Akzeptanz der tayloristisch-fordistischen Arbeits- und Lebensnormen und des Lebens im
durchrationalisierten ‚Planstaat’ […] auch die Formen gesellschaftlicher Repräsentanz [geraten]“
(Brand et al.: 2000: 56). Proteste und Kritik wenden sich nicht nur gegen die Art der Produktion,
sondern - als kulturelle und ökologische Kritik, insbesondere in Form der ‚Neuen Sozialer Bewegungen’
- auch gegen die Effekte fortschreitender Kommerzialisierung, den ausgreifenden Konsumgenuss und
weite Teile des staatlichen Bürokratieapparats (vgl. Hirsch/Roth 1986), seine ‚Expertokratie‘ und eine
‚Kolonialisierung der Lebenswelt‘ (vgl. Habermas 1981). Die Neuen Sozialen Bewegungen positionieren
sich nicht nur kritisch gegenüber dem fordistischen Sozialstaat, sondern artikulieren ihre Kritik
ironischerweise häufig auch „in ways that also reflected the critiques of the Right: of the paternalistic
and authoritarian intrusions into the lives (especially) of poor people; of the sense of ubiquitous state
surveillance; of the ‚massification’ of the administrative apparatus, and so on“ (O´Malley 1999: 94).
Der ökonomischen Krise wird mit umfassenden Versuchen der Flexibilisierung, Deregulierung und
Senkung der Lohnkosten begegnet. Innerhalb des Akkumulationsregimes eines ‚ansteigenden’,
‚fünften Kondratieffzyklus‘ wird eine weitreichende Rationalisierung durch die arbeitseinsparende
Qualität des Einsatzes von Mirkoelektronik im Produktionsprozess verstärkt. Aufgrund des Fehlens
entsprechender Qualifikation der häufig ungelernten fordistisch-industriellen ‚Massenarbeiter‘ weist
dieser Einsatz langfristig deutliche Grenzen einer tayloristischen Arbeitsorganisation auf und führt
schließlich - als Form der Rationalisierung konzipiert - zu einer hautsächlich diesen Typus Arbeiter
betreffenden, strukturellen Massenarbeitslosigkeit sowie zu einer „selektiven Einbeziehung relativ
159
hoch- wie auch geringqualifizierter Arbeitskraft in den Kern-, resp[ektive] Randbereichen der
Produktion mit der Konsequenz einer Segmentierung und Polarisierung der Beschäftigtenstruktur“
(Schaarschuch 2003: 50). Diese Entwicklungen bilden dabei die Kehrseiten „eines grundlegenden
Verwertungsdilemmas“: „die Freisetzungseffekte der neuen Steuerungs-, Automatisierungs-, und
Rationalisierungstechniken können nicht mehr durch eine adäquate Marktexpansion kompensiert
werden, der innere Mechanismus der Krisenüberwindung [des Fordismus] erlischt“ (Heidt 1998: 425).
Ein weiteres Moment der Krise des Fordismus ist die Relativierung der US-amerikanischen Dominanz
auf dem Weltmarkt. Aufgrund der ökonomischen Entwicklungen in (West-)Europa und Ostasien
(insbesondere Japan) (vgl. Altvater/Hübner 1988) gibt die US-Regierung die Goldbindung des Dollars
auf. Dies führt zu einer Schwächung der Weltwährung, das Bretton-Woods-System bricht zusammen,
die Wechselkurse können frei flottieren und die internationalen Finanzmärkte gewinnen zusehends an
Bedeutung (vgl. Hirsch 1993). Diese Form der ‚Globalisierung‘ der Wirtschafts- und Finanzbeziehung
sowie die hiermit verbundenen grundlegenden Verschiebung des Verhältnisses von Finanz- und
produktivem
Industriekapital
induzieren
zugleich
einen
verschärften
Anpassungsdruck
der
fordistischen Regulationsweise (vgl. Bieling 2000). Die vor allem auf die Binnenökonomie bezogene
keynesianische
Nachfragepolitik
wird
in
Frage
gestellt
und
angesichts
erlahmender
Produktivitätszuwächse auf der Ebene der Akkumulation, einer steigenden Sockelarbeitslosigkeit und damit verbunden - einer (relativ) sinkenden Massenkaufkraft, ist der keynesianische Sozialstaat auch
innerhalb seiner nationalen Grenzen in eine substanzielle Krise geraten. Dabei sind die
Auflösungsprozesse des fordistischen Klassenkompromisses bzw. die Wandelsprozesse hin zu einer
‚fortgeschritten liberalen‘ post-fordistischen Gesellschaftsformation von Beginn an nicht alleine durch
eine
unlinearen ‚Krise‘ des Akkumulationsregimes verantwortet und auch „ein nachfordistisches
‚flexibles Akkumulationsmodell’ [hat] einen großen Bedarf an flankierenden sozialen und politischen
Institutionen, die eine vergleichsweise stabile Reproduktion dieses neuen Produktionssystems
garantieren könnten“ (Roth 1998: 96).
Die ‚Suche’ nach einem neuen Entwicklungsmodell ist also keinesfalls ausschließlich ökonomischen
‚Sachzwängen‘ geschuldet, sondern zugleich und in erster Linie eine Frage politischer Gestaltung und
Durchsetzung, die in verschiedenen Nationalstaaten unterschiedlich verläuft.
III. 3. 1
STANDORTPOLITIK
Der grundlegende Formwandel des Akkumulationsregimes ist ohne Zweifel mit der fordistischen
Regulationsweise schwer zu vereinbaren. Insofern gibt es zwar einen durch ‚Sachzwänge’ induzierten
Bedarf an Transformation dieser Regulationsweise, deren Ausgestaltung jedoch eine primär politische
und politisch disponible Angelegenheit bleibt. Dabei stellen die zu politischen Schlüsselbegriffen
avancierten Schlagworte wie ‚Deregulierung‘, ‚Flexibilität‘, ‚Privatisierung‘, ‚Leistungsbereitschaft‘ etc.
wesentliche Orientierungsmuster einer gesellschaftspolitischen Neuordnung dar (Bieling 2000: 212).
Auf einer sozial- und wirtschaftspolitischen Ebene tritt an die Stelle der fordistisch-keyensianischen
Nachfrageregulation, in der „nationalen Industrien durch Subventionen und Zölle geschützt oder die
160
Konjunkturzyklen durch eine Unterstützung des privaten Konsums ausgeglichen werden“, eine Politik
die vor allem auf eine „aktive Gewährleistung der globalen Konkurrenzfähigkeit“ zielt (Dietrich 1999:
125, vgl. Hirsch 1995).
Diese nationale Politik wird fiskalischer Hinsicht durch die Zinspolitik der Zentralbanken gestützt.
Sollten diese gemäß der keynesianischen Lehre für niedrige Zinsen sorgen, die eine möglichst zu
Vollbeschäftigung führende Rentabilität der Investitionen im Produktivbereich gewährleisten,
favorisieren die Zentralbanken inzwischen eine Hochzinspolitik um den Standort für Finanzkapital und
Geldvermögen attraktiv zu machen.
Die gleichberechtigte Artikulation ‚des Ökonomischen’ und ‚des Sozialen’ (vgl. Donzelot 1994) weicht
in diesem Zusammenhang einer wirtschafts- und sozialpolitischen Umorientierung, die Sozialleistungen
zu einem ‚Standortrisiko‘ degradiert (vgl. Zänker 1994: 57) und die Zurückdrängung der Sozialpolitik
zur Erfolgsbedingung für die Wirtschaftspolitik macht (vgl. Kaufmann 1997: 173).
Zurückdrängung der Sozialpolitik bzw. die Relativierung der Bedeutung ‚des Sozialen’ stellt jedoch
keinesfalls einem pauschalen Rückzug nationalstaatlicher Strukturpolitik, sondern im Gegenteil eine
neue Form der ‚Durchstaatlichung‘ dar. Auf der Ebene nationalstaatlicher politischer Regulation bleibt
auch vom ein keynesianischen Wohlfahrtsstaat zum ‚Wettbewerbsstaat‘ mutierter Nationalstaat ein
starker, ökonomisch und sozial in erheblichem Umfang intervenierender Staat. Dabei zielt er allerdings
weniger auf die Korrektur des Marktes, als auf dessen direkte und indirekte Förderung sowie die
‚Sicherung’ des Standorts. In wirtschafts- aber auch in sozialpolitischer Hinsicht wird der Staat damit
sukzessive zu einer Instanz, die in erster Line der Gestaltung ‚außerbetrieblicher Rahmenbedingungen’
dient (vgl. Hirsch 1993, 1998). Zu diesen Rahmenbedingungen, gehören neben dem Abbau
‚bürokratischer Hindernisse‘ und arbeitsrechtlichen Schutzrechten vor allem die (akademische)
Qualifikation von Arbeitskräften, insbesondere der Kernbelegschaften der hochproduktiven Sektoren,
staatliche Initiativen in der Infrastruktur- und Technologiepolitik, sowie die Aufrechterhaltung
politischer Stabilität, und hiermit verbunden ‚öffentlicher Ordnung‘ und ‚innerer Sicherheit’. Die
wachsende Bedeutung letztgenannter ist in den OECD-Staaten unter anderem in einer signifikanten
Korrelation, zwischen einer sinkenden Sozialleistungsquote und steigenden Zahlen beim Gefängnis- (r
= -0, 60) und deutlicher noch beim Überwachungspersonal (r = -0, 79) dokumentierbar (vgl. Alber
2001: 1192). Der ‚neo-liberale’ ‚Anti-Etatismus’ beschränkt sich in so fern in erster Linie auf die ‚linke
Hand des Staates’ (vgl. Bourdieu 1998), insbesondere seine „capacity to pursue effective social
policies, including the enforcement of workers’ rights”25 (Tilly 1995: 16). Die ‚Verschlankung’ des
Staates zielt in so fern primär „auf die sozialen Sicherungssysteme, sie ist gerichtet gegen die
staatliche Funktion der ‚Daseinsvorsorge’ für die Schwächeren, während die Repressiv- und
Kontrollfunktionen
staatlicher
Apparate
von der
Verschlankungskur
ausgeklammert
werden“
(Dahme/Wohlfahrt 2002: 26). Es entspricht nicht nur der neo-liberalen Wirklichkeit (dazu: Wacquant
2000), sondern auch der libertären Philosophie eines ‚Minimalstaats’, dass dieser, wie es Bourdieu
Mit Blick auf diese Entwicklung ist eine ‚Staatsskepsis’, wie sie etwa Bill Jordan (2003: 9) für die Soziale Arbeit vorträgt,
nicht unberechtigt: „if […social work] is too closely identified with government agencies, acting on behalf of state institutions
which have lost their power to deliver positive welfare outcomes, and focusing instead on surveillance, control and
enforcement, it will be compromised by association with an oppressive authority, and lose its impartiality and critical edge”.
25
161
formuliert, seine ‚rechte Hand’ stärkt, d.h. in allererster Line „ein starker Sicherheitsstaat [bleibt], der
die Gestaltung der für die Funktionsfähigkeit von Märkten und der individuellen Vertragsfreiheit der
Gesellschaftsmitglieder
konstitutiven
Normen
garantiert
und
die
dafür
notwendigen
Ordnungsleistungen erbringt“ (Funk 2002: 1333, vgl. North 1990), nämlich die „functions of protecting
all its citizens against violence, theft, and fraud, and the enforcement of contracts, and so on“ (Nozick
1974: 26).
Insofern ist der Kapitalismus nach dem Fordismus nicht einfach ein ‚desorganisierter Kapitalismus’
(vgl. Beck 1997: 32), sondern eine anders regulierte Form des Kapitalismus, in dem sich vor allem
das Verhältnis der politischen Gestaltung des Sozialen und des Ökonomischen substanziell verändert:
„Nicht eine Abnahme staatlicher Souveränität und Planungskapazitäten, sondern eine Verschiebung
von formellen zu informellen Formen der Regierung lässt sich beobachten“ (Lemke et al. 2000: 26).
Auch wenn sich zusätzlich zu einer solchen ‚Informalisierung‘ eine Verlagerung nationalstaatlicher
politischer Handlungsmuster zu supra- und subnationalstaatlichen Politikformen feststellen lässt, kann
nicht von Einbruch der Staatstätigkeit als solcher, sondern nur von einer nach innen expandierenden
„Staatstätigkeit im Namen des Wohlfahrtsstaats“ (Roth 1998: 104), die Rede sein, die darauf gerichtet
ist durch (re-)distributive Transferleistungen zur Steigerung der individuellen Nachfrage und des
individuellen Wohlfahrtsniveaus beizutragen.
III. 3. 2
SOZIALE SPALTUNGEN UND ‚PREKARITÄT’ ALS HERRSCHAFTSFORM
Nicht nur die Form- und Strukturveränderungen des Akkumulationsregimes, sondern vor allem der
Wandel der Regulationsweise und die Veränderungen der kulturellen Hegemonie bilden den Rahmen
für neue Formen einer Hervorbringung von ‚Identitäten’ und Vergesellschaftung von ‚Subjekten’.
Während sich eine ‚Vollkasko-Individualisierung‘ (Beck) im Rahmen einer relativen Homogenisierung
der Sozialstruktur, Bildungsexpansion, wachsender Gleichheit in der Einkommensdistribution als Effekt
von Vollbeschäftigung und verbesserter wohlfahrtsstaatlicher Versorgung etc. in Zeiten der Prosperität
einer keyensianisch-sozialstaatlich regulierten Phase des Kapitalismus vollziehen konnte, kann eine
wachsende Homogenisierung und Gleichheit der Gesellschaft für ‚nach-fordistische’ fortgeschritten
liberale Gesellschaftsformationen nicht mehr angenommen werden (vgl. Hirst 2000: 127 f). Bei
gestiegenem gesellschaftlichem Reichtum nimmt die relative Armut seit den 1970er massiv zu (vgl.
Eichler 2001: 42). Insbesondere die zeitliche Periode seit den 1970er Jahren ist es, in der nach Beck
von einem verstärkten Prozess einer ‚Risiko-Individualisierung‘, auszugehen sei. Vor dem Hintergrund
von Flexibilisierungen und Deregulierungen der Arbeitsmärkte wie der sozialen Sicherungssysteme und
einer zunehmend marktförmig vermittelten Form der Vergesellschaftung hätten auch die bislang nicht
hinterfragten traditionellen Karrieremuster, ‚Normalarbeitsverhältnisse’ und -biographien sowie die
klassischen familialen Reproduktionsstrukturen, ihre gesellschaftliche Leitbild- und individuell halt- und
kohärenzstiftende
Funktion
zunehmend
verloren.
Zugleich
werde
die
an
administrativen
Standardisierungsmustern, überholten Regeln, Lösungsstrategien und vor allem Kontrollansprüchen
festhaltende Politik faktisch entmachtet (vgl. Beck 1994: 204 ff) und zunehmend außerhalb etablierten
162
Institutionen von den Individuen selbst gestaltet. Diese Entwicklungsprozesse würden „vom modernen
Menschen ein individuelles Selbstmanagement (life management) [verlangen]“ (Wendt 2001: 1310).
Die
von
‚Modernisierungstheoretikern’
vornehmlich
auf
kulturalistischer
Ebene
beschriebe
‚Risikoindividualisierung’, benennt Strukturprozesse, die auch als Prekarisierungsformen in nachfordistischen Gesellschaftsformationen beschrieben werden können. Aus dieser Perspektive erscheinen
die Prozesse hin zu einer ‚Risikogesellschaft’ auf der Ebene des Sozialen dann aber weniger als soziokulturellen Tatsachen und Produkte reflexiver gesellschaftlicher Modernisierung, sondern als vor allem
als hegemonietheoretisch analysierbare, politisch induzierte Prozesse, die auf eine fundamentale
Veränderung
in
der
politischen
Konstitution
und
Gestaltung
des
Sozialen
verweisen.
‚Individualisierung’ meint aber dann nicht nur einen realen, gesellschaftlichen Prozess der Entbettung
des einzelnen Akteurs aus seinen sozialen Milieus und Bezügen, sondern vor allem auch eine
veränderte politische Rationalität: ‚individualisiert’ wird vor allem ‚das Soziale’ (vgl. Ferge 1997).
Gemäß dieser Interpretation ist die ‚Risikoindividualisierung’ das Produkt einer fortgeschritten liberalen
Regulationsweise,
die
den
fordistisch-keynesianischen
‚Sozialkontrakt’
(vgl.
Standing
1993)
unterminiert hat. Diese Unterminierung betrifft zumindest drei zentrale Voraussetzungen und
Bestandteile sozialer Sicherheit:
„labour market security (efforts by the state to reach full employment), income security (through social provision,
jobless benefits, and incorporation into unions) and employment security (the reduction of capitalist command over
terms of hiring and firing). All in all, the structural roots of economic uncertainty and precariousness have ramified
and extended in reach as well as depth”(Wacquant 1996: 125, vgl. Bauman 1998, Bourdieu 1998).
Ein wesentlicher analytischer wie mittelbar politischer Unterschied zwischen diesen beiden
Interpretationen bezieht sich im Kern sich auf die Annahme einer realen Individualisierung sozialer
Ungleichheit einerseits, in der die Frage von Klassen zugunsten von Fragen des Risikos verschwindet
(kritisch:
O’Malley
2001)
und
in
der
Klassenpositionierungen
aufgrund
globaler
‚Modernisierungsrisiken’ durch transversale Risikopositionierungen ersetzt werdeb, gegenüber einer
Analyse, die darauf besteht, dass soziale Ungleichheit nach wie vor keine individuelle bzw. primär
dispositionale Frage sei, sondern in einem politischen Prozess dadurch individualisiert wird, dass
(soziale) Risiken aus dem Sozialen entbettet und als individuelle und individuell zu managende Risiken
neu konstituiert werden.
Dabei wird weder bestritten, dass neben und teilweise auch relativ unabhängig von vertikalen sozialen
Ungleichheiten auch horizontale Unterschiede strukturierend wirken, noch, dass Klassenunterschiede
von neuen Risikogleichheiten, (etwa der globalen Umweltverschmutzung) begleitet werden, aber es
wird bezweifelt, dass die zentrale Strukturierung der Gesellschaft auf der Basis eines freigesetzten
individuellen und interindividuellen Umgangs mit Risiken jenseits von Klassenlagen verläuft (vgl.
Rigakos/Hadden 2001). Nach einer solchen Interpretation haben ‚Risikogesellschaften‘ ihre
immanenten Klassenkonflikte nicht überwunden, sondern vor allem neue Konfliktquellen (vgl.
Engel/Strasser 1998: 100) in existierende positionale, materielle und symbolische horizontal und
vertikal Ungleichheitsstrukturen hinzugefügt (vgl. Dangschat 1998, Kreckel 1998, Dederichs/Strasser
2000).
163
Ein
wesentliches
Moment,
das
die
fordistische
‚Welt
der
Inklusion’
und
die
um
ein
Normalerwerbsverhältnis und eine Normalerwerbsbiographie – des ‚typischen’ Lohnarbeiters (im
Vollerwerb tätig, männlich) und der davon abgeleitete Figur der Hausfrau und Mutter (für die
Reproduktionsarbeiten verantwortlich, unbezahlt) - herum konstituierten Identitäten erschüttert hat,
bezieht sich auf Prozesse, die als eine ‚Krise der Arbeitsgesellschaft‘ (vgl. Offe 1983) verhandelt
werden. Eine solche Krisendiagnose findet ihre Basis in Arbeitslosigkeitsquoten, die langfristig im
zweistelligen Prozentbereich liegen und einem ‚jobless growth‘ in dem Wachstum und Arbeit
entkoppelt und immer „größerer Wohlstand von immer weniger Arbeitenden produziert“ wird, sowie
der Beobachtung, dass „im wachsenden Maße sowohl wirtschaftlicher Aufschwung wie Abschwung
zum Produktionsfortschritt [beiträgt]“ (Lepenies 1996: 106).
Dem steht jedoch nicht entgegen, dass die sogenannte ‚Krise der Arbeit‘ in erster Line auf das sozial
abgesicherte Vollerwerbsverhältnis zutrifft (vgl. Brose 2000), während die Erwerbsquote selbst mehr
oder weniger permanent steigt (vgl. Bieling 2000: 181). Betrachtet man sich die Allokation der realen
Beschäftigungsverhältnisse, die hinter den Erwerbsquoten stehen, so wird deutlich, dass vor allem die
Zahl der auf dem ersten Arbeitsmarkt Vollbeschäftigten ab-, die der vorübergehend und prekär
Beschäftigten aber deutlich und langfristig zunimmt (vgl. Dangschat 1994: 881). Diese Zahlen
verweisen auf
„Veränderungen im erwerbsbezogenen Inklusionsmodus, nicht jedoch einen generellen Bedeutungsverlust der
Erwerbsarbeit. Im Gegenteil, in vielen OECD-Staaten wird über regierungsoffizielle Workfare-Programme die
Erwerbsorientierung politisch noch mal akzentuiert.“ (Bieling 2000: 181 f)
Während auf einer analytischen Ebene Kapitalismus ohne Lohnarbeit nicht existieren kann, ist diese
empirisch auch in der ‚nach-fordistischen’ Formation des Kapitalismus keinesfalls im Verschwinden
begriffen (vgl. Beck 1998), sondern die Nachfrage nach bezahlter Arbeit ist insgesamt angestiegen
(vgl. Hirsch 2001, Statistisches Bundesamt 2002a): Statt von einem ‚Verschwinden’ ist demnach eher
von einer ‚Intensivierung der Arbeit’ zu sprechen (vgl. Gollac/Volkhoff 2001). Dies gilt vor allem an
den Polen im Bereich der Hochqualifizierten einerseits und im andererseits im prekarisierten bzw.
Niedriglohnbereich, der auch in Deutschland bereits voll etabliert (vgl. Schäfer 1997), mit über einem
Drittel der Bevölkerung unter der 75 % Marke des Nettoäquivalenzeinkommens auch stark besetzt ist
(vgl. Hanesch et al 2000, Eichler 2001) und durch diverse nationale Spielarten von ‚workfare’-Politiken
offensiv vorangetrieben wird (vgl. Grell et al. 2002, Wacquant 1996): Der Verlust von sicheren
‚Normalarbeitsplätzen’ im fordistischen Sinne, hat dabei für ein Akkumulationsregime, das vor allem
flexible Arbeitsmärkte und strukturelle Wettbewerbsfähigkeit verlangt (vgl. Castel 2000, Jessop 1993,
Hirsch 1998), seinen Status als Problem für das ökonomische Wachstum verloren und ist selbst Teil
einer fortgeschritten liberalen Lösungsstrategie geworden.
Eine ‚Krise der Arbeit‘ respektive der ‚Arbeitsgesellschaft’ (vgl. Böllert 2001a) bezieht sich in diesem
Sinne nicht auf den Stellenwert der Lohnarbeit im ‚neuen Kapitalismus’ (vgl. Sennett 1998) per se,
sondern auf ihre Funktion als zentrale Dimension einer verallgemeinerten sozialen Integration, die im
Fordismus ihren Höhepunkt erreicht hat. Demgegenüber ist eine – gerade auch für die
Integrationsvermittlungsfunktion der fordistischen Profession Jugendhilfe zentrale - „Erreichbarkeit des
durchschnittlichen Lebensentwurfs, der auf Vollzeitarbeit […basiert, ist] für zunehmend mehr
164
Menschen nicht nur vorübergehend nicht mehr gegeben“ (Böhnisch 1994a: 47). Während damit
‚objektiv‘ die für die fordistische Gesellschaftsformation kennzeichnende gesellschaftliche Integration
qua Lohnarbeit vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt wird, wird für die hierdurch nicht, oder nur
prekär inkludierten die subjektive Bedeutung von Lohnarbeit als zentrale Ressource einer
umfassenden gesellschaftlichen Teilhabe systematisch gesteigert (vgl. Schaarschuch 1998).
In diesem Kontext verstärkt sich auch der Konflikt zwischen Besitzern von ‚Normalarbeitsplätzen‘, die
ihren noch privilegierten Status verteidigen und dem Rest der Lohnabhängigen (vgl. Hirsch 2001)
dadurch, dass die Strategie einer ‚Dekommodifizierung’ der Arbeitskraft, wie sie im Kontext der
‚aktiven Proletarisierung’ durch den keynesianischen Sozialstaat vollzogen wurde (vgl. Lenhardt/Offe
1977) durch die ‚workfare’ Strategien (vgl. Jessop 2002) einer ‚administrativen Rekommodifizierung’
(vgl. Seeleib-Kaiser 1997) zur Wettbewerbsmodernisierung als dem Versuch einer Mobilisierung bisher
nicht
ausgeschöpfter
ökonomischer
Ressourcen
und
Potentiale
abgelöst
durch
die
Beschäftigungsverhältnisse induziert werden, die in hohem Maße prekär sind bzw. für weite Teile der
Bevölkerung zu einer Prekarisierung ihrer Lebenslagen insgesamt beitragen.
Im Kontext einer – zumindest in Westdeutschland - seit Anfang der 1990er Jahre fast durchweg
rückläufigen die Entwicklung der realen Einkommen und einer im beiden Teilen der Bundesrepublik zu
verzeichnenden Vergrößerung der Ungleichheit bei den verfügbaren und insbesondere den untersten
Einkommen (vgl. Grabka 2000), hat sich in den letzten Jahren – wie in den meisten westlichen
Gesellschaften - eine Klasse von ‚working poor’ herausgebildet. In der Bundesrepublik verfügt ein
„hoher Anteil der armen Haushalte über Erwerbseinkommen […]. Diese Personen sind mehrheitlich
einkommensarm trotz Erwerbsarbeit“ (Andreß 1999: 264 vgl. Bundesregierung 2001, Pohl/Schäfer
1996). Wenn die Bezahlung im Niedriglohnbereich mittlerweile kaum mehr einbringt als die staatlichen
Unterstützungsleistungen (vgl. Jakobs 2000) bedeutet dies für die untersten Straten der Bevölkerung
faktisch nur die Wahl zwischen einem immer schlechter alimentierten „Leben ohne Beschäftigung und
Gelegenheitsarbeiten zu Hungerlöhnen“ (Young 2001: 189). In diesem Sinne kann man von einer
doppelten gesellschaftlichen Spaltung sprechen: zum einen zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen,
zum anderen zwischen qualifiziert und unqualifiziert beschäftigten Arbeitskräften (vgl. Krätke 1995).
Da der sozialstaatliche Schutz in dem von einem konservativen Korporatismus (vgl. Esping-Anderson
1990) geprägten bundesdeutschen Wohlfahrtsstaat weitgehend auf einem Versicherungssystem
beruht, das sich am Normalarbeitsverhältnis orientiert, während der Sozialhilfe des Staates nur eine
subsidiäre Rolle zukommt, kommt es zu einer zunehmenden Spaltung, bzw. Segmentierung zwischen
im Normalarbeitverhältnis eingebundenen und vom Sozialstaat abhängigen sozialen Akteuren (vgl.
Appelt/Weiss 2001). Im Kontext dieser Spaltungs- bzw. Marginalisierungstendenzen für deprivierte
Gruppen unterhalb der Lohnabhängigenkerne, wird eine Zugehörigkeit und gesellschaftliche Teilhabe
mit der Aufkündigung sozialen Common Sense der fordistischen Phase des Kapitalismus zunehmend
exklusiver bestimmt (vgl. Cremer-Schäfer/Steinert 2000: 61): Zum einen ist
„das gegenwärtige Sicherungssystem der Bundesrepublik nur bedingt […auf die] Pluralisierung prekärer Formen der
Lebensführung […] eingestellt […zum anderen besteht] das Problem einer wachsenden Selektivität des Arbeitsmarktes
[…]: Die Nachfrage nach Arbeitskräften konzentriert sich angesichts eines tendenziellen Überangebotes auf die aus
Unternehmersicht brauchbarsten, produktivsten“ (Kaufmann 1997: 176).
165
Insgesamt kann damit für eine nach-fordistische Gesellschaftsformation nicht mehr nicht nur von einer
zunehmenden Polarisierung zwischen Arm und Reich im Sinne eines Distributionskonflikts gesprochen
werden (vgl. Zimmermann 1998), sondern auch im Sinne eines Produktionskonflikts, basierend auf
den
Flexibilitätsanforderungen
des
Akkumulationsregimes,
wird
eine
gesellschaftliche
Enthomogenisierung und Spaltung konstitutives Element eines neuen Entwicklungsmodells (vgl.
Schaarschuch 1990).
Auf der Ebene der Sozialstruktur beendet der Übergang vom Fordismus zu einer fortgeschritten
liberalen Gesellschaftsformation den keyensianisch-sozialstaatlichen ‚Klassen-Deal’ (vgl. Hirsch 1990,
Narr 1999) und induziert in Form einer Art spätmodernen ‚Gentrifizierung’ der Gesellschaft, Prozesse
der Öffnung des sozialen Raums für die oberen Chargen der Gesellschaft, dem jedoch ein verstärkter
Schließungsprozess für jene gegenübersteht, „die in dieser Mitte ihre Sicherheiten verlieren oder gar
in prekäre Lebensverhältnisse absteigen müssen“ (Vester 1993: 9, vgl. Vester et al. 2001). Zwar
bilden weiterhin etwa 60 % der Bevölkerung die ‚Mitte der Gesellschaft’, aber diese verliert zusehends
ihren ‚integrativen’ Charakter (vgl. Dangschat 1994, Vester et al. 2001). Ein aufstiegsorientiertes
Drittel dieser gesellschaftlichen Mitte hat sich nicht nur ihre Teilhabe umfassend gesichert, sondern
auch ihre Chancen individueller Selbstbestimmung zum Teil beachtlich erweitert (vgl. Vester 1997:
182), während für etwa 40 % der Bevölkerung unterhalb einer ‚etablierten’ Mitte eine Zone ‚prekären
Wohlstands’ mit unsicheren Standards entstanden ist (vgl. Hübinger 1996). Entlang vertikaler
Klassenformationen verlaufend (vgl. Vester et al. 2001), ist in diesem Sinne eine ‚Risikogesellschaft’
entstanden, die nicht durch eine biopolare ‚Innen-Außen’ Sektorierung gesellschaftlicher Gruppen (vgl.
Dubet/Lapeyronnie 1994) gekennzeichnet ist, in der sich unterhalb der ‚zufriedenen Mehrheit’ (vgl.
Galbraith 1992) ‚klassenlos’ Inkludierter eine exkludierte Subpopulation als neue ‚Underclass’
herausbildet,
sondern
eine
-
für
die
Flexibilitätsanforderungen
eines
nach-fordistischen
Akkumulationsregimes funktional notwendige (vgl. Schaarschuch 1996: 857 f) - graduelle Abstufung
eines breiten Übergangs gesellschaftlicher Zentrums- und Peripheriezonen (vgl. Kreckel 1992). Für die
Bundesrepublik kann in diesem Kontext eine Zunahme prekärer Situationen, eine zunehmende
sozialstrukturelle Polarisierung und eine Abnahme gesellschaftlicher Distributionsgerechtigkeit
konstatiert werden, die mit dem ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2001)
auch quasi regierungsamtlich anerkannt wird. Zugleich ist in der Bundesrepublik seit den 1970er
Jahren der ausgleichende Effekt des staatlichen Umverteilungssystems zugunsten des unteren Rands
der Verteilung schwächer geworden. In Anlehnung an Robert Castel (1996, 2000) kann dies als die
Ausweitung einer ‚Zone der Verwundbarkeit‘ verstanden werden, in der vor allem das Verhältnis
zwischen Arbeitskraft und sozialen Sicherungsnetzen massiv gestört ist. Dabei verlaufen die
wesentlichen gesellschaftlichen Konfliktlinien nicht nur zwischen der überwiegenden Majorität ‚drinnen’
und einer kleinen, umgrenzten ‚exkludierten’ Minderheit ‚draußen’, sondern gehen durch die
‚inkludierte’ Gesellschaft hindurch.
Während sich die ‚Zone der Verwundbarkeit’ ausbreitet, nimmt zugleich die – für den Ausbau sozialer
Rechte in fordistischen Phase des Kapitalismus wesentliche (vgl. Kaufmann 1994: 26 f) - Mobilisierung
eines ‚Drucks von unten’ d.h. einer kollektiven Artikulation subhegemonialer Interessen, auf der
166
politischen Ebene ab. Da sich die Bildung ‚realer Klassen’ als real Interessen artikulierende Gruppen
auch historisch nie alleine aus ihrer relativen Nähe in der Topologie eines sozialen Raums ergeben
hatte (vgl. Thompson 1980, vgl. Bourdieu 1989), sondern als ein politischer Prozess unter der
Bedingung und im Bewusstsein einer gemeinsamen, materiellen wie symbolischen Interessenstruktur
und relativ homogener Lebenserfahrungen (vgl. Wright 1989), lässt sich weniger von einer
Entstabilisierung von Klassenkulturen oder einer „Krise der Milieus (als Folge des Wertewandels),
sondern [… von einer] Krise der politischen Repräsentation (als Folge einer zunehmenden Distanz
zwischen Eliten und Milieus)“ sprechen (Vester et al. 2001: 104).
In
nach-fordistischen,
fortgeschritten
liberal
regulierten
Gesellschaftsformationen
nimmt
die
Heterogenität der Lebenserfahrungen zu und die Interessen verschiedener Teile der immer stärker
gespaltenen Lohnarbeiterschaft driften auseinander (vgl. Hirsch 1998). Dieses ‚Auseinandertriften’ ist
nicht zuletzt ein Ergebnis einer ‚Prekarisierungsstrategie’, die als „Produkt eines politischen Willens“,
auf einer Ausweitung der ‚Zonen der Verwundbarkeit’ bzw. „der Erreichung einer zum allgemeinen
Dauerzustand gewordenen Unsicherheit fußt“ (Bourdieu 1998: 99):
„Wo einst die Sicherheit der Arbeitsplätze und ein relativ gehobenes Lohnniveau gewährleistet und Wachstum wie
Gewinn durch die damit verbundene Ankurblung der Nachfrage gesichert waren, maximiert die Produktionsweise
den Gewinn durch den Abbau von Arbeitsplätzen und Lohnsenkungen, und der Aktionär kümmert sich nur noch
um den Börsenkurs, der sein Nominaleinkommen bestimmt, und um Preisstabilität , die sein reales Einkommen
möglichst nominal halten soll. Damit ist ein ökonomisches Regime entstanden, dass untrennbar mit dem politischen
Regime verknüpft ist, jener mit einem bestimmten Herrschaftsmodus verbundene Produktionsmodus, der auf einer
Institutionalisierung der Unsicherheit beruht und Herrschaft durch Prekarität ausübt: ein deregulierter Finanzmarkt
begünstigt einen deregulierten Arbeitsmarkt und damit prekäre Arbeitsverhältnisse, denen sich die Arbeitnehmer nun
zu fügen haben“ (Bourdieu 2001a: 53)
Zugleich werden soziale Prekarisierungen insofern politisch vorangetrieben, wie die sozialen
‚Sicherheitssysteme’
selbst
kein
Bollwerk
gegen
Prekarität
mehr
daherstellen,
sondern
Transferleistungen selbst von der Übernahme prekärer Beschäftigungen und Tätigkeiten im
Niedriglohnsektor abhängig gemacht, oder gar von diesen ersetzt werden (vgl. Kessl/Otto 2002).
Diese Ausrichtung fortgeschritten liberaler Regierungsweisen des Sozialen, die an die Stelle von
sozialen Garantien, ein aktivierendes Fördern und Fordern setzten und für zunehmend konditionale,
individuelle
und
punktuelle
Leistungen
individuelle
‚Gegenleistungen’
Form
einer
selbstunternehmerischen arbeitsmarkbezogenen Form der Lebensführung trägt zumindest in so fern
selbst zur sozialen Verunsicherung bei, wie sie nicht länger darauf zielt ‚soziale Angstfreiheit’ ‚existential security’ und ‚psychological certainty’ (vgl. Bauman 1998) - zu ermöglichen, sondern selbst
soziale Verhältnisse in ‚moralische’ umgestaltet, und als Produkt individuellen Verhaltens und
persönlicher Einstellungen repräsentiert. In dieser Hinsicht kann Prekarität in dem Maße als politische
Herrschaftsform verstanden werden, wie der Abbau von kollektiven sozialen Sicherheiten und
individuellen sozialen Rechten nicht nur als ‚fiskalische’ Notwendigkeit, sondern auch als ‚moralische’
und motivationale Grundlage der geforderten Eigenverantwortung verhandelt wird (vgl. Bourdieu
1998, 2001c, Völker 2002).
Klassentheoretisch betrachtet gelingt es damit zugleich, materielle wie symbolische gesellschaftliche
Auseinandersetzungen auf der Ebene von ‚Konkurrenzkämpfen’ isolierter Akteure zu halten (vgl.
Bourdieu 1987: 251). Während sich die unteren gesellschaftlichen Klassen immer umfassender in
167
einem Zustand erheblicher sozialer Vulnerabilität befinden (vgl. Moser 1996) bleibt Prekarität von
Lebens- und Erwerbsverhältnissen zwar klassenspezifisch rückgebunden und prästrukturiert (vgl.
Layte et al. 2002) aber nicht auf diesen sozialpolitisch klar definierten Teil der Bevölkerung
beschränkt, sondern ist zumindest als latente Gefahr auch für Angehörige der mittleren Klassen
präsent (vgl. Buhr 2001) und führt ohne die Verbindung mit einer akuten Ausschlussdrohung zu einer
tendenziellen Verallgemeinerung der Angst vor dem sozialen Abstieg (vgl. Kronauer 1997). Die
sozialen Ängste in der Zone der Verwundbarkeit werden durch die Möglichkeit der Exklusion als
potentieller
Endpunkt
noch
verschärft
und
treiben
die
symbolischen
Distinktions-
bzw.
Konkurrenzkämpfe von oben ebenso wie den Konformitätsdruck an den unteren Linien der
Respektabilität noch zusätzlich an. Weniger transversalisierte ‚Risiken’ als ‚Prekarität’ und prekäre
gesellschaftliche Teilhabeformen für immer weitere gesellschaftliche Gruppen können demnach als ein
Kennzeichen einer klassenstrukturierten ‚Risikogesellschaft’ betrachtet werden26.
Vor allem innerhalb der ‚Zone der Verwundbarkeit‘ stellen diese Ängste ein wesentliches Moment der
Dynamik einer rigider werdenden Feststellung eines ‚Innerhalb’ in Abgrenzung zu einem sozialen
‚Außerhalb’ dar, und führen vor allem auch auf der Ebene der Ideologie zu Verschiebungen in dem
spannungsreichen Verhältnis von Integration und sozialer Abfederung auf der einen und persönlicher
Sicherheit und öffentlicher Ordnung auf der anderen Seite. Eine besonders für die Mittelklassen
typische ‚status anexiety’, die eng mit der Erfahrung ökonomischer und kultureller Krisen in
Verbindung steht beschreibt Gusfield (1963) für die USA bereits in den frühen 60er Jahren. Die
symbolischen Reaktionen im Kontext dieser Ängste liegen dabei in der defensiven Konstruktion
kollektiver Identitäten, einem „’Wir’ als Abwehr gegen Verwirrung und Entwurzelung“ (Sennett 1998:
190), die sich in Form einer ‚moralischen Militanz’ (vgl. Hunt 1999) nicht zuletzt auf die Feindschaft
gegenüber Immigranten, Fremden und Außenseitern stützt (vgl. Hirsch 2001).
In diesem Sinne hat sich in eine klassenstrukturierte ‚Risikogesellschaft’ eine für das nachfordistische
Akkumulationssystem funktionale soziale Prekarität bis in die mittleren Klassen erweitert und darüber
hinaus neue (Sub)Gruppen hervorgebracht hat, die um die Dimensionen von ‚Vulnerabilität’
beschrieben werden können jedoch zunehmend im Kontext der Dimension ihrer ‚Gefährlichkeit’
wahrgenommen
werden
(vgl.
Defert
1991).
Während
nach
wie
vor
die
Mehrheit
der
Gesellschaftsmitglieder „ihr Einkommen, ihren Status, ihre Identität, ihre Absicherung ihre
gesellschaftliche
Existenz
und
soziale
Anerkennung
aus
ihrer
Stellung
innerhalb
der
Arbeitnehmerschaft [bezieht]“ (Castel 2001: 15) haben diese Gruppe das verloren, was für ihre
gesellschaftliche Integration sorgt, für sie macht sich „Mangel, Ausgrenzung, Stigmatisierung und
mangelnde Anerkennung breit“ (Eichler 2001: 58) und im Sinne einer „verschärften Klassenspaltung
[…wird für sie zunehmend] die Verknüpfung von Lohnarbeit, materieller Reproduktion und
gesellschaftlicher Statuszuweisung […] allein negativ wirksam, nämlich als Abdrängung in eine
Schattengesellschaft, die durch Armut und soziale Kontrolle bestimmt ist“ (Bonß/Heinze 1984: 30).
Von einer ,Demokratisierung’ sozialer Risiken (vgl. Beck 1986) kann allerdings keine Rede sein. Blick man etwa alleine
nur auf das ‚kulturelle Kapital’ so ist die Wahrscheinlichkeit unter die Armutsgrenze zu rutschen für Ungelernte um das
5fache höher als die von Hoch- und Fachhochschulabsolventen, die der Arbeitslosigkeit um das 7-10fache (vgl. Geißler
2002: 343 f, Statistisches Bundesamt 2002a)
26
168
Vor allem in den USA spielen diese ‚wirklich benachteiligten’ (vgl. Wilson 1987) für die im Extremfall
keine Arbeitsform und kein ökonomisches, soziales oder kulturelles Kapital eine positive Identität
konstituiert (Kronauer 1997: 46), politisch nur noch in so fern eine Rolle, wie sie Ordnungsprobleme
auf die Wahrnehmungen und Konstruktionen des politischen Systems aufwerfen (vgl. Groenemeyer
1999a: 126), auf die mit punitiven Strategien eines strafenden Staates reagiert wird (vgl. Wacquant
2000, Western et al. 2001).
Ob für die Bundesrepublik von einem nominal signifikanten Teil von Bevölkerungselementen, die Rede
sein kann, der von allen zentralen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Austauschbeziehungen
nicht nur sukzessiv entkoppelt, sondern völlig ausgeschlossen ist, lässt sich bezweifeln (Nogala 2000;
Koch 1999, Andreß 1997). Unzweifelhaft ist jedoch, dass in fortgeschritten liberalen Gesellschaften
nicht nur Arbeit und Einkommen, sondern auch die in sozialer Hinsicht existenziellen Chancen
gesellschaftlicher Teilhabe ein knappes und ungleich verteiltes Gut geworden sind (vgl. Scherr 1999:
39). In diesem Sinne kommt der Sozialpolitik in einer ‚nach-fordistischen’, gesellschaftlichen Formation
zunehmend die
„Aufgabe des ‚Managements der Spaltung der Gesellschaft’ zu, d.h. die Schaffung und Erhaltung flexibler Zonen
und Abstufungen zwischen Kern und Rand der Gesellschaft. Ziel der Sozialpolitik ist nicht mehr wie ehedem im
Kontext der ‚fordistischen’ Formation primär die Integration in ein Modell der Lohnarbeit, sondern die
Heterogenisierung der Lohnarbeiterschaft vor dem Hintergrund der Flexibilisierungsanforderungen macht eine
Vielzahl von abgestuften Regelungen notwendig, die im weiten Übergangsspektrum zwischen festangestellter,
vollzeitausgelasteter Kernarbeit und dauerhafter Ausgrenzung vermitteln“ (Schaarschuch 1996: 48).
III. 3. 3.
AKTIVIERENDE SOZIALPOLITIK
Als ein parteiübergreifendes Muster der Versuche einer veränderten sozialpolitischen Regulation eines
nachfordistischen Akkumulationsregimes zeichnet sich ein Bündel unterschiedlicher Strategien und
Maßnahmen ab, deren Gemeinsamkeit im wesentlichen darin besteht, dass sie im Kontext von
Konzepten einer ‚aktiven Staatsbürgerschaft’ und eines ‚ermöglichenden’ ‚innovativen’ ‚steuerenden’
oder ‚aktivierenden Staats’ den Abschied von einer ‚überzogenen Anspruchshaltung’ gegenüber dem
Sozialstaat fordern, die die „Verantwortungsbereitschaft und das Engagement der Bürger und damit
auch das Fundament staatlicher Ordnung“ (Alemann et al. 1999: 15) untergraben habe. Der Ausgleich
von Marktdefiziten soll gemäß diesen Konzepten weniger durch direkte staatliche Interventionen und
Transferleistungen erfolgen, sondern von den zugleich staatlich angeleiteten und ‚empowerten’
‚zivilgesellschaftlichen’ Akteuren selbst ausgehen. Dabei wird im Kern eine Regulationsweise
beschrieben, in der es nicht nur um einen bloßen quantitativen Rückzug, sondern vor allem um einen
grundlegenden qualitativen Umbau des fordistisch-keynesianischen Sozialstaats geht. In diesem
Umbau wird die sozialpolitische Regulation und öffentlich-rechtliche Gestaltung des Sozialen
zunehmend an den Markt sowie an die sich selbst regulierenden ‚Subjekte’ überantwortet und damit
das Verhältnis von Staat, Markt und ziviler Gesellschaft in einer deutlich veränderten Weise neu
arrangiert. Weil sich der „bis dato allzuständige Staat“ weder in der Lage sehe, „seine gestaltenden,
leistenden und wohlfahrtsorientierten Funktionen umfassend wahrnehmen“ zu können, noch weiterhin
bereit wäre „dafür alleine Verantwortung zu tragen“ (Behrens 1999: 47 f) wird eine weitreichende
Substitution des sozialpolitisch ‚aktiven’ Staats durch ‚aktive Bürger’ gefordert.
169
Parteiübergreifend sind sich ‚moderne Sozialdemokraten’ und Konservative im Kern einig, dass die
sozialen Sicherungssysteme die „Fähigkeit Arbeit zu finden“ verhindern würden und deshalb
„persönliche
Leistung
und
Erfolg,
Unternehmergeist,
Eigenverantwortung
und
Gemeinsinn“
(Schröder/Blair 1999: 329) an die Stelle von einem „Sicherheitsnetz von Ansprüchen“ (Schröder/Blair
1999: 329) treten sollen, welches „von einer gigantischen bürokratischen Maschinerie“ (Biedenkopf
1997: 101) getragenen werde. Statt eines ‚universellen Sicherungsstrebens’ sei ein „Sprungbrett in die
Eigenverantwortung“
(Schröder/Blair
1999:
329)
bzw.
ein
„dezentralisiert[es]
System
von
Gemeinschaften […] in dem jeder einzelne Verantwortung übernimmt“ (Biedenkopf 1997: 101 f)
erforderlich.
Die Grundintension der ‚workfare’ Pogrammatik des US-amerikanischen ‚Personal Responsibility and
Work Opportunity Reconciliation Act’ von 1996, nämlich ‚dem Menschen den Übergang von der
Fürsorge zur Arbeit zu ermöglichen’, steht auch in Deutschland im Zentrum eines Umbaus der bisher
mehr oder weniger umfassenden und verallgemeinerten staatlichen Sicherungssysteme in ein System
selektiver,
individuierter
und
zielgerichteter
Unterstützungsmaßnahmen,
die
mit
einer
Arbeitsmarktpolitik kurzgeschlossen werden. Die Unterstützungsmaßnahmen und -angebote zielen im
wesentlichen darauf, die betroffenen sozialen Akteure alleine dadurch zur Arbeit zu bewegen, dass
reduzierte sozialen Transfer- und Lohnersatzleistungen (vgl. Eichel 1999) möglichst nur jenen zugute
kommen lassen, die ‚arbeitswillig‘, oder zu keiner Arbeit fähig und mithin ‚wirklich bedürftig‘ sind. Wer
sich diesen ‚Hilfsangeboten’ entzieht, hat der ‚neosozialen’ Logik folgend ‚berechtigter Weise‘ keine
Unterstützung zu erwarten.
Der ‚aktivierende Staat’, unterscheidet sich von einem ‚aktiven’ sozialen Staat - der die „Bedeutung
von eigener Anstrengung und Verantwortung ignoriert und nicht belohnt“ (Schröder/Blair 1999),
sondern den Märkten und dem Ehrgeiz der Bürger Grenzen gesetzt habe – dadurch, dass er ‚fördert
und fordert’ aber nicht mehr „passiver Versorger der Opfer wirtschaftlichen Versagens“ sei
(Schröder/Blair 1999). Die aktivierende Strategie liegt darin, dass ‚passive’ Sicherungssystem mit
seinen positionskomensierenden Transferleistungen in ein ‚aktives’ umzubauen, in denen die
Rückführung in Erwerbsverhältnisse oberste Priorität besitzt (vgl. Hanesch/Baltzer 2001). Dabei ist der
reine Sachverhalt positionskomensierende Unterstützungen zu benötigen, alleine nicht mehr
ausreichend, sondern wird an bestimmte dispositionale Aspekte gekoppelt, wie etwa die gezeigte
Willigkeit und ‚aktive’ Bereitschaft des Leistungsadressaten ‚das Seine’ zu leisten: das heißt etwa
nachweisbar bemüht zu sein, selbst irgendeine Form der Erwerbsarbeit zu suchen und was immer als
‚zumutbares’ Angebote definiert wird auch anzunehmen.
Das Gebot des ‚Förderns und Forderns’ ebenso wie die Hilfe zur Arbeit verweisen nicht per se auf
Workfare-Politiken und eine Abkehr von sozialstaatlichen Rationalitäten:
„Dort wo das Fordern sich instrumentell dem Fördern unterordnet, steht Hilfe zur Arbeit in der […] Tradition des
bisherigen Sozialstaatsgebots: ‚Fordern um erfolgreich zu fördern!’ Dort aber, wo das Fördern sich instrumentell
dem Fordern unterordnet, verwirft Hilfe zur Arbeit die […] Tradition der bisherigen Sozialstaatsverpflichtung:
‚Fördern um erfolgreich zu fordern!’ […] In der zweiten Variante ist […] das Fördern eingebaut in das Fordern […]
und findet seine Begrenzung und seine Legitimation dort, wo es dem Abbau sozialstaatlicher Hilfe dient. [… Eine
weitere Differenzierung lautet wie folgt:] Dort, wo die professionelle Definition des individuellen Bedarfs sich
dominant an den individuellen Bedürfnissen und Möglichkeiten des Hilfeempfängers orientiert; dort wo diese
Bedürfnis[e] und Möglichkeiten des Hilfeempfängers den Hilfeprozess in jeder seiner Phasen dominant steuern; dort
170
wo der Hilfeempfänger auf qualifizierte Weise Ko-Produzent im Hilfeprozess ist; dort die Bedarfsanalyse die
Planung und Bereitstellung von Hilfemaßnahmen dominant beeinflusst; dort steht Hilfe zur Arbeit in der […]
Tradition des bisherigen Sozialstaatsgebots. Dort aber, wo die professionelle Definition des individuellen Bedarfs
sich dominant an der Zielsetzung der Vermittlung in Beschäftigung orientiert; dort, wo dieses Ziel der Vermittlung in
Arbeit den Hilfeprozess in jeder seiner Phasen dominant steuert; dort wo die Partizipation des Hilfeempfängers bloß
formal und weitgehend erzwungen ist; dort wo die vorhandenen Angebote an Maßnahmen und Arbeitsstellen die
Hilfeprozesse und die Bedarfsfeststellung dominant beeinflussen; dort verlässt Hilfe zur Arbeit die […] Tradition der
bisherigen Sozialstaatsverpflichtung“ (von Freyberg 2003: 93 f)
Ferner lässt sich sagen, dass die Grenzen der traditionellen Sozialstaatsverpflichtung auch dort
überschritten werden, wo sich die Hilfeprozesse und Hilfesysteme nicht nur quantitativ, sondern auch
qualitativ an den fiskalischen Interessen der Sozialhilfeträger orientieren, wo das ‚Scheitern’ der Hilfe
zur Arbeit, daran fixiert wird das die Nachfrage der Hilfeadressaten nicht zum Angebot passt und auf
dieser Basis das Anrecht auf Hilfe teilweise oder völlig reduziert wird und wo die traditionellen
Orientierungsgrößen der Hilfeleistungen – wie „menschliche Würde, soziale Gerechtigkeit und
individuelle[r] Bedarf“ – an die Bereitschaft des Adressaten gebunden wird, sich in gegebene,
‚angebotene’ Beschäftigungen vermitteln zu lassen (von Freyberg 2003: 94 ff).
Diese Verschiebungen bzw. Verabschiedungen von der traditionellen Sozialstaatsverpflichtung
vollziehen sich vor dem Hintergrund eines neuen Staatsverständnisses in dem ‚soziale Probleme’ im
allgemeinen, insbesondere aber Armut und Arbeitslosigkeit weniger als kollektive – und im
gesellschaftlichen Großraum des Sozialen kollektivierte - Lohnarbeitsrisiken kapitalistisch organisierter
Gesellschaften, denn als Probleme rekonstruiert, die durch die Anreize sowie die Mobilisierung und
Aktivierung der betroffenen Akteure gelöst werden können. Entsprechend weniger erscheint es
politisch notwenig, soziale Deprivation vor dem Hintergrund gesellschaftsstrukturellen Bedingungen
und Widersprüchen zu thematisieren. Stattdessen wird sie in dem Sinne ‚sozio-kulturalisiert’ dass sie
vor allem als ein Ausdruck von Unzulänglichkeit und mangelnder Verantwortung gefasst und damit
zumindest implizit - als Art eine fortgeschritten liberale Variante der viktorianischen Unterscheidung
von ‚deserving‘ und ‚undeserving poor‘ (vgl. Bourdieu 1998) - mit einem Stigma individueller
moralischer Verfehlung belegt wird (vgl. Procacci 1994, Dahme/Wohlafahrt 2002)27.
Statt auf re-distributiven Leistungen kapriziert sich die sozialpolitische Regulation von Prekarität,
Deprivation und Marginalität auf einen Um-, Auf- und Ausbau personenbezogener sozialen
Dienstleistungen, deren primäre Auggagenbeschreibung in ihrem Beitrag besteht, die ‚Employabilität’
von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern zu fördern (vgl. Dahme/Wohlfahrt 2002, Trube/Wohlfahrt
2001). Eine auf diesen Prämissen basierende ‚fördernden und fordernden’ Form sozialer (Dienst-)
Leistungserbringung (vgl. Dahme et al. 2003) weist dabei deutliche Analogien zu den ‚prä-sozialen’
Rationalitäten der Armenfürsorge auf:
27 Der in dieser Form unerstellte „habitus of welfare recipients”, so führt Michel Peillon (1998: 223) aus, „is mirrored by that of
the officials who deliver such means-tested benefits and services. These officials police access to social benefits, ensuring
that only those with a legitimate entitlement receive them. They operated in a field with a political capital, and the exercise of
their power immediately produces stigma, negative symbolic capital for their clients. The mechanisms of control and
stigmatisation become the focus of a resistance, which must be overcome or neutralised by the administrative agencies. The
position of such administrative agencies in the welfare field leads to the development of an ,administrative habitus’. This
habitus does not correspond to a bureaucratic ethos, which would simply reflect the internal mode of operation of an
organisation. It is based on the distance, which separates, in their objective position, officials and their clients. It is deeply
rooted in the structure of the welfare field and cannot be presented as an issue of organisational effectiveness”.
171
„Das Hauptthema der Armenfürsorge seit ihrer Entstehung in den deutschen Städten der frühen Neuzeit war die
Arbeit. Armenfürsorge sollte sicherstellen, daß die Armen sich zu allererst durch eigene Arbeit ernähren. Wer keine
Arbeit hat, dem soll Arbeit beschafft werden, und nur wer ohne Verschulden außerstande ist zu arbeiten, soll
Unterstützung erhalten. Wer dagegen mutwillig die Arbeit meidet, der hat jedes Anrecht auf Unterstützung verwirkt“
(Blanke/Sachße 1987: 255)
Vor allem im 16. Jahrhundert dominiert eine von „restriktiven Polizeimaßnahmen“ begleitete
Fürsorgeform, die sich im Wesentlichen als ein „Versuch der Erziehung gesellschaftlich nicht
angepasster Armer zu ‚zucht’ und ‚ordnung’ [manifestiert], d.h. zur Einhaltung des bürgerlichen
Tugendkodex durch Almosenentzug, Arbeitspflicht und Ausweitung der Strafjustiz“ (Fischer 1984: 88).
Damit sollte, so resümiert Thomas Fischer (1984: 88) vor allem „ein reichliches Angebot an billigen,
fügsamen und disziplinierten Arbeitskräften geschaffen werden“.
Dennoch beschreiben die politischen Rationalitäten eines ‚aktivierenden’, ‚verhandelnden’ oder
‚Kernaufgabenstaates’ (vgl. Lindenberg 2000c: 29 f) – trotz einiger augenscheinlicher Parallelen, die
sich als Strategien der Forcierung ‚passiver Proletarisierung’ (vl. Lenhardt/Offe 1979) verstehen lassen
- keine Rückkehr zu den frühliberalen Politikmodi eines ‚prä-sozialen’ Nachtwächterstaats, sondern
eine fundamentale Verschiebung der keynesianischen Verbindungen zwischen dem Ökonomischen
und dem Sozialen (vgl. Donzelot 1995) im Sinne einer „Einführung des ökonomischen Denkens auch
in die Sozial- und Gesellschaftspolitik“ (Hombach 1998: 63 f).
Einem gleichzeitig als aufgebläht, omipräsent und impotent rekonstruierten Leviathan wird dabei das
auf die Steuerung und Förderung der sozialen und ökonomischen Produktivität der ‚Zivilgesellschaft’
zielende Modell von einem ebenso starken wie sparsamen Staat gegenübergestellt, der Opfer
verlangen und durchsetzen kann (Brunkhorst 2000) und sich dabei auf das prozeduale Steuern,
Entscheiden und Anleiten konzentriert, die Verantwortung für die Umsetzung bzw. das ‚Machen’ aber
an andere delegiert (vgl. Osborne/Gaebler 1997: 50, Roth 1998). Die Einbindung und Mobilisierung
der Zivilgesellschaft und ihrer Akteure geschieht dabei zwar in erster Linie durch deliberative und
mediative Mittel politischer Regulation ist dabei aber weniger auf eine Stärkung formaler
demokratischer Beteiligung, als auf die Erweiterung flexibilisierter Verhandlungssysteme gerichtet und
verschiebt dabei, demokratietheoretisch betrachtet, die Entscheidungskompetenzen von der
Legislative zur Exekutive.
Eine darauf basierende kooperative Regulationsweise, die darauf zielt ‚weniger zu rudern’ sondern
‚mehr zu steuern’ (Schröder/Blair 1999, Osborne/Gaebler 1997), kennzeichnet eine im Vergleich zu
keyensianisch-fordistischen politischen Logiken grundlegende Rekonfiguration der ‚politischen
Grammatik’ staatlichen Handelns (vgl. Veyne 1992), die darin besteht, durch die ‚Zivilgesellschaft‘
hindurch, auf die je eigenen Selbstregulierungsfähigkeiten von Individuen – ihr ‚kulturelles Kapital’ und die Selbstregulierungskapazitäten von einzelnen sozialen Gruppen - ihr soziales Kapital -,
aktivierend, lenkend und formend einzuwirken und mit gesellschaftspolitischen Zielen und
ökonomischen Profitmaximierungen (vgl. Lemke 1997: 255) zu verbinden, statt die staatlichen Ziele
gegenüber der zivilen Gesellschaft und ihrer Akteure unilinear durchzusetzen und deren
Selbstregulierungen zu verhindern. Damit ist eine deutliche Veränderung der politischen Bestimmung
des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, in dem Sinne impliziert, dass der letztgenannten wieder
mehr Verantwortung zur Eigenvorsorge und Selbstversorgung zugewiesen wird (vgl. Miegel 2002)
172
In diesem Zusammenhang nehmen die politischen Autoritäten gegenüber dem aktiv ‚sorgenden‘ (vgl.
de Swaan 1993) bzw. ‚Vorsorgestaat‘ (vgl. Ewald 1993) zahlreiche Formen einer ‚bürokratischen
Kolonialisierung’ der Bürger zurück: Die Bürger, so die neue Rationalität der Regierung des Sozialen,
haben sich „von dem Wunsch nach einem Wohlfahrtsstaat, der ihnen in paternalistischer Weise die
eigene Lebensversorgung abnimmt, zukünftig [zu] verabschieden“ (Behler 1999: 85)
Zwar wird eine bestimmte Minderheit der Bevölkerung (z.B. Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger,
Erwerbsunfähige) schärfer und rigider kontrolliert, aber für die Mehrheit der sozialen Akteure wird der
gesellschaftssanitäre Versuch aufgegeben, sie als Individuen in möglichst vielen Sphären ihrer
Existenz durch direkte Instruktionen zu regieren. Sozialpolitik folgt in diesem Sinne einer ‚liberalpaternalistischen’ Rationalität (vgl. Wacquant 2001). Die ‚Liberalität’ am ‚oberen Ende’ wird durch eine
verstärkte Androhung von Sanktionen und Anwendungen von direktem oder indirekten Druck und
Zwang am ‚unteren Ende’ ergänzt (vgl. Dahme/Wohlfahrt 2002, Dean 2002). So werden etwa
Arbeitnehmer im Rahmen der Neufassung des Arbeitsförderungsgesetzes in § 2 SGB III dazu
veranlasst
„zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit 1. jede zumutbare Möglichkeit bei der Suche und Aufnahme einer
Beschäftigung zu nutzen, 2. ein Beschäftigungsverhältnis, dessen Fortsetzung ihnen zumutbar ist, nicht zu beenden,
bevor sie eine neue Beschäftigung haben und 3. jede zumutbare Beschäftigung anzunehmen“.
Dabei werden die fixierten Zumutungskriterien deutlich nach unten korrigiert. Bei Zuwiderhandlungen
bzw. Verweigerungen reagieren die Arbeitsverwaltungen mit ‚Sperrzeiten’ des Anspruchs auf
Arbeitslosengeld und einer Einschränkung der gegebenenfalls dann notwendigen Sozialhilfe, „auf das
zum Lebensunterhalt Unerlässliche“ (§ 25 Abs. 2 BSHG). Zugleich wird die Frequenz und Rigidität
‚aktivierender’ und beaufsichtigender Überwachungen erhöht (vgl. Peck 1999), die beispielsweise
durch verschiedene Formen von mehr oder weniger gesinnungsprüfenden ‚Profiling-’ und
‚Assessmentverfahren’ erfolgt oder durch ‚Case-Manager’ und ‚Berater’, die Arbeitstugenden wie
Pünktlichkeit, Motivation und Pflichtbewusstsein und andere für die ‚Emloyabilität’ (vgl. Blanke et al.
1999, Bundesregierung 1999, Benchmarking-Gruppe 2000) als wesentlich erachtete individuelle
Dispositionen und deren Performanz erzeugen bzw. trainieren sollen (vgl. Gericke et al. 2001) und bis
hin zum Einsatz von ‚Sozialdetektiven’ reichen (vgl. Dahme/Wohlfahrt 2002).
Was einerseits als Widerspruch zu den fortgeschritten liberalen Freiheitsversprechen eines Rückzugs
des bevormundenden bürokratischen Interventionsstaates gefasst werden kann, erscheint auf der
Ebene politischer Steuerungsrationalität als keineswegs zwangsläufig paradoxe Komplementrarität. So
bleibt
auch
in
Bezug
auf
die
paternalistischen
Momente,
die
‚fortgeschritten
liberale’
Steuerungsrationalität eines ‚Regierens über Freiheit’ bestehen, d.h. der Versuch Individuen zu
generieren, die möglichst wenig direkte Führung von außen bedürfen, sondern sich in einem
spezifisch strukturierten Kontext möglichst selbst und selbstverantwortlich ‚regieren’ sollen (vgl. Rose
1996a). Dabei geht es unter anderem darum, dass Akteure einen Habitus inkorporieren, der ihre
‚Employabitlität’ dadurch sicherstellt, dass sie sich als eigeninitiative ‚Arbeitskraftunternehmer’ aktiv
um die Verwertbarkeit ihres ‚Humankapitals Arbeitskraft’ und die Aufrechterhaltung wie möglichst
permanente Verbesserung ihrer Beschäftigungsfähigkeit kümmern.
173
Für diejenigen, die als ‚employable’, aktiv Arbeitssuchende einen solchen Habitus signalisieren
„assistance can be provided by relying on their liberty and by only limited resort on authoritarian
means […] the ,jobseeker’ can be treated as customer making choices in a market of employment
assistance services” (Dean 2002: 46 f). Demgegenüber stellen die qua Zwang zu aktivierenden
‚Verweigerer’ eine Kategorie von Akteuren dar, die von ihrer Freiheit einen falschen Gebrauch machen.
Sie verfügen noch nicht über die angemessenen Dispositionen, um durch ihre Freiheit, Autonomie und
ihr Selbstinteresse hindurch regiert zu werden. Die Aufforderung an die Akteure ihr Leben
eigenverantwortlich zu führen, bedeutet zum einen eine sukzessive Aufgabe aktiver struktureller
Sozialreform als Bearbeitungsmodus ‚sozialer Probleme’ hin zu einer Verantwortlichmachung der
‚Subjekte’ und einem politisch induzierten Zwang ihre eigenen Risiken und Bedürfnisse im Einklang mit
den politisch gesetzten Rahmungen zu gestalten, die mit einer ‚Ent-Responsibilisierung’ anderer
gesellschaftlicher Gruppen und Akteure - am deutlichsten des Staates selbst - einhergeht (vgl.
Hannah-Moffat 2002).
Diese Neuformulierung der Strategien, Technologien und Teleologien staatlicher (Sozial)Politik finden
ihren theoretischen Ausdruck am deutlichsten in den ‚life politics’ und der ‚Selbstsorge’
gesellschaftlicher Akteure, wie sie etwa von Anthony Giddens (vgl. 1991, 1997) formuliert und explizit
oder implizit von den akademischen Protagonisten eines ‚aktivierenden Staates’ übernommen und
vorangetrieben worden ist (Keupp 1997, 2000, 2001, Olk 2000, Wendt 2000). Im Kontext ‚Politik der
Lebensführung’ wird den sozialen Dienste ein neues Aufgaben- und Selbstverständnis zugeschrieben.
So solle es der Sozialen Arbeit etwa vor allem darum gehen in der
„individualisier[ten…] Lebensführung des/der einzelnen [eine Entscheidungshilfen zu geben] welche politischethischen Verantwortungen man mit der jeweils gewählten Handlungsweise aktiv oder passiv zu übernehmen hat […
und dabei] den Horizont dessen ab[klären], was als moralisch akzeptables Verhalten gelten kann“ (Möller 1999).
„Eigensinnige, individuelle Entscheidungen, die das Verhalten anderer beeinträchtigen und die mit
politischen Entscheidungen des Gemeinwesens oder gesellschaftlichen Moral- und Wertvorstellungen
in Konflikt geraten“, so führen Dahme/Wohlfahrt (2002: 23), die Konsequenz einer nach dem
Paradigma der ‚Politik der Lebensführung’ neugestalteten sozialen Arbeit aus, ziehen „politische
Interventionen nach sich […], die auch in Form Sozialer Arbeit auftreten können“. Dies geschieht in so
fern, dass in dem Maße wie vergleichsweise selektiven, aktivierenden ‚Workfare-’ Strategien, „[which
are] associated with means-testing“ (Rothstein 2001: 207), an Stelle einer vergleichsweise
universellen, positionskompensierenden Form sozialer Sicherungssysteme rücken und soziale
Regulationsformen im Mittelpunkt stellen, die „zu einer Zunahme an Interaktion in face-to-face
Situationen führen [… und dabei] den Bedarf an Fachkräften [erhöhen], die im Umgang mit den
‚Kunden’ über sozialpädagogische Kenntnisse verfügen“ (Polutta 2003: 10). Im Kontext der
Verbreitung einer solchen, stärker an den Dispositionen der Leistungsberechtigten und damit vermehrt
den Interventionslogiken Sozialer Arbeit angeglichenen Form der Sozial- bzw. ‚life politics, ist zu
erwarten, dass personenbezogene soziale Dienstleitungen
„zukünftig in wachsendem Maße im Interesse des Gemeinwohls angesichts individueller Fehlentscheidungen
entschieden intervenieren müssen, wobei die soziale Entschiedenheit nicht in das individuelle Ermessen der
Sozialarbeiter gestellt wird; methodische Prinzipien sozialer Arbeit wie diskursive Lösungssuche, partnerschaftliche
Zusammenarbeit, Akzeptanz des Klienten, Wahrnehmung anwaltlicher Funktion, Freiwilligkeit der Hilfe,
174
Bedürfnisorientierung der Hilfe u.ä. erscheinen aus dieser Perspektive als nicht mehr hinreichend für soziale Arbeit
in einer individualisierten Gesellschaft und müssen, um Einsicht in die Notwendigkeit auch durchzusetzen zu
können, durch autoritäre bis repressive Interventionsmittel ergänzt werden“ (Dahme/Wohlfahrt 2002: 23).
Im Sinne einer „personenbezogenen Kontextsteuerung“ (Leisering/Hilkert 2000: 36) bietet sich Soziale
Arbeit als personenbezogene soziale Dienstleistung in einer besonderen Weise an, und avanciert in so
fern zu einem zentralen „Steuerungsinstrument der Aktivierungspolitik“, das sich aufgrund seiner
Interventionsrationalitäten als tauglich erweist, um „als ausführendes Organ des aktivierenden Staates
in Beschlag genommen“ zu werden (Dahme/Wohlfahrt 2003: 90).
Dieser ‚neo-konservativen’ Form der Dienstleistungserbringung steht eine prinzipielle Beibehaltung der
‚neo-liberalen’ Selbstsorge- und Selbstverantwortungslogik nicht zwangsläufig entgegen (vgl. O’Malley
1999a). Eine fortgeschritten liberale Form des Autoritarismus basiert – zynisch formuliert - nicht auf
einem ‚despotischen’, sondern ‚freiheitlichen Zwang’, der auf dem Kernprinzip eines ‚new paternalism’
beruht: „Those who would be free must first be bound“ (Mead 1997: 23). Im Gegensatz zu den
‚despotischen’ Formen des Zwangs, werden die ‚freiheitlich-autoritären’ bzw. ‚liberal-paternalistischen’
Zwangsmaßnahmen nicht unbedingt allgemein eingesetzt, sondern differenziert nach vordefinierten
Kategorien, denen die Adressaten mittels Techniken des ‚Assessments’, ‚Profilings’ oder ‚Screenings
systematisch zugeordnet werden können (vgl. Reis 2002). Jene, denen der Status ‚wirklich
Bedürftiger’ zukommt, d.h. jene Akteure, die nicht fähig sind ‚autonom’ und ‚in ihrem eigenen
Interesse’ zu handeln, wie etwa die für den Arbeitsmarkt zu alten, oder psychisch und physisch
Kranke sind zwar tendenziellen Sparmaßnahmen unterworfen - eine „endgültige Verabschiedung von
der Illusion, diese Gruppe der Arbeitslosen noch einmal in Beschäftigung zu bringen“, so etwa Büstrich
(2002: 6 zit nach: Trube/Wohlfahrt 2003), lasse es „plausibel erscheinen, sie auch leistungsrechtlich
arbeitsmarktferner einzuordnen und der Betreuung im Rahmen der Leistungen der Sozialhilfe ohne die
bisherige arbeitsmarktpolitische Förderung des SGB III zu überantworten“ - die zwangsbasierten
Maßnahmen des ‚new paternalism’ in der ‚Politik der Lebensführung’ wenden sich jedoch an Gruppen
von Akteuren „who are potentially capable of exercising liberal autonomy but who are yet to be
trained in the habits and capacities to do so“ (Dean 2002: 47). Zwangsmaßnahmen sind demnach vor
allem zielgerichtete und instrumentelle Formen der Sanktion, die möglichst ‚dosiert’ und nur dort
eingesetzt werden, wo das Ziel, die Individuen in einer Weise zu mobilisieren, und politische Ziele,
wirtschaftliches Wachstum und persönliches Glück optimal und mit möglichst wenig direkten
staatlichen
Instruktionen
zu
verbinden
(vgl.
Miller/Rose
1994:
104),
nicht
in
einer
„zufriedenstellende[n] Regelung“ mündet (Schröder 2001: 17). Powell (2000: 56) hat als das
wesentliche Moment der Verschiebung von einer im Kern ‚sozialdemokratischen’ (vgl. Dahrendorf
1987) bzw. interventionsstaatlichen zu einer fortgeschritten liberalen regulationsstaatlichen Form der
Wohlfahrt als ein „redrawing of the boundaries between the individual and the state“ beschrieben.
Auch von die Protagonisten eines ‚aktivierenden Staates’ selbst betonen, dass „es um ein ‚Neues
Steuerungsmodell’ des Miteinander von Staat und Gesellschaft […geht, indem der Staat] von seiner
obrigkeitsstaatlichen Provenienz [… abrückt, und sich als] partnerschaftlicher Manager einer auf
Gemeinsinn orientierten Innovationspolitik“ (Behrens 1999: 49 f) darauf konzentriert, „Gesellschaften
zu führen, steuern, kontrollieren oder managen“ (Bandemer u.a. 1995: 58).
175
Eine solche, indirekte Regierung ‚aus der Distanz’ (vgl. Rose 1996), die „Zielvorgaben macht und
Mindeststandards setzt“, während die „konkrete Umsetzung […] den beteiligten Akteuren selbst
überlassen“ bleibt (Schröder 2001: 17), hat nichts mit einer Rücknahme von politischem
Gestaltungsanspruch per se zu tun. Sie beschreibt vielmehr eine Form gesellschaftspolitischer
Gestaltung durch eine katalytische, moderierende, organisierende und anstoßende Form einer
regulativen Politik (vgl. Fach 2000: 120, Trube/Wohlfahrt 2000: 2), die nicht auf die aktive Garantie
und Gewährleistung sozialer und persönlicher Rechte, sondern auf eine Durchbrechung der
‚Klientenmentalität’ der Bürger (vgl. Murray 1995) und Schaffung von Rahmenbedingungen und
Arrangements zielt, die deren „Bereitschaft zur Selbstverpflichtung und […] Fähigkeit zur
Selbstregulierung“ (Schröder 2001: 17) erzeugen soll. Damit ist der Weg hin zu einem
Wohlfahrtsarrangement beschrieben, in der „die Verantwortung des Staates darin gesehen [wird],
Gelegenheiten zu schaffen, die die Bürger ergreifen müssen, um ‚das ihre zu leisten’ (Burkitt/Ashton
1996: 11) und ihre Ansprüche anzumelden“ (Harris/Kirk 2000: 126). In diesem Sinne kann von einer
Art ‚Do-it-yourself’- Sozialpolitik (Klein/Millar 1995) gesprochen werden, in dem es weniger als
Aufgabe des Staates gesehen wird mit Leistungen zu versorgen, als den Gelegenheitsraum zu
bearbeiten, in dem selbstverantwortliche, umsichtige und aktive Bürger die Frage ihrer Absicherung
für sich selbst zu bearbeiten haben.
Allerdings bleibt dabei die Frage nach dem Möglichkeitskontext jene ‚Chancen’ zu ergreifen
weitgehend ausgeklammert. Die soziale Strukturierung jener Chancen gerät alleine dadurch aus dem
Blick, dass von gesellschaftlichen Positionierungen der Akteure weitgehend abstrahiert wird. Selbst
noch der Frage habituell ‚inkorporierter’ Möglichkeiten der ‚Chancenergreifung’ wird vergleichsweise
wenig Bedeutung beigemessen. Die fortgeschritten liberale Form der Sozialpolitik ist
„eher verhaltens- als verhältnisorientiert. Die Betonung der Eigenverantwortung bedeutet auch: individuelles
Verhalten muss sich den Verhältnissen anpassen und im Zweifelsfall dementsprechend qualifiziert, trainiert oder
letztlich ‚dressiert’ werden. Bei der Erklärung der Ursachen von Sozialhilfe und Ausgrenzung wird psychologisch und
weniger soziologisch-strukturell argumentiert“ (Dahme/Wohlfahrt 2002).
So werden etwa selbst noch Kinder und Jugendliche als Akteure individuiert, die „die Chance [hätten],
die eigene Entwicklung und die persönliche Biographie frei von allen sozialen Zwängen und
unabhängig von sozialer Herkunft gemäß den individuellen Interessen und Ansprüchen, Bedürfnissen
und Zielvorstellungen zu planen und gegebenenfalls zu realisieren“ (SPD 2001: 2). Eine solche als
prima faci gegeben unterstellte, Möglichkeit der Autonomie und Selbstverantwortung jedes einzelnen
sozialen Akteurs erlaubt einem ‚aktivierenden Staat’ es abzulehnen „den gesellschaftlichen Akteuren
die Verantwortlichkeit für Problemlösungen“ (Bandemer/Hilbert 1999: 29) aus der zu Hand zu nehmen
und auch von jenen, die sich in problematischen Situationen befinden zu fordern, sich primär selbst
‚als Problemlöser zu engagieren’ (vgl. Bandemer/Hilbert 1999). Dem liberalen Versprechen an die
zivilen Akteure ihre Vorstellung eines gelungenen Lebens künftig autonomer als bisher gestalten zu
können, steht im Falle des Misslingens demnach nicht nur die ‚Feststellung’, sondern der Vorwurf
gegenüber ‚selber schuld’ zu sein. Die Spaltung einer nach-fordistischen, fortgeschritten liberalen
Gesellschaft wird diesem Sinne sozialpolitisch eher auf einer symbolischen Ebene zusätzlich legitimiert
als materiell kompensiert.
176
III. 4
JUGENDHILFE UND DIE KRISE DES FORDISTISCHEN WOHLFAHRTSSTAATS
Von den als substanzielle Krise der fordistischen Gesellschaftsformation seit Mitte der siebziger Jahre
beschriebenen Prozessen, vor allem einer zunehmenden strukturellen Verunmöglichung einer
allgemeinen und umfassenden ‚Inklusion‘ durch Besitz und Verkauf der Ware Arbeitskraft (vgl.
Böhnisch/Schröer 2001), kann die ‚fordistische Profession’ Jugendhilfe nicht unberührt bleiben. Von
einer mit der ‚Krise des Fordismus’ einhergehenden ‚Krise des Wohlfahrtsstaates‘ ist gerade die
Jugendhilfe
„insofern besonders betroffen, als sie aus der Expansion der Institutionalisierung sozialer Hilfe einen wesentlichen
Nutzen gezogen hat, indem sie aus einer randständigen, marginalen Disziplin und Profession zu einem zentralen und
systemisch organisierten Element im Wohlfahrtsstaat geworden ist“ (Sünker 1995: 79).
Als Ausdruck und als Reaktion auf die Krise des fordistischen Wohlfahrtsstaates finden in der
Jugendhilfe zwei grundlegende Neustrukturierungsprozesse statt:
1. Ihre ‚Ökonomisierung‘
2. Die Undefinition ihres Bezugs- und Aktionsfeldes – das Feld des Sozialen – zugunsten einer
Nahraumorientierung (vgl. Kessl et al. 2002) und einer (Wieder-)Entdeckung der lokalen Gemeinschaft
(vgl. Kessl 2000, Ziegler 2002).
In der Zusammenführung beider Momente erfahren die in der fordistischen Ära des Kapitalismus
gültigen Konzeptionen und der Modelle der Führung und ‚Subjektivierung’ der nachwachsenden
Generation durch die Jugendhilfe zwar keine Ersetzung, aber eine fundamentale Verschiebung: Von
der Repräsentation der Adressaten als „members of a flock to be shepherded“ und „children to be
nurtured and tutored“ zu „rational calculation individuals whose preferences are to be acted upon“
(Rose 2000b: 185)
III. 4. 1
JUGENDHILFE ALS (MARKTFÖRMIGE) DIENSTLEISTUNG
In der Jugendhilfe wird den Umgestaltungen der gesellschaftlichen Formation und der Form ihrer
Regulation
durch
Selbstverständnisses
den
als
sozialen
soziale
Staat
zunächst
Dienstleistung
durch
eine
begegnet.
(Re)Konzeptualisierung
Nach
den
ersten
ihres
fachlichen
Dienstleistungsdiskursen der späten 1970er und 1980er Jahren, entwickelt sich dabei parallel zu den
gewandelten Prämissen fortgeschritten
liberaler Sozialstaatlichkeit
ein ‚neuer’,
von
fachlich
eigenständigen Diskurslinien relativ unabhängiger Diskurs in den 1990er Jahren, der vor allem „die
Bedeutung externer, marktförmiger und betriebswirtschaftlicher Prinzipien für Effizienzsteigerung und
Qualitätserhöhung der Dienstleistungsproduktion betont“ (Schaarschuch 1999a: 550).
Unter dem Eindruck des ‚ersten Diskursstrangs’ wird 1989 bzw. 1990 das SGB VIII als ‚modernes
Leistungsgesetz’ konzipiert und grundgelegt. Nicht nur im Kontext der ökonomischen, sondern auch
der kulturellen und symbolischen Akzeptanzkrisen des Fordismus und eines darauf reagierenden
Prozesses der ‚Modernisierung’ der kommunalen Verwaltungen, wandelt sich zunehmend auch das
(propagierte) Selbstverständnis des Jugendamtes. Zunächst - und hier noch in einer idealtypischen
Gegenüberstellung von rechts- oder besser obrigkeitsstaatlicher Tradition und einem ‚modernen’
177
sozialstaatlichen Selbstverständnis auf verwaltungsrechtlicher Ebene (vgl. Kaufmann 1994) - von einer
Eingriffs- zu Leistungsverwaltung und schließlich zu einem modernen ‚Dienstleistungsunternehmen’.
Dabei ist der Begriff der ‚Dienstleistung’ offensichtlich Teil jenes Schlüsselvokabulars geworden, das
für eine ‚moderne’ Jugendhilfe konstitutiven Charakter hat. Analytisch bezeichnet die Rede von
Dienstleistungen jedoch zunächst kaum mehr als
„eine resudiale Sammelkategorie in der all jene Arbeiten bzw. Arbeitsorganisationen auftauchen, die nicht eindeutig
der ‚primären’ (gewinnenden) oder der ‚sekundären’ (herstellenden) Arbeit zugerechnet werden können und doch
gleichzeitig ‚Arbeit’ (im Sinne kontraktueller Erwerbsarbeit) sind“ (Offe 1987).
‚Dienstleistungen’ sind bezogen auf kapitalistische Produktionsverhältnisse demnach keine epochalen
Neuerscheinungen. Die lassen sich als ein Teil der „bestandsnotwenigen Ausbildung strukturfremder
Systemelemente“ kapitalistischer Produktion betrachten, die sich als eher ‚administrativ’ den als
‚verwertungsgesteuerte’ Bereiche und Prozesse im Sinne „staatlich organisiert[er] Infrastruktur-,
Dienstleistungs- und Repressionsfunktionen entwickelt [haben]“ (Offe 1972: 38) aufgrund einer
zunehmenden
„Notwenigkeit, die Kapitalbewegung in all ihren Phasen zum Gegenstand leitender, verwaltender, verteilender,
planender usw. Tätigkeit zu machen [… die eine Dynamik reflektiert, in der n]icht mehr nur ‚Rahmenbedingungen’
der privatwirtschaftlichen Produktion […], sondern tendenziell jedes Element des Produktionsprozesses […] der
Vermittlung durch bürokratische Arbeit [bedarf]“ (Offe 1972: 49).
In diesem Sinne berichtet bereits Karl Marx (1953a) in seinen ‚Grundrissen zur Kritik der politischen
Ökonomie’ von einer Form menschlicher Arbeitskraft, die – innerhalb des Akkumulationsregimes zunehmend aus der direkten materiellen Produktion heraustritt, und den Charakter ihres ‚Wächters
und Regulators’ übernimmt. Diese Form der Arbeit zeichnet sich aus der Perspektive der Wertlehre der
politischen Ökonomie, gegenüber den anderen Formen industriekapitalistischer Arbeitskraftverwertung
dadurch aus, dass sie nicht direkt wert- bzw. mehrwertschöpfend ist28. Die Funktion und die
‚Produktivität’ der ‚Wächter und Regulatoren’ im Produktionsprozess finden sich aber auf einer
anderen, mittelnden Ebene: sie dienen dem Schutz seines Modus Operandi. Eine positiv definierbare
analytische Gemeinsamkeit aller Dienstleistungen besteht, gleich ob sie auf Produktions- oder
gesellschaftliche Reproduktionsformen und -weisen gerichtet sind, in einer solchen ‚formbeschützenden’ Funktion (vgl. Häußermann/Siebel 1995: 155), im Sinne einer kulturellen und
institutionellen Gewährleistung, Verteidigung, Überwachung und Instandhaltung des gesellschaftlichen
Auch im ‚Kapital’ (Band 1) rechnet Marx die „Regierung, Pfaffen, Juristen, Militär usw.“ (Marx 1953: 469) ausdrücklich nicht
zu produktiven Lohnarbeiterklasse. In den ‚Grundrissen’ (Marx 1953a) spricht er von einem
„Teil der dienenden Klasse, der nicht von Kapital, sondern von Revenue lebt“ und formuliert einen „wesentliche[n]
Unterschied“ zwischen „dieser dienenden und der arbeitenden Klasse“. Ausführlich setzt sich Marx in den ‚Theorien über
den Mehrwert’ mit ‚immateriellen’ Dienstleistungen auseinander: „Gewisse Dienstleistungen oder die Gebrauchswerte,
Resultate gewisser Tätigkeiten oder Arbeiten, verkörpern sich in Waren, andre dagegen lassen kein handgreifliches, von der
Person selbst unterschiednes Resultat zurück; oder ihr Resultat ist keine verkaufbare Ware. Z.B. der Dienst, den mir ein
Sänger leistet, befriedigt mein ästhetisches Bedürfnis, aber was ich genieße, existiert nur in einer von dem Sänger selbst
untrennbaren Aktion, und sobald seine Arbeit, das Singen, am Ende ist, ist auch mein Genuss am Ende: Ich genieße die
Tätigkeit selbst - ihre Tonschwingungen auf mein Ohr. Diese Dienste selbst, wie die Ware, die ich kaufe, können notwendige
sein oder nur notwendig scheinen, z.B. der Dienst eines Soldaten oder Arztes oder Advokaten, oder sie können Dienste
sein, die mir Genüsse gewähren. Dies ändert an ihrer ökonomischen Bestimmtheit nichts: Wenn ich gesund bin und den Arzt
nicht brauche oder das Glück habe, keine Prozess führen zu müssen, so vermeide ich es wie die Pest, Geld in ärztlichen
oder juristischen Dienstleistungen auszulegen. Dienste können auch aufgedrungen sein, Beamtendienste etc.“ (Marx 1956:
380)
28
178
Ordnungsrahmens, seiner Funktionsbedingungen und historisch spezifischen Verkehrsformen (vgl.
Berger/Offe 1980). Die ‚form-beschützende’ Funktion sozialer Dienstleistungen manifestiert sich in
ihrer spezifischen Reaktion „auf soziale und sozial verursachte ‚form-gefährdende’ Problemstellungen
von Individuen und Gruppen“ (Berger/Offe 1980: 22). Die Kustodialfunktion der personenbezogenen
sozialen Dienstleitung Jugendhilfe äußert sich entsprechend in ihrer Reaktion auf ‚form-gefährdende’
Problemkonstellation im Feld des Sozialen, die auf die Dispositionen von Akteuren oder Gruppen von
Akteuren wirken. Dabei sind die Reaktionen auf einer teleologischen Ebene auf das Ziel der Sicherung
und Hervorbringung ‚legitimerweise’ erwarteter Strukturen von ‚Identität’ gerichtet (vgl. Olk 1986). In
diesem Sinne unterscheiden sich soziale Dienstleistungen von stofflich-produktionsorientierten
Dienstleistungen dadurch, dass erstgenannte mittelbar auf die Erzeugung eines materiellen Produkts
zielen, dessen Gebrauchswert in der Be- bzw. Vernutzung besteht, während die Erbringung sozialer
Dienstleistungen primär auf ein ‚soziales Erbringungsverhältnis’ (vgl. Schaarschuch 1998) im Sinne
eines relationalen Vermittlungsverhältnisses der - uno actu - in der Dienstleistungsproduktion
beteiligten
Akteure
bzw.
repräsentierten
Institutionen.
Typischerweise
geht
es
diesem
Vermittlungsverhältnis um die Erfüllung eines ‚dreifachen Mandats’: Die Integration administrativer,
ökonomischer und lebensweltlicher (bzw. informeller) Elemente, die aufeinander zu beziehen sind
(vgl. Bauer 1995). Die Gebrauchswerteigenschaft sozialer Dienstleistungen besteht darin sich nicht auf
Erzeugnisse, sondern auf Wirkungen, Ergebnisse oder Ereignisse zu beziehen (vgl. Bauer 1996).
Personenbezogene soziale Dienstleistungen sind demnach als vermittelnde Normalisierungsarbeit –
oder wahlweise normalisierende Vermittlungsarbeit - Tätigkeiten, die sich mittelbar oder unmittelbar
auf die Gewährleistung gesellschaftlicher ‚Normalzustände’ d.h. die „Abwehr von Risiken und die
Beseitigung von Störungen“ (Olk 1986: 13) beziehen, bei dem sich das dienstleistungsförmig zu
bearbeitende Problem als das „des Schutzes und der Bewahrung der ausdifferenzierten Elemente der
Sozialstruktur und der Vermittlung zwischen ihnen [darstellt]“ (Offe 1987: 175). Der Jugendhilfe als
personenbezogener sozialer Dienstleistungsarbeit geht es um die gleichzeitige Erzeugung von
‚Normalität’
und
eine
die
Gewährung,
Respektierung
und
Bestätigung
der
Individualität,
Besonderheiten, Kontingenz, Variabilität und ‚Authenzität’ der Lagen und Bedürfnisse ihrer Adressaten.
Durch die Balance einer wechselseitigen „Anpassung von ‚Besonderheit des Falls’ und ‚Generalität der
Bezugsnorm’ [kann …] zugleich der ‚Fall’ normalisiert und die Norm individualisiert“ werden (Offe
1987: 175). Eine jugendhilfetypische Form sozialer Kontrolle, die sie akteursbezogen auf dessen
spezifische positional-dispositionale Matrix bezieht, wird insofern auch in ihrer Konstitution als
personenbezogene
soziale
Dienstleistungen
weder
analytisch
noch
praktisch
suspendiert.
Nichtsdestoweniger stellt eine Orientierung der Jugendhilfe an Dienstleistungskonzepten eine in
fachlicher Hinsicht fundamentale Umorientierung dar. Diese Umorientierung reflektiert vor allem die
Überzeugung, dass die ‚Subjektstellung’ der Leitungsadressaten, die in der bürokratisch-fordistischen
Fassung der Jugendhilfe zwar nicht ausgeschlossen, aber keinesfalls ex ante gesetzt war, durch einen
Rekurs auf fachspezifisch ausformulierte Konzepte der Dienstleistung eine stärkere Beachtung findet.
Im ersten fachlichen Dienstleistungsdiskurs findet sich die Tendenz eine solche Aufwertung der
Subjektstellung der Adressaten als ein in einem konsequent zu Ende gedachten Konzept der
179
Dienstleistung selbst angelegtes Moment zu betrachten. Begründet wird dies damit, dass
personenbezogene soziale Dienstleistungen nicht materiell und ‚flüchtig’, d.h. nicht-lagerfähig und
nicht-transportfähig seien. In diesem Sinne ist für sie ein ‚uno-actu Prinzip’ konstitutiv (vgl. HerderDornreich/Klötz 1972), das auf eine unmittelbare Gleichzeitigkeit von Produktion und Konsumption
verweist. Personenbezogenen sozialen Dienstleistungen ist die Anwesenheit eines empirischen Nutzers
als notwendig inhärent: „Die Dienstleistung wird ‚an’ einer Person erbracht. Voraussetzung dafür ist
zunächst die Präsenz des Klienten, außerdem aber seine aktive Mitwirkung bei der Erbringung der
Leistung“ (Blanke/Sachße 1987: 262). In dieser Hinsicht sind die Adressaten - zumindest - ‚KoProduzenten‘
im
Prozess
sozialer
Dienstleitungsproduktion
(vgl.
Schaarschuch
1996,
Gartner/Riessmann 1978). Wenn das Verhältnis von Produktion und Konsumption als eine Totalität
gefasst wird (vgl. Marx 1974), in der sich die Konsumenten zugleich selbst (re)produzieren, ist ein
solcher Produzentenstatus des Adressaten im Erbringungsverhältnis von Dienstleistungen auf
theoretischer Ebene plausibel:
„Jeder Konsumptionsakt von sozialen Dienstleistungen ist zugleich ein Akt der Produktion, jede Produktion
zugleich Konsumtion. Das Erbringungsverhältnis kann vor diesem Hintergrund als eines konzipiert werden, in dem
prinzipiell sowohl die Professionellen wie auch die Klienten, Patienten stets Produzenten und Konsumenten zugleich
sind“ (Schaarschuch 1999a: 553).
Auf Basis dienstleistungstheoretischer Erörterungen gibt es keinen Zweifel daran, dass eine ‚moderne’
Jugendhilfe analytisch als eine personenbezogene soziale Dienstleistung zu fassen ist. Analytisch gilt
dies jedoch auch - und ebenso zweifellos - für z.B. die ‚eingriffsorientierte’ Fürsorgeerziehung nach
dem RJWG und ebenso für die klassische Exekutivinstanz des physischen Gewaltmonopols des
Staates: die Polizei. Dienstleistungen zu erbringen hat demnach per se wenig mit der Freiwilligkeit der
oder einer Orientierung an den Interessen der Adressaten zu tun. Dienste können, wie es Marx in den
‚Theorien über den Mehrwert’ mit Blick auf Beamtendienste etc. formuliert, „auch aufgedrungen sein“.
Die beschriebenen Formen der ‚Förderung und Forderung“ deprivierter Akteure vollzieht sich ihrer
Logik nach als personenbezogene soziale Dienstleistung und schließlich ist es bezeichnend, dass etwa
Frage die Frage ‚geschlossener’ Heimunterbringung in der Jugendhilfe, dort wo sie nicht (nur) als eine
Form der Strafe, Abschreckung oder der Unschädlichmachung besonders riskanter Akteure verhandelt
wird, als eine Möglichkeit argumentiert wird, das uno-acto-Prinzip und die Gleichzeitigkeit von
Produktion und Konsumtion als Basis für die Erbringung nicht-lagerbarer personenbezogener sozialer
Dienstleitungen, auch dort zu ermöglichen, wo ansonsten die Gefahr eines Scheiterns groß ist, weil
sich der Adressaten einer Leistungsproduktion entziehen. Aus einer analytischen Beschreibung und
Funktionsbestimmung der Jugendhilfe als Dienstleistung alleine, ist demnach eine Stärkung, oder auch
nur stärkere Beachtung der Nutzer keinesfalls einfach abzuleiten, ganz zu schweigen davon, dass die
‚Subjektivität’ der Adressaten Sozialer Arbeit dadurch in den Mittelpunkt gestellt würde. Im
Dienstleistungskonzept von Badura und Gross (1977) beispielsweise erscheint der ‚ko-produzierende’
Nutzer dienstleistungstheoretisch widerspruchsfrei als lediglich rezeptiv-konsumierender Akteur, der
konstitutiv auf den aktiv-produzierenden Professionellen verwiesen bleibt. Darüber hinaus führt auch
eine
dienstleistungstheoretisch per se nicht zwingende, aber programmatisch-konzeptionell
proklamierte Adressatenorientierung nicht zu einer Aufgabe einer faktischen Dominanz der
180
Anbieterseite in personenbezogenen sozialen Dienstleistungen, weil sich ihre - unabhängig von den
Wünschen des einzelnen ‚Ko-Produzenten’ existierende - formschützende Funktion, auf die
Adressatenseite der am Prozess der Dienstleistungsproduktion Beteiligten bezieht und nicht
umgekehrt. Diese in der formschützenden Funktion von personenbezogen sozialen Dienstleistungen
konzeptionell angelegte Asymmetrie bleibt bereits auf einer theoretischen Ebene unsuspendierbar.
Empirisch wird diese strukturelle Asymmetrie um den Umstand ergänzt, dass der Adressat im Prozess
der Dienstleistungserbringung zwar als ein „unbedingt notweniger Faktor [… erscheint,] die
Entscheidung über die Zulassung oder Ablehnung von Nachfragern, sowie die fachliche und soziale
Kontrolle der Leistungserstellung [...] jedoch nahezu ausschließlich durch die Anbieter [erfolgt]“ (Wirth
1982: 119). Eine nutzerorientierte praktische Form der Einbeziehung des Adressaten als Ko-Produzent,
im Sinne der Anerkennung seines Status als ‚Subjekt’ (vgl. Sünker 1992) und als (professionell
unterstützter) Produzent seiner selbstbestimmten Lebenspraxis (vgl. Schaarschuch 1999a), ist
demnach nicht zwangsläufig mit einer bloßen Neukonzeption der Jugendhilfe als Dienstleistung und
dem theoretischen Rückgriff auf ein ‚Uno-Actu-Prinzip’ gewährleistet. Aus der bloßen theoretischen
Bestimmung und Deskription der Jugendhilfe als Dienstleitung, ist keine bestimmte Präskription – z.B.
die Stärkung der Autonomie des Adressaten – konzeptimmanent kausalistisch herzuleiten. Die
Orientierung an den Interessen des Adressaten ist unabhängig vom Erbringungskontext, eine
dienstleistungstheoretisch extern zu begründende Orientierung, die sich weder aus dem ‚uno-actu’
noch
aus
sonstigen
analytisch-systematischen Strukturprinzipien personenbezogener sozialer
Dienstleistungen ergibt. Ein Machtzuwachs auf der Adressatenseite verweist also nicht auf eine
dienstleitungstheoretische Fassung der Jugendhilfe per se, sondern auf die kontingente Frage der je
konkreten Konstitution des Dienstleistungskonzepts. Konzeptionelle Präskriptionen müssen daher auf
eine Weise begründet werden, die nicht nur darauf verweißt, dass die Adressaten einer Dienstleitung
gleichsam
ihre
Produzenten
sind,
sondern
auch
die
Stellung
dieser
Produzenten
im
Erbringungsverhältnis beschreibt bzw. aufwertet. Dies kann etwa mittels eines ‚nachfrageorientierten’,
markförmigen
Ansatzes
in
Form
eines
‚Kundenmodells’
oder
durch
demokratie-
bzw.
staatstheoretische Ansätze in Form eines ‚Bürgermodells’ geschehen.
Die relative Einfachheit ökonomischer Modelle, sowie das (jenseits einiger wichtiger Ausnahmen, wie
etwa der republikanisch-demokratietheoretischen Begründung von Andreas Schaarschuch 1998)
weitgehende Versäumnis einer gesonderten Begründung des Nutzerstatus der nicht-marktförmigen
Dienstleistungskonzepte, kann auf der Ebene der Disziplin als ein Faktor für die relative Dominanz des
ökonomischen
‚Kundenmodells’
im
sozialpädagogischen
Diskurs
betrachtet
werden.
Das
Kundenmodells vermag sich mithin nicht nur aufgrund einer ‚neoliberalen’, gesellschaftlichen
Umgestaltung, sondern auch auf einer theoretischen Ebene als vermeintlich weitgehend alternativlos
darzustellen. Dem steht nicht entgegen, dass mit der Neukonzeption Sozialer Arbeit ‚jenseits der
Bürokratie’ (vgl. Flösser 1994) und in einer Gegenüberstellung des Selbstverständnisses der
traditionellen, ‚fordistischen’ Jugendhilfe als Sozialbürokratie versus ‚soziale Dienstleistung’ als
Paradigma einer ‚modernen’ Jugendhilfe, die Hoffnung auf eine Zurückdrängung von „Bürokratie,
Schwerfälligkeit,
Innovationsfeindlichkeit,
Ineffektivität,
181
Klientelisierung
und
mangelnde[r]
Bedürfnisgerechtigkeit“ (Schaarschuch 1996a.: 12), sowie auf eine Demokratisierung sozialer Dienste
durch die Etablierung partizipativer Verfahren jenseits klassisch repräsentativer Mechanismen (vgl.
Redaktion Widersprüche 2000: 4) verbunden bleibt.
Nichtsdestoweniger ist auch die fachliche Kritik der Bürokratisierung und Verrechtlichung der
Jugendhilfe sowie die damit verbundene Forderung nach einer stärkeren ‚Subjektorientierung’ seitens
der politisch progressiven Vertreter der Profession und Disziplin, mit dem Problem konfrontiert, dass
ein leistungsfähiger und demokratisch-rechtsstaatlich organisierter Sozialstaat auch im Bereich des
Sozialrechts notwendig erhebliche Verrechtlichungstendenzen mit sich bringt (vgl. Wittkämper 1992).
Anders formuliert ist es prinzipiell alleine der Staat, der in seiner Konzeption als sozialer Rechtsstaat
die „Teilhabe an den lebensnotwendigen Gütern und Leistungen“ garantieren kann und damit die
„Vorbedingung individueller Freiheit“ darstellt (Hartwich 1970: 348). Dieses Konzeptionsproblem
‚subjektorientierter’ Wohlfahrtsstaatskritik hat sich dadurch verschärft, dass bis auf wenige
Ausnahmen der faktische Status des Nutzers in den konzeptionellen Fassungen der Jugendhilfe als
Dienstleistung letztlich kontingent blieb, während gleichzeitig - innerhalb und außerhalb des fachlichen
Diskurses
-
eine
Stärkung
der
Adressatenseite
keinesfalls
nur
aufgrund
ihres
potenziell
emanzipatorischen Charakters eingefordert wird. Gerade die mangelnde Passung von Angebot und
Nachfrage stellt ein wesentliches Element des Vorwurfs der Verschwendung öffentlicher Gelder durch
bürokratisch organisierte, öffentliche Verwaltungen dar, „die gegen die Risiken des freien
Unternehmertums
durch
starre
Statuszuweisungen
geschützt
und
auf
die
korporatistische
Verteidigung sozialer Errungenschaften versteift“ (Bourdieu et al. 1997: 210) und darüber hinaus vor
allem mit sich selbst beschäftigt seien.
Vor diesem Hintergrund zeichnet sich eine marktorientierte Nutzung des Dienstleistungsbegriffs ab,
die darauf zielt, Leistungsstandards der Jugendhilfe an ökonomische Kriterien zu binden und mit
Rekurs auf die Notwenigkeit des Sparens in der öffentlichen Verwaltung letztlich auch zu senken (vgl.
Schaarschuch 1998). Auf der Basis der Kritik an der Sozialbürokratie und im Kontext der mehrheitlich
prekären
finanziellen
Lage
29
‚Modernisierungsdruck’
1990er
Jahren
zu
der
Kommunen,
erhöht
sich
der
ökonomische
und
politische
auf die Administration. Dies führt seit den 1980er, vor allem aber seit den
einer
breiten
Welle
von
Reformansätzen
im
öffentlichen
Dienst
und
Umstrukturierungen der öffentlichen Verwaltung nach dem Leitbild eines wettbewerbs- und
kundenorientierten Dienstleistungskonzerns (vgl. Kersting 1998). Im Zuge dieser Reformen als ein
Ergebnis scheinbar konfliktfreier Sachpolitik, wird die Kommune selbst „zunehmend unter
betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet, die Verwaltungsspitze als Management bzw.
Konzernspitze gesehen und versucht die Rolle des Rates zurückzudrängen“ (Kersting 1998: 163).
Versuche die öffentlichen Dienste wie Privatunternehmen zu verwalten (vgl. Bourdieu et al. 1997)
führen auf der Ebene der Gemeinde
„zu einer neuen Entpolitisierung der Kommunalpolitik mit einer Administration, die im Rahmen der Standortdebatte
die Voraussetzungen für ökonomische Entwicklung in den Vordergrund rückt, das Primat der Ökonomie im
Modernisierung wird hier in einem ‚neutralen’ Sinne als Anpassung von Institutionen und Organisationen an soziale,
kulturelle ökonomische und ideologische Wandlungsprozesse verstanden.
29
182
vorauseilenden Gehorsam (non decision) hervorhebt und sozialstaatliche Aufgabenbereiche privatisiert oder an die
Zivilgesellschaft überträgt“ (Kersting 1998: 163).
Mit dem Anschluss der personenbezogenen sozialen Dienstleistungen an die international seit Mitte
der 1970er Jahre vornehmlich gegenüber Infrastrukturorganisationen der öffentlichen Hand zu
verzeichnenden Privatisierungstendenzen, erfassen Privatisierungs- bzw. ‚Ökonomisierungsprozesse’ in
wachsendem Maße sämtliche Bereiche öffentlich verfasster Dienste. Wie auch immer die dadurch
induzierten Umgestaltungen öffentlich-rechtlicher Leistungen in quasi-warenförmige Individualgüter
aus Effizienzgesichtspunkten betrachtet werden mögen, stellen sie für die Institutionen des Sozialen in
ihrer Gesamtheit einen grundlegenden Systembruch dar.
III. 4. 2
DAS NEUE STEUERUNGSMODELL
Ein wesentliches Moment des marktförmigen Umbaus der Kinder- und Jugendhilfe ist ihre
Neuorganisation nach Maßgabe ‚Neuer Steuerungsmodelle’ unter der konzeptionellen Federführung
der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (KGSt). Als eine deutsche
Variante des ‚New Public Management’ geht es in den Neuen Steuerungsmodellen im Kern um eine
Übertragung
marktförmiger
Prinzipien,
Techniken,
Rechnungsweisen
sowie
Unternehmensführungsmethoden aus der Betriebswirtschaft in die öffentlichen Institutionen sozialer
Dienstleistungen (vgl. Flösser/Schmidt 1992, Krölls 1996). Maßnahmen einer solchen Form der
Verwaltungsmodernisierung sind seit Mitte der 1990er in der Mehrheit der Jugendämter implementiert
worden (vgl. Bussmann et al. 2003, Seckinger et al. 1998). Auf der Ebene der symbolischen
Repräsentation soll sich dabei sowohl das Selbstverständnis der Anbieter personenbezogener
Dienstleistungen
an
unternehmerischen
Leitbildern
orientieren,
als
auch
ein
Wandel
der
institutionellen Statusrepräsentation der Dienstleistungsnutzer vom bedürftigen Klienten zu einem
Kunden vollzogen werden, der autonom auf dem Hilfemarkt Entscheidungen trifft (vgl. Otto/Flösser
1996, Wohlfahrt 2000).
Die Umsteuerungsprozesse durch die Neuen Steuerungsmodelle zielen auf der Ebene der sozialen
Dienstleistungsorganisationen unter anderem darauf, öffentliche Verwaltungen im Sinne eines
wettbewerbsorientierten,
selbstproduzierenden
Unternehmens
oder
auf
dem
Markt
der
Wohlfahrtsökonomie einkaufenden „arranger of sevices provided by others“ (Salomon 1995: 20)
umzubauen um damit - durch eine Dezentralisierung der Verantwortlichkeiten wie der Verwaltung von
Ressourcen - eine Erhöhung der Flexibilität bei gleichzeitig erhöhten Möglichkeiten der internen wie
externen Koordination und Kontrolle einzelner Einheiten zu erreichen. Auf der Basis klarer Ziel- und
Produktbeschreibungen und deren standardisierten Messbarmachung soll eine wesentlich stärker
ergebnis- als prozessorientierte Steuerung und Kontrolle des ‚Outputs’ (‚Management by Results’)
nach Kriterien von Effizienz und Effektivität erfolgen. Durch ‚managerielle’ Techniken eines
‚Kontraktmanagements’ und ‚Controllings’ innerhalb der künstlich geschaffenen Wettbewerbsumwelt
eines ‚Quasi-Marktes’ soll die Verwaltungsführung in die Lage versetzt werden, die fachlich
ausführende Ebene dadurch ‚aus der Distanz’ zu steuern, dass sie verbindlich die Ziele und
183
‚berechtigten’ Zielgruppen sowie die Qualität und Quantität der Leistungen festlegt, kontrolliert und
mit
Budgets
ausstattet,
während
sie
die
Umsetzungsverantwortung
zugleich
verstärkt
dezentralisierten, ‚autonomen’ Einheiten zukommen lässt (vgl. Mc Laughlin/Murji 2001, Olk 1994,
Schmidt 1996, Wohlfahrt 2000).
Die zentralen Kriterien, nach denen diese ‚Steuerung aus Distanz’ erfolgen soll, sind die der
passgenauen Entsprechung des Wirkungsradius der Qualität und Quantität der Hilfe zu dem je
festgestellten Bedarf als ‚Effektivität’ und deren optimales Verhältnis zu den hierfür verausgabten
Kosten als ‚Effizienz’. Innerhalb des Spielraums der Effektivitäts- und Effizienzerfordernisse
versprechen die Neuen Steuerungsmodelle den Mitarbeitern dadurch mehr Autonomie und
Gestaltungsmacht, dass sie von ihnen fordern, sich in der aktiven und eigenverantwortlichen Weise
eines ‚Unternehmers’ zu verhalten (vgl. Krölls 1996, Weber 2000). Dieser Autonomiegewinn
gegenüber den - häufig als notwendiges aber hemmendes Element der fachlichen Praxis
empfundenen – bürokratischen Logiken der Organisationen, stellt sich jedoch zugleich als ein
Instrument neuer Formen der Steuerung dar30. Ihre Autonomie ist weniger als Element der
Fachlichkeit bzw. des fachlichen Widerstands gegen die Verwaltungsführung, sondern selbst als eine
sozialtechnisch zu erschließende Ressource konzipiert (vgl. Bröckling 2000: 142). Das Versprechen
von mehr ‚Autonomie’ hat dann das schlichte Funktionalitätsargument auf seiner Seite, wenn es
gelungen ist, sie auf die Verinnerlichung der Marktmechanismen zu verengen, und damit selbst zu
einem manageriell exploitierbaren Rationalisierungsinstrument werden zu lassen.
Damit ist es kein Widerspruch, sondern ein Kern der manageriellen Rationalität der Neuen
Steuerungsmodelle, eine Stärkung der Autonomie und Gestaltungsmacht dort zu etablieren, wo es aus
der Managementperspektive möglich ist und diesen zugleich dort, wo es ‚nötig’ erscheint, einen
Planungs-, Steuerungs-, und Kontrollfetischismus entgegenzustellen, der Züge annimmt, die in ihrer
Rigidität an die Blütezeiten einer tayloristischen Arbeitsorganisation erinnern (vgl. Pollit 1990, Simon
1996 siehe auch Bourdieu 2001a). Tendenzen einer ‚Taylorisierung’ der Sozialadministration bzw. der
‚Industrialisierung Sozialer Arbeit’ (vgl. Fabricant/Burghardt 1992) werden durch eine – im Versuch
partikulare Nachfrage- und Angebotsstrukturen wie -inhalte in ein je flexibles Passungsverhältnis zu
bringen, begründete - Spezialisierung auf möglichst kleine Aufgabenabschnitte und Tätigkeiten
verstärkt, die eine quantitative Steigerung der Tätigkeitseinheiten sicherstellen sollen (vgl.
Schaarschuch 2000). Die Wirkungen einer quasi-tayloristisierten Arbeitsorganisation bestehen,
entgegen
den
‚Enthierarchisierungsversprechen’,
vor
allem
darin,
die
Führungs-
und
Managementebenen der Organisationen - die die Primärprozesse die Arbeitsebene nicht einmal allzu
genau
zu
kennen
brauchen
(vgl.
Lenk
2000)
-
aufzurüsten,
während
für
die
unteren
Wie weit dieser Autonomiegewinn faktisch wird ist durchaus fraglich. Treffend weist Dedrichs (2000: 17) in Anlehnung an
die Habitus-Feld-Theorie Bourdieus darauf hin, dass „[f]lexible Arbeitsrollen […] die Aushandlung von
berufsrollenspezifischen Fähigkeiten und Tätigkeiten [erzwingen]. Diese Flexibilisierung erzeugt aber nicht größere
Handlungsspielräume, sondern das Gegenteil: Als Persönlichkeit verklärt, entscheidet nun der Habitus über Erfolg oder
Misserfolg, denn eindeutige Normen und deren Befolgung sind für Leistung nicht mehr ausschlaggebend. Sowohl die direkte
als auch die indirekte Kommunikation über Arbeitsinhalte und –ziele sind dann nicht mehr ausschließlich über das
organisationsinterne Protokoll vermittelbar. Die notwendigen Aushandlungen sind hochgradig habitusspezifisch: zwar sind
sie durch schlanke Hierarchien gekennzeichnet, die Illusion der Gleichberechtigung erzwingt aber geradezu Machtspiele im
informellen Bereich, wobei der ‚illusio’ eine entscheidende Rolle zufällt“.
30
184
Umsetzungsebenen eine Entwertung erfahren31. In Kombination mit zur Kompensation des Spardrucks
auf der Ebene des Personals wie der Leistung ausgeweiteten Prozessen der Standardisierung, bildet
diese Entwicklung den Kontext für eine Deprofessionalisierung bzw. einer Reduktion professioneller
Praxis auf eine bloße Durchführungsfunktion managerieller Vorgaben32 (vgl. Schaarschuch 2000,
Brodkin 2000, Harris/Kirk 2000, Fabricant/Burghardt 1992, Lundström 2000).
III. 4.3
DIE SUBJEKTIVIERUNG DER ADRESSATEN ALS KUNDEN UND ‚SELBSTUNTERNEHMER’
Im Kontext der faktischen Dominanz marktliberaler Positionen im Modernisierungsdiskurs der
kommunalen Verwaltungen hat sich eine Form der Orientierung an der ‚Nachfragerseite’ durchsetzen
können. Dabei werden zwar bürokratische Herrschaftsformen kritisiert, ein Ausbau demokratischer
Rechte und Standards gegenüber aber nicht gefordert. Stattdessen wird ein ‚konsumeristischer’ Ansatz
favorisiert, der vor allem die Ergebnisdimension der Leistungserbringung fokussiert.
„Entsprechend der Definition des Adressaten als Konsument bzw. Kunden öffentlicher Dienstleistungen rekurriert
der konsumeristische Qualitätsbegriff ausschließlich auf die Bedürfnisbefriedigung […] . Das Verhältnis zwischen
Bürger und Verwaltung erfährt hierdurch eine Entpolitisierung. Der zunächst von den Bürgern geforderten stärkeren
Berücksichtigung der Adressateninteressen (‚citizenship’) steht nun das von den Anbietern proklamierte Leitbild der
‚Konsumentensouveränität’ gegenüber“ (Piel 1996: 93 ff).
Um die Differenz zwischen den beiden idealtypischen Ansätzen zu verdeutlichen ist es wesentlich,
dass die Frage des Nutzerstatus in der Erbringung der Dienstleistung untrennbar mit der Frage des
gesellschaftlichen ‚Erbringungskontexts’ der Dienstleistung selbst verbunden ist (vgl. Gross 1993,
Schaarschuch
1998).
Der
‚Erbringungskontext’
bildet
den
Rahmen
in
dem
sich
die
Erbringungsverhältnisse sozialer Dienstleistungen konkretisieren. Im einem Erbringungskontext ‚Markt’
rematerialisiert sich der ehemals als ‚bedürftig’ bestimmte ‚Klient’ idealerweise als ein ‚Kunde’, der sich
unabhängig vom festgestellten Bedarf in ein angebotenes Produkt einkauft. Demgegenüber erfolgt in
dem - aufgrund des verfassungsmäßigen Sparsamkeitsgebots (vgl. Maas 1996) - idealtypisch
konkurrenzfreien Erbringungskontext ‚Staat’ die Distribution von Gebrauchswerten nach Maßgabe
politisch-administrativer Entscheidungen (vgl. Schaarschuch 1996a). Während im Erbringungskontext
‚Staat’ der Einzelne als Bürger – und damit als Teil des demokratischen Souveräns – einer ‚durch ihn’
demokratisch legitimierten Administration gegenübertritt, ist er im Erbringungskontext ‚Markt’ - in dem
die Leistungen als individuelles Gut bzw. als privat erbrachte Tauschwerte gefasst sind - ein
konsumierender Einzelner der gegenüber einem beliebigen Anbieter eines beliebigen Produkts in
Erscheinung tritt.
Dabei zeichnet sich ein dualer Arbeitsmarkt ab, der über einen manageriellen Kern und eine wenig gesicherte Peripherie
von Mitarbeitern verfügt „who are incrasingly reliant on short term contract funding“ (Stenson/Factor 1995: 174). Für eine
solche Entwicklung in der Bundesrepublik spricht der kontinuierlich steigenden Anteil Teilzeitbeschäftigter (vgl. KomDat
2001) ebenso, wie das sinkenden „Interesse an den ‚schmutzigen’ Arbeitsfeldern […und die starke] Nachfrage nach Stellen
in der ‚ordentlichen’ Sozialadministration“ (Scherr 2000: 182).
32 Ob gerade in diesem Kontext organisatorische oder fachliche Innovationspotentiale ‚besser’ als zuvor vorgebracht werden
können ist fraglich. So hat etwa der Organisationssoziologe Raimund Hasse (2003) nachgezeichnet, dass das
Zusammenspiel von Organisation und Wettbewerb weniger genuine Innovationsfähigkeit sondern vor allem Prozesse der
Diffusion und damit der Nachahmung und Übernahme begünstigt.
31
185
Ebenso idealtypisch können den beiden Erbringungskontexten zwei unterschiedliche Möglichkeiten der
Einflussnahme der Nutzer auf das Erbringungsverhältnis sozialer Dienstleistungen zugeordnet werden
(vgl. Hirschmann 1974): Während ein Einfluss des Nutzers auf die Erbringung von Dienstleistungen in
einem angebotsorientierten, auf den Kunden gerichteten, privatrechtlich organisierten Markt durch die
Möglichkeit der Abwanderung (‚exit’) impliziert ist, besteht die Möglichkeit des Einflusses im Rahmen
des idealtypisch auf die Bedürfnisse des Bürgers gerichteten, öffentlich-rechtlichen und weitgehend
konkurrenzlosen Referenzsystems Staat nicht in der Option des Abwanderns sondern in der politischen
Artikulation von Interessen (‚voice’) (vgl. Schaarschuch 1996a). Während im Erbringungskonzept
‚Staat’ eine Nutzerorientierung in einer umfassenden Demokratisierung des Erbringungsverhältnis
sozialer Dienstleistungen und damit mittelbar des öffentlichen Bereich gegenüber dem ‚Bürger’ liegt,
besteht die idealtypische Nutzerorientierung des Marktes in der Varianz der konsumeristischen Wahl
eines ‚Kunden’ und in der ‚Rechenschaft’ (‚accountability’) des Anbieters „comming to denote within
governmental discourse […] the resposiveness of [… quasi-commercial] providers to their paying
consumers“ (Loader/Sparks 2002: 88, vgl. Clarke 2001). Eine explizite Absicht der neuen
Steuerungsmodelle ist es ‚Qualitätsverbesserungen’ der öffentlichen Leistungen durch die Ausstattung
der Adressaten mit der Nachfragemacht eines ‚Kunden’ zu bewirken (vgl. Stöbe 1998). Diese
konsumeristische Nachfragemacht basiert auf einer Konkurrenz der Anbieter bzw. nicht alternativlosen
Angeboten, die für den ‚Kunden’ je zugänglich sind. Über die Frage des Raums an effektiver
Wahlfreiheit hinaus, besteht ein Problem dieses Konzepts darin, dass weder garantiert ist noch ex
ante voraussetzungslos davon ausgegangen werden kann, dass die erforderlichen Informationen aber
auch die notwendigen ‚Fähigkeiten’ (‚Capabilities’ vgl. Sen 2000) für eine ‚freie’ Auswahl unter den
Adressaten gleich verteilt und in vergleichbarer Weise zur Anwendung kommen (vgl. Becker 2000,
Greener 2002, Hope/Sparks 2000, Schaarschuch 1998, Schnurr 2001). Eine solche Ungleichverteilung
ist nicht nur Folge ‚persönlicher Präferenz’ (dazu umfassend: Bourdieu 1982), sondern erscheint
„nicht zuletzt als Folge jener Bedingungen, die dazu geführt haben, dass […die Adressaten] solcher Dienste
überhaupt bedürfen. Auf einer sehr grundsätzlichen Ebene ist choice als Instrument zur Beeinflussung der
Leistungserbringung irrelevant für jene, die ihrer eigenen Wahrnehmung gemäß bestenfalls gegen ihren Willen oder
gezwungenermaßen zu Leistungsempfängern wurden oder sich schlimmstenfalls als beschädigte Überlebende
entmündigender und behindernder Dienste verstehen“ (Wistow/Barnes 1993: 185, nach Schnurr 2001: 1335)
Zwar spricht - gedankenexperimentell - per se wenig gegen die Möglichkeit, dass auch Anbieter im
Referenzsystem ‚Markt’ ihren ‚Kunden’ - jenseits der Option sich einen anderen Anbieter zu suchen bis zu einem gewissen Grad Möglichkeiten einräumen ihre Bedarfe und Interessen zu artikulieren und
ihre ‚Produkte’ ihrerseits entsprechend zu modifizieren, jedoch gibt es Hinweise darauf, dass eine auf
Ökonomie, Effizienz und Effektivität gerichtete, - d.h. marktförmige - Form der Leistungserbringung
sich vornehmlich um die klassische ökonomische Antwort auf Enttäuschung, die Exit-Option gestaltet
(wobei dort wo eine Exit-Option nicht möglich oder nicht attraktiv erscheint – und dies scheint für die
oligopolitistischen Quasi-Märkte sozialer Dienstleistung zumindest für die Nutzer weitgehend der Fall
zu sein - Nachteile und Lasten z.T. sogar langfristig hingenommen werden vgl. Müller-Jentsch 2003).
Während die ‚Voice-Option’ bei Hirschmans (1972: 30) „any attempt at all to change, rather than
escape from, an objectionable state of affairs, whether through individual or collective petition”
beschreibt und in so fern als eine zentrale Demarkationslinie für die demokratische Qualität der
186
Produktion ‚öffentlicher Güter’ verstanden werden kann, ist innerhalb eines Erbringungskontextes
‚Markt’ die ‚Exit-Option’ als Möglichkeit der Einflussnahme der Nutzer bzw. Kunden alleine deshalb
dominant, weil sie gegenüber ihrer Alternative - d.h. einer nicht nur begrenzt modifikativen, sondern
substanziell ‚partizipatorischen’ und effektiven Möglichkeit der Adressaten ‚Voice’ zu artikulieren (dazu:
Schaarschuch 1998, Schnurr 2001) - für die Leistungsanbieter gerade auf einem Markt in dem sich
die Kunden und die direkten Adressaten der Leistungen nicht entsprechen deutliche Vorteile
verspricht: So kostet das Einräumen einer ‚Voice-Option’ nicht nur Zeit und verlangt ein Mehr an
kommunikativen Ansprengungen, sondern hat aus der Perspektive des Erbringers den entscheidenden
Nachteil, dass die Leistungserbringung weniger planbar und steuerbar ist - und sich in so fern auf das
Maß ihrer ‚Accountability’ als ‚Provider’ gegenüber den in der Regel administrativen zahlenden
‚Purchaser’ auswirkt - und dass es sich vor allem auch das erzielen vergleichbarer instrumentellen
Effekte bezüglich vorab definierter Ziele als in einem exzessiven Maße kostspieliger erweißt, als dann
wenn lediglich eine Exit-Option bereit gestellt wird (vgl. Polikoff 1995).
Systemlogisch müsste sich demnach eine Einlösung des Versprechens einer Orientierung (d.h. der
Erhöhung der Möglichkeiten zur Einflussnahme) der Dienstleistungserbringung am Nutzer im
Referenzsystem ‚Staat’ in der Stützung der ‚Voice’-Option zeigen und würde damit auf eine
Demokratisierung des institutionellen und administrativen Erbringungskontextes und die systematische
Achtung und Stärkung des Bürgerstatus der Adressaten, im Sinne der Respektierung ziviler, politischer
und sozialer Freiheits- und Schutzrechte im Erbringungsverhältnis implizieren (vgl. Schaarschuch et al.
2001: 272). Demgegenüber kann eine Dienstleistungserbringung im Referenzsystem ‚Markt’ das
Versprechen der Kundenorientierung aufrechterhalten, und trotzdem – systematisch widerspruchsfrei
–
von
einem
demokratisierenden
und
Grundrechte
realisierenden
Projekt
absehen:
Eine
Einflussmöglichkeit bleibt durch die Abwanderungs-Option im Sinne einer konsumeristischen
Wahlmöglichkeit des ‚Kunden’ gewährleistet. Der Rekurs auf den ‚Markt’ als zentrales Referenzsystem
und den Kunden, als das ‚Subjekt’ dieses Systems, hat damit, wie John Clarke (2001: 3, 7) ausführt,
„challenged conceptions of the public interest, striving to replace them by the rule of private interests, aggregated by
markets […] It has insisted that the, monopoly providers’ of public services be replaced by efficient suppliers,
disciplined by the competitive realities of the market (or, in some of its neo-conservative combinations, by
philanthropy). It has disintegrated conceptions of the public as a collective identity, attempting to substitute
individualised and economised identities as […] consumers (Clarke 1997). […T]he idea of the consumer has added
new dimensions to the way the public interest is being represented. Above all, ,the consumer’ is held to mark a shift
from, passive recipient’ to, active choice maker’ in relation to services. This active consumer is the force that requires
modern public services to be adaptive, responsive, flexible and diverse rather than paternalist, monolithic and
operating on a model of, one size fits all’. The consumer thus forges a story about the past and future of public
services. […S]/he is an economic invention. Consumers know their own wants, can make rational choices and
expect producers to serve them. […C]onsumers are abstracted from other social roles and positions, including the
problematic and stressful conditions in which many public services may be used […And] consumers are both
universal and particular: the role of consuming is universalised (and naturalised), while the wants are particularised
(and individualised). Consumerism registers diversity (everyone has different wants) but does not recognise the
inequalities of social differentiation. Finally, consumerism constructs the public interest as a series of specific and
individualised encounters and interactions: each consumer consumes a particular bit of service. Collective
consumption of public services is invisible (as is the, enforced consumption’ of services)”.
Während die Orientierung an einem Bürgerstatus - dem Status des demokratisch legitimierten
souveränen Rechtssubjekts - auf ein entsprechend der praktischen Realisierungsbedingungen dieses
formalen Status zu gestaltendes, soziales Verhältnis verweist, impliziert die Kundenorientierung die
187
Fokussierung und Bearbeitung eines politisch kleingearbeiteten individuierten Falls, dem die isolierten
Logiken und (Spar)Zwänge der Institutionen gegenüber stehen. Würde die Figur des Kunden
tatsächlich ernst genommenen, wäre die Konsequenz soziale Leistungen weder als Teil einer
Einlösung kollektiv gewährter sozialer (Teilhabe)Rechte, noch in kompensatorischer Weise gegenüber
strukturellen Benachteiligungen von Klasse, Ethnie, Geschlecht oder Behinderung zu gewähren,
sondern als individuelle Dienstleistungen für individuelle Marktteilnehmer. Auch die Qualität und
Quantität der gewährten Dienstleistung ist dann nicht mehr als Konsequenz politisch zu
verantwortender Entscheidungen, sondern als Ergebnis der Regulation der ‚unsichtbaren Hand’ (vgl.
Smith 1776) des Marktes. Faktisch lässt sich von einem kaum überwindbaren Spannungsverhältnis
zwischen Leistungserbringungsrationalitäten auf der Basis privat-gewerblicher Prämissen und der
Anforderung an personenbezogene soziale Dienstleistungen in ihrer Produktion (immaterieller)
öffentlicher Güter dem – im Referenzsystem ‚Staat’ qua Rechtsstatus gesicherten – Anspruch und
Bedarf der Adressaten so umfassend gerecht zu werden, wie es sich in sozial- und rechtsstaatlicher
Hinsicht legitimieren lässt (dazu auch: Sclar 2000).
Das ökonomische Wettbewerbsprinzip im Bereich sozialer Leistungen formuliert nicht nur Klienten in
Kunden um sondern unterwirft auch die Professionellen einer marktwirtschaftlichen Disziplin (vgl.
O’Malley 2001) Nancy Fraser (2003: 254 f) spricht von einem
„System der ‚entstaatlichten Governmentalität’ [… in dem] eine substantielle Wohlfahrtspolitik durch formale
Technologien ökonomischer Verantwortlichkeit ersetzt [wird]; Rechnungsprüfer anstelle von öffentlichen
Angestellten fungieren als oberste Repräsentanten der Disziplinierung [,…] Marktmechanismen, die an die Stelle der
fordistischen Techniken ‚sozialer Kontrolle’ treten, organisieren weite Bereiche des menschlichen Lebens […]. Eine
neue, postfordistische Form der Subjektivierung ist die folge. Das neue Subjekt der Governementalität gleicht weder
dem viktorianischen Subjekt individualisierender Normalisierung noch dem fordistischen Subjekt kollektiver
Wohlfahrt; es ist ein aktiver und verantwortlicher Akteur. Als Subjekt, das die freie Wahl (zwischen den Angeboten
des Marktes) hat, und als Konsument von Dienstleistungen ist dieses Individuum dazu verpflichtet, seine
Lebensqualität durch eigene Entscheidungen zu verbessern. Bei dieser neuen ‚Selbstsorge’ ist jeder Experte in
eigener Sache dafür verantwortlich, sein eigenes Humankapital mit maximalem Gewinn zu verwalten“.
Das Prinzip der kollektiven Wohlfahrt des fordistischen Sozialstaat verschiebt sich in so fern zu einer
Stärkung des Prinzips der Selbstsorge unter den sozialpolitischen Vorzeichen, dass staatliche
Wohlfahrt für den individuellen Akteur an seine Selbstsorge und Selbstfürsorge gekoppelt wird.
Optimistisch formuliert wird auch den Adressaten der Jugendhilfe das explizite oder implizite Angebot
gemacht „sich aktiv [auch] an der Lösung [… jener] Angelegenheiten und Problemen zu beteiligen“ für
die „spezialisierte und autorisierte Staatsapparat[e]“ bisher weitgehende alleinige, professionelle
Zuständigkeit für sich reklamierten. „Der ‚Preis’ für diese Beteiligung ist, dass sie selbst die
Verantwortung für diese Aktivitäten – und für ihr Scheitern – übernehmen müssen“ (Lemke 1997:
254). Die soziale Verpflichtung des Staates wird demnach in einem stärkeren Maße als bisher mit einer
individuellen Selbstverpflichtung des je einzelnen Adressaten verknüpft, wenn nicht in diese überführt.
In so fern wird auch ein (politischer) Bezug der Jugendhilfe auf ‚das Soziale’ relativiert, da das
„legitimationsbedürftige Entscheidungsproblem, welcher ‚KonsumentInnen’-Gruppe ‚personenbezogene
DienstleistungsproduzentInnen’ am ehesten ihre ‚Dienstleistungen’ zugute kommen lassen und welche Gruppen
tendenziell […] ausgeschlossen werden, […] im Verweis auf die angeblich geltenden ‚Marktmechanismen’ eine
Verschleierung [erfährt]. Unabhängig von den vorhandenen Ressourcen und Fähigkeiten kann, den nicht zum Zuge
gekommenen Gruppen die Verantwortung dafür, dass sie die ‚Dienstleistungen’ nicht ‚nachgefragt’ hätten, nun selbst
zugeschoben werden.“ (May 1994: 68).
188
Eine solche Form der Verantwortlichmachung der nachfragenden - bzw. der nicht oder nicht adäquat
nachfragenden
-
‚Subjekte’
im
Kontext
einer
privatrechtlich-fiskalischen
Regelung
der
Erbringungsprozesse personenbezogener sozialer Dienstleistung impliziert eine Dethematisierung der
strukturellen Bedingungen einer „realen Sicherung des Zugangs zu den Angeboten sozialer
Dienstleistungen für die einzelnen von sozialer Ungleichheit betroffenen Akteure“. Einer Marktlogik
entspricht demgegenüber die implizite Annahme jeder Akteur „sei berechtigt und es sei ihm möglich
am ‚Markt sozialer Dienstleistungen’ teilzunehmen“ (Kessl/Otto 2001). Damit verschiebt sich die
Repräsentation des Adressaten von einem von den Experten abhängigen und als ‚bedürftig’
identifizierten ‚Klienten’ der Jugendhilfeleistungen zu einem ‚Konsumenten’ bzw. ‚Kunden’, der sich
rational und selbstverantwortlich für oder gegen bestimmte angebotene Leistungen entscheiden darf,
aber sich auch zu entscheiden hat. Damit ist der Nutzer ex ante als ‚mündig’ unterstellt (kritisch:
Brumlik 1992) - und in einem gewissen Sinne werden die Resultate Soziale Arbeit zu einer
Voraussetzung ihres Tätigwerdens verkehrt - während sich die Jugendhilfe selbst auf dieser Basis
verstärkt ‚nutzerorientiert’ bzw. ‚kundenorientiert’ gestalten kann.
Unabhängig von der Feststellung, dass sich eine solche zunächst ‚ent-paternalisierende’ Umgestaltung
der personenbezogenen sozialen Dienste (vgl. Langan 1998) mit den Interessen einer Vielzahl der
bisher als abhängige ‚Klienten’ repräsentierten Akteure decken kann, hat die hierin immanent
unterstellte Form der ‚Mündigkeit’ wenig mit jener bürgerlich-politischen Mündigkeit der Aufklärung zu
tun, die etwa Immanuel Kant als Telos aller erzieherischen Tätigkeit setzt. Sie ist vielmehr die
Mündigkeit des ökonomischen Bürgers, die weniger auf seine politische Souveränität, sondern auf
‚Kundensouveränität’ bei der Leistungsauswahl verweist (dazu Anderson 2003). Die neue ‚Mündigkeit’
und ‚Souveränität’ des Adressaten als Kunde bedeutet auch eine weitreichende Rückführung der
positionalen und dispositionalen ‚sozialen Risiken’ in seine private ‚Verantwortlichkeit’, seine
‚Verantwortungsbereitschaft’ und seine Kapazitäten die ‚richtigen’ Entscheidungen zu treffen: es geht
um eine Form der „reflexivity that accepts the existing rules of the game and attempts to make the
best of them […] rather than attempting to challenge the rules themselves […] something that is
clearly not to be encouraged“ (Greener 2002: 699).
Die Metapher der Mündigkeit bleibt dabei zwar in einem gewissen Sinne ‚emanzipatorisch’ ist aber
zugleich eine euphemistische Umschreibung für eine instrumentelle ‚ökonomische’ Rationalität: „Sie
verwandelt den vermeintlichen Sparzwang in ein [... Hilfsleistungsa]ngebot und Kürzungen in
Wahlfreiheit und Selbstbestimmung“ (Schmidt-Semisch 2002: 79). Der Preis für eine weitreichende
Beteiligung des Adressaten als Kunde in einer Jugendhilfe als ‚ökonomisierte’ Dienstleistung ist es,
dass die Adressaten sowohl die Verantwortung für die Herstellung und Wiederherstellung ihrer
Lebensführungs- und Lebensbewältigungskompetenzen als für ein diesbezügliches Scheitern zu
übernehmen haben.
Ein empirisch zentrales Problem der ‚Freiwilligkeit’ der Teilnahme auf dem Dienstleistungsmarkt
besteht darin, dass gerade marginalisierte und tendenziell ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen oft
ausgesprochen
negative
Wahrnehmungen,
Beurteilungen
und
Erwartungshaltung
gegenüber
Institutionen haben (vgl. Chassé 2001, Münder et al. 1998), die analytisch im Sinne eines symbolisch
189
negativ bewerteten, ‚verknüpfenden’ Sozialkapitals zu Institutionen fassbar sind (vgl. Woolcock 2000).
Eine Unverfügbarkeit von positiven ‚Verknüpfungskapital’ im Erbringungsverhältnis personenbezogener
sozialer Dienstleistungen kann sich nicht nur auf Seiten der Professionellen bzw. (Vertreter der)
Institutionen,
etwa
im
Sinne
wenig
‚responsiver’
Angebote
bis
hin
zu
stigmatisierenden
Expertenhandeln manifestieren, sondern vor allem auch auf Seiten potentieller Nutzer dazu führen,
dass bestimmte Akteure oder ganze Gruppen von Akteuren die Hilfe, der sie bedürfen nicht
nachfragen können oder wollen. Dies wird in dem Maße verstärkt, wie die Hilfeleistungen eben nicht
‚bedingungslos’ erfolgt, sondern die Nutzer selbst den Nachweis ihres legitimen Anspruchs zu
erbringen haben (vgl. Kunstreich 1998, Rothstein/Stolle 2003) und gleichzeitig auch im Prozess der
Leistungserbringung dazu aufgefordert werden ‚von sich aus’ das ‚ihre’ zu leisten (vgl. Burkitt/Ashton
1996). Ceteris paribus kann somit eben nicht davon ausgegangen werden, dass potentiell
entmündigende
Effekte
institutioneller
Interventionslogiken
durch
eine
solche
Form
der
Entbürokratisierung per se außer Kraft gesetzt wären. Sie findet sich nun allerdings auf einer anderen
Ebene:
Der
Gefahr
eines
paternalistischen
Zugriffs
tritt
die
Gefahr
der
administrativen
Nichtbearbeitung von Mängellagen an die Seite und das bedeutet noch mehr Entmündigung (vgl.
Brumlik 1992: 249, Honneth 2002). Diese Gefahr der faktischen ‚Entmündigung durch Autonomie’
findet ihrer Basis in einer Veränderung der gesellschaftlichen und institutionellen Repräsentation (vgl.
Melossi 2000) der Nutzer von sozialen (Dienst)Leistungen. Deren rationales Wahlhandeln (vgl. Rose
1989) rückt unter Absehung des gesellschaftlichen, bzw. des positionalen und dispositionalen
Hintergrunds der Bedingungen des substanziellen Gebrauchs ihrer potentiellen Möglichkeit den
Vordergrund (kritisch: Bourdieu/Wacquant 1996, Smelser/Swedburg 1994). In einer solchen Fassung
des Einzelnen als ‚Unternehmer seiner selbst’ bzw. ‚Planungsbüro in eigener Sache’ wird das aus der
‚Zwangskollektivierung’ einer ‚administrativen Solidarität’ in seine individuelle Verantwortung auf dem
Referenzsystem ‚Markt’ entlassene ‚Subjekt’ selbst zur entscheidenden Maßeinheit. Während die
Leistungserbringungen einen Status erhalten, der dem Individuum geschuldet ist werden diese
zugleich zu einer Verstärkung ihrer Eigenleistungen aufgefordert (vgl. Donzelot 1994): Ein
‚angemessener’ „Wille zur Selbsthilfe [wird] als Anspruchsvoraussetzung normiert und Verstöße
dagegen mit Nichtbewilligung von Leistungen oder Leistungsentzug“ sanktioniert (Krölls 2000: 77),
wobei die in diesem Kontext von der Sozialen Arbeit ‚angebotene’ „Hilfe zur Selbsthilfe“, weniger denn
je als eine „Ermöglichung kollektiver Selbstbestimmung über das eigene gemeinsame Lebensschicksal
[…verstanden wird], sondern als Hilfe zur individuell-selbstständigen Reproduktion durch Teilnahme
an Arbeits- und Warenmärkten“ (Müller et al. 1983: 148). Dabei ist es gerade die Kundenorientierung,
die „in marktwirtschaftlich modernisierter Terminologie die oberste Sozialstaatsmaxime der Hilfe zur
Selbsthilfe
in
Anschlag
bringt“
(Krölls
2000:
77)
und
das
Maß
der
je
eignen
Lebensführungsverantwortung zum entscheidenden Kriterium der Trennung von förderungswürdigen
und förderungsunwürdigen Fällen macht. In diesem Sinne ist es die aktive und - im Sinne der
leistungserbringenden Institution - ‚konstruktive’ Mitwirkungspflicht sowie die Signalisierung von
(Mit)Arbeitsbereitschaft,
die
die
Trennlinie
zu
den
‚unmündigen“
und
‚passiven’
Sozialleistungskonsumenten darstellt. Letztgenannte, die nicht fähig oder Willens sind, ihre neuen
190
Formen einer individualisierten Bringschuld zu realisieren, dürfen nicht damit rechnen, in den Genuss
der neuen Freiheiten einer marktförmig erbrachten Form der Dienstleistung zu kommen. Sie befinden
sich auf der anderen Seite jener neuen Logik, die Loïc Wacquant (2001) als ‚liberal-paternalistisch’
rekonstruiert, und die Mitchell Dean (2002) als die autoritären Maßnahmen des Marktliberalismus
analysiert.
Anstatt die Nutzer gegenüber ihren strukturellen Teilhabebeschränkungen zu fördern, „wird die
‚Lebensgestaltungsverantwortung’ an die einzelnen (individuellen und kollektiven) Subjekte überführt“
und von der Aufforderung begleitet „ein rationales Eigenverständnis als ‚Selbstversorgersubjekt’ […]
zu entwickeln“ (Kessl/Otto 2001: 7). In der damit induzierten Veränderung der sozialen
Repräsentation des Adressaten vom ‚abhängigen Klient’ zum ‚mündigen Kunden’ wird dieser
„nicht langer länger als ein soziales Geschöpf verstanden, das die Befriedigung seines oder ihres Bedürfnisses nach
Sicherheit, Solidarität und Wohlfahrt sucht, sondern als Individuum, das aktiv sein oder ihr Leben zu verwalten sucht
um seine Erträge hinsichtlich Leistung und Erfolg zu maximieren“ (Miller/Rose 1994: 100).
III. 4. 4
KONTUREN EINER NEUEN HERRSCHAFTSRATIONALITÄT EINER ‚ADMINISTRATIVEN JUGENDHILFE’
Als das zentrale Moment einer faktisch vollzogenen Umorientierung, weg von einem ersten,
fachlichen, primär auf eine Verbessung des Nutzerstatus bzw. eine demokratische Verwirklichung des
sozialen Bürgerstatus zielenden Dienstleistungsdiskurs hin zu einer Fokussierung des ökonomischen
Bürgers als Kunden kann die Verschiebung „from provision through public services to provision
through governmentally contrived markets in such services“ (Dean 2002: 47) betrachtet werden.
Nichtsdestoweniger formuliert auch eine marktorientierte Fassung von ‚Leistungsangeboten’ auf der
Ebene der Repräsentation der Akteure als ‚Unternehmer ihrer Selbst’, ‚Planungsbüros in eigener
Sache’, ‚mündige Kunde’ etc. ein empanzipatorisches Versprechen an die Nutzer personenbezogener
sozialer Dienstleistungen. An die Stelle des Verweises auf einen, pointiert formuliert, defizitären
Sozialcharakters, den es durch normierende Normalisierung erst ‚nützlich zu machen’ gilt, rückt ein
Akteur, dessen Status als ‚autonomes Subjekt’ ex ante betont wird und der sich als solches aus den
Bevormundungen, Zumutungen und paternalistischen Gängeleien der bürokratischen Herrschaft eines
scheinbar allgegenwärtigen, anmaßenden und zudringlichen ‚sorgenden Staates’ befreien kann. Mit
dem Rekurs auf ‚Autonomie’ und ‚Subjektivität’ wird der selbe ‚point de résistance’ vorgeschlagen, den
aufgeklärte und kritische Vertreter der Disziplin (vgl. Scherr 1997, Sünker 1989, 2000, Winkler 1998),
als Grundlage für eine reflexive, den spätkapitalistischen Funktionsanforderungen wie staatlichen
Zurichtungspotentialen kritisch begegnende Jugendhilfe, zur Geltung bringen.
Allerdings bleibt die Freiheit und Autonomie des ‚Marktsubjekts’ – für die Nutzer der Jugendhilfe
faktisch ohnehin eher eine symbolische Repräsentation in einem assoziativen Leitbild als ein realer
Status - auf die freie Ausübung einer persönlichen Wahl aus den verfügbaren mehr oder – mit Blick
auf die ‚reale’ Vielfalt zugänglicher Angebote personenbezogener sozialer Dienstleistungen in der
Bundesrepublik eher - weniger vielfältigen Marktoptionen beschränkt (vgl. Rose 1989). Darüber ist die
Ungestaltung der Erbringungslogiken sozialer Dienstleistungen nach ökonomischen Mustern in keiner
Weise mit einem wie auch immer auf die Überwindung gesellschaftlicher oder im engeren Sinne
191
staatlich induzierter Zwangslagen gerichteten ‚Befreiungsprojekt’ verknüpft. Die beförderte ‚Freiheit’
des Kunden bezeichnet eine ‚Freiheit’, die sich nicht gegen staatliche ‚Herrschaftsformen’ verteidigen
muss und die ihrerseits auch nicht gegen diese gerichtet ist. Aus einer ‚Herrschaftsperspektive’ ist sie
eine ‚produktive’ und nach den Prämissen von ‚Effektivität’ und ‚Effektivität’ ‚nützliche’ und
verwertbare Freiheit. Sie lässt sich selbst als ein Teil einer von den fordistischen Regelmäßigkeiten des
Sozialen deutlich unterscheidbaren Steuerungs- und Regulationsrationalität betrachten, in der gerade
die ‚freie Selbstbestimmung’ im Sinne einer selbstverantwortlichen ‚Lebensführungsrationalität’ (vgl.
Hesse 1994) ‚rationaler’ Akteure als vermittelndes Medium zur Herrschaft implementiert wird. Ein in
dieser Form als ‚autonom’ repräsentierter, konstituierter und aktualisierter Akteur, ist wie Voss und
Pongaratz (1998: 149 ff) ausführen, dazu gehalten, sich selbst wie ein „herrschaftsausübender
Unternehmer“
zu
verhalten.
Das
herrschaftliche
Moment
besteht
in
dem
Versuch
einer
„systematische[n] Nutzung und Zurichtung der menschlichen Fähigkeit, sich eigenverantwortlich zu
steuern“. Herrschaftsfunktional betrachtet verspricht dies, bis zu einem gewissen Grad, eine
Alternative zu dem schwierig legitimierbaren, oft kaum effizienten und bisweilen auch ineffektiven
Projekt darzustellen, Handeln durch direkte und indirekte Kontrollinterventionen zu formen. Diese
Form der Herrschaftsausübung basiert weniger auf Moralisierung, Normalisierung, Disziplinierung oder
einer Anwendungen zwangsbasierter Maßnahmen, auch wenn diese für bestimmte Gruppen oder als
nachgeordnete Strategien gleichwohl bestehen bleiben. Im Mittelpunkt steht vielmehr eine eher durch
die Arrangements der Kontexte und Gelegenheitsstrukturen aber auch eine - im Zweifel durch die
individualisierte Bearbeitung des einzelnen Akteurs erfolgende - Implementation eines entsprechenden
durch die handelnden Akteure inkorporierten Habitus. Dieser basiert im Wesentlichen auf zwei ‚freien’
und gleichzeitig (selbst)zwingenden Einsichten: Zum ersten in der Einsicht der Notwendigkeit einer
vorsichtigen und eigenverantwortlichen Selbstsorge. Zum zweiten und vor allem der Einsicht in das,
‚was vernünftig ist’ (vgl. Bourdieu 1985), worin eine ‚angemessene’, - d.h. eine rationale, durch die
Sorge um sich selbst, das eigene Begehren ebenso wie die Optimierung eigene Zukunft angeleitete
und in diesem Sinne moralisch wie instrumentell richtige - Lebensweise bestehen soll (vgl. Krasmann
1999, zur Verbreitung dieses Habitus vgl. Shell-Jugendstudie 2002). Der ‚gute Bürger’ ist dabei
weniger das ‚disziplinierte’, gemäß verallgemeinerter Standards ‚normalisierte’ und ‚assimilierte’
Individuum, sondern vor allem der selbstverantwortliche und ebenso vorsichtig wie rational
kalkulierende Akteur. Dass damit aber eine pauschale Zurückdrängung staatlicher Macht zugunsten
personaler Autonomie im Sinne einer gesteigerten ‚Realfreiheit’ (vgl. van Parijs 1995) impliziert ist,
lässt sich durchaus bestreiten.
Sofern der nach marktförmigen Mustern verlaufende Umgestaltungsprozess sozialer Dienstleistungen
eine zunehmende Verlagerung der Rahmenbedingungen des Erbringungskontextes von einer
öffentlichen Allokation der Leistungen in einem öffentlich-rechtlichen Erbringungskontext zu deren
öffentlichen und privatwirtschaftlichen Erbringung in einem fiskalisch-privatrechtlichen Rahmen
impliziert, ist damit zunächst lediglich beschrieben, dass die direkten Leistungserbringungen
zunehmend ‚jenseits des Staates’ erfolgen. Das bedeutet aber weder analytisch-systematisch, noch
konzeptionell, noch empirisch, dass Form und Inhalt der erbrachten Leistungen damit einem
192
staatlichen Einfluss und Zugriff entzogen sind (vgl. Nogala 1995). Entscheidend ist das Verhältnis des
Staates zu den Organisationen des Erbringeroligopols auf dem Quasi-Markt sozialer Dienstleistungen.
Diese stehen weniger in einem Widerspruchs- als in einem (funktionalen) Komplementaritätsverhältnis
zum dem sie ‚umstrickenden’ Staat, der sich selbst wiederum immer weniger als direkter und
umfassender Durchführer und Versorger von Leistungen und Aufgaben sondern zunehmend als
‚verhandelnder’ ‚unterstützender’, ‚aktivierender’ oder ‚Kernaufgabenstaat’ verstanden wissen will (vgl.
Lindenberg 2000c, Evers/Leggewie 1999).
Die beschriebenen Verantwortungsverschiebungen sind demnach nicht ex ante als staatlicher
Herrschaftsverlust, sondern vor allem als eine Veränderung seiner politischen Steuerungsrationalität
zu fassen. Dabei führt eine politische Strategie der responsibilisierenden ‚Privatisierung’ in der Regel
nicht dazu, dass sich die (einst) staatlichen Verantwortlichkeiten und die darin angelegten
Herrschaftsstrukturen
„überkommenen
einfach
rigiden
auflösen.
Im
Sinne
von
Regelungsmechanismen
Techniken,
durch
die
die
darauf
zielen
Entwicklung
die
von
Selbstregulationsmechanismen“ zu ersetzen (Lemke 1997: 256), tendieren sie eher dazu, den
staatlichen Handlungsspielraum und Einflussradius in die gesellschaftlichen Mirkostrukturen hinein
auszudehnen und auch gegenüber nicht-staatlichen Akteure zu erweitern (vgl. Garland 1996: 454,
Crawford 1999): Der Zentralstaates entledigt sich zwar seiner „Verantwortung, nicht jedoch seiner
grundsätzlichen Lenkungskompetenz und -kapazität“ (Legnaro 1998: 277)
Wenn ‚Privatisierung’ eine Absonderung von staatlichen Einflusssphären meint (vgl. Nogala 1995), gibt
es im Prozess der Ökonomisierung - bzw. Kommodifizierung - personenbezogener sozialer Dienste
nicht sonderlich viel ‚Privates’. Mit gleichem Recht lässt sich auch von einer verschleierten
‚Durchstaatlichung’ sprechen (vgl. Hirsch 2002), die sich insbesondere in Form eines kontrakuellen
(Neo-)Korporatismus zwischen den (staatlichen) Leistungsgewährleistern und den unterschiedlichen
leistungserbringenden Institutionen zeitigt. Dabei findet eine Verknüpfung interventionistischer
Aspekte
staatlicher
Rationalitäten
mit
den
Interessen
und
dem
Kalkül
der
nach
betriebswirtschaftlichen Parametern umorganisierten Erbringer sozialer Dienstleistungen statt.
‚Privatisierung’ und ‚Ökonomisierung’ der Jugendhilfe entspricht somit nicht einem unilinearen Prozess
der Rücknahme öffentlicher bzw. staatlicher Regulierungsansprüche, sondern verweist auf eine
dynamische
Verflechtung
und
Verwischung
der
Grenzen
von
öffentlichen
und
privaten
Regulationssphären (vgl. Stehr 2000). Die sich dabei ergebende Herrschaftsstrategie gegenüber dem
Nutzer lässt sich als Teil einer Überführung (national- und lokal)staatlich verantworteter ‚Government’
Strategien in Strategien der ‚Governace’ beschreiben (vgl. Brandt et al. 2000, OECD 2001a, Kooiman
1993, Rhodes 1997). Während der Begriff ‚Government’ – im engeren Sinne der Politikwissenschaft auf den Modus einer Ausübung einer idealtypisch singulären, öffentlichen, kollektiv autorisierten,
politischen Macht bzw. (hierarchischer) gesellschaftlicher Kontrolle verweist, und damit, wie es Mary
Daly (2003: 114) formuliert, einen tatsächlichen oder vermeintlichen „main agent of collective power
in society“ fokussiert, beschreibt ‚Governance’ eine stärker dezentralisierte Pluralität mehr oder
weniger rational kalkulierender Versuche Subjektivität zu formen, und eine zu dieser Subjektivität
analoge Form der Lebensführung lenkend zu beeinflussen, in denen den Apparaten des Staates nicht
193
mehr eine per se exklusive Stellung unterstellt wird33 (vgl. Newman 2001a, Rhodes 1997, Stenson
2001, siehe auch Mayntz 1992):
„People are subjected to government by the state’s array of technologies of government, in which welfare epitomises
and realises concerns about populations, their health and longevity, their education and a host of aspects of their
conduct. Governance is perpetual because it is about modulating conduct through inculcating a command structure
in the constitution of the individual and thereby ,normalising’ society and recreating social solidarity (Daly 2003: 117,
vgl. Douglas 1999).
Kontrolle und Autonomie verschieben sich im Arrangement der Goverancestrategien in einem
gewissen Sinne von binären zu komplementären Begriffen. Die Betonung der hierarchischen Stellung
des Kontrollierenden kann dabei aufgegeben werden, ohne dass damit notwendigerweise ein Verlust
der Kontrollkapazität verbunden sein muss (vgl. Kikert 1995). Dies wird schlicht dadurch möglich, dass
sich der Kontrollbezug von einer direkten Formung des Akteurs zu einer Regulation der
Kontextvariablen verschiebt, bzw. von einer Veränderung der ‚Spieler’ zur Betonung ihrer Autonomie
in veränderten ‚Spielregeln’34. Walter Kikert (1995: 149, vgl. Kickert/Klijn 1997) beschreibt nicht nur
die Möglichkeit, sondern den Zwang solchen Steuerungsformen, die sich vor dem Hintergrund der
Repräsentation des Nutzers als Kunden von direkten Anweisungen in die Distanz verlagern, wie folgt:
„Assuming that in a network of nearly autonomous actors no coercive steering can be exercised by any actor,
steering has to be non-coercive and has to take place by stimulation the various actors to display the collectively
desired behaviour of their free will. Central top-down control has to be replaced by a varied system of incentives,
which influence the actors and push them directly into particular desired direction. This is steering by ‚incentives’ or
behavioural stimuli of a non coercive nature.“
Diese Strategietransformation impliziert nicht in erster Line mehr oder weniger, sondern vor allem eine
veränderte Form politischer Herrschaft. In einem primär adaptiven Verhältnis zu nicht-öffentlichen
Akteuren zielt sie weniger auf deren direkte Regierung, als auf eine indirekte Regulierung ‚aus der
Distanz’ (vgl. Kikert 1995, Garland 2001, Rhodes 1998) durch die Akteure hindurch. Die
Selbststeuerungsfunktionen der Individuen und Organisationen werden solange gerade nicht
unterdrückt sondern unterstützt und hervorgebracht, wie es gelingt, sie in einer ‚richtig’ zu lenken und
zu kanalisieren, dass sie selbst einen synergetischen und produktiven Faktor für die ‚Governance’
Strategien darzustellen, der cetris paribus in ökonomischer wie ideologischer Hinsicht effektiver und
effizienter als eine ausschließlich direkt-staatliche Regulierung ist. Die darin angelegte partielle
„Governance, […], is seen to imply a network form of control, to refer primarily to a process and to have associated with it
diverse agents. The locale and exercise of power are central to governance. When applied empirically, governance is,
though, most often used to refer to the changing nature of government and the public sector and how each articulates the
distribution of power and control in society. It is especially attuned to a changing set of arrangements wherein there is a
possibility that the state may no longer occupy a privileged position” (Daly 2003: 115 f)
34 Die Repräsentation dieser ‚Spieler’ wird durch die Figur des ‚Selbstunternehmers’ ziemlich treffend beschrieben.
Dieser‚Selbstunternehmers’ ist sowohl eine programmatisch-politische Figur – als solche hat sie insbesondere in der Rede
von der ‚Ich-AG’ Einzug in den politischen Diskurs gehalten – als auch eine analytische Figur, die auf eine bestimmte Form
der ‚Regierungs-’ bzw. Herrschaftsrationalität aufmerksam macht. Als eine analytische Figur, hat sie sich insbesondere im
Kontext der an Foucault anschließenden ‚Governmentality-Studies’ als fruchtbares Konzept erwiesen. Sie findet sich aber
unabhängig von poststrukturalistischen Ansätzen auch explizit bei Max Weber. Weber spricht ebenfalls von Rationalitäten
der Lebensführen. Die ökonomische Lebensführungsrationalität – sowie die dazugehörigen ‚Herrschafts-’ bzw.
‚Gehorsamsmotive’ – reflektiert bei Weber weniger die politische Herrschaft „kraft Autorität“, sondern eine davon
unterschiedene ökonomische Herrschaft „kraft Interessenkonstellationen“ (Weber 1980: 542). Insofern die
Governmentalitätsstudien die Frage nach den Arrangements von Interessekonstellationen als Herrschaftsrationalitäten
rekonstruieren, könnte man sie in eine Weber’sche Tradition der Herrschaftsanalyse stellen, die im Kontext der Analysen
und Theorien der Sozialen Arbeit erstaunlicherweise sehr wenig verbreitet ist.
33
194
Verschiebung von administrativ-wohlfahrtsstaatlichen Logiken der Regierung ‚des Sozialen’ (vgl.
Donzelot 1994, Miller/Rose 1994) zu Lenkungsrationalitäten und -technologien ökonomischer und
selbstinteressierter, individueller Subjekts induziert eine Art Dreiteilung der (potenziellen) Adressaten
personenbezogener sozialer Dienste: Die Nicht-Nutzer, die sich ‚entschieden’ haben die freiwilligen
Angebote nicht (richtig) nachzufragen und folglich die Verantwortung dafür selbst zu tragen haben,
die Nutzer, die die ‚richtige Wahl’ in der Annahme der an sie gerichteten freiwilligen Angebote
getroffen haben und die sich ‚angemessen’ und ‚produktiv’ an ihrer Erbringung beteiligen und
schließlich die Nutzer, bei denen die ‚Freiwilligkeit’ ihre Grenzen hat.
Für die ‚berechtigten’, ‚klug kalkulierenden’ und sich ‚angemessen beteiligenden’ Nutzer bedeutet der
Abbau traditioneller ‚Governementstrukturen’ die Möglichkeit, sich statt in den kritisierten, potenziell
entmündigenden ‚top-down’ Formen der Wohlfahrtsbürokratie, verstärkt in einem partizipativen,
kooperativen
und
konsensualen
Erbringungsverhältnis
wiederzufinden.
Sofern
es
den
Dienstleistungserbringern gelingt, die Nutzer, in Kongruenz zu den performativ-messbaren Kriterien
der Organisation, zu einer selbstunternehmerischen und eigenverantwortlich selbstgesteuerten Form
der Lebensführung zu ermutigen, unterliegen die Nutzer kaum direkten oder gar ‚zwangsbasierten’
Formen der Kontrolle. Scheitert die Etablierung eines Arrangements der Selbstverantwortung und der
flexibel regulierten Autonomie kann jedoch auf ‚traditionelle’ und neue teilweise sehr rigide
Technologien zurückgegriffen werden. Relativierungen des ‚Freiwilligkeitsgrundsatzes’, ‚Behandeln
unter Zwang’ die Rückkehr zu geschlossenen Heimen etc. verweisen auf eine optional verfügbare
‚harte Hand des Managements’ und eine auch - und sogar durchaus verstärkt - in einem
fortgeschritten liberalen Erbringungskontexten bestehende Form der demonstrativen ‚Ausagierung’
staatlicher ‚Souveränität’ (vgl. Foucault 2000, Garland 2001).
Völlig unabhängig von der Intrusivität der Interventionen im einzelnen, löst das Kundenkonzept sein
emanzipatorisches Versprechen an die Nutzer alleine deswegen nicht bedingungslos ein, weil der
privatisierten
Verantwortlichkeitszuschreibung
für
das
Gelingen
oder
Scheitern
der
Leistungserbringungen an den Nutzer kein äquivalenter (Gestaltungs)Machtzuwachs gegenübersteht:
seine symbolische Repräsentation als ‚Kunde’ kann nicht mit dem realen Status der nachfragenden
Seite im marktförmigen Cash-Ware Nexus gleichgesetzt werden, da ein Mangel an „Zahlungsfähigkeit
und damit auch an jeder zahlungsfähigen Nachfrage“ (Schmidt-Grunert 1998: 18) regelmäßig selbst
eine Ursache des Bedarfs an staatlich vermittelter Hilfe darstellt (vgl. Müller 1994, Brumlik 1992).
Da der ‚Nutzer’ und der ‚Kostenträger’ der marktförmig erbrachten Dienstleistung Jugendhilfe (in der
Regel35) nicht identisch sind, bildet sich für die Dienstleistungserbringer in dem ‚Drei-Seiten-VertragsVerhältnis’ (vgl. Gilbert 2000) mit dem auftraggebenden Finanzierer und dem im direkten
Erbringungsverhältnis
(ko)produzierendem
Nutzer
eine
widersprüchliche
„Nachfrage-
und
Vergütungsstruktur […aus]: einerseits erscheint sie gegenüber den Dienstleistungs-NehmerInnen als
‚uneigennütziger’ Geber von Dienstleistungen, andererseits gegenüber den Kostenträgern als
‚eigennütziger’ Anbieter und Verkäufer derselben“ (Bauer 1996: 23).
35
Es gibt für die Nutzer kostenpflichtige Leistungen
195
Wenn sich die ‚Kundenorientierung’ aus einer Ableitung der regulativen Kraft des marktförmigen
Verhältnisses von Angebot und Nachfrage ergibt, so folgt daraus zwar eine systematische Beachtung
der nachfragenden Seite, diese muss sich jedoch nicht notwendigerweise auf den Status des
konsumierenden (Ko-)Produzenten in der Erbringungsrealisierung auswirken. Der marktförmigen
Fassung einer Dienstleistung ist aber eine Orientierung am nachfragenden Kunden, immanent, und
zwar sowohl analytisch-systematisch als auch bei Strafe ihres ökonomischen Untergangs (Marx).
Dieser nachfragende Kunde wird jedoch weniger durch den Leistungsadressaten als durch die
kostentragende Auftrageberseite repräsentiert. Weil der ökonomischen Parametern folgende ‚QuasiMarkt’ sozialer Dienste (vgl. Taylor-Gooby/Lawson 1993) als Kunden im analytisch engen Sinne
ausschließlich den kommunalen Kostenträger (vgl. Schaarschuch 1998: 105) kennt und seine
Kontrakte und Vereinbarungen mit diesem ‚Kunden’ schließt, wird die (Kontroll)Macht in der Hand der
Administration durch ein marktrationales ‚Kundenkonzept’ nicht herausgefordert. Der wesentliche
Unterschied besteht darin, dass die Administration als Geldgeber, die Leistungserbring vor allem
fiskalisch steuert. Wenn das Steuerungsmedium Recht nur durch das Medium Geld ersetzt wird, bleibt
die im fachlichen Dienstleitungsdiskurs als die wesentliche Kritik der Wohlfahrtsbürokratie zum
Anschlag gebrachte Dominanz institutioneller bzw. ‚systemischer’ Imperative gegenüber den von den
‚Subjekten’ artikulierten Interessen und Bedürfnissen in lediglich formveränderter Gestalt bestehen.
Zwar kann sich dabei eine ‚win-win’ Konstellation auf der ‚nachfragenden Seite’ im Sinne einer Art
‚Koalition’ von Adressaten und kostentragender Auftraggeberseite in den Fällen ergeben, in denen
eine Interessengleichheit von Kostenträger und Nutzer unterstellt werden kann36, im Falle
divergierender Interessen - und dabei insbesondere dann, wenn die Interessen des Staates „darauf
gerichtet sind die Inanspruchnahme sozialer Leistungen zu verhindern oder einzugrenzen“
(Trube/Wohlfahrt 2000: 3) - bleibt aber das „Interesse der persönlichen NutzerInnen an einer
optimalen Versorgung mit sozialen Dienstleistungen […] notwendigerweise auf der Strecke“ (Bauer
1996: 37).
Die leistungserbringenden Institutionen sind in diesem Kontext nicht nur aufgrund ihrer
‚Kundenorientierung’, sondern sofern sie einer Marktlogik folgen - die sich vor dem Hintergrund von
Budgetierungen als ökonomisches ‚Minimalmodell’ darstellt –, weil sie nicht ‚produktiv’ im engeren
Sinne - d.h. nicht direkt (mehr)wertschöpfend - sondern ‚revenuenverschlingend’ sind37, praxislogisch
dazu gehalten ihren ‚faux frais de production’ möglichst gering zu halten. Das bedeutet aus der
Perspektive der leistungserbringenden Institutionen ihre Leistungen und Aufwendungen nicht über das
mit dem Auftraggeber vereinbarte und bezahlte Minimum hinausgehen zu lassen. Während die Frage
des ‚effektiven’ Einsatzes der ihm zur Verfügung gestellten Mittel im Interesse des markförmig
Eine solche Allianz zwischen Staat und Nutzer, die sich formuliert als ‚Steigerung der Nachfragemacht’ ja gegenüber der
Jugendhilfe artikulieren würde, ist vom Selbstverständnis der Sozialen Arbeit – der Tendenz eher als Allianz der sozialen
Arbeit und ihrer Nutzer gegenüber staatlichen Zumutungen - so himmelweit entfernt, dass sich diese Möglichkeit im Diskurs
der Sozialen Arbeit faktisch nicht formuliert wird.
37 Personenbezogene soziale Dienstleistung können darüber hinaus in einem gewissen Sinne als bewusst nicht markförmige
Güter betrachtet werden, die den Charakter eines ‚Quasi-Kollektivgutes’ annehmen, sofern sie als Teil jener, wie Claus Offe
(1972: 54 f) formuliert, „Gesamtheit der für das Verwertungssystem unverzichtbaren, aber nicht-rentablen und auch durch
anderweitige gesellschaftliche Mechanismen (z.B. das Familiensystem) nicht zu erbringenden Güter und Leistungen“
betrachtet werden.
36
196
agierenden Dienstleistungserbringers liegt, ergibt sich für den Auftraggeber die „relative Qualität
sozialer Dienstleistungen […] aus der Tatsache ihrer kostengünstigen und wirtschaftlichen Erbringung“
(Bauer 1996: 30). Die Entwicklung der Sozialgesetzgebung, mit einer faktischen Gleichstellung der
traditionell privilegierten Wohlfahrtsverbände mit kommerziellen Anbietern (vgl. Merten/Olk 1999:
975) verschärft diese Tendenz - nicht weil einige Anbieter als ‚For-Profit Organisationen’ auftreten,
sondern weil unterschiedliche Organisationen als konkurrierende Akteure im Wettbewerb der
Wohlfahrtsproduktion auftreten. Sofern sich dabei eine freie Marktlogik durchsetzt, die nicht durch die
Herausbildung von Monopol- oder kooperierenden Oligopolstellen der leistungserbringenden
Organisationen ad absurdum geführt wird, bedeutet dies, dass jenes Angebot, das sich – gleich on
nun von profit- oder gemeinwohlorientierten Institutionen erbracht wird - beim ‚contracting out’ als
das kostengünstigste erweist, bzw. das aus der Perspektive der Kostenträger das beste PreisLeistungsverhältnis beinhaltet, den Zuschlag erhält. Damit sind die leistungserbringenden Institutionen
gezwungen scharf zu kalkulieren und eben keine ‚unbezahlten’ Zusatzleistungen, bzw. keine
Leistungen zu erbringen die qualitativ höher einzuschätzen sind, als dies vertraglich festgelegt ist.
Da es darüber hinaus im Erbringungskontext Markt für Anbieter, die privat-gewerblichen Rationalitäten
operieren rational wäre, ihre Angebote auf möglichst attraktive d.h. gewinnversprechende Aufgaben
bzw. Kunden auszurichten, bleiben weniger lukrative Aufgaben den öffentlichen Trägern überlassen
was eine „Spaltung des Wohlfahrtsstaates in Leistungssegmente unterschiedlicher Niveaus“ impliziert
(Butterwegge 1999: 110).
Wenn sich der Wert bzw. der ‚Output’ der erbrachten Leistungen der Jugendhilfe über den Markt bzw.
über Kosten-Nutzen-Analysen bestimmt (vgl. Sommerfeld/Koditek 1994), lässt sich dies aber nicht
durch eine forcierte Orientierung an den unter Umständen abweichenden Wünschen, Bedürfnissen
Erwartungen, etc. der Nutzer im direkten Erbringungsverhältnis sichern, sondern vielmehr durch eine
umfassende Standardisierung und eine Konzentration auf die Dimensionen der Steuerung
gewährleisten. Dies hat zur Folge, dass die Primärprozesse auf der Ebene Leistungserbringung der
Tendenz nach aus dem Blick geraten (vgl. Lenk 2000) und eine durch „autocratic managerial styles“
gekennzeichnete Form der Leistungsverwaltung befördert wird „with devolution of responsibility to
subordinates, while policy making and fiscal control remain tightly in the grip of senior managers”
(Stenson/Factor 1995: 174, vgl. Clarke et al. 1994).
Die Frage von ‚Effektivität’ ist das entscheidende Kriterium eines solchen ‚managerialistischen’
Führungsstils im Erbringungskontext ‚Markt’ (vgl. Harris 1998). Unter Managerialismus kann die
Umgestaltung innerorganisatorischer Strukturen und Handlungsabläufe auf der Basis folgender
Präsuppositionen verstanden werden:
„[-]
[-]
Handlungskoordinierung auf der Basis präziser Zielformulierungen und Aufgaben ist rationaler als
Handlungskoordinierung auf der Basis von Wissen, abstrakten Regeln (auch Ethiken) und
Aushandlungssystemen. […]
Ergebniskontrolle auf der Basis objektiver quantifizierbarer Parameter ist rationaler als Ergebniskontrolle
auf der Basis kommunikativer Abstimmungs- und Rückkopplungsprozesse“ (Otto/Schnurr 2000: 7).
Wenn Effektivität die Optimierung des messbaren Verhältnisses von Input und Output der
Leistungserbringung darstellt, so ist es erforderlich, beide Variablen vorab zu definieren. Dies gilt
insbesondere im Kontext einer an Output-Kriterien ausgerichteten, kontraktförmig geregelten
197
Beauftragung freier Träger zur Durchführung von Dienstleistungen durch den öffentlichen
‚Kostenträger’38. Outputs d.h. prozessuale Ergebnisse der Leistungserbringung bzw. Outcomes d.h.
aus dem Output resultierende Wirkungen, sollen dabei möglicht genau beschriebene Zielvariablen der
Interventionen der Jugendhilfe darstellen, auf deren Basis transparente und überprüfbare Standards
ausgewiesen und sichergestellt werden können (vgl. MFJFG-NRW 1999, Schumann et al. 1998).
Der ‚Input’ als Intervention der Jugendhilfe wäre demnach möglichst so zu gestalten, dass er am
effektivsten genau jene Zielvariable erreicht. Da der Nutzen Sozialer Arbeit in ihren Wirkungen
gesehen wird, gilt das Erreichen dieser Wirkungen als der zentrale Prüfstein der ‚Qualität’ von
Dienstleistungen überhaupt (vgl. Kaufmann 1977, Piel 1996). Dies gilt zwar für die Soziale Arbeit
zunächst allgemein und insbesondere auch mit Blick auf das Interesse der Adressaten am
‚Gebrauchswert’ der Leistung (vgl. Schaarschuch 1996, 1998, 1999) - als dem Beitrag zur Lösung bzw.
Bewältigung der in den jeweiligen Lebenskontexten der Adressaten virulenten positionaldispositionalen Problemlagen - bekommt jedoch im Kontext eines durch die markt- und
wettbewerbsorientierten Mechanismen der Neuen Steuerungsmodelle forcierten ‚Kontraktualismus’
(vgl. Clarke/Newman 1997) bzw. ‚Managerialismus’ (vgl. Harris 1996) eine andere, spezifische
Konnotation (vgl. Kessl 2001c, Kessl/Otto 2002, Otto/Schnurr 2000).
Die ‚Ergebnisqualität’ im Sinne des Erreichens kontraktuell vereinbarerer Wirkungen würde auf Seiten
der leistungserbringenden Organisation implizieren, dass neben der Frage der Kosten die im
wesentlichen technische Frage ‚what works?’ das entscheidende Kriterium für die Auswahl einer
Maßnahme darstellt. Die entscheidende Neuerung liegt nun nicht darin, dass sich Maßnahmen nicht
aus sich selbst heraus begründen, sondern sich ihr Sinn unbestrittenermaßen nur aus ihren Wirkungen
ergeben kann, sondern darin, dass sich diese Wirkungen im Kontext der manageriellen Prämissen des
Kontraktualismus auf das definierte, in aller Regel proximale, kurzfristig erreichbare, an technischzählbaren
Indikatoren
bemessene
Ziel
bezieht,
dessen
Bestimmung
-
da
generellen
Entscheidungsbefugnisse gerade auch im Kontext Neuer Steuerungsmodelle wie vor ‚top-down’
strukturiert sind - nahezu ausschließlich in der Verfügungsgewalt des administrativen Managements
liegt (dazu: Flösser 2000, Muetzelfeld 2000, van der Laan 2000).
Sozialpädagogische ‚Professionalität’ erschöpft sich dabei in der Fähigkeit der mechanischen
Umsetzung, der im ‚Idealfall’ durch Wirkungsforschung ermittelten Indikatoren und Parameter aus
dem statisch-statistischen Bereich des Messbaren. Sozialpädagogen, so lässt sich im Anschluss an
Stephen Ball sagen, werden nicht mehr ermutigt professionelle, politische, ethische etc.
„Begründungen für ihr Handeln in der Praxis zu entwickeln, sondern sollen messbare outputs
produzieren. Wichtig ist, what works, was funktioniert39“ (Ball 2002: 97),
38 Genau hierauf zielt die ‚Neue Steuerung’ im Kern, wenn sie mittels ‚Privatisierung’, verstärktem Wettbewerb ‚OutputSteuerung’ und einer korrespondierenden Form des ‚Qualitätsmanagements’ – ein Begriff der diskursiv an die Stelle von
Begriffen wie etwa ‚fachliche Standards’ oder ‚Handlungsmaxime’ gerückt ist (vgl. Merchel 2000) - darauf gerichtet ist, eine
effiziente und effektive Praxis der Jugendhilfe hervorbringen hervorzubringen. Dabei wird der „Nachweis von Qualität und
Wirksamkeit zu einer zentralen Frage bei der Aufrechterhaltung der ökonomischen Grundlagen von Einrichtungen der
Sozialen Arbeit [… und] zu einem Wettbewerbsfaktor zwischen Einrichtungen“ (Merchel 1999: 11).
39 Wenn sich die ‚Werte’ des (Quasi-)Marktes im Spannungsfeld von Wettbewerb und institutionellen Interessen bewegen, so
lautet der zentrale ‚ethische Wert’ des Managerialismus im wesentlichen ‚what works’ (vgl. Ball 2002).
198
Damit, und nicht etwa durch die Tatsache selbst, dass sich der Sinn sozialer Interventionen an ihren
Wirkungen bemisst, ist eine entscheidende Veränderung der Denk- und Handlungsrationalitäten in den
Prozessen der Erbringung sozialer Dienstleistungen durch die Jugendhilfe impliziert.
Im sozialen Liberalismus des keynesianischen Wohlfahrtsstaats sind die in ‚das Sozialen’
eingebundenen Programme und Strategien eng mit dem, wie es O’Malley (2001: 16) formuliert,
‚esoterischen Wissen’ der positiven Wissenschaften menschlicher Führung verknüpft. Die durch die
überlegene ‚Fachautorität’ der Professionellen begründeten Arrangements von Techniken und
Technologien der Führung verlieren im Kontext der skizzierten Veränderungsprozesse an Bedeutung:
„Advanced liberalism has transferred its allegiance instead to an array of calculative and more abstract technologies,
including budget disciplines, audit and accountancy. These require professionals and experts to translate their
esoteric knowledge into a language of costs and benefits that can be given an accounting value, and made,
transparent’ to scrutiny. In the form of marketisation, the authority of experts is determined not by their own
professional criteria, but by the play of the market” (O’Malley 2001: 16, dazu auch Sommerfeld/Haller 2003).
Eine zentrale Basis für die handlungslogische Implementation dieser Form der Output-Orientierung in
der Jugendhilfe - vor allem bei ‚Outsorcing’ Entscheidungen in den ‚make or buy decisions’ (vgl. Reitan
1998) – stellt die Trennung der leistungserbringenden und der leistungsfinanzierenden Seite, der
sogenannte ‚purchaser-provider split’ (vgl. Muetzelfeldt 1992) in der neu gesteuerten Jugendhilfe dar:
[„The purchaser-provider split] centralises decision making and control in the principal as purchaser of services, and
delegates or distributes implementation and responsibility to the agent as provider. This centralises strategic control
while decentralising tactical responsibility” (Muetzelfeldt 2001: 4, vgl. Clarke et al. 2000, Muetzelfeldt 1992).
Eine Kontrolle über die Höhe der Kosten, gelingt für die finanzierende Seite nicht nur dadurch, dass
idealtypisch nach Möglichkeit der preiswerteste und gleichzeitig nach vereinbarten Standards
effektivste und effizienteste Anbieter den Zuschlag erhält, sondern auch dadurch, dass der Prozess der
Ermittlung und Bestimmung des Bedarfs der Nutzer von der Versorgung mit bzw. der Erbringung von
Leistungen abgekoppelt wird (vgl. Ellis et al. 1999). Die Bestimmung des Bedarfs - und darauf
basierend der angemessenen Maßnahme - bleibt gemäß eines Marktmodells letztlich eine
Angelegenheit des ‚zahlenden Kunden’ (purchaser). Im dem auch in dieser Hinsicht am weitesten
fortgeschrittenen anglophonen Sprachraum, führte dies zu einer neuen Rollenbeschreibung der
durchführenden Ebene - Jordan und Jordan (2000) sprechen von einem ‚arm’s length service’ - die
durch die Festlegung verbindlicher Qualitätsstandards der Leistungserbringung eher zusätzlich forciert
als entschärft wurde. Die Maxime der Leistungserbringung in der Soziale Arbeit entwickelten sich
entsprechend hin zu „heavily prescribed assessments and case management, in which ‚needs talk’ and
‚service talk’ do not necessarily add up […]. Social work tasks increasingly came to have an
administrative and technical character rather than a professional one“(Kemshall 2002: 77, vgl.
Cheetham 1993).
Im Vergleich zu anderen europäischen Nationen ist der ‚neue Managerialismus’ sowie ihm
korrespondierende (post-professionelle) Leistungserbringungsmodelle, die etwa als ‚knowlegde’,
‚intelligence’ oder ‚evidence based practice’ bezeichnet werden, in Großbritannien am weitesten
fortgeschritten (vgl. u.a. Davis et al. 2000, Corcoran 2000, Sheldon 2000, Macdonald 2002,
Chapman/Hough 1998). Die Kernelemente der Bedingungen, die eine Durchsetzung der Strategien
einer solchen ‚beweisbasierten Praxis’ ermöglichen, finden sich aber auch in der Bundesrepublik, im
199
Sinne einer - insbesondere im Kontext einer ‚wirkungsorientierten Steuerung’ der Sozialen Arbeit (vgl.
BMFSFJ 2002, KGSt 2001, Schröder/Kettiger 2001) forcierten - Betonung von performativen Kriterien
und Versuchen der Messung der Effizienz und Effektivität. Etabliert werden soll eine „outputorientierte
Steuerung“ in der „die Planung, Durchführung und Kontrolle des Verwaltungshandelns […] strikt an
den beabsichtigten und tatsächlichen Ergebnissen auszurichten“ ist (KGSt 1994: 7). Auch jenseits
solcher Forderungen der KGSt ist die Relevanz von in der Praxis benenn- und evaluierbaren
Leistungsbeschreibungen, die die Basis für alle weiteren Qualitätsentwicklungs- ebenso wie von den
Leistungsvereinbarungen sein sollen, im fachlichen Diskurs weitgehend unbestritten, wobei die
„Qualitätsentwicklungsvereinbarungen [...] eine Optimierung (Effektivität + Effizienz) der Hilfen zur
Erziehung zum Ziel haben“ (AFET 2001). In dieser Hinsicht ist die Überprüfung und Ausrichtung der
sozialpädagogischer Praxis an zwei Fragen zentral: das Cost-Benefit und das Cost-Effectiveness
Verhältnis, d.h. die
„Frage, ob und in welchem Umfang die mit den jeweiligen Aktivitäten […] angestrebten Ziele tatsächlich erreicht werden
konnten (Kontrolle der Effektivität durch Evaluation) […und] die Beantwortung der Frage, welcher Aufwand hierfür im
einzelnen betrieben wurde (Kontrolle der Effizienz durch Evaluation)“ (Baumgärtner 2002: 605)
György Széll (1997:6) beschreibt einen sich damit entwickelnden Common Sense wie folgt:
„Mag früher häufig die sozialpädagogische Praxis durch ‚Trial-and-error’-Verfahren bestimmt gewesen sein, so
besteht zunehmend das Bedürfnis, aber auch die Notwendigkeit nach einer Kontrolle dieser Praxis anhand von
Kriterien. Dabei steht die Frage nach Effektivität und Effizienz dieses Handelns im Vordergrund. Diese Kriterien,
die aus der Privatwirtschaft stammen, bestimmen zunehmend das Handeln im gesamten öffentlichen Dienst“.
Im Sinne einer Output-Steuerung sollen die Ergebnisse als Maßstab eines ‚Erfolgscontrollings’ dienen
(vgl. Banner 1991), während die Umsetzung auf der Basis von fachlichen wie Finanzzielsetzungen in
dezentralen Fachbereichen, als weitgehend autonome operierende Einheiten geschehen soll.
Bedeutsamkeit „zur Fundierung und Kontrolle von Entscheidungen“ erlangen solche ControllingVerfahren nur über „Vergleiche und über die nach einer Summierung von Einzelleistungen erfolgende
einheitliche Bewertung und deren Beurteilung im Hinblick auf die Leistungswirkung (Outcome)“ (Reiss
2001: 231). Damit ist eine Form des ‚Performance-Managements’ beschrieben, in dem unter
Marktbedingungen,
der
kosteneffektivsten
Methode
zur
Realisierung
spezifisch
definierter
Ergebniserwartungen der ein Vorzug eingeräumt wird. Die Ergebniskontrolle nach quantitativen
Parametern, benötigt spezifische Standardisierungs- und Normierungsverfahren die sich darin äußern,
die Ziele möglichst ‚S.M.A.R.T.’ – „specific, measurable, attainable, relevant, timed“ – zu gestalten
(BMFSFJ 1999: 44). Wie das BMFSFJ (1999a: 28) in seinem Leitfaden zur Zielfindung und Zielklärung
in der Jugendhilfe erläutert, liegt „der Nutzen der Arbeit mit Zielformulierungen [zu arbeiten…] darin:
Klarheit zu gewinnen, Effektivität zu sichern, Effizienz zu steigern [und] Evaluation, Selbstevaluation
und Qualitätsentwicklung zu ermöglichen“.
Soweit ein - vor allem von der KGSt vertretener - produktbezogener Steuerungsansatz, darauf zielt
alles, was keinen Produktbezug hat zu eliminieren (vgl. Wohlfahrt/Dahme 2002a), basiert der ‚neue
Managerialismus’ auf neodiagnostischen - und mit Bezug auf die Nutzer risikokalkulatorische –
Techniken, wie etwa denen des ‚Profilings’ und ‚Assesments’, um entsprechend klar definierte
Produktbeschreibungen zu liefern und diese schließlich auch Evaluationszwecken zuführen zu können.
Insbesondere die Dachverbände, überregionalen Träger und großen Einrichtungen, so Maja Heiner
200
(2001: 491, 485), können „auf empirische Nachweise ihrer Qualität, Effektivität und Effizienz nicht
mehr verzichten“ da von „der staatlichen Verwaltung allgemein und vom sozialen Sektor insbesondere
[...zunehmend] der Nachweis einer effektiven und effizienten Arbeitsweise“ nach Maßgabe eindeutig
festgelegter Leistungs- bzw. Produktbeschreibungen (KGSt 1994) erwartet wird. Eine am, so
bestimmten, Kriterium der Effektivität ausgerichtete Soziale Arbeit misst sich demnach lediglich daran
„welche Ziele sie tatsächlich erreicht hat, was sie bei ihren Klientinnen und Klienten bezüglich der
Problemlösung bewirkt hat und nicht daran, welche guten Intentionen, Werte und Normen sie hat
oder hatte“ (Kleve 2001: 32) und selbst die „Erklärungen, warum Projekte (nicht) erfolgreich sind oder
waren“ (Heiner 2001: 485) tritt letztlich in den Hintergrund.
Die Frage von Effektivität in marktorientierten bzw. marktförmig gestalteten Dienstleistungen beruht
demnach auf einer denkbar einfachen ‚Philosophie’: Richtig ist, was einen gegeben ‚Ist-Zustand’
möglicht effektiv und effizient in einen klar definierten ‚Soll-Zustand’ überführt - „What counts is what
works“ (Newman 2001). Im Kontext dieser Logik kann es dann auch nicht verwundern, dass, wie Suzy
Croft und Peter Beresford (2002: 387, vgl. Williams et al. 1999) ausführen, „the role of service users
in evaluating social work effectiveness is […] mainly [seen], as one of providing information rather
than helping to define or to measure effectiveness. [… Thus clients are mainly of interest] as a data
source for researcher”. Als eine solche Datenquellen sind sie – wenn auch eher in ihrer Gesamtheit
denn als Einzelfall – vor allem deshalb notwenig, weil die ‚What Works’ Logik in einer Weise operiert,
die
auf
spezifischen,
von
der
traditionellen,
professionellen
Rationalität
Sozialer
Arbeit
unterscheidbaren Wissenskategorien beruht.
Auf der Ebene der Generierung dieses Wissens finden sich in diesem Zusammenhang zunehmend
neuen Muster und Modi der Wissensproduktion (vgl. U.Otto 2002), die sich in Form eines sukzessiven
Relevanzverlusts auf jenen Macht-Wissen-Komplex des sozialen Interventionsstaats auswirkt, der eine
professionelle und gesellschaftstheoretisch informierte Form der Sozialen Arbeit ermöglicht und
erfordert hat. Gefordert ist stattdessen die allgemeinen, ideologielastigen, wohlgemeinten, nebulösen
etc. Vorstellungen, aus denen sich die Maßnahmen Jugendhilfe (scheinbar) bisher speisten, abzulösen
durch Wissensformen, die eine ‚genaue Analyse’ und Diagnostik der ‚Ist- Situation’ und die
Formulierung klar beschriebener, erreichbarer, und messbarer ‚operativer Ziele’ erlaubt (vgl. BMFSFJ
1999: 43). Wie Maja Heiner (2001a: 10) ausführt, geht es entsprechend zunehmend um die
Produktion von Wissensform die „primär auf die Bearbeitung von Handlungsproblemen und erst
sekundär auf Erkenntnisprobleme […zielen und] nach rasch verfügbaren Erkenntnissen zur
Beantwortung aktuell drängender Fragen“ suchen40. Dieses Wissen soll in die sozialpädagogische
Praxis nicht nur ‚implementiert’ werden. Vielmehr dient es zur Etablierung elaborierter und
ausdifferenzierter Screening-, Indikations-, Diagnose-, und Assessmentverfahren zur Bestimmung des
‚Ist-Zustandes’
der
Adressaten
und
als
Basis
für
die
Entwicklung
wirkungsspezifischer
Handlungsprogramme, die als Anweisungen zur effektiven und effizienten Erzeugung des definierten
‚Soll-Zustands’ dienen sollen. Die Ausrichtung der Praxis an diesem Wissen erscheint zuverlässiger,
Von diesem Wissensproduktionsmodus grenzt Maja Heiner (2001: 10), die ‚traditionellen’ Modus der akademischen
Wissensproduktion ab: „Er zielt primär auf die Bearbeitung von Erkenntnisproblemen und erst sekundär auf
Handlungsprobleme, [er] ist disziplinär organisiert [und er] sucht nach langfristigen Erkenntnissen“.
40
201
vertrauenswürdiger, berechenbarer und einfacher zu dokumentieren sowie der ‚Rechenschaftspflicht’
(accountability) der Leistungserbringer zuordnen, als das (quasi-hermeneutische) Ermessen und die je
fallbezogene Einschätzung der Professionellen. Insbesondere die auf Basis professionstheoretischer
Überlegungen
entworfene
Idealfigur
eines
gesellschaftlich
wie
wissenschaftlich
reflektierten
Professionellen (vgl. Dewe/Otto 2001, siehe auch Thiersch 1992) verliert dabei nicht nur aufgrund
managerialistischer Führungsstile auf der Ebene der Organisation (vgl. Harris 1996, Meinhold 1998,
Otto/Schnurr 2000), sondern vor allem auch durch die Entwicklung eines ‚neuen’, hierzu passenden
und die ‚alte’ ‚professionelle Ideologie’ (vgl. Cullen/Gendreau 2001) ablösenden, ‚Macht-WissenKomplexes’ substanziell an Bedeutung.
In dieser Hinsicht lässt sich davon sprechen, dass mit dem Einzug mangerialistischer Rationalitäten
keinesfalls ‚nur’ eine Reform der Organisation oder eine weitere Rationalisierung der Bürokratie im
Weber’schen Sinne vorangetrieben wird, sondern sich die Kontur einer neuen Herrschafts- und
Regulationstechnologie gegenüber den Nutzern aus ausbildet. Dies liegt darin begründet, dass die
Implementation einer manageriellen ‚What Works’ Logik auf der Ebene der Planung, Gestaltung und
Erbringung sozialer Interventionen sehr spezifische und voraussetzungsvolle Operationen verlangt.
Geht man davon aus, dass ‚pawlowsche Modelle’ (vgl. Bourdieu 1985b), die die sozialen Akteur als
bloße ‚Reaktionsdeppen’ fassen (vgl. von Trotha 1979), nicht nur unhaltbar, sondern gerade im
Erbringungskontext einer fortgeschritten liberalen Gesellschaftsformation unbrauchbar sind, kann das
für
personenbezogene
soziale
Dienstleistungen
charakteristische
‚Technologiedefizit’
(vgl.
Luhmann/Schnorr 1979) - nach dem es, pointiert formuliert, der Sozialen Arbeit nicht gelingen kann,
den Nachweis zu erbringen, dass ein Vorgehen A tatsächlich die Folge B hat - bezogen auf das
einzelne Individuen nicht suspendiert werden. Diese Unsuspendierbarkeit gilt auch mit Blick auf die
Interventionsrationalitäten nach Maßgabe managerialistischer Steuerungsmodelle.
Nichtsdestoweniger gibt es Möglichkeiten, die ‚Nicht-Normierbarkeit’ – und die damit verbundene
‚Nicht-Optimierbarkeit’ - (vgl. Offe 1983) sozialer Dienste, bzw. die aufgrund unklarer Bedarfs- und
Nutzenkalküle (vgl. Olk/Otto 1987) durch Ungewissheit gekennzeichneten Entscheidungsprämissen41,
mittels der Rationalitäten einer wesentlich stärker auf da ‚beweisbasierte’ Wirkungen fokussierten
Praxisformen zu relativieren. Dies ist durch Interventionsformen möglich, die versprechen die
gewünschten Wirkungen zu erzielen, ohne Bezug auf den Einzelnen als prädiktorisch nicht
kalkulierbare ‚black box’ (vgl. Bourdieu 1985b: 336) zu nehmen. Dies kann durch die Nutzung von
Formen der Wissensgenerierung und (Handlungs-)Technologien geschehen, bei denen es weniger um
den konkreten Erfolg im Fall des Einzelnen - und damit auch nicht um Fragen des professionellen
Fallverstehens - geht, sondern um die statistische Effizienz standardisierter und weitgehend reliabler
Maßnahmeschritte gegenüber ganzen Kohorten. Was nämlich im Einzelfall als eine „durch das
Zusammentreffen ganz höchstpersönlicher Umstände gekennzeichnete Struktur“ erscheint, erweist
sich „bei der Analyse aggregierter Daten häufig recht überraschend als gleichsam ‚normaler’ Teil eines
sozialen Musters [oder] einer sozialen Regelmäßigkeit“ (Scheerer 2001: 156). Der Einzelne als ein
41 Die, wie Marquard et al. (1993) ausführen einer Selbstkonstitution der professionellen Identität der Sozialpädagogen als –
‚gute’ – Helfer den Weg bereiten.
202
unberechenbares, ‚autonomes Subjekt’ mit ‚freiem Willen’42 ist unter diesen Bedingungen eine sehr
mäßig relevante Variable43. In diesem Kontext verweist belgische ‚Moralstatistiker’ Adolphe Quetelet
bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die ‚grundlegende Tatsache’, dass „die
Willensfreiheit des Menschen verblasst und schließlich keine erkennbaren Wirkungen mehr zeitigt,
wenn die Beobachtungen sich auf eine große Zahl von Einzelpersonen erstrecken“ (zit. nach Scheerer
2001: 156). Eine Orientierung an größtmöglicher statistischer Effizienz und Effektivität kann mithin die
‚Subjektivität’ eines einzelnen Akteurs ‚heraus-designen’, da sie sich im Kern auf ein Management bzw.
die
Regulierung
von
Gruppen
Wahrscheinlichkeitsrechnungen
oder
bezieht44
Kohorten
(vgl.
auf
der
Duchêne/Wanner
Basis
1999):
populationsstatistischer
Eine
prädiktorische
Berechnung von Effizienz und Effektivität wird möglich.
Diese Form der manageriellen - in einem gewissen Sinne kalkulatorischen Überlegungen, wie sie von
der Versicherungswirtschaft her bekannt sind bekannt sind folgende (vgl. Cohen 1985, Simon/Feeley
1992) - Kontrolle und Herrschaftsausübung basiert auf der Einsicht, dass die Erfolgswahrscheinlichkeit
einer bestimmten Strategie für denen einzelnen Fall zwar rekonstruiert werden kann, aber
individualprognostisch kaum vorhersagbar ist (‚Technologiedefizit’). Demgegenüber kann die
Erfolgswahrscheinlichkeit einer bestimmten Strategie mittels Indikatoren in bezug auf aggregierte
(Teil)Populationen statistisch gemessen und auf dieser Basis eine reliablen Aussage über die Effizienz
und Effektivität dieser Strategie getätigt werden. In einer standardisierten - ‚S.M.A.R.T.en’ - Form sind
diese technologischen Erfolgsbehauptungen, wenn sie auf genügend große auf der Basis spezifischer
Faktoren45 ‚geclusterte’ Gruppen bezogen werden, auch in einem prediktorischen Sinne nicht nur
aussagekräftig, sondern mit einer ‚quasi-mathematischen’ Genauigkeit zu bestimmen. Eine
managerialistische, auf - ‚nachgewiesen’ effizienten und effektiven - performativen ‚Outcome’Indikatoren basierte Form der Steuerung kann, pointiert formuliert, als eine Art fortgeschritten liberale
und in die Logik der Sozialverwaltung implementierte Umsetzung einer Herrschaftsweise betrachtet
werden, die auf eine Verschiebung zwischen den beiden Polen jener modernen, sich seit dem 18.
Jahrhundert entwickelnden Machtform verweist, die Michel Foucault als (1983) ‚Biomacht’ analysiert:
Vom Pol Disziplinierung des Individualkörpers zur Regulation von Populationen. Im Zentrum seht
weniger die Formung des einzelnen Individuums, sondern die Lenkung und Regulierung einer
aggregierten
Gesamtheit
oder
bestimmter
Teile
dieser
Gesamtheit.
Wird
eine
solche
Dieser ist übrigens nicht nur ein ‚Produkt’ der Aufklärung (man denke an Kants ‚Selbstdetermination’ der praktischen
Vernunft) sondern ein Kerngehalt jüdisch-christistlischer Kultur überhaupt (so etwa der ‚Schöpfungsauftrag’ in Gen 1, 29).
Ausführlich und explizit wird dies beispielsweise in Augustinus ‚De libero arbitrio’ (,Vom freien Willen’) und überhaupt in der
Scholastik insbesondere in der ‚Summe Theologica’ von Thomas von Aquin (‚dominium sui actus’)diskutiert (umfassend:
Wildfeuer 2002).
43 Wie Wittgenstein (1989) radikalisiert besteht für den einzelnen nicht nur Unvorhersagbarkeit, sondern – ein
epistemologischer Indeterminismus gesetzt – es lässt sich mit Blick auf den freien Willen davon sprechen, dass dieser auf
für den Akteur darin bestünde dass „künftige Handlungen jetzt nicht gewusst werden können“.
44 Hierin besteht ein zentraler Unterschied zur ‚klassischen’ sozialpädagogischen Diagnostik (vgl. Ziegler 2003). „Der
Bezugspunkt der klassischen Diagnostik“, so Merkens (2002: 25), „ist immer das Individuum, während der Bezugspunkt der
Evaluation in der Organisation oder einem Programm gesehen werden kann, d.h. im letzteren Fall ist der Bezugspunkt
überindividuell“.
45 So hat etwa das Bayerische Landesjugendamt (vgl. 2001) inzwischen einen Diagnosekataloge zum Zweck der
Informationssammlung mit 221 Merkmalen sprich Faktoren erstellt, auf dessen Basis denen die Fachkräfte Ressourcen und
Risiken ihrer Nutzer abschätzen und sie daraufhin entsprechenden Maßnahmen zuführen sollen.
42
203
managerialistische Herrschaftsform der Leistungserbringung auf die Jugendhilfe bezogen wird, ist
damit nicht nur auf der Ebene der Organisation der Verwaltungsabläufe, sondern auch mit Bezug auf
die praktische Arbeit „eine Situation […geschaffen], in der professionelles Ermessen subordiniert wird
unter die manageriellen Definitionen dessen ‚what works’ und Praxismaterialien folgt, die von extern
evaluierten Methoden abgeleitet sind“ (Harris/Kirk 2000: 135, vgl. Brodkin 2000, Hoggett 1996,
Jordan/Jordan 2000).Diese Form der effizienz- und effektivitätsbezogenen Standardisierung – die, wie
vor allem Chris Pollit (1990) nachzeichnet deutliche Züge dessen trägt, was im Industriekapitalismus
als tayloristische Arbeitsteilung implementiert worden war - ist per se jedoch keinesfalls ‚unflexibel’.
Im Gegenteil ist es möglich, je flexibel bezogen auf eine bestimmte diagnostisch klassifizierte Kohorte
von Nutzern als ‚Ist-Situation’, eine im statisch-statistischen Sinne beweisbasierte, aus managerieller
Perspektive effektive und effiziente, verbindliche Modellvorlage einer auf (statistischen) ‚Beweisen’
oder Vergleichen basierte ‚best practice’ zu entwickeln46. Diese, so wird im Online-Verwaltungslexikon
ausgeführt,
„systematisiert bereits vorhandene Erfahrungen, vergleicht unterschiedliche Lösungen, die in der Praxis eingesetzt
werden, bewertet sie anhand betrieblicher Ziele, und legt auf dieser Grundlage fest, welche Gestaltungen und
Verhaltensweisen am besten zur Zielerreichung beitragen. Wichtige Elemente sind also: der Verzicht auf den
Versuch, das Rad neu zu erfinden, die beste Lösung unbedingt selbst zu entwickeln, statt dessen der Blick über den
Zaun, allerdings systematisch und orientiert an klaren Kriterien für die Bewertung; Praxisorientierung, d.h. keine
theoretischen Konzepte sind gefragt, sondern nachweisbar erfolgreiche Praxis“.
Dabei basiert die das ‚best practice’- Modell auf einer vergleichenden Bewertung (‚Benchmarking’)
unterschiedlicher Lösungen in der Praxis und richtet sich darauf, jene Lösung herauszuarbeiten, die
am besten – d.h. im je optimalen Verhältnis von ökonomischen, Effektivitäts- und, Effizienzkriterien zur Erreichung eines definierten ‚operationalen’ Ziels beiträgt.
In fortgeschrittenen - vor allem im angelsächsischen Sprachraum verbreiteten - Formen des
‚Benechmarking’ steht die Eruierung flexibler, praktisch adaptierbarer Vorlagen im Mittelpunkt als ein
„way of winnowing over a period of time what works in producing varying outcomes, at least for a
while, for whom and in what circumstances“ (Hughes 2001: 111, vgl. Tilley 2000). In elaborierten
Formen des Benchmarking lautet Formel zur Etablierung effektiver und effizienter Standards im
wesentlichen: „identifying existing best practice, coupled with incentives for these successful
programmes to shear their strategies with others” (Nutley/Davis 2000: 4)
Im Prinzip implizieren auch in der Bundesrepublik virulente Formen des Benchmarking als externe
Kontrollmöglichkeit zum Effektivitäts- und Produktivitätsvergleich verschiedener Praxismodelle mit dem
Ziel ihrer Optimierung und einer Etablierung von Standards (vgl. Wohlfahrt 2001) kaum eine andere
Logik. Sie sind eine Form des indikatorenbasierten ‚Performance Management’ (vgl. McLaughlin 2001),
wenn auch Variante, die sich - da der Nachweis noch eher auf internen ‚Rankings’, als auf externer
Evaluation im statistisch beweisbasierten Sinne erfolgt - auf ‚technologisch’ vergleichsweise niedrigen
Niveau bewegt.
Mit Blick auf die Denk- und Handlungsrationalitäten der Jugendhilfe dürfte die allgemeinste Zäsur, die
mit der Etablierung managerieller Leistungserbringungstechnologie markiert wird darin bestehen, dass
„The message here is that ,best practice’ should be adopted by all, and should therefore become ,standard’ practice”
(Atkinson 2000: 318).
46
204
die relationale Kerndimension Sozialer Arbeit suspendiert wird. So ist die komplexe Aufgabe einer
Vermittlung in dem spannungsreichen Verhältnis von individuellem Akteur und Gesellschaft ungleich
schwieriger in ‚S.M.A.R.T.’ formulierte Zielvariablen zu packen, als beispielweise eine mechanische
Auflösung dieses dialektischen Verhältnisses in Indikatoren einer positionalen Dimension einerseits
und (andere) Indikatoren einer dispositionalen Dimension andererseits. Abgesehen von der Tatsache,
dass das komplexe Verhältnis dieser Dimensionen zueinander teilweise völlig andere soziale
Phänomenen induziert, als die Addition der einzelnen Dimensionen implizieren würde47, rücken im
Zuge einer solchen Zerlegung bezogen auf die Spezifik der Jugendhilfe - die strukturell kaum in der
Lage ist isolierte positionale Dimensionen zu bearbeiten (vgl. Olk/Otto 1987) - die isolierten
Dispositionen des einzelnen Falls im Sinne einer ‚Verhaltensorientierung’ gegenüber den inhärent
gesellschaftlichen und politischen Dimensionen in den Vordergrund. Durch eine Orientierung am
messbaren
Output,
Matthews
und
Pitts
(2001:
6)
sprechen
von
einer
‚Kultur
der
Performanzindikatoren’, wird diese Fokussierung auf die Ebene des Verhaltens noch verstärkt. In einer
solchen Performanzindikatorenkultur, rückt, forciert durch die Verbreitung von Budgetierungen auf der
Ebene der Leistungsfinanzierung, ein einzelfallübergreifender, auf Adressatengruppen aggregierter
Output ebenso in den Mittelpunkt, wie eine Bevorzugung jener Aktivitäten wird, die direkt messbare
Outputs versprechen (vgl. Fabricant/Fisher 2003). Diese Leistungen Sozialer Arbeit werden zumindest relativ zu einer Orientierung an ihrem Beitrag zu prinzipiellen, fachlichen Gesamtzielen,
dem Gebrauchswert für die Nutzer oder allgemeinere Fragen sozialer Gerechtigkeit - aufgewertet.
Zugleich wird Herrschaftsform vorangetrieben, die sich weg von Fragen professioneller Rationalität
entwickelt und hin zu dem, was Brunkhorst (1992: 82 f) in Anlehnung an Weber und Oevermann als
technokratischen und bürokratischen Individualismus beschreibt, durchgeführt von Spezialisten ohne
Geist. Diese Verschiebung ist ihrerseits in eine umgestaltete, makrostrukturelle Herrschaftsformation
eingebettet, die eine Zurückdrängung der Relevanz des öffentlichen Bereichs für die Erbringung
personenbezogener sozialer Dienstleistungen impliziert (vgl. Clarke 2001): Wo einst der demokratisch
legitimierte soziale Staat,
„willed the means, it now tends to prescribe the ends while others are left to supply the means; and as with all
instrumentally-orientated practices, the logic governing the attainment of ends is the logic of rules. In short, where
government was, now audit regulation and management is“(Cooper/Lousada 2000: xx).
Dabei ist anzunehmen, dass sich diese Rationalitäten der Leistungserbringung zumindest mittelbar
auch auf die professionellen Inhalte auswirken. Hierauf machen in einem ganz allgemeinen Sinne
Jean-Michel Bonvin und Nicolas Farvaque (2003: 9 f) aufmerksam, wenn sie darauf hinweisen, dass
eine solche managerialistische Orientierung
„gives clear indications to the staff members, and renders the action potentially more consistent. Moreover,
quantitative outcomes are easier to apprehend from outside, and throw crude light on the efficiency of the policy
process. However, at a micro level, the respect of individual liberties or projects risks to be denied in order to
produce good results. Performance targets act as rules aiming at changing individuals’ behaviour in order to comply
with exogenous objectives that may not fit at all with the reality of the situation. If objectives change the behaviour,
47 Hinweise hierfür finden sich etwa am Beispiel der Relevanz von Individual- und sozialökologischen ‚Faktoren’ für
individuelle und räumlich aggregierte Verhaltensweisen in den Arbeiten in dem von Farrington et al. 1993 herausgegebenen
Sammelband „Integrating Individual and Ecological Aspects of Crime“
205
it is not necessarily in ways which improve service delivery […], what eventually leads to […] making a good showing
on the record as an end- in- itself”
Weniger allgemein gesprochen, zeigen sich möglicherweise ganz andere inhaltliche Probleme im Falle
einer Adaption beweisbasierter Praxis in der Jugendhilfe. Um ein zugespitztes Beispiel zu geben: Im
Vergleich zu ‚Emanzipation’ ‚Mündigkeit’ oder ‚Autonomie’, als Ziele und zentrale Orientierungen einer
‚kritischen’ Sozialpädagogik (vgl. Brumlik 1990, 1996, Sünker 1992), sind Wirkungen, wie etwa die
Reduzierung der Rückfallrate devianter Jugendlicher, ungleich genauer beschreibbar, messbar, zeitlich
bestimmbar und erreichbar, während erstgenannte kaum klare, isolierbare, in überprüfbare
Kausalketten zu packende ‚operative Ziele’ darstellen können. Wie Klaus Mollenhauer (1972: 50)
ausführt, lässt sich etwa das, was sich aus einem
„Erziehungsziel ‚Emanzipation’ im detaillierten Kontext pädagogischen Handelns als Zwischen- oder Teilziele ergibt
[… nicht] mit Bestimmtheit sagen, es sei denn, das was für den Begriff ‚Emanzipation’ als unverzichtbar behauptet
wird, nämlich die Chance für Individuen und Gruppen, ihr Handeln selbst zu bestimmen, würde aufgegeben“.
In diesem Zusammenhang findet auch die von Thole und Cloos (2000: 558 f) artikulierte Befürchtung
ihre Berechtigung
„dass bedeutende Fachlichkeitskriterien wie ‚professionelle Wissensstandards, Fähigkeiten zur sozialpolitischen
Analyse und Kompetenzen stellvertretender Deutung’ aufgrund geringer Praktikabilität und Messbarkeit aus den
Evaluationsratern der Qualitätsmess- und Kontrollverfahren fallen“ (nach: Galuske 2003: 217).
Wenn demgegenüber ein Ziel, wie das der Legalbewährung, operationalisierbar und experimentell
testbar (vgl. Schumann 2001, Sherman et al. 1997) auf unmittelbare, durch zielgerichtete
Interventionen manipulierbare Variablen zurückzuführen ist (kritisch: Hope 2002), spricht, wenn sich
etwa eine Verdichtung und Intensivierung überwachender Formen sozialer Kontrolle (vgl. Braga et al.
1999, Eck 1997), durch die möglichst viele eigensinnige Handlungs- und Aneignungsmöglichkeiten
geschlossen werden als billiger und vor allem effektiver erweisen als demokratisierende,
emanzipatorische, partizipative usw. Modelle, aus einer auf das optimale Erreichen der Zielvariable
bezogenen und an messbaren Nachweisen orientierten Perspektive nichts dagegen die letztgenannten
Versuche zugunsten der ersten Variante aufzugeben48.
Dies ist nicht einfach eine dystopische Zukunftsvision. Deutliche Momente dieser managerielladministrativen, effizienz- und effektivitätsbasierten Steuerungsrationalität weisen etwa die Konjunktur
von Screening-Verfahren, ‚Profilings’, und ‚Indikationen’ in der Jugendhilfe (vgl. Fröhlich-Gildhoff
2002), verschiedene Formen von ‚Trainings’ zum an- und abtrainieren spezifischer performativer
Verhaltensweisen (vgl. Krassmann 2000, Weidner et al. 1997), kognitiv-behaviouristische Programme,
etc. in Bezug auf Abweichung, Arbeitslosigkeit und eine Reihe weiterer unterschiedlichster Probleme
auf. Diese richten sich auf spezifische, ‚Ist-Situationen’, die sich beispielsweise als bestimmte
Verhältnisse von ‚Risiko-’ und ‚protektiven’ Faktoren im Rahmen von Assessments feststellen und
effektiv und effizient bearbeiten lassen: Durch Programme, die zielgenau auf die spezifischen,
Entsprechend wenig kann Walter Hornsteins (2000: 134), Bilanz über die Evaluations- und ‚Qualitätsoffensive’ des Bundes
überraschen. „An keiner Stelle“, so führt er aus „treten pädagogisch-politische Ansprüche, überhaupt die Ansprüche der
Kinder und Jugendlichen, um deren Lebenschancen und Zukunftsperspektiven es in der Kinder- und Jugendförderung geht,
in Erscheinung; insofern besteht eine problematische Ausstrahlung dieses Programms in der ‚Entpolitisierung’, d.h. in der
Ausklammerung der gesellschaftspolitischen Dimension von Förderungsentscheidungen“.
48
206
identifizierten Faktoren gerichtet sind, die am kostengünstigsten, einfachsten und aussichtsreichsten
beseitigt werden können.
Insbesondere die ‚harten’ Programme seien, so lässt sich dann argumentieren, wenn sie nicht
flächendeckend eingeführt, sondern ‚fachlich begründet’ für einige wenige Jugendlichen mit
bestimmten Merkmalen und unter bestimmten Umständen eingesetzt werden erwiesenermaßen
‚erfolgreich’. Vor allem sind sie aber effizienter, effektiver und ökonomisch sinnvoller, als es freiwillige
Angebote bzw. die ‚Regelangebote’ wären, zumindest wenn es darum geht die performative Frequenz
unerwünschter Handlungsweisen zu unterdrücken (vgl. dazu auch 11. Kinder- und Jugendbericht
2002) oder unwillige und schwierige Jugendliche ‚in Arbeit’ zu bringen (vgl. das Programm
„Arbeitsweltbezogene Jugendsozialarbeit“ 49 des BMFSFJ 2001).
Dennoch sind diese Formen der ‚Neo-Diagnostik’ und Standardisierung der Technologien und
Handlungsprogramme nicht notwendigerweise als eine Revitalisierung oder gar Verschärfung einer
Expertokratie zu verstehen, die mit einer pathologisierenden Entmündigung der Adressaten einhergeht
(dazu: Peters 1973). Stattdessen kann eher davon gesprochen werden, dass mit den Diagnose- und
Interventionstechniken eine Art neuere Rechte- und Pflichtenkatalog responsibilisierter ‚Kunden’
etabliert wird, der diese dazu anhält mit ihren eigenen individuellen und sozialen Risiken
‚verantwortungsvoll’ d.h. risikominimierend und zu kostenreduzierend umzugehen.
Die tendenzielle Umgestaltung des Erbringungskontextes personenbezogener sozialer Dienstleistungen
in
einer
Weise,
die
das
Referenzsystem
‚Staat’
zwar
nicht
ablöst,
aber
mit
Regelmäßigkeitssystematiken und Logiken durchdringt, die dem Referenzsystem ‚Markt’ entsprechen,
sowie
die
Implementation
eines
Kundenkonzepts
als
ein
assoziatives
Leitmotiv
in
das
Erbringungsverhältnis sozialer Dienstleistungen, wirkt sich demnach, so lässt sich resümieren,
unterschiedlich auf die Positionen und Einfluss- wie Gestaltungsspielräume der Nutzer in den
Prozessen der Leistungsproduktion aus. Als eine Konsequenz lässt als eine Art ‚Bifurkation’ der
Adressaten beschreiben: Während das Kundenkonzept die ‚Doxa’ (vgl. Bourdieu 1987) der
keynesianisch-wohlfahrtsstaalich orientierten Jugendhilfe alleine dadurch nachhaltig zu erschüttern in
der Lage ist, dass es eine Tendenz zu Selbstbezüglichkeit bürokratisch organisierter Institutionen
hinterfragt, ein mehr an Transparenz von Leistungen sowie eine Überprüfung professioneller Denkund Handlungsmuster eingefordert (vgl. Merchel 1995) und dabei auf die Notwendigkeit einer
Orientierung am Adressaten im Sinne des Leitbildes ‚Kunde’ verweist, konzentrierten sich die
Zuwächse an Gestaltungsmacht im Erbringungsprozess sozialer Dienstleistungen primär in den
Gruppen, die ihre Kundenrolle ‚angemessen’ ausfüllen und von ihren Wahlfreiheiten den ‚richtigen’
In diesem Programm wird zu der Notwenigkeit von Risiko- und protektiven Faktoren prüfenden Assessments unter
anderem ausgeführt: „Verfahren der Diagnostik in der Benachteiligtenförderung klassifizieren traditionellerweise die
Adressaten ihrer Arbeit insbesondere im Hinblick auf ihre Schwächen und Defizite (Lernbehinderte, Leistungsschwache,
„mehrfach“ Benachteiligte). In Abgrenzung dazu haben eine Reihe von Trägern damit begonnen, in der Privatwirtschaft
entwickelte Verfahren des Assessment so zu adaptieren, dass die Leistungspotenziale der Jugendlichen mit ungünstigen
Voraussetzungen und Benachteiligungen identifiziert werden können und mit passenden Angeboten an diese angeknüpft
werden kann. Ein Manko der bisher in der Jugendberufshilfe praktizierten Assessment-Verfahren besteht darin, dass diese
zumeist als Auswahlverfahren für ein häufig eng begrenztes Spektrum von Angebotsalternativen dienen (meist handelt es
sich um Angebote des Trägers selbst, der sein Assessment durchführt). Es muss aber darum gehen, auf Basis der
Assessment-Ergebnisse für die betreffenden Jugendlichen solche passgenauen Lern- und Beschäftigungsangebote zu
identifizieren“ (BMFSFJ 2001: 12, Herv. H.Z.).
49
207
Gebrauch machen. Pointiert formuliert, wird dabei eine erweiterte aber ‚regulierte Autonomie’ der
Adressaten erprobt, in der sie als ‚Subjekte’ ihrer sozialen Determiniertheit enthoben werden und ihre
Autonomie und ihr ‚freier Wille’ zur sine qua non der Ausgestaltung ihrer (Ko-)Produzentenrolle in den
Prozessen der Leistungsbringungen erhoben wird. Dies geschieht sofern und sobald die
Determinanten dieses ‚freien Willens’ ‚angemessen’ arrangiert sind.
Der Tendenz nach geht es im Kontext der Neuen Steuerungsmodellen um Diagnose- und
Interventionstechniken die darauf gerichtet sind, für das ‚obere’ Ende der Adressaten notwendige
Informationen und Hinweise bereitzustellen um sie zu ermutigen, mit ihren primär als individuelle
Lebensführungsrisiken dechiffrierten Problemlagen ‚verantwortungsvoll’ - d.h. risikominimierend und
kostenreduzierend - umzugehen. Während eine solche Form der Verkopplung von Führung und
Selbstführung für die Adressaten, die sich willig, ‚richtig’, ‚einsichtig’ und ‚effektiv’ in ihre Rolle als
‚selbstverantwortliche Kunden’ einfügen als eine Befreiung aus dem sozialtechologischen Versuch
interpretiert werden kann, in möglichst vielen Sphären ihrer Existenz durch direkte bürokratische und
professionelle Instruktionen ‚regiert’ zu werden, bleibt eine wachsende, deprivierte Minderheit
gegenüber diesen Techniken resistent, weil sie ‚nicht Willens’ ist oder schlicht nicht über ausreichende
und ‚verwertbare’ Formen ökonomischen, kulturellen, sozialen und symbolischen Kapitals (Bourdieu
1997) verfügt, um von den ‚Autonomie-Potentialen’ dieser Strategien ‚angemessen’ Gebrauch zu
machen (Stenson 1996). Sofern diese residualen Adressaten am ‚unteren Ende’ der Adressaten nicht
einfach aus den Prozessen der Leistungserbringung ausgeblendet bleiben, zeichnet sich eine Tendenz
ab, nach der der Umgang mit ihnen, sobald ihre ‚Fehlentscheidungen’ erst als ein „Mangel an
Selbstverantwortung und Rationalität und damit auch [als] eine Unfähigkeit frei Entscheidungen
treffen zu können“ (Groenemeyer 2001: 52) dechiffriert worden sind, durch direkte und
‚berechtigterweise’ direktive Interventionen erfolgt, die weniger den Wünschen und Vorstellungen der
Adressaten sonderns staatlich-administrativen (Effizienz-)Rationalitäten folgen und häufiger denn je
durch Intrusivität und Rigidität gekennzeichnet sind (vgl. Dahme/Wohlfahrt 2002, Dean 2002).
Sofern im Kontext der Regfiguration der Adressaten als ‚Kunden’ die Bedingungen der Möglichkeiten
einer Realisierung der - ja keinesfalls ziellosen, sondern an das Kriterium des ‚richtigen Gebrauchs’
rückgebundenen
-
Erweiterungen
bzw.
Unterstellungen
von
‚Freiheits-’
‚Autonomie-’
und
Lebensgestaltungspotentiale aus dem Blick geraten, droht eine ökonomisierte und (verwaltungs-)
modernisierte Jugendhilfe gesellschaftliche Spaltungen weniger zu kompensieren und zu moderieren,
als zu spiegeln und in ihre eigene Logik zu verlängern (vgl. Lindenberg 2000).
In diesem Kapital sind eher grundlegende Gewichtsverlagerungen in den Regelmäßigkeitsystemen
sowie den Denk- und Handlungsrationalitäten der Erbringung personenbezogener Dienstleistungen in
Form von Bewegungsrichtungen angesprochen als realtypisch bzw. empirisch in ‚Reinformen’
vorfindbare
Praktiken.
Demgegenüber
kann
nicht
davon
ausgegangen
werden,
dass
die
Bewegungsrichtungen eine unumstrittene Einheitlichkeit aufweisen. Vielmehr finden sich verschiedene
ungleichzeitige Dynamiken, Bewegungen und Gegenbewegungen, die nicht immer kompatibel sind
208
und die etablierte Strukturen und Rationalitäten auch nicht völlig ‚ablösen’, sondern modifizieren, neu
kontextuieren und mit unter auch schlicht reproduzieren.
Sofern die skizzierten Dynamiken jedoch zunehmende Gewichte sind, die auf den Zwischenstand der
permanent umkämpften Hegemonieverhältnisse, Leitideen und ‚Hintergrundgrammatiken’ der Denkund Handlungsrationalitäten in der Erbringung personenbezogener sozialer Dienstleistungen in einer
Weise wirken, die diese von den Rationalitäten unterscheidbar macht, die in ihrer Gesamtheit den
ebenso permanent umkämpften Common Sense der Jugendhilfe in der fordistischen Phase des
Sozialen repräsentiert haben, erscheint es notwendig, den - nur mit Blick auf den Stand der
Regulationsweisen der gesellschaftlichen Organisation interpretierbaren - Doppelcharakter der
Jugendhilfe als Institution sozialer Unterstützung und Herrschaft, vor dem Hintergrund der
Implikationen dieser Dynamiken zu rekonstruieren. Diese Wandlungsprozesse sind weniger mit Blick
auf die Frage zu analysieren, ob sie nun ‚mehr Hilfe’ oder ‚mehr Kontrolle’ darstellen, sondern mit Blick
auf die möglichen Veränderungen der Relationierung beider Aspekte und mit Blick auf die
Rationalitäten, den Strategien, Technologien und Teleologien, denen sie folgen.
209
III. 5
JUGENDHILFE AUF DEM WEG ZUR ‚NORMALITÄT’
Eine modernisierungstheoretische Deutung der mit dem Niedergang der fordistischen Phase des
Kapitalismus verbundenen sozialstrukturellen Veränderungen, als Prozesse einer Individualisierung,
einer Erosion traditioneller Milieus sowie der daraus resultierenden Risiken der Lebensführung, ist auf
der
fachlichen
Ebene
ein
wesentlicher
Ausgangspunkt
einer
dienstleistungs-
wie
präventionsorientierten Neukonstitution der Jugendhilfe. Diese ‚Neukonstitution’ ist von zwei
widersprüchlichen Deutungen vorangetrieben worden: Einerseits wird der Jugendhilfe attestiert, sie
befände sich auf dem Weg zu ihrer gesellschaftlichen ‚Normalisierung’ und ‚Autonomisierung’ (vgl.
Lüders/Winkler 1992). Zum anderen wird beobachtet, dass die Jugendhilfe, als ein wichtiger Garant
sozialstaatlicher Leistungen selbst „in den Strudel der ‚Krise des Wohlfahrtsstaates’“ (Sünker 1996:
805) geraten und darum konzeptionell wie strategisch aufgefordert ist, auf eine zunehmende
Segmentierung und ‚Spaltung der Gesellschaft’ zu reagieren (vgl. Schaarschuch 1998: 11). Für die
Jugendhilfe in ihrer Form als ‚fordistische Profession’ lässt sich im Kontext der Verwerfungen in den
Logiken ihres Feldes - dem Feld des Sozialen – von einem grundlegenden ‚Orientierungsdilemma’
sprechen (vgl. Galuske 1993, Schaarschuch 1996). Während es eine zentrale Legitimationsgrundlage
der Jugendhilfe bleibt, als ‚sozialintegrative Stützung’ eine Balance herzustellen zwischen der
‚subjektiven Normalität’, als individuelle Handlungsfähigkeit und der gegebenen Organisation sozialen
Ordnung, in der sich jene Handlungsfähigkeit aktualisieren muss (vgl. Böhnisch 1994), haben die um
die Normallohnarbeitsverhältnisse konstituierten und auf (national)staatlicher Ebene regulierten,
Normalitätsmuster des Sozialen, als Zielvorgabe einer sozialstaatlichen Normalität sowie als ein
übergreifender gesellschaftlicher Integrationsmodus und damit Referenzpunkt der Jugendhilfe ihre
unhinterfragte Dominanz und allgemeine ‚Erreichbarkeit’ eingebüßt (vgl. Böhnisch 1994). Damit wird
für
die
Jugendhilfe
eine
‚Integrationsproblematik‘
in
Entwicklung
dem
auf
neuer
Modi
und
Existenzbedingungen
Strategien
und
zur
Bearbeitung
Lebensrisiken
der
bezogenen,
spannungsreichen Verhältnis von sozialem Akteur und der sich wandelnden Organisationslogiken der
Gesellschaftsformation, zu einer zentralen Notwendigkeit. Wie einige Autoren hoffen, ist mit der
Auflösung traditioneller, ‚fordistischer’ Sinnzusammenhänge des Sozialen und den Veränderungen der
politisch regulativen Rationalitäten eines interventionistischen Staates eine Möglichkeit für die
Jugendhilfe verbunden, sich auf der Basis einer grundlegenden Kritik der bisher vorherrschenden
‚technologisch’ orientierten Sozialplanung und einer individualisierenden Problembearbeitung „ein
neues Selbstverständnis zu erarbeiten, das sich kritisch zu den vorgegebenen Aufgaben im
Wohlfahrtsstaat
verhält,
und
einen
subjektorientierten
Ansatz
vertritt,
in
dem
die
Konstitutionsbedingungen von Subjektivität Priorität genießen“ (Sünker 1996: 806, vgl. Sünker 1998,
2000, Galuske 1993). Der Behauptung einer solchen Möglichkeit, als einer erst noch zu erarbeitenden
Option, steht mit Verweis auf eine Präventions- und Dienstleistungsorientierung die Behauptung einer
mehr oder weniger vollzogenen Ablösung der Jugendhilfe von gesellschaftsfunktionalistischen
Postulate und ihrer Herrschafts- und Kontrollfunktion entgegen. Die Jugendhilfe, so das Argument, sei
bereits faktisch eine ‚autonome’ Institution geworden, die sich aus ihrer sozialpolitischen
210
Instrumentalisierung als Instanz ‚aktiver Proletarisierung’ und anderer hoheitlich erforderter
Zumutungen emanzipiert habe. Diese ‚Befreiung’ aus einer Instrumentalisierung der sozialpolitischen
Regulation widersprüchlicher gesellschaftlicher Verkehrsverhältnisse sei aber nicht aus einer
‚radikalen’ bzw. antikapitalistischen professionellen oder disziplinären Perspektive erwachsenen,
sondern durch den Prozess einer ‚zweiten’, die industriegesellschaftliche Modernisierung selbst
modernisierende Moderne gesellschaftlich notwenig geworden (vgl. Rauschenbach/Gängler 1992). Vor
dem Hintergrund einer Fragmentierung sozialer Klassen und handlungsleitender Milieus sowie einer
gesamtgesellschaftlichen ‚Pluralisierung’, ‚Individualisierung’ und ‚Enttraditionalisierung’, liege es
zunehmend in der Verantwortung des einzelnen Individuums, seinen „eigenen Lebenslauf selbst zu
gestalten, und zwar auch und grade dort, wo er nichts als das Produkt der Verhältnisse ist [… Dies
impliziert zugleich] eine Verwandlung von Außenursachen in Eigenschuld, von Systemproblemen in
persönliches Versagen“ (Beck 1986: 216, 150). Dass vor dem Hintergrund diese veränderten sozialen
Rationalität biographisch relevante Entscheidungen eines auf sich selbst zurückgeworfenen Einzelnen,
im Kontext gleichzeitiger Komplexitätssteigerungen gesellschaftlicher Umwelten, zunehmend ‚riskant’
werden, stellt dabei den Ausgangspunkt für die Behauptung einer notwendigen Neukonstitution der
Jugendhilfe dar. Da gemäß der gängigen modernisierungstheoretischen Interpretation die Phänomene
einer ‚Risikogesellschaft’ als gewachsene, ubiquitäre Risiken der Lebensführung und soziale
Orientierungsschwierigkeiten nicht mehr vorab auf spezifische Klassen und Gruppen eingrenzbar sind,
sondern ein gesellschaftlich allgemeines und ‚normales’ Phänomen darstellen, werde auch die Nutzung
der personenbezogen sozialer Dienstleitung Jugendhilfe zu einer universellen Normalität. In diesem
Zusammenhang präsentiere sich Jugendhilfe „als eines der neuen, charakteristischen Muster einer
generellen vergesellschafteten Problemlösungsstrategie“ (Thiersch 1995: 250). Gesellschaftliche und
organisatorische Veränderungen hätten „unter dem Strich dazu geführt […], dass die Kinder- und
Jugendhilfe zu einem festen integralen Bestandteil der öffentlichen sozialen Grundversorgung
geworden ist“ (Rauschenbach 2000: 475). Da die Leistungen der Jugendhilfe eine ‚normale’ Ressource
zur Stützung der ‚selbstgebastelten’ biographischen Entwicklung und der ‚autonomen’ Entscheidungen
in der Wahl der eigenen Lebensführung für alle Mitglieder der nachwachsenden Generation einer
Gesellschaft werden, kann sich die Jugendhilfe von den ihr historisch eingeschriebenen,
sozialpolitischen Imperativen lösen, und professionelle wie disziplinäre Eigenständigkeit für sich
reklamieren (vgl. u.a. Rauschenbach 1992, 9. Jugendbericht 1994, Thiersch 1995, Merten 1997,
Winkler 1995, 1999, kritisch: Schaarschuch 1996c, Brumlik 2000c, Bommes/Scherr 2000). Eine solche
‚Autonomisierung’ hätte zugleich zu einem erheblichen Bedeutungszuwachs bzw. zu einer neuen
‚gesellschaftlichen Schlüsselposition’ Jugendhilfe geführt (vgl. Winkler 1999), die in wachendem Maße
weniger mit ‚defizitorientierten’ Kontroll- und Korrektur- sondern verallgemeinerten sozialen
‚Gestaltungsaufgaben’ betraut sei (vgl. Gildemeister 1992). Dieser gesellschaftliche Bedeutungsgewinn
der Jugendhilfe werde durch eine in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich erfolgte Steigerung der
Personalbestände – in den sozialen Berufen hat sich die Zahl den Beschäftigten seit Anfang der
1960er Jahre fast verzehnfacht (vgl. Rauschenbach/Züchner 2001, Rauschenbach/Schilling 1997) –
dokumentiert. Die Wachstumsraten der sozialen Dienste - insbesondere im Verhältnisses zur
211
rückläufigen Gesamtzahl ihrer Zielgruppe Kinder und Jugendliche - sei als ein valider Hinweis darauf
zu interpretieren, dass alle Akteure der nachwachsenden Generation „in den Stationen ihres
Lebenslaufs vorübergehend und zeitweilig zu AdressatInnen des Sozial- und Erziehungssystems
werden (können)“ (Rauschenbach 1992: 51) bzw. sich in einer ‚generellen’ Risikostruktur,
Problemlagen entwickeln, die „als biographische Wechselfälle in einer sich individualisierenden
Gesellschaft prinzipiell jeden treffen (können)“ (9. Jugendbericht 1994: 582). Entsprechend sei auch
die gesellschaftliche Aufgabenstellung der Jugendhilfe zu reformulieren:
„Weil die in den primären lebensweltlichen Netzwerken vorhandenen Ressourcen sozialer Orientierungen und
Unterstützungen im sozialen Nahraum immer mehr abnehmen und von den Einzelnen immer weniger
selbstverständlich vorausgesetzt werden können, müssen diese – so die Annahme – zunehmend von sozialen
Diensten substituiert werden.“ (Schaarschuch 1998: 12)
Wenn die Jugendhilfe somit mehr oder weniger allgemeine ‚Grundprobleme’ bearbeite, habe sie eine
strukturelle und funktionale Erweiterung vorzunehmen (vgl. 9. Jugendbericht 1994). Die ‚Stigmata’ der
Jugendhilfe, die sich in ihrer Bezogenheit auf soziale Probleme, Devianz und Randständigkeit sowie
ihrer entsprechenden Selbstbeschreibung äußern, könnten abgestreift werden. Jugendhilfe könne,
insbesondere durch den Wandel von reaktiven zu präventiven Strategien, zu einer ubiquitären und
entstigmatisierten (vgl. Lüders/Winkler 1992) Instanz der Hilfe zur ‚Lebensbewältigung‘ (vgl. auch
Böhnisch/Schefold
1985)
bzw.
der
Unterstützung,
Beratung
und
Beleitung
einer
generell
risikobehafteten Lebensführung werden (vgl. Rauschenbach 1992). Der ‚gängige Entwurf‘ einer
‚Selbstmarginalisierung’ sei damit obsolet (vgl. Lüders/Winkler 1992).
Das gradlinige Umschlagen einer unbestrittenen Quantitätssteigerung zu der skizzierten Form einer
funktionalen Qualitätsveränderung bleibt dabei vor allem einer modernisierungstheoretischen
Interpretation der Annahme einer Adressatenentgrenzung geschuldet50, die jedoch keinesfalls
konkurrenzfrei ist: In einer kulturpessimistischen Interpretation könnte das Anwachsen der
Beschäftigtenzahlen und Interventionen der Jugendhilfe als Hinweis auf die Gefahr einer ‚betreuten
Gesellschaft’ (kritisch:
Brumlik 2000c) und von konservativer Seite als Ausdruck einer
‚Anspruchsinflation’ und eines übertriebenen, egoistischen Pochens auf soziale Rechte seitens der
‚Leistungsverweigerer’ gedeutet werden (vgl. Murray 1996). Von einer herrschaftskritischen
Perspektive aus betrachtet, könnten vermehrte Interventionen als Ausdruck eines erhöhten
Normalisierungs- bzw. Disziplinierungsbedarfs verstanden werden und aus der Warte einer ‚sozialen’
Hilfeperspektive als Ausdruck einer steigenden Anforderung an die Jugendhilfe aufgrund der
Erweiterung der sozialen Ränder (vgl. Galuske 1993: 122 f), gewachsener relativer Deprivation sowie
auch einer Zunahme dispositionaler Problemlagen. So besteht kaum ein Zweifel daran, dass soziale
Ungleichheit und soziale Problemlagen sich insbesondere in den in den 1990er Jahren sowohl in nur
Darüber lässt sich das ‚normative’ Kernelement dieser Qualitätsveränderung zwar durchaus als im engeren Sinne ‚sozialdemokratisch’ beschreiben, weder sonderlich neu – und bedarf auch keiner ‚modernisierungs-’ bzw.
risikogesellschaftstheoretischen Begründung - noch sonderlich ‚radikal’. In Großbritannien kann es als ein ‚typisches’ Produkt
der späten 1960er Jahre verstanden werden vgl. (Seebohm Committee 1968). „Even in less avant-garde circles” führt Mark
Drakeford (2002: 294) zu diesem Thema aus „the nature of social work was moved from the margins of the maladjusted to
the mainstream. The Seebohm Committee of 1968 proposed a ,universal’ social work service which ordinary citizens would
use as normal as a visit to the doctor or the school”.
50
212
relativ als auch in absoluter vergrößert haben (vgl. Kreckel 2001: 1735), während sich auf der Ebene
der politischen Bearbeitung dieser Problemlagen, die Tendenz rekonstruieren lässt, dass
„Soziale Arbeit als angemessene Form der Bearbeitung im Eigeninteresse von Gesellschaft und Politik betrachtet
wurde bzw. wird. […] Gegenwärtig liegt die Quote der Einkommensarmut bei 13, 6 %, etwa vier Millionen
Menschen sind arbeitslos, knapp drei Millionen Menschen beziehen Sozialhilfe, über 180.000 unterziehen sich
jährlich einer psychiatrischen Behandlung, ca. 70.000 sitzen in Gefängnissen, und ca. 2, 5 Millionen gelten als
behandlungsbedürftige Alkoholabhängige. Knapp 80.000 Kinder und Jugendliche leben in Heimen und betreuten
Wohngemeinschaften. Über 800.000 Menschen gelten als Wohnungslose. An Problemlagen besteht also
offensichtlich kein Mangel, und die Soziale Arbeit ist immer wieder in der Lage, sich als eine sinnvolle und
notwendige Form der jeweiligen Problembearbeitung darzustellen“ (Scherr 2000: 186).
Mit Blick auf diese Zahlen erscheint es als eine gewagte Interpretation, etwa die im Verlauf des Jahres
1998 auf die ohne Zweifel beachtliche Anzahl von 548 500 gestiegenen erzieherischen Hilfen (vgl.
Statistisches Bundesamt 2000), als ein Quantum zu betrachten, dass nur als Ausdruck der
Selbstverständlichkeit der Jugendhilfe in gesellschaftlichen Sphären jenseits ihres ‚traditionellen’ sozial,
kulturell und ökonomisch deprivierten Klientels zu verstehen sei.
Darüber
hinaus
kann
zu
bedenken
gegeben
werden,
dass
eine
Verbreiterung
des
Adressatenspektrums von den ‚sozialen Rändern’ in mittleren gesellschaftlichen Sphären in manchen,
freiwillig
angebotenen
Bereichen,
nicht
zwangsläufig
auf
eine
ubiquitäre
gesellschaftliche
Risikostruktur verweisen muss, sondern ebenso damit zusammenhängen kann, dass die Einstellungen
zu Institutionen von Akteure aus den mittleren Klassen – in der Shell-Jugendstudie (2002: 184f ) etwa
der Gruppe der ‚Macher’ – in einem durchschnittlich deutlich höheres Maße positiv konnotiert sind, als
die der unteren und untersten Bevölkerungsgruppen (vgl. Ritzen et al. 2001, Short 2002, Woolcock
1998). Es ist also anzunehmen, dass Akteure aus den mittleren Klassen ‚freiwillige Leistungsangebote’
von Institutionen ceteris paribus bereitwilliger in Anspruch nehmen (vgl. Schmidt et al. 2002). Eine
Tendenz zur statistischen sozialen ‚Normalverteilung’ der Inanspruchnahme bestimmter freiwilliger
Leistungen wäre dann aber weniger das Ergebnis einer ‚Klassenlosigkeit’ des Bedarfs, sondern der
statistischen Überproportionalität der Bereitschaft von Akteuren der mittleren Klassen Institutionen für
sich zu aktivieren, wie sich etwa auch für den Gebrauch des Polizeinotrufs nachweisen lässt (vgl. Hope
et al. 2002, Karstedt 2003)51. Für eine solche Interpretation auch, dass je stärker sich die Maßnahmen
der Jugendhilfe vom Charakter ‚freiwilliger Leistungsangebote’ entfernen und je intrusiver sie werden,
von einer sozialstrukturellen ‚Normalverteilung’ um so weniger die Rede sein kann (vgl. z.B. Münder et
al. 1998, BMFSFJ 1998).
Schließlich ist es durchaus bemerkenswert, dass die ‚Normalisierungsthese’ in anderen - in keiner
Weise weniger pluralisierten, ausdifferenzierten und individualisierten - Gesellschaften nicht die selbe
Prominenz erreicht hat wie im sozialpädagogischen Diskurs der Bundesrepublik. So sind etwa auch in
den USA - der Referenz für eine fortgeschritten liberale, individualisierte Gesellschaft -
In einer von Tim Hope, Stephan Farral und Susanne Karstedt in England durchgeführten Untersuchung zu ‚Calls and
Crimes’ „zeigte sich, dass individuell erworbenes institutionelles Kapital in Form von Wahlbeteiligung und Universitätsbildung
im Vergleich zur realisierten Kriminalitätsrate zu einer überproportionalen Mobilisierung der Polizei führt: Die Bewohner in
relativ sicheren und wohlhabenden Wohngebieten verfügen über genug Vertrauen in die Polizei, Selbstvertrauen, und die
entsprechenden Fähigkeiten, die Polizei auch bei kleineren Störungen zu mobilisieren, und dürfen wahrscheinlich auch mit
entsprechendem Entgegenkommen rechnen. Dem entspricht, dass Bewohner von Problemgebieten im Vergleich zu ihrer
faktischen Kriminalitätsbelastung die Polizei signifikant weniger mobilisieren“ (Karstedt 2003: 14 f).
51
213
gesellschaftliche Wandlungsprozesse mit Bezug auf eine gesteigerte Inanspruchnahme Sozialer Arbeit
diskutiert und die Etablierung einer neuen Professionalität verlangt worden. Nur liegt diesen
Diskussionen und Forderungen nicht das Bild einer ‚normalisierten’ Sozialen Arbeit in ‚guter
Gesellschaft’ zu Grunde (kritisch: Schaarschuch 1996), sondern das genaue Gegenteil: „Frontline staff
today” führt etwa Lizbeth Schnorr (1993: 5) aus
„[needs] the skills […] to build respectful, trusting relationships, to work collaboratively with families and with
systems and disciplines other than their own, and to be comfortable exercising discretion in dealing with a complex
interplay of problems […] This kind of professionalism requires not only new kinds of training but a redefinition of
professionalism that values the acquisition and application of skills that effectively address the messy but urgent
problems of disadvantaged populations”.
In Bezug auf die Normalverteilung und Ubiquität sozialer Probleme, die die Basis für die These der
Notwendigkeit einer Reformulierung Sozialer Arbeit als ‚ganz normale’ Sozialisationsinstanz darstellt,
lässt sich schließlich auch auf den ‚hausgemachten’ Anteil verweisen. In Übereinstimmung mit den
aktuellen Debatten in der Soziologie sozialer Probleme im allgemeinen (vgl. Groenemeyer 2001c) wird
aus dieser Perspektive darauf verwiesen, dass die Konstitution sozialer Probleme auch deshalb „immer
‚hybrider’ wird, weil die Konkurrenz der Organisationen und das Nachwachsen der Probleme eine
immer artifiziellere Problemdiagnose erfordern52“ (Baecker 1992: 10, zit. nach Flösser 1994: 95).
Soziale Arbeit ist, wie etwa Kleve (2001: 32) ausführt,
„auf permanenten Problemnachschub angewiesen; sie muss ständig neuen potenziellen Klientinnen und Klienten
Hilfe anbieten können oder – wenn das nicht gelingt – ihren Adressatinnen und Adressaten in ausreichendem Maße
Kriterien bereitstellen, dass diese sich immer wieder erneut Probleme zurechnen können, damit soziale Hilfe
weiterhin geleistet werden kann“.
Für eine tendenzielle Adressatenerweiterung – wenn auch nicht ihre Entgrenzung im Sinne der
Normalisierungsthese - spricht nichtsdestoweniger, dass für eine Reihe sozialer Problemlagen eine
‚typische’ Zielgruppe, gerade auch vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Prekarisierung (vgl.
European Commission 2002) und einer Ausweitung der ‚Zone der Verwundbarkeit’ (vgl. Castel 1996),
nicht mehr ohne weiteres trennscharf zu identifizieren ist. Es lässt sich kaum sinnvoll bestreiten, „dass
nicht nur Armut und Arbeitslosigkeit, sondern auch die Strukturen der Normalität, insbesondere
Zwänge der Leistungsgesellschaft, zu enormen Problemen der Lebensbewältigung führen können“
(Scherr 1997: 72), dass Lebensführungsprobleme keinesfalls das Produkt einer ‚Innen-AussenSpaltung’ moderner Gesellschaften ist (vgl. Kronauer 1997), und dass mithin keinesfalls nur
‚exkludierte’ und ‚marginalisierte’ Jugendliche der untersten Klassen die Leistungen der Jugendhilfe in
Anspruch
nehmen
(können
Lebensbewältigungsprobleme
oder
und
müssen).
soziale
Aber
auch
Prekarisierungen
dann,
bis
in
wenn
sich
bestimmte
die
mittleren
Klassen
transversalisiert haben (vgl. Bourdieu et al. 1998, Ehrenreich 1992, Galuske 1993), ist kaum zu
bestreiten, dass die Qualitäten und Quantitäten von Deklassierung Elend und Marginalität ein
52 Bei einer Erhöhung der Zahl der Mitarbeiter in der Kinder- und Jugendhilfe und einer deutliche Rückläufigen Gesamtzahl
der Kinder und Jugendlichen selbst –so hat sich beispielsweise der Anteil der 15-25jährigen in der Bevölkerung seit Beginn
der 1980er Jahre nahezu halbiert (vgl. Griese 1999: 472) erhöht sich die Dichte der potentiellen Leistungsangebote pro Kopf.
Dass sich in einer Verschiebung dieses Verhältnisses nicht nur der Anteil der ‚potenziellen’, sondern aller Wahrscheinlichkeit
nach auch der Anteil an ‚tatsächlichen’ Leistungsempfängern erhöht kann als Erkenntnis allgemeiner
organisationssoziologischer Natur betrachtet werden
214
klassenspezifisch äußerst unterschiedliches Ausmaß besitzen (vgl. Bourdieu et al. 1998, Layte et al.
2002).
Die These von einer Ubiquität oder einer Verallgemeinerung der Sozialisationsfunktion der Jugendhilfe
ist demgegenüber jedoch schon alleine rein quantitativ kaum aufrecht zu erhalten. Selbst wenn von
Dopplungen abgesehen wird, entsprechen die zusammengenommen knapp 548 500 erzieherischen
Hilfen die das Statistischen Bundesamtes (2000) für das Jahr 1998 ausweist, einem Anteil von 2,27 %
der in Frage kommenden Alterspopulation. Auch wenn man davon ausgehen würde, dass sich die
Rate auf eine bestimmte Altersgruppe konzentriert und sich, um eine fiktive Zahl zu nennen, für die
14- 18jährigen vervierfacht, wären es immer noch über neun Zehntel, die keine Nutzer dieser
Leistungen wären. Das ‚quantitative Argument’ gewachsener Fallzahlen für eine qualitativ
substanzielle Veränderung der Jugendhilfe auch dann nur leidlich überzeugend, wenn die
Prävalenzrate der Jugendlichen in Jugendhilfemaßnahmen noch wesentlich höher wäre.
Um ein zugespitztes Beispiel zu geben: Zwar kann man davon ausgehen, dass Normbrüche ein durch
nahezu sämtliche Klassen und Altersgruppen weitgehend ubquitäres Phänomen sind (vgl. Gabour
1994, Kerner 1993, Sessar 1984), allerdings gilt das nicht, zumindest nicht im selben Maße für die
Kontakte mit der ‚Institution Verbrechen/Strafe’ (vgl. Cremer-Schäfer/Steinert 1998). Im Kontext der
Maßnahmen dieser Institutionen sind nicht nur die unteren Klassen, sondern wie insbesondere das
statistische Verhältnis von Alter und polizeilicher Registrierung, der so genannten - auf
Beobachtungen Adolphe Quetelets (1833) zurückgehenden - ‚Crime-Age Curve’ zeigt, vor allem auch
Jugendliche deutlich überrepräsentiert.
Die ‚Age-Crime Cruve’: Prävalenz polizeilicher Registrierungen männlicher
Akteure nach Jahrgangskohorten am Beispiel Freiburg i.Br. (Quelle: Grundis
2000: 6)
Betrachtet man dieses Verhältnis von Alter und polizeilicher Registrierung lässt sich nicht nur
argumentieren, dass die Polizei eine sehr jugendbezogene Institution sei (vgl. Sessar 1997) – der
215
Gipfel der Alterskurve polizeilicher Registrierungen liegt zwischen 16 und 20 Jahren53 - , sondern auch
dass - sofern man auch hier von eine Normalverteilung ohne Dopplungen unterstellt - statistisch
betrachtet fast die Hälfte der bis 22 jährigen der Kohorte des Jahrgangs 1970 einschlägige Kontakte
mit der Polizei hatte. Vor dem Hintergrund der Entwicklung der polizeilich registrierten
Tatverdächtigen im Kindes- und Jugendalter, ist davon auszugehen dass der Anteil der jüngeren
Alterskohorten, die bis zum Alter von 22 Jahren in den ‚Genuss’ personenbezogener Dienstleistungen
der Polizei kommen wird noch wesentlich größer sein wird. Den jährlichen Vergleich mit den 548 500
erzieherischen Hilfen im Jahr 1998 braucht eine Gesamtzahl von ungefähr 692260 polizeilich
registrierten unter 21jährigen im selben Jahr (1999: 687516, 2000: 687887, 2001: 688741∗)
zumindest statistisch nicht zu scheuen. Auf einem etwas niedrigeren Niveau gilt dies auch für die
Jugendgerichte. Laut einer im Sicherheitsbericht zitierten Untersuchung von Jehle und Heinz auf der
Basis unvollständiger Daten aus dem Bundeszentralregister (1991) war am Ende seines Jugendalters
„jeder 6. männliche Jugendliche54 mindestens einmal wegen einer rechtskräftigen Verurteilung oder
einer Verfahrenseinstellung nach §§ 45, 47 JGG registriert“ (vgl. BMI/BMJ 2001: 449) worden neueren Untersuchung von Stelly und Thomas (2001) zu Folge gilt dies inzwischen für mehr als
Fünftel der Altergruppe der Zehn- bis 21-jährigen.
Die Pointe dieser Zahlenspielerei, liegt darin, dass man selbst dann, wenn die ‚Institution
Verbrechen/Strafe’ noch viel einseitiger auf Jugendliche bezogen und die absoluten Zahlen noch
wesentlich höher wären, kaum auf den befremdlichen Gedanken kommen würde, Polizei und
Jugendgerichte
seien
normale,
entstigmatisierte,
zentrale
Sozialisationsinstanzen
für
alle
Jugendlichen, die ihre Bezogenheit auf soziale Probleme und ihrer Kontrollcharakter überwunden
hätten etc.. Das ‚quantitative Argument’ gestiegener Fallzahlen ist – wie die Anwendung dieses
Arguments auf das Beispiel von Polizei und Jugendgerichten verdeutlicht haben sollte – kein
hinreichender Beleg für einen solchen Wandlungsprozess der Jugendhilfe. Jenseits des bloßen Blicks
auf die Entwicklung der Fallzahlen der Jugendhilfe kommt eine jüngere, umfassende Untersuchung
über die ‚Leistungen und Grenzen der Heimerziehung’55, zu dem der ‚Normalisierungsthese’ Ergebnis,
dass sich Jugendhilfemaßnahmen nach wie vor in erster Linie „an ‚schwierige’ Kinder/Jugendliche
richten […,] dass diese ‚schwierigen’ jungen Menschen […] aus problematischen Familienverhältnissen
kommen [und die…] in den Hilfen zur Erziehung betreute Menschen zu einem großen Teil aus armen,
bildungsbenachteiligten und mehrfachbelasteten Bevölkerungsteilen stammen“ (BMFSFJ 1998: 119 f,
133). Selbst noch bei Beratungsangeboten (§28 SGB VIII) setzen sich die Ratsuchenden primär aus
Dies liegt keinesfalls nur darin, dass das Jugendalter eine Phase ‚potentieller Devianz’ darstellt (so etwa Böhnisch 1999).
Unter den vielen Gründen, die eine solche Überproportionalität – neben der selektiven Konzentration der formellen und
informellen Kontrollakteure auf Jugendliche – haben kann, ist besonders beachtenswert, dass Jugendlich Delikte
überproportional oft (in ca. 40 % der Fälle) in Gruppen begehen, d.h. die Zahl der Tatverdächtigen pro Delikt ist deutlich
höher als dies bei Erwachsenen der Fall ist.
∗
eigene Berechnung aus der PKS 2001
54 Die Daten beziehen sich auf den Jahrgang 1967
55 Interessanterweise eine Untersuchung unter der Leitung von Hans Thiersch, einem exponierten Vertreter der
modernisierungstheorischen ‚Normalisierungsthese’
53
216
dem ‚traditionellen Klientel’ und ‚Modernisierungsverlierern’ zusammen (vgl. 10. Kinder- und
Jugendbericht 1998: 245).
Sieht man von der Inanspruchnahme des 1996 vom BVG bestätigten Rechtsanspruch auf einen
Kindergartenplatz durch die Altergruppe der Drei- bis Sechsjährigen ab, umfassen die generalisierten
Angebotsbereiche einen qualitativ und quantitativ eher bescheidenen Ausschnitt des Berufsfeldes der
Jugendhilfe (vgl. Bommes/Scherr 2000: 21). Die prinzipiell für alle, auch ohne besondere
Problemlagen
offenen
Angebote,
wie
etwa
die
der
Jugendarbeit,
Jugendbildung
und
Jugendkulturarbeit erreichen nur etwa ein Zehntel jedes Altersjahrgangs (vgl. Bommes/Scherr 2000,
Scherr/Thole 1998), der zwar hypothetisch, aber nicht faktisch klassenneutral verteilt ist.
Während in den Jugendverbänden die mittleren gesellschaftlichen Straten nach wie vor
überrepräsentiert sind, wird für die meisten anderen offenen Felder der Jugendarbeit nicht etwa ein
Prozess sozialer Homogenisierung sondern im Gegenteil eine Tendenz zu einer ‚Sozialpädagogisierung’
diagnostiziert (vgl. Giesecke 1984: 443 f). Durch eine ‚Abwandern’ der politisch und kulturell
interessierten Mittelschichtjugendlichen (vgl. Ferchhoff et al. 1988) ist die Jugendarbeit faktisch in
weiten Bereichen mit sozial Benachteiligten befasst (vgl. Scherr 1997), was zugleich mit der Tendenz
verbunden ist „die Jugendarbeit darauf zu reduzieren, Leistungen der sozialen Kontrolle und
Prävention für sozial benachteiligte und sozial auffällige Jugendliche zu erbringen“ (Scherr 2002: 99).
„Für die Jugendhilfe gilt zudem, dass Angebote für ‚ganz normale Jugendliche’, die keine besonderen Problemlagen
aufweisen, im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG § 11-13) nicht als solche Pflichtleistungen der Jugendhilfe
festgelegt sind, die in einem gesetzlich vorgeschriebenen Umfang zu gewähren sind“ (Bommes/Scherr 2000: 21).
Vor dem Hintergrund, dass inzwischen teilweise selbst „Pflichtleistungen mit einem Hinweis auf
erschöpfte Budgets zurückgewiesen werden“ (vgl. van Santen 1998: 45) sind gerade diese Bereiche
jedoch in einer besonderen Weise staatliche Sparzwängen ausgesetzt. Sie werden eher reduziert als
ausgebaut. Dem Statistischen Bundesamt (2002) zufolge sind die finanziellen Förderungen für
Maßnahmen der Jugendarbeit zwischen 1996 und 2000 bundesweit um insgesamt rund elf Prozent
reduziert worden, während die Ausgaben und Maßnahmen gegenüber Erziehungsschwierigkeiten,
Entwicklungsauffälligkeiten
und
Verhaltensproblemen
weiterhin
steigen56
(vgl.
Statistisches
Bundesamt 2003, 2003a). Darüber hinaus werden auch die Maßnahmen und Einrichtungen der
offenen Jugendarbeit selbst in wachsendem Maße als Momente der Kriminalprävention interpretiert
und eingesetzt (vgl. Lindner/Freund 2001, Lüders 2000, Pothmann/Thole 2001, Scherr 2002,
Sturzenhecker 2000). In einigen Fällen kann dies zwar eine mehr oder weniger kluge Form der
Nutzung des hegemonialen Präventionsdiskurses zur Verteidigung von sozialen Errungenschaften und
der Bandbreite von Angeboten sein (vgl. Berner/Groenemeyer 2000), von einer Entstigmatisierung der
Nutzer oder von einem Ende des Bezugs auf soziale Probleme und Devianz lässt sich dabei jedoch
kaum ernsthaft sprechen.
Verlässt man den Bereich der Jugend-, Jugendverbands- und Jugendkulturarbeit, ist in Kernbereichen
der Jugendhilfe die Annahme von Leistungen - auch dann wenn die Adressaten zu Kunden umdefiniert
Die Zahl der erzieherischen Hilfen stieg von 108 000 im Jahr 1991 auf 180 000 Jugendliche und junge Erwachsene im
Jahr 1999 (vgl. Statistisches Bundesamt 2001).
56
217
worden sind - häufig weniger das Ergebnis einer „selbstartikulierten Bedürfnislage der Klientel“
(Bettmer 1995: 146) oder Ausdruck der Überzeugung von den angebotenen Produkten, als ein
resignativer Ausdruck eines Fehlens anderer Alternativen in Zwangs- und Notlagen (Hoops at al.
2001: 72, Olk 1994: 29) oder Ergebnis einer ‚Drohung’ mit ‚schlimmeren‘ Alternativen durch andere
Institutionen (vgl. Bittscheid 1998).
In
diesem
Sinne
ist
nur
für
die
wenigsten
Bereiche
der
Jugendhilfe
-
etwa
den
Kindertageseinrichtungen – ist von einer klassenneutralen Normalverteilung der Nutzer zu sprechen,
während längst nicht für alle Einrichtungen von einer im engeren Sinne freiwilligen Inanspruchnahme
der Dienstleistungsangebote die Rede sein kann (vgl. Olk 1994). So geht die Initiative
Dienstleistungsangebote anzunehmen häufig nicht von den Betroffenen selbst aus, sondern ist ein
Ergebnis der Initiative anderer Institutionen wie Schule, Psychiatrie und (Familien)Gerichte (vgl.
Münder et al. 1998) oder eines herrschaftlichen Zugriffs aufgrund abweichender Verhaltensweisen
(vgl. Schaarschuch 1996b). Ein nach wie vor nicht geringer Teil der sozialarbeiterischen
Handlungspraxis bleibt dabei mit mehr oder weniger deutlichen ‚Zwangsinterventionen‘ verbunden
(vgl. Bettmer 1995). Selbst die notorisch bemühte Unterscheidung von ‚Leistungen’ und ‚Eingriffen’
der Jugendhilfe stellt sich eher als terminus technicus verwaltungsrechtlicher Einteilungen (vgl. Kunkel
1997), denn als eine trennscharfe Beschreibung der Interventionsdynamiken der Jugendhilfepraxis
dar. So können Jugendliche gemäß dem Jugendgerichtsgesetz zu denselben ‚Hilfen’ verurteilt werden,
die nach dem SGB VIII als Leistungen angeboten werden (vgl. Deichsel 1997). Die Vertreter des 24.
Deutschen Jugendgerichtstags bestehen zurecht darauf, dass auch „nicht im KJHG ausdrücklich
genannte sozialpädagogische Angebote selbst im Falle jugendrichterlicher Anordnungen Leistungen
der Jugendhilfe [sind]“ (Verlautbarungen zum 24. Deutscher Jugendgerichtstag 1998).
Insbesondere seit den Diversionsdebatten ab den 1980er Jahren wird die justizielle Inanspruchnahme
der Jugendhilfe massiv ausgebaut (vgl. Will 1997). Der Anteil der Jugendlichen, die solche
kontrollierenden Leistungen ‚nutzen’ nimmt insgesamt nicht ab, sondern zu (vgl. Lindenberg 2000):
Alleine bezüglich der umfassenden Mitwirkungen der Jugendhilfe bei den Jugendgerichten, wurden „in
den letzten Jahren […] jeweils weit über 200.000, bis zum Teil über 300.000 Fälle jährlich
abgeschlossen“ (Münder 2001: 1012).
In empirischer Hinsicht, so lässt sich zusammenfassen, unterbietet der statistisch wahrscheinliche
Adressat der Jugendhilfe nach wie vor positionale oder dispositionale Kulturideale oder es wird das
wahrscheinlichkeitskalkulatorische Risiko unterstellt, dass es diese unterbieten könnte. Weiterhin ist
der ‚typische’ Adressat im weitesten Sinne ‚unterprivilegiert’ (vgl. Scherr 1998, Petersen 1996), d.h.
unterdurchschnittlich qualifiziert, mit einem geringeren Einkommen als der gesellschaftliche
Durchschnitt ausgestattet, mit einer spezifischen sozialen Problem- oder rekonstruierbaren Risikolage
konfrontiert (vgl. Bommes/Scherr 2000) oder stellt durch seine sichtbaren Lebensäußerungen selbst
ein ‚soziales Problem’ oder Risiko dar (vgl. Brusten 1999). Trotz ihrer Expansion hat sich in den
klassischen Kernbereichen der Jugendhilfe an der Funktion Sozialer Arbeit, eine gesellschaftliche
Reaktion auf abweichendes Handeln und marginalisierte Verhältnisse darzustellen (vgl. Kerber-Ganse
218
1991), wenig verändert. Ihr Existenzgrund besteht weiterhin vor allem darin, dass „es Arme,
Abweichende, Kranke, Verwahrloste und Hilfsbedürftige offensichtlich gibt“ (Kunstreich 1998a: 449).
Vor diesem Hintergrund ist die breite Rezeption der ‚Normalisierungsthese’ vor allem insofern
relevant, wie sie ein bestimmtes Deutungsmuster gesellschaftlicher Wandlungsprozesse impliziert. Der
Versuch einer Aufwertung der Jugendhilfe zu einer verallgemeinerten, normalen Schlüsselinstitution
der ‚zweiten Moderne’ legt es nahe, die Lösung bzw. Verwaltung einer zunehmenden Zahl
struktureller, gesellschaftlicher, positionaler Problemlagen den dispositionsbezogenen Gestaltungsbzw. Interventionsstrategien der Jugendhilfe zu überantworten. In diesem Kontext werden auch die
‚sozialen Probleme’, zu persönlichen Risiken umdefiniert: Eine Problemkonstitution, die weniger
standardisierbare und positionskompensierende, sondern in erster Linie die dispositionssensiblen
Formen der Interventionen in das Soziale als angemessen erscheinen lässt.
In diesem Sinne ist die Aufwertung der Jugendhilfe auf der Basis eines von gesellschaftlichen und
sozialstrukturellen Einbettungen abstrahierten und verallgemeinerten Risikobegriffs - jenseits der
Intension ihrer Protagonisten – zu einem nicht geringen Teil einer impliziten Grundüberlegung
geschuldet, die die Gefahr in sich birgt, bestehende Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse
tendenziell zu verschleiern. Aus dieser Perspektive betrachtet erweist sich die Normalisierungsthese in
einem gewissen Sinne als mit gängigen ‚neokonservativen’ bzw. ‚neoliberalen’ Gesellschaftsdiagnosen
(dazu: Hayes 1994) und den Prämissen einer individualistischen Sozialtheorie (vgl. Hill 2002)
kompatibel: In dem Maße wie die Risiken und Probleme der Akteure in einer risikomodernen
Perspektive nicht mehr als kollektives Schicksal betrachtet und bearbeitet werden, werden
unverändert „gesellschaftlich verursachte Lebensprobleme […] nur noch als individuell zu
verantwortende und zu bewältigende Versagenserlebnisse deutbar“ (Albrecht 2001: 27).
Schwierigkeiten, Probleme, Risiken etc. werden von gesellschaftlichen Zwängen bzw. den
strukturierten politischen und sozialen Positionen der Akteure abgekoppelt und zu einem Produkt der
individuellen Dispositionen des einzelnen ‚Subjekts’ – das in seiner vollen ‚Ganzheitlichkeit’ und
‚Selbstidentität’ an den naiven bürgerlichen Idealismus erinnert (kritisch: Meder 1987) – und
‚biographisch’ selbstverantworteter (Fehl)Entscheidungen in der reflexiven Wahl autopoetischer
Lebensführung umdefiniert. An die Stelle einer vergesellschafteten Risikoabsicherungen in einem
quasi-universalistischen Sinne tritt eine - auch durch die ‚Normalisierungsthese’ programmatischkonzeptionell unterfütterte - Forderung nach einem individualisierten Risikomanagement, das in dem
Maße, wie die ‚individuellen’ Risiken zugleich klassentransversal generalisiert werden von jedem
Einzelnen eine ‚prudentialistische’ Haltung gegenüber seiner Umwelt (vgl. O’Malley 1992, vgl. auch
Shell-Jugendstudie 2002) und ein risikokalkulatorisches Verhältnis zu sich selbst abverlangt.
Aus dieser Perspektive betrachtet, bringt die ‚Normalisierungsthese’ - völlig jenseits der empirischen
und theoretischen Stichhaltigkeit ihrer Argumentationsführung – zwar nicht unbedingt eine Reflexion
substantieller Veränderungen ‚sozialer Tatsachen’ (vgl. Durkheim 1961) aber Veränderung der
Organisation und Regulation des Sozialen und damit verbunden des Modus Operandi der Jugendhilfe
und der Repräsentation und ‚Subjektivierung’ ihrer Adressaten zum Ausdruck.
219
Auch die Vertreter der Normalisierungsthese verstehen den Hinweis auf eine sozialen Entgrenzung der
Adressaten und eine Expansion der Jugendhilfe im Sozialbereich nicht primär als Frage einer
gestiegenen Quantität der Interventionen der Jugendhilfe, sondern als ein zentrales Argumente für die
These einer prinzipiellen Änderung der gesellschaftlichen Funktion der Jugendhilfe. „[W]eil
naturwüchsige und traditionelle Selbstverständlichkeiten ‚verdampft’“ seien (Hamburger 1997: 245),
komme der Jugendhilfe notwendig eine „sozialpädagogische ‚Herstellung’ von ‚Normalität’“ zu
(Hamburger
1997:
245).
Mit
einer
solchen
Erweiterung
bzw.
Verallgemeinerung
der
Sozialisationsfunktion der Jugendhilfe sei einer fundamentalen Veränderung in der traditionellen
‚pädagogischen’ Bearbeitung des konfliktträchtigen Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft
impliziert. So nähme ihre „prägende Funktionsbestimmung als ‚soziale Kontrolle’ ab und sinkt auf den
für viele Berufe im Sozialisationsbereich zu konstatierenden Grad relativer Allgemeinheit“ (9.
Jugendbericht 1994: 582). Sozialpädagogische Praxis könne dabei, auf Grund der
„Pluralisierung und Individualisierung von Lebenslagen [nicht mehr…] auf eine reaktive Integrations- und
Kontrollfunktion reduziert werden, sondern [übernähme] zunehmend lebenslagenstützende und im weitesten Sinne
präventive personenbezogene und infrastrukturelle Dienstleistungen“ (Lüders/Winkler 1992: 364, vgl. Gildemeister
1992).
Entsprechend sei Jugendhilfe zu einer ‚Risikogewinnerin’ geworden (vgl. Rauschenbach 1992).
Während sich die Jugendhilfe aufgrund gesellschaftlicher Wandlungsprozesse ‚normalisiert’, d.h. ein
quantitatives Wachstum erfahren und sich von ihrer Positionierung an den gesellschaftlichen Rändern
verabschiedet habe, führe die generalisierte Risikostruktur der ‚zweiten Moderne’ in qualitativer
Hinsicht zu einer systematische Veränderung ihrer Funktionen. Die durch ihre Komplexität induzierte
Störanfälligkeit der sich modernisierenden Gesellschaft (vgl. Stehr 2002) und die damit verbundenen
Entgrenzungen sozialer Risiken erfordere den erhöhten Einsatz von Sozialpädagogen in der Funktion
„soziale[r]
RisikoexpertInnen“
(Rauschenbach
1999:
264),
deren
präventionsorientierte
Interventionsrationalitäten sukzessive in sämtliche Bereiche der Lebensführung potentiell aller Akteure
diffundiere (vgl. Lüders/Winkler 1992). Damit sei die Jugendhilfe von einer reaktiven Kontrollinstanz
zu präventiven Dienstleistung geworden: ‚Präventionsorientierung’ beschreibt den modus operandi
einer ‚normalisierten’ Jugendhilfe.
III. 5.1
Obschon
NORMALISIERUNG UND PRÄVENTIONSORIENTIERUNG – EIN ENDE DER KONTROLLE?
die
Jugendhilfe
auch
im
keynesianischen
Sozialstaat
einer
fordistischen
Gesellschaftsformation ihrer Konstitution nach eine ‚präventive’ Agentur ist, induzieren die Krisen und
Widersprüche der späten fordistischen Sozialstaatsorganisation eine verstärkten Orientierung an
‚präventiven’ Konzepten in der Jugendhilfe. Diese ‚präventive Wende’ reflektiert zum einen die Kritik
an den traditionellen Eingriffsformen. Zum anderen ist die Hervorhebung von Prävention auch eine
programmatisch-professionspolitische Strategie der Jugendhilfe im Kontext einer Interpretation des
gesellschaftlichen
Wandlungsprozesses
als
Entwicklung
hin
zu
einer
individualisierten
Risikogesellschaft. In diesem Sinne kommt dem Aufstieg des Präventionsdiskurses für die Jugendhilfe
220
die Funktion eines Vehikels zu, für ihre Neugestaltung in einer sich abzeichnenden fortgeschritten
liberalen Gesellschaftsformation.
Vor dem Hintergrund der emanzipatorischen Kritik einer Kolonialisierung der Lebenswelt durch
bevormundenden und bürokratisch organisierten Eingriffe der Sozialadministration, stellt die
Forderung
nach
‚Prävention‘
zunächst
eine
‚fortschrittliche‘
Strukturmaxime
einer
‚lebensweltorientierten‘ Jugendhilfe (vgl. Thiersch 1992, 2000) und vor allem die Bekundung des
eigenen Anspruchs dar, im Sinne einer Instanz ‚primärer Prävention’ umfassender, eigenständiger und
aktiver als bisher Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen zu nehmen. Eine Orientierung an den
sozialpolitisch fassbaren Erfordernissen einer solchen ‚primären’, strukturellen Prävention markiert
dabei auf einer konzeptionell-programmatischen Ebene das Ziel, in dem „Verhältnis von sozialem
Anspruch der Sozialen Arbeit und ihrer kontrollierenden Normalisierungsfunktion eine neue
Gewichtung“ vorzunehmen (Böllert 1996: 440).
Durch eine ‚präventive Orientierung’ der Jugendhilfe wird in so fern ein primär professionspolitisch
fassbares Selbstverständnis zum Ausdruck gebracht, das darauf gerichtet ist die sozial gestaltende
Dimension
der
Jugendhilfe
zu
stärken
und
von
einer
tendenziell
stigmatisierenden,
einzelfallorientierten und bürokratielastigen, normierend-normalisierenden Eingriffsorientierung einer
fürsorgerischen Institution des fordistischen Sozialstaats Abstand zu nehmen. An Stelle fungiert die
fachliche ‚Präventionsorientierung’ als konzeptionell-strategischer Teil des Versuchs Jugendhilfe als
eine ‚normalisierte’ Instanz zu reformulieren, die in einer Risikogesellschaft Unterstützung ‚für alle’
realisieren soll, zu einem Zeitpunkt bevor sich verallgemeinerte, klassentransversale Risiken zu
manifesten Schwierigkeiten dramatisieren (vgl. Thiersch 1999). Die Hoffnung ist, dass sich dabei die
Möglichkeit ergäbe, Interventionsformen der Jugendhilfe zu vermeiden, die Maxime des ‚Systems’ auf
die ‚Lebenswelt’ transformieren und in Form einer ‚klinischen’, reaktiven Fallbearbeitung häufig eher
den Erfordernissen der ‚Organisation’ als den Bedürfnissen der Adressaten entsprechen und in dieser
Hinsicht oft willkürlich erscheinenden Lösungsprozeduren folgen. Die in dieser Form verstärkt seit den
1980er Jahren artikulierte Forderung nach ‚Prävention’ zielt demnach zunächst darauf, Wege zu
eröffnen,
die
statt eines „negativ zu bewertenden Eingriff[s] in Lebensverhältnisse […]
Adressatennähe, Sozialverträglichkeit und Partizipationschancen“ (Gaiser/Müller-Stackebrandt 1995:
2f) garantieren sollen. ‚Prävention’ birgt in diesem Sinne das Versprechen an die Professionellen und
die Adressaten eine Perspektive zu eröffnen, die es ermöglichen soll disziplinierende und
paternalistische Momente einer sozialbürokratischen Form der Jugendhilfe zu reduzieren (vgl. Wolf
1997) und zugleich „die spezifischen Bedürfnisse der ‚Klienten’ früher und genauer zu erkennen und
situativ zu befriedigen“ (Otto 1983: 219).
Im Sinne einer solchen ‚fachlichen’ Präventionsorientierung geht es demnach in erster Line um den
Versuch eine (Neu)Konzeption der Jugendhilfe zu elaborieren, um gesellschaftlichen Übel dadurch ‚an
der Wurzel zu packen’, dass ‚positive’ und ‚förderliche’ Lebensverhältnisse auf der strukturellen
gesellschaftlichen Ebene gestaltet und auf der dispositionalen Ebene der Adressaten die Kompetenzen
und Voraussetzungen unterstützt werden, die eine ‚gelingende’ ‚subjektive’ Ausgestaltung der eigenen
Lebensverhältnisse ermöglichen. Zugleich wird mit einer ‚präventive Orientierung’ das Versprechen
221
verknüpft, unterschiedliche Lebensentwürfe nicht mehr durch ‚korrektive Interventionen’ pauschal
unter gegebene Normalitätsanforderungen zu subordinieren, sondern stattdessen im Gegenteil die
Adressaten dabei zu unterstützen, ihre biographischen Selbstkonstruktionen auch gegenüber den
Zumutungen ex ante definierter Normalitätsentwürfe zu verteidigen (vgl. Böllert 2001). Aus dieser
Perspektive fordert ‚Prävention’ eine aktive, umfassende, sozial- wie kommunalpolitische Gestaltung
der Lebensverhältnisse von Kindern und Jugendlichen, die sich ebenso an den Bedürfnissen und
Interessen der heranwachsenden Generation selbst orientieren sollte, wie der Verbesserung sowohl
der Situationen von Familien, Schulen als auch dem Arbeitsmarkt dienen und sich auf die Etablierung
von freiwilligen Angeboten beziehen soll, die eine Verhinderung von Leiden, Benachteiligungen und
Erfahrungen des Scheiterns von Kindern und Jugendlichen ebenso fokussieren, wie sie sich auf
Bildung und Aufklärung richten (vgl. 8. Jugendbericht 1990, Plewig 2000, Scherr 1998, Thiersch
2000).
Um es zusammenzufassen: Die neue ‚fachliche’ ‚Präventionsorientierung’ der Jugendhilfe amalgamiert
so ziemlich alles, was aus einer sozialwissenschaftlich aufgeklärten Perspektive an Kritik der
‚kolonialisierenden’, paternalistischen und disziplinierenden Interventionen der Jugendhilfe bzw.
Jugendfürsorge in der fordistischen Gesellschaftsformation formuliert worden ist. Allerdings geschieht
dies ohne sich auf gegenhegemoniale, fundamental kapitalismuskritische Positionen einzulassen, wie
sie im Kontext einer ‚kritischen’ bzw. ‚radikalen Sozialen Arbeit’ (vgl. Sünker 2000) seit den frühen
1970er vorgetragen worden sind.
Nichtsdestoweniger ist eine Präventionsorientierung, wie sie im disziplinären Diskurs der Jugendhilfe
seit den späten 1980er Jahren verhandelt wird, vor allem ein Synonym für eine Leistungs- und
Angebotsorientierung der Jugendhilfe. Sie ist zunächst nicht, zumindest nicht primär, als eine
Strategie der vorgängigen Bearbeitung von Normabweichung Kinder und Jugendlicher konzipiert (vgl.
Böllert 1996, 2001): Als perspektivische Beschreibung einer modernen Jugendhilfe wird ‚Prävention’
auf einer programmatischen Ebene ausdrücklich unterschieden von „Interventionen [die] in die
Lebenssituation von Individuen und soziale Gruppen ziel[en], bei denen ärgerliche, irritierende,
störende, selbst- und fremdschädigende oder eben strafrechtlich relevante Verhaltensweisen
beobachtet bzw. vermutet werden“ (Scherr 1998: 581; vgl. Böllert 1995).
Allerdings
ist
diese
Unterscheidung
eher
professionspolitisch
und
mit
Blick
auf
die
„Professionalisierungsinteressen der Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen […angemessen, die] im
einvernehmen mit ihren Adressatinnen und Adressaten handeln [wollen]“ (Peters 2002: 179), als
analytisch
konsistent.
‚Präventionsorientierung’
Etwas
vor
überspitzt
allem
die
formuliert
markiert
Demarkationslinien
von
eine
so
formulierte
‚guten’
und
‚schlechten’
Interventionsformen sowie fachlich, politisch und normativ ‚angemessenen’ und ‚unangemessen’
Intentionsanlässen. D.h. die ‚Präventionsorientierung’ fungiert zunächst vor allem als ein „politischlegitimatorische[r] Begriff, der die ‚Philosophie’ des KJHG“ (Zehnter Kinder- und Jugendbericht 1998:
178) zum Ausdruck bringen soll, und zeigt eher eine „programmatisch-strategische Zielvorstellung“
an, als den Rekurs auf einen analytischen Präventionsbegriff bzw. eine analytische Bestimmung der
Jugendhilfe und der Ambivalenzen ihrer Interventionen (vgl. Müller 2001).
222
‚Prävention’, verstanden als „eine Orientierung an lebenswerten, stabilen Verhältnissen und Hilfe bei
der Bewältigung kritischer Lebensphasen und -ereignisse“ (Jordan 1996: 316) ist nicht weniger als
deckungsgleich
mit
einer
Aus-
bzw.
Umformulierung
des
im
SGB
VIII
§1
formulierten
präambelförmigen Selbstverständnisses der Jugendhilfe selbst. In diesem Sinne stellt die
‚Präventionsorientierung’ nicht nur eine Maxime unter anderen dar, sondern eine appellative
Metakategorie, die eng mit einem neuen Selbstverständnis der Jugendhilfe als ‚normale’
Dienstleistung und einer Abkehr von der im RJWG noch verbliebenen obrigkeitsstaatlichen
Konnotationen
verbunden
ist.
Als
ein
legitimatorischer
Perspektivbegriff
lässt
sich
die
‚Präventionsorientierung’ mit anderen Prinzipien, Angeboten, Strategien und Programmatiken der
Jugendhilfe beliebig koppeln. So beispielsweise: ‚Prävention durch Integration’ (vgl. Hornstein 2001)
‚Prävention durch Empowerment’ (vgl. Blug 2000), ‚Sozialraum als Prävention’ (vgl. Specht 1999),
‚Jugendhilfeplanung als Prävention’ (vgl. von Santen 2000), ‚Familien stärken als Prävention’ (vgl.
Rehse 2000), ‚Prävention durch Partizipation’ (vgl. Autrata 2000), ,Prävention durch Vernetzung’ (vgl.
von Santen/van Unen 2000) etc.. Dabei ist Mehrheit der hier zitierten Präventionspräfixe bereits
Ausdruck und Teil einer sind vor allem seit Mitte der 1990er Jahre vollziehenden ‚ordnungspolitische
Wende’ im Präventionsdiskurs der Jugendhilfe. Hier bietet der Rekurs auf Prävention vor allem die
Chance, im Zuge einer Selbstsubordination der bestehenden eigenen Dienstleistungen und
Handlungspraxen unter einen - im Kontext der Probleme der Regulation einer ‚Risikogesellschaft’
dominant gewordenen – Sicherheitsdiskurs, die Förderungs- und Finanzierungswürdigkeit des eigenen
Tuns zu gewährleisten bzw. die Finanzierungsnotwendigkeit zu verdeutlichen (vgl. Linder/Freund
2001, Baillergeau/Schaut 2001).
Eine solche Form der ‚Präventionsorientierung’ bleibt jedoch nicht effektfrei: Sie beinhaltet nicht nur
eine „generalisation in the social work field of the notion of prevention to the detrinment of autonomy
and emancipation“ (Baillergeau/Schaut 2001: 437), sondern verlässt der Tendenz nach den Fokus auf
eine Bearbeitung der positional-dispositionalen Matrix der Akteure und verschiebt die Interventionen
der Jugendhilfe zu einem Mittel unter anderen, die darauf zielen, die sichtbare Frequenz missliebiger
Verhaltensperformanzen zu unterdrücken und deren ‚Qualitätskriterien’ sich primär auf die
„visibilisation and the rapitity of activitities“ reduzieren (Baillergeau/Schaut 2001: 437).
Diese Form der Präventionsorientierung stellt in ihrer Programmatik kaum weniger als den
Antagonismus zu jener Form der ‚fachlichen’ Präventionsorientierung dar, die im Zuge einer
gesellschaftlichen ‚Modernisierung’ den Bedarf einer fachlichen Umorientierung der Jugendhilfe
markieren sollte. Allerdings kann sie auch als deren Konsequenz und Verlängerung gefasst werden.
Der fachliche Präventionsdiskurs der späten 1980er und frühen 1990er lässt sich in diesem Sinne als
ein Übergangsphänomen der Herausbildung einer von den fordistischen Logiken der Jugendhilfe
unterscheidbaren Kontrollrationalität verstehen.
Der ‚fachlichen’ Präventionsorientierung liegt – und dies stellt der teleologischen Ebene einen
Widerspruch zum Ordnungsdiskurs dar - eine dichotomische Unterscheidung des Begriffs der
‚Leistungen’ als Gegenstück zum Begriff des ‚Eingriff’ zu Grunde (vgl. Lüders 1995: 42), die durch den
Rekurs auf einen professionell ‚angemessenen’ Präventionsbegriff aufgelöst werden soll. In dem
223
Versuch eine Art Programm für die ‚gute Jugendhilfe’ aufzulegen, die ihre, für die fordistische
Gesellschaftsformation
typische,
doppelte
Konstitution
als
Agentur
von
Unterstützung
und
Disziplinierung einseitig auflöst, bleiben allerdings die Konsequenzen aus einer analytischen Klärung
des Verhältnisses von Sozialpolitik und Sozialer Arbeit (vgl. Otto 1991, Otto/Flösser 1992, Kaufmann
1999) hinter professionspolitisch-programmatischen Wendungen zurück (vgl. 8. Jugendbericht 1990).
In der fachlichen Präventionsorientierung laufen zwei Diskursstränge zusammen: Während sich die
mit der Forderung nach einer ‚präventiven Orientierung’ zum Ausdruck gebrachte Kritik der
Interventionsperspektive der Jugendhilfe an die vor allem seit den späten 1970er Jahren formulierte
Kritik an Bürokratie, expertokratischer und paternalistischer Entmündigung, an kolonialisierendkontrollierenden Übergriffen in ‚lebensweltliche’ Zusammenhänge und administrativer Willkür (vgl.
Müller/Otto 1980, 1984) anschließt, basiert die Formulierung einer Jugendhilfe, die sich durch eine
präventive Orientierung ihrer Kontrolldimension entledigt habe und als ‚autonomes Teilsystem’
ausschließlich nach dem Code ‚Hilfe’ und ‚Nicht-Hilfe’ operiere (vgl. Merten 1997), im Wesentlichen auf
den modernisierungstheoretischen Argumenten der ‚Normalisierungsthese’.
Abgesehen von dem semantischen Problem, dass es sich mit Forderung statt intervenierender sozialer
Kontrolle verstärkt Prävention zu betreiben, etwa wie mit der Aussage verhält, in Zukunft weniger
Auto dafür mehr Mercedes zu fahren, besteht auf einer analytischen Ebene das Problem der
Behauptung einer zunehmenden systematischen Irrelevanz einer Herrschaft- und Kontrolldimension
der Jugendhilfe darin, dass der Doppelcharakter sozialer Arbeit nicht als Verwobenheit bzw.
Synonymität der Momente von Hilfe und Herrschaft gefasst wird, die sich in einer Handlung
gegenüber ein und dem selben Adressaten vollzieht (vgl. Müller 2001). Die Frage der Kontrollfunktion
sozialer Arbeit wird damit nicht in Bezug auf die Ambivalenz sozial regulativer Interventionen
thematisiert - in der die ‚Dimension’ ‚Hilfe’ selbst widersprüchlich ist, weil sie als eine Interpenetration
in die Lebensführung und hervorbringenden Bearbeitung der Identität ihrer Adressaten auch als eine
Form der ‚Kontrolle’ thematisiert werden kann (vgl. Piven/Cloward 1977, Peters 1998, Bommes/Scherr
2000) -, sondern eher als Addition verschiedener Momente verstanden, in der die Jugendhilfe sowohl
‚helfende’ als auch ‚kontrollierende’ Momente habe und es darauf ankäme, die ‚helfende’ Dimension
hervorzuheben, und die ‚kontrollierende’ zu unterdrücken.
Diese Position mag (professions)politisch sinnträchtig sein. Theoriearchitektonisch ist damit jedoch die
sowohl sozialtheoretisch als auch mit Blick auf die ‚soziale’ Konstitutionslogik der Jugendhilfe
problematische Annahme unterstellt, Jugendhilfe könne die Aufgabe der Vermittlung zwischen dem
einzelnen sozialen Akteur und ‚der Gesellschaft’ (vgl. Sünker 1996) auf der Ebene des ‚Helfens’ ohne
Rekurs auf die Ansprüche gesellschaftlicher Organisation vollziehen, d.h. Individuen als stabile
Identitäten ‚autonomer Subjekt’ nicht in, sondern gegenüber den Zwängen, Normen und Ordnungen
einer (kapitalistischen) Gesellschaft ‚hervorbringen’.
Die analytisch konsistenteste Formulierung einer solchen Annahme basiert auf der These, dass im
Rahmen gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse die um lohnarbeitszentrierte Rollen formierte
‚fordistische’ ‚Normalität’ an Gültigkeit verloren hätte. Damit hätten die freigesetzten, individuellen
sozialen Akteure ihre Lebensentwürfe, Lebensläufe und Lebensbedingungen nicht nur zunehmend
224
selbst zu gestalten (vgl. Böllert 2001), sondern auch ihre Subordinierung unter eine verallgemeinerte
Normalitätsunterstellung, wie sie in den klassischen, korrigierenden Interventionen angelegt gewesen
sei, wäre nunmehr obsolet (vgl. Brüggemann-Helmold et al. 1996). Pluralisierte Lebensentwürfe und
Beziehungsmuster, Auflösungen traditioneller gesellschaftlicher schicht- und klassenspezifischer
Trennlinien und die Erosion verallgemeinerbarer Normalitätsentwürfe (vgl. Böllert 1995, 2001) liesen
die bisher gültigen Normalitätszumutungen nicht nur in einem politischen Sinne kritikwürdig (vgl.
Clarke 1979, Hollstein/Meinhold 1973, Piven/Cloward 1971), sondern - nicht aufgrund eines
‚politischen Kampfes’ sondern aufgrund gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse – auch in einem
‚gesellschaftsfunktionalen’ Sinne kontraproduktiv und ‚technologisch’ zunehmend undurchführbar
erscheinen (vgl. Böllert 1995, Böhnisch 1994).
Die ‚Interventionszentriertheit’ des keynesianischen Sozialstaats werde folglich durch einen „Zwang zu
einer Präventionslogik in der Risikogesellschaft“ (Böllert 1992: 163) abgelöst. Dabei werde Soziale
Arbeit als eine soziale Risikovorsorge refiguriert, in der den Professionellen der Status von
‚RisikoexpertInnen’ zukomme (vgl. Rauschenbach 1999) die an die Stelle der ‚fordistischen
Sozialpädagogen’ als ‚Sozialingenieure’ treten. Die präventiven Aufgaben der Jugendhilfe, seien vor
diesem
Hintergrund
als
Hilfen
zum
persönlichen
Management
der
Risiken,
Brüche
und
Ungleichzeitigkeiten der eigenen Biographie der Adressaten sowie zur Herausbildung und Stützung
risikomoderner Identitäten zu fassen.
Unberücksichtigt einer ganzen Reihe konzeptionell-logischer Probleme in dieser Argumentationen57 z.B. dass Prävention im Gegensatz zur Interventionen keiner Normalitätsunterstellung bedürfe - bleibt
vor allem Frage unbeantwortet, warum der ‚Zwang zu einer Präventionslogik’ die Kontrollfunktion der
Jugendhilfe zum ‚Abschmelzen’ bringen soll – schließlich ließe sich ja auch davon sprechen, dass
Machtbeziehungen versteht man sie etwa – wie Michel Crozier und Erhard Friedberg (1979) - als
differenzielle Grade der Kontrollmöglichkeiten von Ungewissheitszonen gerade wegen einer Ubiquität
von Risiken eher an Relevanz gewinnen als verlieren. Demgegenüber wird das Abschmelzen von
Kontrolle häufig schlicht gesetzt oder etwa damit begründet, dass es
„SozialarbeiterInnen inzwischen innerhalb gewisser juristischer Grenzen unmöglich geworden [sei] zwischen
Norm/Abweichung klar zu unterscheiden. Die Pluralisierung der Lebenswelten, Individualisierungsprozesse und die
funktionale Ausdifferenzierung verunmöglichen geradezu das Festhalten an der Leitdifferenz von Norm/
Abweichung“ (Kleve 1999: 376).
So lange sich diese Aussage auf ein Norm bzw. Normalitäten bezieht, wie sie strukturfunktionalistische
Analysen als Bezugsgrößen sozialer Interventionen thematisiert haben (vgl. Merton 1968, Parsons
1939, 1969), lässt sich durchaus darauf verweisen, dass ein Festhalten an einer Differenz von Norm
Dabei ist die Engführung von Prävention und ‚Risikogesellschaft’ zunächst insbesondere dann theorieimmanent plausibel,
wenn der Begriff ‚Risikogesellschaft’ eine gesellschaftliche Formation bezeichnen soll, die im wesentlichen durch die
Verteilung von ‚Risiken’ strukturiert ist. Risiken zeichnen sich qua Definition dadurch aus, dass sie auf wahrscheinliche
Zukünfte verwiesen und bereits ihre bloße Bestimmung eines prädiktorischen Elements bedarf (vgl. Prins 1996).
Interventionen, die sich durch dieses Element definieren, bzw. legitimieren stellen - ebenfalls qua Definition – präventive
Interventionen war- Wird die Verteilung von Risiken als das entscheidende gesellschaftliche bzw. persönliche Problem der
Adressaten personenbezogener sozialer Dienste rekonstruiert, lässt sich weitgehend widerspruchsfrei eine weitere
Forcierung risikokalkulatorischer Interventionen als problemangemessene Strategie Sozialer Arbeit in der ‚Risikogesellschaft’
darstellen.
57
225
und Abweichung problematisch ist, die auf einer Fassung gesellschaftlicher Normalität als
homöostatische Gleichgewichtszustände beruhen und Abweichung als Störung dieses Gleichgewichts
verstehen. Dafür, dass ein solches Verständnis von Normen und Normalität problematisch ist,
sprechen jedoch nicht ‚substanzielle’ gesellschaftliche Wandlungsprozesse, sondern auch theoretische
und epistemologische Einwände, die sich z.B. in der ‚konstruktivistischen Wende’ sowie im ‚cultural
turn’ der Sozial-, Human-, Kultur- und Geschichtswissenschaften manifestieren. Diese Einwende
haben unter anderem etwa dazu geführt, dass die „lange Zeit dominierende Perspektive des
Strukturfunktionalismus mit seinem Versprechen einer ‚technischen’ an objektiven Kriterien und
Funktionserfordernissen ausgerichteten Analyse sozialer Probleme“ (Groenemeyer 2001: 6) seit den
1970er Jahren ihren erkenntnistheoretisch dominanten Status in den sozialwissenschaftlichen
Auseinandersetzungen um Normalität, Abweichung und Kontrolle verloren hat. Wenn aktuale
individualisierungs-
und
strukturfunktionalistisch
modernisierungstheoretische
interpretierten
Vergangenheit
Diagnosen
einer
gegenübergestellt
im
wesentlichen
wenden,
sind
die
beobachteten Veränderungen möglicherweise nicht nur - und vielleicht nicht einmal in erster Linie auf die Veränderung des Gegenstands selbst, sondern auch auf perspektivische Veränderungen in der
Betrachtung und Analyse des Gegenstands zurückzuführen58 und/oder auf eine „Veränderung
politisch-ideologischer
Rahmenbedingungen,
deren
Wirkungsmacht
das
soziologische
[und
sozialpädagogische] Denken sich nicht zu entziehen vermochte“ (Schetsche 2000: 46, vgl.
Reinarman/Levine 1997).
Sofern Abweichung aber - wie in den devianztheoretischen Überlegungen vorgeschlagen (vgl. Kap. II.
2) - als Unterbietung je feldspezifisch wirksamer sektoraler Hegemonien - bzw. als die Delegitimierung
von Dispositionen auf Basis der ‚Zumutungen’ und Geltungsansprüche dieser sektoralen Hegemonien gefasst wird, kann die Vorstellung einer einheitlichen, auf den gesamten sozialen Raum aggregierten
‚Normalität’ - die über eine Beschreibung fundamentalster gesellschaftlicher Strukturierungen
hinausgeht -, als Grundlage für Herrschafts-, Zurichtungs-, und Kontrollvorgänge aufgegeben werden,
ohne die Tatsache der Existenz dieser Vorgänge in Frage zu stellen (dazu auch Alber 2002). Sofern
‚Gesellschaften’ werder substantialistisch noch die Summe einzelner Elemente wie Individuen oder
Handlungen
gefasst
werden,
sondern
als
relationale
Gefüge,
die
in
historisch-spezifische
Diskursformationen eingebettet sind und sich über Differenzen erschließen (vgl. Bourdieu 1997a,
1997b, Bublitz 2003), so lässt sich davon sprechen, dass sich symbolische bzw. diskursive
Formationen – ohne dass damit unterstellt wird, dass sich ihre Reichweite notwendigerweise über den
gesamten
sozialen
Raum
hinweg
gleichmäßig
aufspannt
-
auch
„in
Klassifikationen
und
Teilungspraktiken von erwünschten und verworfenen Subjekten [… materialisieren und damit]
So kann auch die ‚Normalisierungsthese’ selbst als Produkt einer Verschiebung von marxistischen und
‚emanzipatorischen’ über ‚alltags-’ und ‚lebenswelttheoretische’ zu modernisierungstheoretischen Perspektiven verstanden
werden, durch die der Gesellschaft in der Sozialen Arbeit nicht mehr, wie Mollenhauer einst behauptete ihr ‚schärfster
Kritiker’ (vgl. Mollenhauer 1968) erwächst, sondern „ein Anbieter von Dienstleistungen, der gesellschaftliche Anerkennung
einfordert“ (Scherr 2000b: 188) In diesem Sinne hat sich unabhängig davon, inwieweit sich ihr Gegenstand selbst
substanziellen verändert soziale Arbeit auch nicht zuletzt „in so fern normalisiert […], als sie zu einem ganz normalen
Studium und einem ganz normalen Beruf geworden ist, die keineswegs mehr gesellschaftskritischen Motiven verpflichtet
sind“ (Scherr 2000b.: 182).
58
226
konstitutiv für das [sind], was als Normalität und Abweichung gilt“ (Bublitz 2003: 84, vgl. Weiß et al
2001).
Kontrolle - die ihrerseits einen praxiswirksamen Bestandteil und ein regulatives Element sozialer
Relationen darstellt – reagiert aus dieser Perspektive auf ‚Abweichung’ nicht aufgrund einer objektiv
bestimmbaren ‚Fehlabstimmung’ in Bezug auf eine gegebene Homöostase, sondern auf der Basis
praxislogisch wirksamer symbolischer Hegemonien. Als ein Teil gesellschaftlicher Praxis verweist ihre
primäre Verortung weniger auf synchrone Momentaufnahmen des sozialen Raums, sondern primär
auf die Dynamiken relativ autonomer sozialer Felder. Die Feststellung einer Auflösung einer
funktionalistisch fassbaren, auf die Gesellschaft als Gesamtsystem bezogenen verbindlichen
‚Normalität’ und eine damit verbundene ‚Liberalisierung’ einer für die fordistische Phase des
Kapitalismus vergleichsweise deutlich rekonstruierbaren ‚Intoleranz gegenüber Diversität’ (vgl. Young
1999) in Folge von Modernisierungsprozessen mag mehr oder weniger sinnträchtig sein, impliziert
aber keinesfalls automatisch einen Verlust gesellschaftlicher Macht, Herrschaft und Kontrolle (vgl.
Bauman 1998, Young 1999). Auch wenn Bryan S. Turners (1997: xviii) Einwand, dass eine wesentlich
auf die Momente von „Deregulation und Dezentralisierung“ verweisende Neukonstitution moderner
Gesellschaften als ‚Risikogesellschaften’ - insbesondere in Bezug auf die Erzeugung von
‚Selbstkontrolle’ und ‚Selbstregulation’ – ‚mehr’, subtilere und systematischere Formen sozialer
Kontrolle als bisher benötige, nicht von der Hand zu weisen ist, impliziert eine solche Dynamisierung
gesellschaftlichen Ordnungsrahmens jedoch auch keinen einfachen Zuwachs an Kontrolle.
Die herrschafts- und kontrolltheoretisch entscheidende Pointe, wie sie im Kontext von machtanalytisch
sensible individualisierungs- und risikotheoretischen Überlegungen unterschiedlicher Theoretikern wie
etwa Zygmunt Bauman (1997), Robert Castel (1983), Stan Cohen (1985), Mitchell Dean (2000), Mary
Douglas (1994), François Ewald (1993), Deborah Lupton (1999) Pat O’Malley (1998), Jonathan Simon
(1987) und Henning Schmidt-Semisch (2002) vorschlagen wird, ist eine andere: Dort wo sich
traditionelle,
‚fordistische‘
Formen
von
Zwang,
Bindung
und
Disziplinierung
in
einem
Auflösungsprozess befinden – Foucault hat bereits 1978 darauf aufmerksam gemacht dass es
‚offensichtlich’ sei, dass „wir uns in Zukunft von der Disziplinargesellschaft, wie sie heute besteht,
verabschieden müssen“ (Foucault 1994a: 533), da sie inzwischen „‚unökonomische’ und ‚archaische’
Form der Macht“ (nach Lemke 2003: 268) repräsentiere -, entsteht nicht einfach ein herrschaftsfreies
Vakuum, sondern es finden sich andere, transformierte oder modulierte, strukturelle und praktischtechnologische Entsprechungen. Diese tendieren nicht nur dazu die Chancen, Freiheiten und
Möglichkeitsspielräume der sozialen Akteure in unterschiedlichem Maße zu erweitern oder
einzuschränken, sondern auch auf eine neue Weise und nach anderen Mustern und Regelmäßigkeiten
verteilen (vgl. Brumlik 1996, Lianos/Douglas 2000, Stehr 2000), wobei jedoch vor allem die ,Verlierer’
in diesem neu geregelten Spiel häufig die selben bleiben.
Folgt man der Analyse Langans (1998), kann insbesondere in der Hochphase des fordistischkeynesanischen Wohlfahrtsstaats die Erbringung und Verteilung von Leistungen durch die sozialen
Dienste in einem spezifischen Verhältnis von Universalismus und Paternalismus betrachtet werden.
Während die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen in so fern einen quasi-universalistischen Charakter
227
haben, wie sie zumindest bestrebt sind, verfügbare Leistungen jedem entsprechend seines Bedarf
zukommen zu lassen, besteht das paternalistische Moment darin, dass der helfende und
kompensierende Staat, seine Leistungen nicht nur erbringt, sondern den Bedarf sowie die Reichweite
und die Art und Weise wie dieser zu decken sei, selbst und nach eigenen Kriterien definierte.
Unabhängig von der ökonomischen Krise des sozialen Staates und den Fragen der Finanzierbarkeit,
impliziert die Fokussierung auf ‚Risiken’ und die Interpretation der Gesellschaft als individualisierte
‚Risiko-’ eher denn als ‚Klassengesellschaft’ einen zentralen Wandel in der professionellen Perspektive.
Während es, pointiert formuliert, im fordistischen Sozialstaat der Bedarf der Akteure im Kontext ihrer
Lebenslagen bzw. ungleichen sozialen Positionierungen ist, der die Grundlage für eine, die Ergebnisse
der Marktmechanismen modifizierende Verteilung der Ressourcen, bzw. der ‚Kapitalen’ durch die
sozialen Dienste wie die Sozialpolitik insgesamt repräsentiert, wird im Kontext einer risikosozialen
Reorientierung die Frage des Risikos und der ‚Vulneralität’ die Schlüsseldimension, der Verteilung und
Versorgung mit sozialen (Dienst)Leistungen (vgl. Kemshall 2002). Steht die Frage von Risiken und
Vulnerabilität im Mittelpunkt des Interesses wird damit eine vom ‚Vorsorgestaat’ (vgl. Ewald 1991)
unterscheidbare Form der Prävention evoziert, in deren Mittelpunkt weniger eine kollektivistische
Absicherungen sondern jene ‚rechtzeitigen Interventionen’ stehen (vgl. Böllert 1996), die es durch
eine Etablierung von Wissensbeständen und Techniken einer möglicht frühen Identifizierung erlauben
sollen, Risiken der sozialen Akteure möglichst effektiv und effizient abzuwehren ‚bevor es zu spät ist’
(BMFSFJ 1999). Wie Hazel Kampshell (2002: 22) ausführt, widmen sich Sozialpolitik und soziale
Dienste
in
einer
als
‚Risikogesellschaft’
rekonstruierten,
fortgeschritten
liberalen
Gesellschaftsformation zunehmend eher der Frage der Verteilungen von Risiken als der „distribution of
wealth, and [...] the avoidance of harms rather than the persuit of the collective good“. Dabei wird die
modernistische Agenda der fordistischen Sozialpolitik und Wohlfahrtserbringung zunehmend
zurückgedrängt und eine Betonung der Kompensation ungleicher Lebenslagen und -chancen durch die
Unterstützung der Möglichkeiten der Risikovermeidung im Kontext der ‚riskanten Freiheiten’ des
‚individuellen’ Lebensstils relativiert (vgl. Castel 1986, 1991). Wenn sich in einer fortgeschritten
liberalen ‚Risikogesellschaft’ das Opus Operandum der Sozialpolitik und damit verbunden auch der
sozialen Dienste verändert hat, kann - vor dem Hintergrund der Prämisse, dass die unterstützenden
und kontrollierenden Dimension der Jugendhilfe keine Addition unterschiedlicher und unabhängiger
Momente darstellen, sondern wechselseitig aufeinander verwiesene Konstitutionsgrößen ein und der
selben Praxis sind - davon ausgegangen werden, dass sich auch die ‚Kontrolldimension’ einer
refigurierten Jugendhilfe auf keinen anderen Gegenstand beziehen, als den, auf den sich auch ihre
Unterstützungsleistungen richten.
Verschiebt sich demnach der Gegenstand Sozialer Arbeit ist ein Verweis darauf, dass die Intensität
jener inhaltlichen Strategien mit der sie sich ‚kontrollierend’ auf ihren ‚alten’ Gegenstand bezog hatte
abnimmt, eine tautologische Feststellung59. Im Kontext dieser Feststellung ist jedoch die
Diese Feststellung kommt etwa der Aussage gleich, dass sich eine Institution, sofern sie sich primär auf das Problem A
und nicht auf das Problem B richtet, in erster Linie auf Phänomene die mit dem Problem A in Verbindung fokussiert und nicht
die Phänomene die mit B in Zusammenhang gebracht werden
59
228
entscheidende Frage inwiefern der ‚Modus Operandi’ sozialer Kontrolle durch die veräderte
Rekonstruktion des ‚Opus Operandum’ - d.h. der sozialen Akteure in einer ‚individualisierten’
‚Risikogesellschaft’ – eine strategisch, technologisch und teleologisch veränderte Qualität aufweist,
aus dem Blick geraten.
Damit ist in keiner Weise unterstellt, die Ambivalenzen der ‚Risikogesellschaft’ würden im fachlichen
Diskurs der Jugendhilfe nicht thematisiert werden. Ganz im Gegenteil ist der diskurskonjunkturelle
Aufschwung der Präventionsorientierung vor allem auf einer fachlich-disziplinären Ebene nicht zuletzt
ein Resultat der Einsicht in die Ambivalenzen und ‚Risiken’ der Risikogesellschaft. Eine entscheidende
Blindstelle des dominanten ‚modernisierungstheoretischen’ Diskurses liegt jedoch in der ‚realistischen’
Interpretation dieser Risiken (vgl. Lemke 1997, O’Malley 2001b, Sparks 1997) und vor allem in der Art
und Weise ihrer (mangelnden) Rückkopplung an die Macht-, Herrschafts- und Kontrollformen wie funktionen der Jugendhilfe.
So wird eine Veränderung der Kontrolldimension der Jugendhilfe wird nicht zuletzt durch einen in der
modernisierungstheoretischen Fundierung der Präventionsorientierung selbst angelegten - ‚neohegelianischen’ – objektivistisch bzw. naturalisierten ‚Risikorealismus’ induziert60 (vgl. Lemke 1997,
Elliott 2002), der die Frage sozialer Risiken – bzw. wie es Luhmann (1993) formuliert der
Attributionsvorgang in dem Schädigungen der eigenen Entscheidung zugeschrieben werden - weniger
als ein figuratives Element der Organisation sozialer Ordnung61, sondern vielmehr als Ausdruck realer,
objektiver Phänomene rekonstruiert, die mit einer im Prozess der Modernisierung erfolgenden In- und
Extensivierung der Inanspruchnahme von Natur (vgl. Metzner 2002) als deren soziale Entsprechung
einhergehen und sich in Form einer eher außerpolitischen, der Tendenz nach entwicklungslogischen
Substitution kollektiver Sinnzusammenhänge durch das Moment der Eigenverantwortung für das
eigene Leben zeitigen:
„[Thus] uncertainty is rarely analysed as a distinctive modality of governance that is associated with specific ways of
problematizing the future, and with associated techniques of the self and technologies of government. It is as if
uncertainty is merely vagueness, rather than a specific and enduring way of governing the self, economic activity and
social relations” (O’Malley 2000b: 461).
Demgegenüber
lässt
sich
mit
Blick
auf
die
Organisation
fortgeschritten
liberaler
Gesellschaftsformationen argumentieren, dass – unabhängig von historischen Entwicklung der ‚realen
Sicherheit’ menschlichen Lebens (vgl. Kaufmann 1973, Aharoni 1981) - die Rede von der
Risikogesellschaft vor allem eine Metapher für Regulationsprozesse darstellt, in der immer weitere
Bereiche der gesellschaftlichen Wirklichkeit paradigmatisch über die Dichotomie von Risiko und
Sicherheit interpretiert werden (vgl. Groenemeyer 2002: 125, Lianos/Douglas 2000). In dieser
Perspektive ist die Rede von sozialen Risiken selbst ein Element der Organisation und Regulation
sozialer Ordnungen bzw. der ‚Regierung’ von ‚Subjekten’:
Demgegenüber lässt sich behaupten, dass die Rede ‚Risiko’ in der Praxis der Jugendhilfe schon alleine in so fern auf eine
diskursive Praxis darstellt als das wahrscheinliche, zukünftige „harmful event or behaviour […] of concern […i]s unsually
framed by the type of agency the practitioner works in“ (Kamshall (2002: 123).
61 Ein besonders deutliches Beispiel hierfür ist es, wenn etwa Ulrich Beck konstatiert, dass sich Risiken ‚beyond insurability’
zeitigen, die Risikogesellschaft sei deshalb „an uninsured society“ (Beck 1999a: 53). Damit gerät die Frage aus dem Blick
60
229
„Risk is […] a way in which we govern and are governed. It is a name given to their characteristic elements by
particular programmes that seek to govern our consumption and lifestyle, our exposure to certain hazards, or,
indeed, whatever is to be governed in the name of risk” (O’Malley 2000a: 458).
In einem gewissen Sinne lässt sich der modernisierungstheoretische ‚Risikorealismus’ demnach selbst
als Hinweis für eine veränderte Form des ‚Regierens’ verstehen. Für die Soziale Arbeit impliziert er vor
allem eine (neo-)ätiologische Orientierung, die in ihrer Konsequenz zu jener ‚ordnungspolitischen
Hegemonie’ (vgl. Kappeler 2000) zu führen droht, die in der programmatischen Konnotation der
‚fachlichen Präventionsorientierung’ gerade abgelehnt bzw. überwunden werden sollte. Eine
risikorealistische Begründung der Präventionsorientierung impliziert es nämlich, ‚Risiken’ und
‚Risikofaktoren’ in einer naturalisierten Form ernst zu nehmen (vgl. Kunstreich/Peters 1990) und
gerade deshalb proaktiv zu bekämpfen, damit nicht reaktiv gegen die unterstellten negativen Folgen –
genauer: den irreversiblen, teuersten, schlimmsten etc. Fall (vgl. Ewald 1998) - interveniert werden
muss62.
Dabei induziert die präventive Logik, sich auf die Reduzierung der Wahrscheinlichkeit des Auftretens
von kalkulierbaren Gefahren, d.h. von Risiken zu beziehen - womit die von Yair Aharoni (1981) mit
Blick auf den Wohlfahrtstaat konstatierte ‚No-Risk Society’ in Bezug auf gegenwärtigen Rationalitäten
der gesellschaftlichen Regulation eine im Kern treffende Diagnose als die der ‚Risikogesellschaft’
darstellt – je nach der Allgemeinheit bzw. Spezifität der identifizierten Risiken zwei unterschiedliche
Interventionslogiken der Jugendhilfe.
Eine gegenüber eher unspezifischen Risikopotentialen unterstellte „Ubiquität der Risiken der
selbstzurechenbaren Lebensführung erfordert eine tendenziell alle Mitglieder der Gesellschaft
umfassende Unterstützung bei der Risikokalkulation und -abschätzung“ (Schaarschuch 2003: 60 f) im
Sinne einer ‚klugen’ und verantwortlichen Form einer rationalen Lebens- bzw. Selbstführung (vgl.
O’Malley 1992, Krasmann 2000a). In einem gewissen Sinne wird der durch die ‚Normalisierungsthese’
reklamierte Anspruch auf eine tendenzielle soziale ‚Allzuständigkeit’ aufgrund einer ‚generalisierten
Risikostruktur’ - der in fortgeschritten liberaler Gesellschaften niemand zu entkommen scheint (vgl.
Giddens 2000a) - in ‚ironischer Weise’ eingelöst (vgl. Schaarschuch 2003). Basis für diese Einlösung ist
eine durch eine Refiguration der ökonomischen, politischen und symbolischen gesellschaftlichen
Organisation induzierte Ausweitung sozialer Prekarisierung (vgl. Bourdieu 1998a) - bzw. dessen, was
wie sie Gesellschaften mit Blick auf die Kontingenzbearbeitung von Risiken organisieren, und welche Risiken durch diese
Organisation produziert werden (dazu: Ewald 1993).
62 Zwar wird kritisiert, dass eine häufig einseitige Ausrichtung der präventiven Interventionen der Jugendhilfe auf eine
Verhinderung von Risiken und Abweichungen, die von Kindern und Jugendlichen ausgehen, kaum mit den Arbeitsprinzipien
der Jugendhilfe vereinbar ist (vgl. Frehsee 1998, 2001, Lindner/Freund 2001, Krafeld 1992, Schmitt-Zimmermann 2000
Thiersch/Specht 1981) allerdings ist die gerne zitierte Differenz diesem scheinbar auf ordnungspolitische Aspekte
verweisenden Präventionsbegriff, und einer Legitimation präventiver Strategien mit Blick auf die Risiken denen Kinder und
Jugendliche ausgesetzt sind bzw. sich selbst aussetzen – wie es etwa in der zeitgenössischen Rede von „potenziell
viktimogen erscheinenden Situation[en]“ (Heinz 1997: 66) zu Ausdruck kommt - keineswegs trennscharf: beide Dimensionen
des Risikos werden unter ‚Risikoverhalten’ subsumiert (vgl. Raithel 2001, 2002) und legitimieren häufig die selben Formen
der Intervention (vgl. Groenemeyer 2001, Sparks/Leacock 2002) und zwar insbesondere wenn es gelingt Kinder und
Jugendliche gleichzeitig selbst als Träger jener Risiken zu offerieren, vor denen sie präventiv geschützt werden sollen
(Kappeler 2000: 24, Kemshall 2002a). (Diese Tendenz zeigt sich besonders deutlich in der hauptsächlich
‚kriminalpräventiven’ Rede von „gefährdete[n] und gefährliche[n] Kinder[n] und Jugendliche[n]“ [Diakonisches Werk 1999]
bzw. von Kindern und Jugendlichen als ‚Opfer und Täter’ [vgl. BMI/BMJ 2001, DVJJ 1999]) .
230
Bauman (1998) als ‚existential insecurity’ und ‚psychological uncertainty’ nennt -, sowie die Tendenz,
immer weitere Bereiche der sozialen Wirklichkeit symbolisch über Sicherheit und Risiken zu
dechiffrieren (vgl. Groenemeyer 2001, Kemshall 2002, Lianos/Douglas 2000, O’Malley 1996, 2001). In
diesem Zusammenhang weitet sich ein gesellschaftlicher Regulationsanspruch aus (vgl. Turner 1997),
der sich im Sinne einer verallgemeinerbaren Form des ‚Risikomanagements’ (vgl. Kemshall 2002,
2002a, O’Malley 1998) als Perspektive der Institutionen sozialer Regulation und als ‚normative’
Aufforderung an einzelne ‚selbstverantwortliche’ Akteure etabliert (vgl. Beste 2000a, Legnaro 1997,
1998, Schmidt-Semisch 2002, O’Malley 1992).
Diese Verschiebungen implizieren jedoch kein ‚Abschmelzen’ sozialer Kontrolle und herrschaftlicher
Zumutungen, sondern eine andere Form der ‚Regierung’ im Sinne der Etablierung eines veränderten
Modus der Verknüpfung der Führung mit der Selbstführung der ‚Subjekte’, in dessen Kontext jene
(soziale) ‚Sicherheit’, die der fordistische Interventionsstaat tendenziell jedem Bürger versprochen
hatte (vgl. Kaufmann 1973), durch die Herausbildung eines vielseitigen, die einzelnen Akteure
‚responsiblisierenden’, präventiven Risikomanagements – das mit der Figur des selbstverantwortlichen
Kunden und seiner (konsumeristischen Wahl-)Freiheit harmonisiert - als Bestandteil einer
Restrukturierung sozialer Ordnung konterkariert wird. Im Mittelpunkt steht dabei die Generierung
eines, wie es Pat O’Malley (2000b: 461) formuliert, „stance of reasonable foresight or everyday
prudence (distinct from both statistical and expert-based calculation) with respect to potential harms”:
„In a sense, the subjects of this technology of risk are imagined as consumers (albeit ,sovereign consumers’), for, as
elsewhere in discourses of the freedom of choice, their liberty exists in the capacity to choose rationally among
available options and to assemble from these the risk minimizing elements of a responsible lifestyle” (O’Malley
2000b: 465).
Im Gegensatz zu der tendenziell generalisierten Regulationsrationalität gegenüber eher unspezifischen
sozialen Risikopotentialen, gewinnt vor allem mit Blick auf die in sozialer, ökonomischer, kultureller
und symbolischer Hinsicht eher deprivierten Akteure eine Form der Risikoregulation an Bedeutung, die
sich in Anlehnung an Henman (2002: 4) als „profiled risk government“ beschreiben lässt. Dabei geht
es um Interventionen in die Lebenspraxis der Akteure, die, im Gegensatz zur allgemeinen Förderung
einer selbstverantwortlichen risikominimierenden Lebensführungsrationalität, auf „statistical and
expert-based
calculation[s]“
beruhen
(O’Malley
2000b:
461).
Im
Mittelpunkt
dieser
interventionistischen Risikoregulation steht ein Fokus auf spezifizierbare ‚Risikofaktoren’, der eine
beträchtliche
Aufwertung
gegenüber
der
Frage
einer
kompensatorischen
Bearbeitung
von
Lebensführungsproblemen, die - im Sinne der Risikoregulationslogik des Sozialen - mit Ungleichheits-,
Herrschafts-, bzw. Klassenverhältnissen in Zusammenhang gebracht werden.
Sowohl die Frage der ‚tieferliegender Ursachen’ als auch die Frage der je ‚individuellen Ursache’ eines
‚Problems’ relativieren sich dabei gegenüber eher pragmatischen Versuchen einer Reduktion von
Probleminzidenzraten. Diese Verschiebung hängt eng mit den auf die Möglichkeiten der Prädiktion
verwiesenen Interventionsrationalitäten einer problemspezifischen Präventionsstrategie zusammen.
Die dieser Form der Prävention zugrunde liegende Basisoperation der Prädiktion bezieht sich auf
aggregierte ‚Risikofaktoren’, oder genauer auf das Verhältnis von ‚Risiko-’ und ‚protektiven’ Faktoren
(vgl. Hawkins et al. 2000). Ein solcher Bezug ist ein unsuspendierbarer Bestandteil einer
231
‚problemspezifischen’ Form der Prävention, denn während die je individuelle Ursache eines Problems
nur ex post rekonstruiert werden kann, zielen diese Formen der Prävention ja darauf proaktiv d.h. vor
einer spezifischen Probleminzidenz anzusetzen. Damit ist solche fallspezifische Rekonstruktion der
Ursachen ‚des Problems’ ausgeschlossen: rekonstruiert werden können nur die Faktoren, die mit dem
in den Blick genommen Problem in einen entwicklungsdynamischen Zusammenhang gebracht werden
können. Solche Risikofaktoren sind mit dem je individuellen Ursachenzusammenhang eines Problems
weder gleichzusetzen, noch als eine individuelle Prädiktion in einem empirischen Sinne besonders
aussagekräftig (vgl. Sampson 2000). Risikofaktoren sind keine ‚Ursachen’ (vgl. Farrington 2000),
sondern jene mit dem Symptom korrelierende Faktoren, bei denen die Wahrscheinlichkeit der
Problemprävalenz „increases as they intensify or clustering increases“ (Farrington/West 1993). Diese
Cluster von Risikofaktoren sind die Basis für das „systematisch[e] Suchen und Herausfiltern
potentieller Zielgruppen“ (Vlek 2000: 210), das die Voraussetzung für spezifische Formen der
Prävention darstellt (vgl. Vlek 2000, Reese/Silbereisen 2001):
„Risky subpopulations are defined by characteristics of individuals […] thereby constituting risk profiles. These
profiles are typically constructed using statistical analysis to identify characteristics that have a greater probability of
danger than the average population. Once defined, the risk population defined by these profiles is identified and
acted upon. […] In contrast to [… a generalized] risk government, which operates by spreading risks across the
whole (insured) population, profiled risk government operates by dividing the population into two groups
constituted by those individuals fitting the risk profile who are the locus of government and who bear the cost of the
risk though do not necessarily bear the danger/pathology, and those who do not fit the profile. In short, risk is
associated with group membership“ (Henman 2002: 4).
Auf der Ebene Wissensgenerierung korespendiert mit dieser Präventionsperspektive die Forderung,
nach genauen Analysen, Daten und Forschungen darüber, was am effektivsten funktioniere, um die
Präventionsbemühungen danach auszurichten (Baumgärtner 2002, BMFSFJ 2002, Reese/Silbereisen
2001, Schäfer 2000). Prävention in diesem Sinne impliziert eine Orientierung an ‚Outcomes’, die sich
durch eine auf die Ebene spezifischer, identifizierbarer Gruppen bzw. Kohorten (‚target groups’)
aggregierte Prävalenzrate der zu verhinderten Probleme bestimmt und verweist auf Interventionen,
die sich auf jene Faktoren bzw. Faktorencluster richten, die mit diesem ‚Outcome’ korrelieren (vgl.
Hollin 2001, Hope 2002, Hughes 2001, Matthews/Pitts 2001). In diesem Sinne lässt sich mit Robert
Castel (1983: 51) davon sprechen, dass Prävention „mit der Auslösung des Begriffs des Subjekts oder
des konkreten Individuums verbunden [ist], der durch einen Komplex von Faktoren, die
Risikofaktoren, ersetzt wird“ . Sind diese Risikofaktoren ausgemacht, kann eine zielgerichtete in ihren
Wirkungen messbare Prävention beginnen, während die ‚klassische’ Frage ‚nach ‚sozialen Ursachen’
bzw. warum und unter welchen Bedingungen sich diese Faktoren ‚clustern’, zunehmend zu einer mehr
oder weniger belanglosen akademischen Sophisterei wird, die keinen Beitrag zu einer effektiven,
effizienten, zielgerichteten und vor allem möglichst praktikablen Präventionsstrategie zu leisten in der
Lage ist (vgl. Felson 1998, kritisch: Matthews/Pitts 2001)63.
Betracht man sich jedoch die ‚Target Group’, die an die Stelle eines Begriffs des ‚Subjekts’ rückt, so
ironischerweise auf, dass im Kontext einer solchen Risikofaktorenanalyse unter der Hand ein vor allem
„[D]o not wory about academic theories“ fordert folgerichtig Felson (1998: 166) von Professionellen und Praktikern im
präventiven Bereich: „Just go out and gether facts“.
63
232
im Laufe der 1980er Jahre mühsam überwundener Prototyp des ‚typischen Klienten’ re-installiert wird.
So möchte etwa David Farrington (1997) in seiner Längsschnittuntersuchung zur frühen Vorhersage
(‚early prediction’) von Jugendgewalt nachgewiesen haben, dass die Wahrscheinlichkeit einschlägig
auffällig zu werden mit spezifischen, identifizierbaren Risikofaktoren steigt. Liegt im Kindesalter keiner
dieser ‚Risikofaktoren’ vor, liege die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein solches Problem im Jugendalter
manifest werde bei drei Prozent, bei einem Cluster von vier Risikofaktoren bestehe bereits eine
Wahrscheinlichkeit von 31 % (vgl. auch Lipsey/Derzon 1998). Auf dieser Basis, so das Versprechen,
lassen sich nicht nur frühzeitig ‚Risikosubjekte’ identifizieren, sondern auch Programme gestalten, die
so ausgelegt sind, dass sie sich möglichst gezielt und spezifisch auf die Minimierung des Risikofaktors
bzw. der Risikofaktoren richten, die am einfachsten, effektivsten und vor allem billigsten zu bearbeiten
sind, um den gewünschten ‚Outcome’ zu erreichen. Ein ‚theoretisches’ bzw. ‚professionelles’
Verständnis über die ‚Ursachen’ des Problems ist nicht erforderlich (vgl. Kemshall 2002a, MacDonald
2002).
Diese Form des ‚profiled risk government’ (Henman 2002: 4), wirkt nicht nur auf die Begründungen,
Technologien und Strategien der ‚präventiven’ Interventionen, sondern auch auf die ‚Subjektivierung’
der Adressaten der Risikoregulationsstrategien. Typische ‚Risikofaktoren’ sind etwa Schulversagen,
niedriges
Familieneinkommen,
große
Familiengröße
‚poor
parental
childrering
behaviour’
Desorganisation in der Wohngegend, einschlägiger Einfluss von peers, Fragen des ‚nonverbal IQ’
(man denke an die Arbeiten Bernsteins [1972]), ‚antisoziale’ Einstellungen der Eltern und so weiter
(vgl. Farrington 1997, Hawkins et al. 2000, Lipsey/Derzon 1998). In dieser Hinsicht lässt sich davon
sprechen, dass ein ‚Cluster’ dieser Risikofaktoren, ziemlich genau der Kategorie entspricht, die - aus
der Perspektive der Fürsorgeerziehung betrachtet - ‚Verwahrlosung’ heißt.
Während wenig Zweifel daran bestehen dürfte, in welchen sozialen Klasse sich diese Faktoren
,clustern’ (vgl. Ahlheim et al. 1972, Herriger 1979, Hollstein/Meinhold 1973) und trotz der damit
implizierten Nähe des so rekonstruierten ‚Risikosubjekts’ zu dem ‚verwahrlosten Subjekt’ der
Fürsorgeerziehung, sind mit dem Bezug auf diese Risikofaktoren drei wesentliche - ‚post-fordistische’ Verschiebungen in den Interventionsrationalitäten der Jugendhilfe impliziert. Die, zumal in einer
‚risikorealistischen’ Perspektive festgestellte, Ubiquität und strukturelle Unsuspendierbarkeit von
‚Risiken’ bzw. eines ‚generellen Risikoklimas’ in ‚Risikogesellschaften’ gesetzt, impliziert dies
handlungs- und konzeptionslogisch eine Form personenbezogener sozialer Dienstleistungserbringung,
die nicht sich nicht auf die (unmögliche) ‚Eliminierung’ von Risiken, sondern nur auf deren möglichst
effektives ,Management’ konzentriert. Risikomanagement bezieht sich auf verschiedene Strategien zur
Risikoreduktion und Schadensminimierung (vgl. Kamshall 2002, Parsloe 1999). Mit Blick auf
Strategien, die sich auf das Verhalten der Adressaten beziehen, verschiebt sich der Fokus von Fragen
der Non-Konformität - mit Referenz zur ‚Normalität des Fordismus’ – hin zum personalisierbaren bzw.
persönlichen Risikoverhalten (und dessen Zerlegung in Faktoren). Der Bezug auf Risikofaktoren - die
im Gegensatz zu der als ‚Konstruktion’ erkannten Frage der ‚Abweichung’ im risikorealistischen
sozialpädagogischen Diskurs als ‚naturalisierte’ (und messbare) ‚Tatsachen’ verhandelt werden
(kritisch: Thompson/Wildavsky 1982, Kunstreich/Peters 1990) - treibt dabei eine Relativierung der
233
Dominanz des professionellen Wissens (vgl. Otto/Dewe 2001) gegenüber einem klinischdiagnostischen ‚Risiko-Assessment’ voran (vgl. Kemshall 2002, 2002a, Ziegler 2003). Die dritte
Verschiebung besteht darin, dass es mit dem Bezug auf Risiken nicht mehr ausschließlich darum geht,
die ‚Lücke’ zwischen der positional-dispositionalen Matrix und fixierten Normalitätsunterstellungen zu
schließen. Die Bearbeitung bzw. ein Management von Risiken bedarf in einer fortgeschritten liberalen
Gesellschaftsformation nicht zwangsläufig einer ex ante fixierte Normalitätskonstruktion und einer
Feststellung der ‚Entfernung’ der Akteure von dieser Normalität als Grundlage ‚präventiver’ Strategien.
Die Frage des Risikos und vor allem die ‚Entdeckung’ der ‚protektiven Faktoren’64 evoziert vielmehr auf
die Hervorbringung einer Form der Lebensführung gerichtete Maßnahmen, deren Zentrum die
‚risikosoziale Dreifaltigkeit’ persönlicher Vorsicht, kalkulatorischer Rationalität und persönlicher
Selbstverantwortung („prudence, rationality and responsibility“ Adams 1995: 16) bildet: „Managing
their own relation to risk has become an important means by which individuals can express their
ethical selves and fulfil their responsibilities and obligations as ‚good citizens’“ (Petersen/Lupton 1996:
65). Der ‚Wille zum Empowern’ (Cruishank 1999) bzw. Versuche des ‚Stark-Machens’, der ‚Ermutigung’
des Einzelnen als sein eigenes ‚Planungsbüro’ usw., die an Stelle des ‚passiven’ ‚Versorgenlassens’ wie
an Stelle der klassischen ‚pädagogischen’ Figuren des ‚Formens’ (der Pädagoge als ‚Bildhauer’) oder
des ‚Wachsenlassens’ (der Pädagoge als ‚Gärtner’) treten, verweißen auf nichts anderes. In seiner
Analyse über die Veränderung der Muster von sozialer Kontrolle und Selbstkontrolle macht Cas
Wouters (1999) darauf aufmerksam, dass die Subjektrepräsentationen und die Regulationsweisen
fortgeschritten liberaler Gesellschaften, weniger auf Formen sozialer Kontrolle beruhen, die die
normative Einbindung der sozialen Akteure in die verallgemeinerten Standards gesellschaftlicher
Normalitätskonstrukte erzwingen, als vielmehr auf der individuell kalkulierenden und flexiblen
Selbstkontrolle selbstverantwortlicher ‚Subjekte’: „only a more ego-dominated self-regulation allowed
for the reflexive and flexible calculation that came to be expected“ (Wouters 1999: 416).
So fern sich diese Selbstkontrolle external kaum direkt ‚erzeugen’, wohl aber ‚stimulieren’ lassen, kann
eine solche arrangierte Kontrollrationalitäten auch als eine modifizierte Form jener funktionalistischen
Perspektive auf soziale Kontrolle verstanden werden, die identifizierbare und unterscheidbare
Kontrollobjekte und Kontrollsubjekte kennt. Die Modifikation besteht darin, dass das Kontrollobjekt
und -subjekt (scheinbar) zusammenfällt. Je stärker der Eindruck dieser Identität ist, desto latenter
und ‚unsichtbarer’ – d.h. nicht weniger ‚effektiv’ oder ‚erzwingend’ - ist der Kontrollcharakter: ,Selfregulation’, so Winkler (1975: 125) „has always been the cunning ruler’s form of social control, to
make people believe they rule themselves. Today we do not talk of ‘self-regulation’. Instead we call it
,participation’”. Internalisierte Selbstkontrolle, kalkulatorisches Risikomanagement und individuelle
Verantwortung, statt einer externalen – mitunter gängelnden und bevormundenden - Organisation,
64 Pat O’Malley (2001: 99) spricht von einer ‚invention of the protective factor’ vor allem seit den 1990er Jahren:
„[The]emergence of the ‚protective factor’ […is] a part of a process of risk sequencing that defines precise strategies for
governing risk in ways that do not address the prime risk factor itself. Where this is the case, and it very often is, two kinds of
explanation are given. The first […] points out that certain risk factors are recognized, but that they are not amenable to
minimization, at least in practical and foreseeable terms. The second argument suggests that such risk factors somehow are
inadequate predictors and thus may be, in some fashion, discounted as targets for intervention” (O’Malley 2001: 99).
234
Überwachung und Instandhaltung einer verallgemeinerbaren, sozialen Normalität sind nicht nur
Indikatoren für eine ‚Befreiung’ des Subjekts aus - ‚moralisch autoritären’ - Kontrollzumutungen,
sondern auch Effekt einer fortgeschritten liberalen politischen Rationalität einer Privatisierung ‚sozialer’
Probleme und Risiken. Die Privatisierung sozialer Risiken wird einer Politik sozialer Probleme begleitet,
die weniger darauf gerichtet ist, diese ursächlich und umfassend zu lösen, als auf einer aggregierten
gesellschaftlichen Ebene ihre performative Kontingenz zu managen und auf der individuellen Ebene
als
‚Bewältigungsmoderation’
dazu
beizutragen,
ihre
individuellen
Effekte
abzufedern
und
auszubalancieren. Die impliziert nicht nur, dass die umfassende, ‚top-down’ gewährleistete
‚administrative Solidarität’ zu eher residualen Formen der Unterstützung und sektoralen Sicherung
sozialer Integration umgestaltet wird - deren ‚Qualitätskriterium’ nicht mehr das Ausmaß der DeKommodifizierung ist (vgl. Lessenich 2000) -, sondern auch eine andere politische Rationalität der
Risikoabsicherung:
„Die heutige Versicherung gegen Risiken ist nicht mehr der auf die Zukunft gerichtete Akt eines ‚Wir’ auf der Basis
einer bekannten Vergangenheit, sondern der aus einer unbekannten Zukunft rückwärts gerichtete Akt eines ‚Ich’
eines alleinigen Unternehmers seines persönlichen Schicksals“ (Fitzpatrick 2001: 34, vgl. Klein/Millar 1995)
Kontrolltheoretisch impliziert dies die Etablierung eines Kontrollstils der, zumindest in einzelnen
Bereichen, nicht nur vergleichsweise erweiterte Freiheitsspielräume für die ‚biographischen
Selbstentscheidungen’ des Subjekts zulässt, sondern selbst nur auf der Basis einer (regulierten)
Autonomie selbstverantwortlicher – aber zur ‚Vorsicht’, Eigenvorsorge und einem ‚vernünftigen’
Lebensstil angehaltener – Subjekte wirken kann. Es geht in diesem Sinne weniger um eine
Kontrollrationalität die – wie im fordistischen Interventionsstaat - der gleichermaßen normierend und
fürsorglich in die Lebensführung des Individuums eingreift, sondern um eine Kontrollrationalität die
die Eigeninitiative und Selbstverantwortung der Individuen betont und zum Ausgangspunkt einer
fortgeschritten liberalen ‚Governance’ macht, deren Leitidee als eine Form des ‚Regierens’ beschrieben
werden kann, die weniger auf einer Unterdrückung von Subjektivität und die Herrschaft über die
Freiheit der Individuen beruht, als auf einer Regierung durch Freiheit der Subjekte hindurch (vgl.
Legnaro 1998, Krasmann 1999, Garland 1997,2001).
Aus dieser Perspektive liegt die Pointe des Empowerns, ‚Stark-Machens’, der Mobilisierung ‚dezentraler
Selbsthilfe- und Selbstorganisationskräfte’, des Ermutigens des Einzelnen als ‚Planungsbüro in eigener
Sache’ etc. um „aus der Klientel des fürsorglichen Staates verantwortliche Subjekte“ (Wendt 1993:
261, vgl. Fretschner et al. 2003, Keupp 1996) zu machen darin, dass die Fähigkeit ‚richtige’
Entscheidungen ‚frei’ zu treffen (vgl. Castel 1983) gefördert, ausgebaut und als Handlungskompetenz
internalisiert werden soll. Im Umkehrschluss zeigt die ‚falsche’ Entscheidung zu treffen „einen Mangel
an Selbstverantwortung und Rationalität und damit auch eine Unfähigkeit freie Entscheidungen treffen
zu können“ (Groenemeyer 2001: 52, vgl. Cruikshank 1999) an, der andere Interventionsformen
‚notwendig’ macht.
Zwar erfolgt in diesem Kontext zunächst durchaus eine ‚Überwindung’ eines Defizitmodells zu Gunsten
des Ansetzen an den ‚Stärken und Ressourcen’ der Adressaten, die eine Verschiebung der Regierungsund Kontrollstrategie weg von dem direkten Versuch der ‚Formung des Guten’ hin zu einer
235
‚Identitätspolitik’, als Führung der Lebensführung (‚conduct of conduct’) (vgl. Foucault 2000) anzeigt,
aber diese ist trotz der Betonung individueller Autonomie und Verantwortung – in den Worten von
Nikolas Rose (1993: 295) „the shaping an utilizing the freedom of autonomous actors“ - ist eben
nicht auf eine ‚ziellose’ Stärkung und Erweiterung von Handlungsfähigkeit, Selbststeuerung,
Selbstbewusstsein bezogen.
Verbunden mit dem Aufstieg einer ‚fortgeschritten liberalen’ Form der Regulation und Organisation
sozialer Ordnung, lassen sich Formen der ‚Regierung durch Individualisierung’ (vgl. Lemke 2003: 272)
rekonstruieren, die auf ein verändertes Verhältnis von Individuen und der staatlich kollektivierten
Form der Gesellschaftlichen verweisen. Sie zielen vor allem die „production of certain subjects who
are prepared to take responsibility for their own actions in their relations with others […requiring] the
practice of ethical techniques for self-inspection and self regulation through choice“ (White/Hunt 200:
111). Im Mittelpunkt des ‚Regierung’ steht demnach eine vor der ‚Ermächtigung’ der Akteure, die
darin besteht einen Habitus zu erzeugen, der es erlaubt, die Führungskapazitäten vom Staat weg und
in die Verantwortung und Rationalität der Lebensführung der einzelnen Akteure zu legen. In diesem
Sinne zielt das Empowerment tatsächlich darauf Beschränkungen der Akteure zurückzudrängen und
eigenverantwortliches Handeln nicht zuzulassen und zu ermöglichen, sondern sie dazu bewegen bzw.
es den je einzelnen Akteuren abzuverlangen (vgl. Cruikshank 1999, Lemke 2003). Dies Logik lautet es
seien nicht nur und nicht primär sozial-strukturelle Größen
„which decide whether unemployment, alcoholism, criminality, child abuse etc. can be solved, but instead individualsubjective categories. [The related notion of] ,self esteem’ thus has much more to do with self assessment than with
self respect, as the self continuously has to be measured, judged, and disciplined in order to gear personal
,empowerment’ to collective yardsticks” (Lemke 2002: 62).
Die im Empowerment angelegte Form der Kontrolle orientiert sich dabei „implizit oder explizit an
einem Modell von ‚lifestyle correctness’“ (Gronemeyer 2001: 52). Neben deren Organisation über die
Selbst-Kontrolle der Akteure finden sich Bemühungen um die Implementation eines Arrangements das
„auf informelle soziale Kontrollen des Entzugs von Solidarität baut“ (Gronemeyer 2001: 52) und
schließlich
die
residuale
Möglichkeit
eines
Rückgriffs
auf
instrusivere
und
disziplinierende
Kontrollstrategien bestehen, die diese ‚lifestyle correctness’ „über direkte Sanktion und Repression
eingefordert“ (Gronemeyer 2001: 52) aber sich auf jene Akteure und Gruppen reduzieren können, die
sich nicht entsprechend ‚empowern’ lassen können oder wollen.
Dass die ‚Empowerment’ Ansätze zwar nicht ‚weniger’ aber häufig eine ‚weichere’ Form sozialer
Kontrolle darstellen, spricht zunächst für und nicht gegen diese Ansätze. Für die Soziale Arbeit als eine
Instanz sozialer Kontrolle, der es
- ‚professionsstrategisch’ wie ‚professionsmoralisch’ - entspricht
ihren Nutzern mit einem Minimum an ‚repressiven’ Elementen und möglich einvernehmlich zu
begegnen (vgl. Peters 1995, 2002) - d.h. in Bezug auf ihr (Hilfe- und) Kontrollmoment eine Art ‚WinWin-Situation’ zu erzeugen –, können Strategien des ‚Empowerment’ insbesondere dann, wenn sie auf
eine ‚Befähigung’ zur gesellschaftlichen Teilhabe als demokratische Staatsbürger zielen (vgl.
Schaarschuch 1999, Cruikshank 1999) durchaus angemessen sein. Eine ‚Gefahr’ besteht allerdings
darin, dass die ‚Empowerment’ Ansätze im ‚Gebrauchswert’ für ihre Adressaten, hinter die
‚paternalistischen’ und ‚stigmatisierenden’ ‚Defizit-Ansätze’ zurückfallen können, wenn sie sich - wie in
236
ihrer dominanten Variante – nicht vornehmlich an einem ‚empowern’ gegenüber Machtstrukturen (zu
dieser ‚radikalen’ politischen Variante vgl. Bachrach/Botwinick 1992, Greener 2002), sondern
dispositional ausrichten und politisch als ein ‚Zauberwort’ verwendet werden, die einen Euphemismus
für die Strategie darstellen, den Benachteiligten und Subdominanten dadurch zu mehr Autonomie und
Selbstverantwortung zu verhelfen, dass ihnen die Leistungen und Rechte gekürzt werden (vgl. Stern
1999, 2000). Die ‚Defizitansätze’ sind – ungeachtet der Kritik an ihrem stigmatisierenden Gehalt – auf
einer legitimatorischen Ebene letztlich dazu gezwungen, die tatsächlichen oder vermeintlichen
Hintergründe und Ursachen für die erkannten ‚Defizite’ und ‚Schwächen’ zu bearbeiten. Auch wenn
diese Bearbeitung häufig auf eine individualisierende und mitunter pathologisierend Weise erfolgte
(vgl.
Peters
1969),
war
zumindest
für
die
Jugendhilfe
die
Grundausrichtung
eine
gesellschaftsreformerische (vgl. Brumlik 2000a): die Bearbeitung der positional-dispositionalen Matrix
der Akteure als ‚reaktiver Bedingungsveränderung’ (vgl. Peters 1995). Im Rahmen einer Orientierung
an den gegebenen ‚Stärken’ und einer netzwerkbezogenen Förderung jener individuellen und
gemeinschaftlichen Ressourcen (vgl. Enke 1998), die aktual bereits vorliegen, ist demgegenüber eine
Bearbeitung
zugrunde
liegender
gesellschaftlichen
Bedingungen
keinesfalls
zwingend.
Untersuchungen von Barbara Cruikshank (1999) zu den Empowerment-Programmen in den USA,
verweisen z.B. darauf, dass diese mit dem Versprechen den ‚demokratischen Bürger’ zu stärken
angetretenen Strategien, - ebenso wie in dem in der Bundesrepublik virulenten Diskurs - darauf
gerichtet sind, die ‚lebensweltlichen’ Potentiale und insbesondere das Wissen deprivierter Akteure um
ihre eigene Situation nicht durch ‚bürokratische Bevormundung’ zu überformen, sondern dafür zu
nutzen, ihre Lage zu verbessern.
„Dass dies jedoch nicht unbedingt dazu führt, Macht auf die Betroffenen zu übertragen und die gesellschaftlich
strukturellen Ursachen für Kriminalität, Armut etc. zu beseitigen, sondern allein erst mal eine veränderte Einstellung
der Betroffenen erzeugen soll ist die Kehrseite dieser ‚self-esteem’-Bewegung. Vielmehr werden so
gesellschaftspolitische Probleme privatisiert und individualisiert um auf der subjektiven Ebene ein Gefühl von
subjektiver Ermächtigung zu bewirken [… Dabei ist es] nicht die verarmte oder stigmatisierte Bevölkerung selbst,
die sich selbst ermächtigt, sondern Regierungsprogramme, die dieses organisieren“ und im Falle des Scheiterns die
der ‚Apathie’ der Betroffenen verantwortlich machen können (Wöhl 2003: 134).
Die habituelle Inkorporierung eigener ‚Stärken’ im Rahmen einer durch materielle und symbolische
Macht(mittel) und deren differentiellen Verteilung strukturierten Lebensweise kann ebenso wie die
„constraints the previous actions place upon the present“ (Greener 2002: 698) ignoriert werden, wenn
es darum geht innerhalb des Gegebenen ‚Handlungsfähigkeit’ - im Sinne der Kompetenz
‚selbstverantwortlich’ ‚richtige’ Entscheidungen zu treffen - zu ermöglichen und wenn diese
Entscheidungen im Kontext individueller Dispositionen bzw. des ‚Humankapitals’ der Akteure
interpretiert und in so fern ‚privatisiert’ werden. Dabei sind strukturelle Fragen ausgeklammert, bzw.
auf die Frage des ‚richtigen’ Handelns unter gegebenen Bedingungen oder die mangelnde oder
fehlerhafte individuelle Kontrolle dieser Bedingungen durch den einzelnen sozialen Akteur reduziert
(vgl. Gronemeyer 2001, Krafeld et al. 1998). In dieser Hinsicht stellt ‚Empowerment’ in seiner
individualisierenden Variante (vgl. Cruikshank 1993) letztlich ein sozialpädagogisches Äquivalent zu
der sozialpolitischen Agenda dar, auf das ‚Rudern’ zu verzichten und ‚steuernd’ brachliegende
Ressourcen und Potenziale zu aktivieren. ‚Aktivierung’ und ‚Empowerment’ bleiben auf die
237
unmittelbaren ‚Gründe’ und Zusammenhänge von ‚Problemen’, ‚Abweichungen’, ‚Konflikten’ etc. sowie
auf die unmittelbaren Möglichkeiten ihrer Kontrolle und Regulation beschränkt, während der Frage
strukturellen Bedingungsmatrix vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt werden muss.
Empowerment-Ansätze sind mit Bezug auf ihre Interventionsmittel Ansätze, die nicht auf die
Ausweitung von ‚legal-kapitalbasierten’ Ansprüchen (‚entitlements’) oder die Redistribution von
ökonomischen Ressourcen zielen, sondern vornehmlich - wenn nicht ausschließlich – auf die
(individual)habitusformierende Wirkung sozialen und kulturellen Kapitals setzen.
Insbesondere in ihrer Kopplung mit ‚präventiven’ Überlegungen sind Interventionsimplikationen die
Empowerment Ansätze zwar nicht zwangsläufig intrusiv, dafür aber umso expansiver. Da man nie
genug und nie früh genug ‚empowern’ kann, werden in einer Kopplung mit dem ‚präventiven Blick’
mehr oder weniger zudringliche und umfassende Formen der Strukturierung von Lebensräumen,
Regulierungen
von
Partizipationsmöglichkeiten
und
Zugangsansprüchen
sowie
Einengungen
praxislogischer Aneignungsmöglichkeiten in das Vorfeld eventuell möglicher Störungen, Gefährdungen
und Risiken verlegt (vgl. Frehsee 1998: 130). Gerade in den Händen der Protagonisten jener
Konzepte, die auf die Notwenigkeit primärer Prävention verweisen, erweitert sich der gierige Anspruch
einer
‚diffusen
Allzuständigkeit’
in
ein
unbestimmtes
Vorfeld
potentieller
Inzidenzen
(vgl.
Lindner/Freund 2001). Letztlich werden die möglichen Interventionsanlässe prinzipiell ins Unendliche
verlängert, während die Interventionen selbst sowohl von den Beschränkungen und Notwendigkeiten
der Legitimation durch gesetzliche Grundlagen - weil sie sich als unproblematische, ausschließlich
helfende Leistung darstellen lassen (vgl. Blanke/Sachße 1987: 260, Kersting 2001) – als auch von der
Verantwortung für die Konsequenzen dieser Bemühungen befreit werden können, weil diese den
Adressaten der Interventionen – ihrer „Apathie und [ihrem] Mangel an Vorsicht“ (Cohen 1993: 221) selbst anzulasten ist.
Dies gilt nicht nur hinsichtlich potentieller Schädigungen die von den Adressaten präventiver
Bemühungen ausgehen, sondern auch mit Bezug auf die Opfer von Schädigungen. Im Rekurs auf den
Begriff des ‚Risikoverhalten’ lassen sich die identischen delegitmierten Handlungsformen thematisieren
und bearbeiten, die auch mit den Begriffen Devianz, abweichendes Verhalten, Delinquenz etc.
verhandelt werden können, jedoch lässt sich darauf verweisen, dass diese Lebensäußerungen und
habituelle Einstellungsmuster nicht deswegen zum Problem werden, weil sie von sozialen Normen
abweichen, sondern wegen den möglichen Gefahren für die weitere Entwicklung des Akteurs selbst
(vgl. Silbereisen/Kastner, 1987, Raithel 2002). Richard Sparks und Vivian Leacock 2002 sprechen
bereits von einer diskursiven Bewegung vom Begriff des Risikos hin zu einer Konzentration zur ‚AtRisk-Ness’ (vgl. Edwards et al. 2000, Kemshall 2002, Petersen 1997 siehe auch Merkens 1994). Da
eine solche präventive Orientierung auf das Risiko für die ‚At-Risk’- Jugendlichen selbst – entgegen
einem ‚reaktiven Zugriff’ - weder der Explizierung noch der Feststellung einer Normunterbietung
bedarf, kann sie deren - präventive Maßnahmen erfordernde - Potentialität im Rekurs auf die
Ubiquität von Risiken auf tendenziell alle Kinder und Jugendlichen verallgemeinern (vgl.
Lindner/Freund 2001, Lüders 1999). Durch dem Verweis auf einen grundsätzlich riskanten Charakter
des Aufwachsens in einer ‚Risikogesellschaft’ können die Risiken, Gefahren und Gefährdungen als
238
selbstverständlich vorausgesetzt werden und brauchen im einzelnen weder durch ‚objektive’
Eigenschaftsbeschreibungen eingeschätzt (vgl. Plewig 1980), noch im genauem Inhalt ihrer negativen
Auswirkungen expliziert werden (vgl. Groenemeyer 2001). Damit lassen sich ‚Risikoträger’ nach
weitgehend beliebigen Kriterien identifizieren (Wambach 1983): Das gesamte Jugendalter kann als
‚Lebensphase potentieller Devianz’ (vgl. Böhnisch 1999) bzw. als ‚Lebensphase des Risikos’ (vgl.
Anhorn 2002, Raithel 2001) fokussiert werden.
Während
sich
eine
Ausweitung
und
Vorverlagerung
der
Regulationsansprüche
mithin
präventionssystematisch ergibt, basiert der ordnungspolitische, bzw. verhaltensorientierte Zuschnitt
der Präventionsbemühungen auf der individualisierungstheoretischen Kontextuierung einer - durch die
Differenz von Politik und Sozialpädagogik (vgl. Sünker 1989) - der Jugendhilfe in ihrem notwendigen
Bezug auf den handelnden Akteur ex ante eingeschriebenen Dispositionssensibilität. Wenn im Kontext
der ‚Normalisierungsthese’ eine strukturlogische Irrelevanz der sozialen Positionierung unterstellt wird,
erweitert sich die Dispositionssensibilität der Jugendhilfe in der Bearbeitung der positionaldispositionalen Matrix ihrer Akteure zu einem Zwang zur Dispositionsorientierung, der sich auch in
einem
entsprechenden
Präventionsbegriff
niederschlägt.
Dieser
dispositionsorientierte
Präventionsbegriff ist nicht strukturell positionskompensierend, sondern erhebt vor allem Anspruch auf
die Bearbeitung jener Risikoquellen, die aus menschlichem Verhalten entspringen (vgl. Frehsee 2001)
– insbesondere jenem einer ‚moralfernen’ Provenienz (vgl. Heyting 1994).
Wenn
die
Lebensführungsproblematiken
der
Adressaten
der
Jugendhilfe
als
allgemeine
Modernisierungsrisiken gefasst und zugleich dynamisiert, individualisiert und biographisiert werden,
lässt sich auf der Ebene der Repräsentation der Adressaten, das fordistische Bild der ‚Abweichler’,
‚Devianten’ oder ‚Kriminellen’ nicht mehr aufrecht erhalten, die ‚als Opfer ihrer Verhältnisse’ nicht
primär nach Schuld und Verantwortung zu befragen waren, sondern vor allem im Kontext der
individuell nicht zurechenbaren inneren und äußeren Ursachen und Bedingungen verortet wurden
(vgl. Scherr 1998, Groenemeyer 2002), die aus den sozial ungerechten Strukturen der Gesellschaft
auf die Individuen ‚abstrahlen’ (vgl. Sack 1993).
Die dispositionale ‚Hilfe’ zum persönlichen Risikomanagement in der Risikogesellschaft mit dem Ziel
der Risikovermeidung bzw. -bewältigung, tritt in den programmatischen Präventionskonzeption – vor
dem Hintergrund der Grenzen sozialpolitisch positional orientierter sozialer Gestaltung und Sicherung an die Stelle disziplinierenden Zurichtung. Dies geschieht jedoch um den Preis einer tendenziellen
Verschiebung von der normierenden Normalisierung ‚problematischer’ Lebenslagen mittels des den
Versuch der (Re-)Integration in den vollen Bürgerstatus qua Lohnarbeit - als singuläre politische
Identität des Fordismus - zugunsten einer Bearbeitung partikularer sozialer Identitäten innerhalb der
risikoträchtigen Fragilität heterogener sozialer Kontexte (vgl. Purvis/Hunt 1999): „Nicht mehr die im
Diskurs über Inklusion enthaltene Idee der Chancengleichheit steht im Vordergrund, sondern die Idee
der Risikobegrenzung“ (Groenemeyer 2002: 126, vgl. Kemshall 2002). Im Zuge einer solchen
Präventionsorientierung weiten die Regulationsansprüche der Jugendhilfe aus, während teleologische
und sozialgestalterische Ansprüche wie Demokratisierung, Autonomie und Emanzipation sukzessive an
Bedeutung verlieren (vgl. Baillergeau/Schaut 2001, Kemshall 2002).
239
Die ‚präventive Wende’ in der Jugendhilfe lässt sich kontrolltheoretisch als eine Kritik der - ja auch in
fortgeschritten liberalen Gesellschaftsformationen keinesfalls obsoleten - fordistischen Fassung
sozialer Kontrolle als Normalisierung und Disziplinierung fassen, die von der teilweisen Ablösung und
Modulation durch andere Präventionsmodi und Kontrolllogiken begleitet wird. Die ‚traditionellen’
Kontrollmuster existieren dabei neben und komplementär zu den ‚neuen’ und es gibt eher fließende
Übergänge als harte Brüche zwischen beiden. Damit ist eine Beantwortung der Frage welche
Kontrollform, in welchem Feld, unter welchen Bedingungen, von welchem Kontrollsubjekt ausgehend,
gegenüber welchen Kontrollobjekten in den Vordergrund gerät, alleine deshalb eher tentativ als exakt
möglich, weil die Strategien selbst eher kontingent als kohärent sind.
III. 5.2
EXKURS: DIE NOTWENDIGE KONTROLLDIMENSION DER JUGENDHILFE – EINE KURZE VERTEIDIGUNG
Beschreibungen einer Jugendhilfe bzw. Jugendfürsorge, die mit (mehr oder weniger) ‚fürsorglichen’
Bevormundungen, Disziplinierungs- und Kolonialisierungsversuchen, Besänftigung und Zurichtung von
Benachteiligten oder anderen Kontrollzumutungen, machtbasierten und herrschaftsförmigen Eingriffen
nichts zu schaffen hat, sind historisch nicht neu. Auch das positiv formulierte Gegenstück, nämlich die
Beschreibung einer Jugendhilfe als eine herrschaftstheoretisch neutrale ‚Unterstützung‘, ‚Beratung‘,
und ‚Begleitung‘, die nur noch ‚helfe’ (vgl. Merten 1997), zu einer Herausbildung selbstidentischer
Personen beitrage, „Subjektivität in allen Dimensionen“ (Winkler 1992: 72) verbürge, ohne
stigmatisierende
und
paternalistische
Effekte
ausschließlich
‚echte’
Ressourcenprobleme
der
Lebensführung im Dienste des Subjekts löse und der Gleichen mehr, ist historisch nicht ohne
Vorläufer. Pointiert formuliert, kann man davon sprechen, dass, abgesehen von einer relativ kurzen
Phase in der die Herrschafts- und Kontrolldimension der Jugendhilfe vor allem im Kontext
neomarxistischer und etikettierungstheoretischen Ansätze in den Mittelpunkt des disziplinären
Diskurses
rückte,
die
notorische Tendenz besteht, die Hilfsdimension hervorzuheben, die
Kontrolldimension jedoch auszuklammern (vgl. Bailey/Brake 1975) oder sie ‚im Prinzip’ anzuerkennen,
jedoch für mittlerweile anachronistisch bzw. zu einem bloßes ‚Imageproblem’ zu erklären. So bedauert
etwa der Direktor des Hamburger Jugendamtes im Jahr 1927:
„[I]mmer noch gilt das Jugendamt als ‚Buhmann’, immer noch wirkt die berechtigte Abneigung gegen die
‚Strafschule’ – die bekanntlich schon 1905 aufgehoben ist – mit, obwohl […] die Erziehungsanstalten des Amtes in
rein erzieherisch-fürsorgerischem Geist geführt werden. […] Immer wieder müssen wir um das Vertrauen der Eltern
bitten, die sonst das Erziehungswerk sehr erschweren oder gar aussichtslos machen“ (zit. nach Crew 1992: 286).
Dabei ist es natürlich richtig, dass die Rigidität der Verhaltenszumutungen, Moralisierungen und
Identitätszurichtungen ebenso wie der bevormundende und unterdrückende Charakter der
Interventionen
der
Jugendfürsorge
im
Wilhelmismus
zum
Angebotscharakter
einer
dienstleistungsorientierten Jugendhilfe in einem kaum vergleichbaren Verhältnis steht. Ebenso wenig
kann sinnvoll bestritten werden, dass es – abgesehen von der Zeit nationalsozialistischer Barbarei -,
rein formalrechtlich betrachtet, eines der hervorstechenden Momente der Entwicklung vom RJWG zum
KJHG ist, sich kontinuierlich von einem polizeilich-ordnungsrechtlichen Zuschnitt verabschiedet zu
haben. Allerdings haben diese Entwicklungen und Errungenschaften einer modernen Jugendhilfe mit
240
einem ‚Ende der Kontrolle’ wenig zu tun, und auch die Rede von einem ‚Abschmelzen’ der
Kontrollfunktion der Jugendhilfe ist mit nicht überwindbaren Problemen verbunden. Diese Probleme
bestehen zumindest dann, wenn ‚soziale Kontrolle’ als eine analytische und nicht als eine normative
Kategorie gebraucht wird, wobei der normative Gebrauch des Kontrollbegriffs – als etwas ‚Schlechtes’,
als synonym für Unterdrückung oder als die ‚dunkle Seite’ der Jugendhilfe - ohnehin kaum zu
überzeugen
vermag:
Zwar
ist
Jugendhilfe
sozialstaatstheoretisch,
moraltheoretisch,
demokratietheoretisch etc. in je angemessener Form unterschiedlich beschreibbar, spricht man aber
in sozialwissenschaftlicher Weise von ‚sozialer Kontrolle’ ist Jugendhilfe eine Instanz sozialer Kontrolle:
Eine Instanz die auf Risiken und Probleme im Sozialen reagiert und versucht diese zu lösen, zu
regulieren, auszugleichen, Hilfe zu deren Bewältigung zu leisten, sie erträglich zu machen, in andere
Formen zu bringen und so weiter. All dies stellt zugleich einen Beitrag zur Gestaltung,
Aufrechterhaltung und Herstellung sozialer und politischer Ordnungen bzw. der Regelmäßigkeiten der
Formen des Zusammenlebens sowie der Art und Weise dar, wie sich Akteure in sozialen Feldern
bewegen, und wie sie sich bewegen können bzw. sollen.
Ist Jugendhilfe demnach eine Instanz sozialer Kontrolle, können sich zwar ihre Kontrollstile (vgl.
Cohen 1993), -logiken und -ziele verändern - sie können beispielsweise weniger intrusiv, repressiv
oder befehlend und stattdessen eher partizipativ und auf Verhandlung, Vermittlung und
Interessenausgleich ausgerichtet sein, sie können punitive Sanktionen durch primär sozialpolitische
Maßnahmen ersetzen, sie können weniger auf direkte Unterdrückungen von Lebensäußerungen als
auf die Hervorbringung ‚gelingender’ Identitäten zielen usw. - aber die Kontrolle einer Kontrollinstanz
selbst kann per se nicht abschmelzen oder ähnliches, zumindest so lange nicht geklärt ist, was unter
‚sozialer Kontrolle’ verstanden und welche Kontrollform als Vergleichgröße herangezogen wird. Es
geht also weniger darum, ob Jugendhilfe soziale Kontrolle ausübt, sondern wie sie es tut.
Wird soziale Kontrolle in einem engen kriminologischen Sinn gefasst, lässt sie sich als das Ensemble
alle jener Reaktionen betrachten, die den Charakter einer negativen Sanktionierung devianter
Handlungsweisen annehmen (vgl. Sack 1993a: 418). Geht man jedoch davon aus, dass sich Devianz
erst dadurch konstituiert, dass sie als Unterbietung hegemonialer symbolischer Standards negative
Reaktionen in ihrer Umwelt hervorruft (vgl. Sumner 2001, Tittle 1995), rückt dieser Gedanke in die
Nähe einer Tautologie. Selbst wenn man die Ebene sozialwissenschaftlicher Definitionen von Devianz
verlässt, ist die Annahme nicht abwegig, dass negative Reaktion auf Störungen, Ärgernisse und Unbill
– was auch immer je darunter verstanden wird – , wie es Scheerer (1993: 71 f) formuliert, so ewig
sind „wie das Glück oder Unglück der Menschen […] und wie jeder andere Teil der condito humana“.
Aber auch wenn man von der Banalität absieht, dass Vertreter der Jugendhilfe mit einiger
Regelmäßigkeit auf Unerfreuliches unerfreut reagieren und stattdessen den Blick weg von spontanen,
emotionalen, subjektiven Reaktionen, hin auf stärker institutionalisierte, mehr oder weniger rational
angewendete Formen negativer Sanktionen richtet, sind diese Kontrollformen der Jugendhilfe
keinesfalls fremd. So sieht etwa Böhnisch (1999: 188 f) im ‚Grenzen setzen’ einen „integrale[n]
Bestandteil einer gelingenden Entwicklung von Kindern und Jugendlichen“ und spricht davon, dass im
„pädagogischen Feld […] Erziehung und Strafe uno actu zusammenfallen“. Auch der Bundesverband
241
privater Träger der freien Kinder-, Jugend- und Sozialhilfe (VPK 2003: 36) betont, dass
Sozialpädagogen die „Pflicht haben, deutlich und energisch bei Normverstößen von Kindern und
Jugendlichen zu reagieren und zu intervenieren“. Selbst wenn demnach planvolle Bestrafungen einen
bestimmten (diskurskonjunkturell mehr oder weniger bedeutsamen) Typus öffentlicher Erziehung
darstellen, ist es fraglich, ob gerade diese Form sozialer Kontrolle überhaupt jemals konstitutiv für
personenbezogene soziale Dienste war (skeptisch: Peters 1995, 2002) - der oben zitierte
Jugendamtsdirektor weist dies jedenfalls von sich. Selbst im stationären Strafvollzug – dem Extrempol
der negativen Sanktion – repräsentierten die sozialen Dienste ja gerade einen Typus der Sanktion, der
weniger auf Strafe, als auf Besserung und Reintegration gerichtet ist65.
Betrachtet man sich die Eingebundenheit der Jugendhilfe in den jugendstrafjustizellen Bereich, in dem
die enge, kriminologisch fassbare Kontrollform eine vergleichsweise große Rolle spielt, so nimmt diese
in Bezug auf die Jugendhilfe in dem Maße, wie der spezialpräventive Resozialisierungsgedanke im
Strafkomplex an Bedeutung verliert zwar im ‚stationären’ Bereich des Strafen in so fern ab, dass die
Kontrollrationalitäten der Jugendhilfe substituiert werden, in dem Maße wie eine ‚Informalisierung der
Justiz’
(vgl.
Albrecht
2000)
voranschreitet,
finden
sich
jedoch
Hinweise
darauf,
dass
sozialpädagogische Kontrolllogiken im ‚ambulanten’ Bereich einen Bedeutungsgewinn erfahren. Beide
Momente sind im Kontext von ‚Gabelungsprozessen’ (vgl. Bottoms 1977) im Jugendstrafrecht
feststellbar. Von einem generellen Rückgang der ‚kriminologischen Form’ sozialer Kontrolle in der
Jugendhilfe kann jedoch keine Rede sein. Dort wo eine Eskamotierung der Jugendhilfe aus dieser
Kontrollarena vorgenommen werden soll - wie etwa im Kontext schärfer punitiv konturierter
Reaktionen auf Jugenddelinquenz - drängen Vertreter der Jugendhilfe, bzw. der Verbände – sei als
‚Stakeholder’ im Kontrollgeschäft, sei es im tatsächlichen oder vermeintlichen Interesse der
Jugendlichen - in der Regel auf den ‚Erziehungsgedanken’ und ein ‚jugendgemäßes Strafverfahren’,
dessen ‚Jugendgemäßheit’ mehr oder weniger mit dem gestaltenden Einfluss der Jugendhilfe
gleichgesetzt wird (so etwa die AGJ 2001).
Fasst man dagegen soziale Kontrolle in einem ‚weiten’ sozialwissenschaftlichen Sinn als Versuch der
Anordnung, Gestaltung und Regulation oder kurz der ‚Steuerung’ (engl. ‚control’) von intersubjektiven
Prozessen und ihren Bedingungen, mit dem Zweck normative Erwartungen zu stabilisieren und den
sozialen Verkehr berechenbar zu machen (vgl. Kreissl 2000), so ist wie René König ausführt „soziale
Kontrolle ein zentraler Bestandteil allen sozialen Daseins“ (König 1968: 287). Sie umfasst nicht nur
Momente einer strafende Ahndung oder des Zwangs – im Gegenteil, zumindest bei Edward A. Ross
wird soziale Kontrolle als die demokratische Alternative zu Hierarchie und Zwang formuliert (dazu
Fraser 2003) - und kann auf einer analytischen Ebene auch nicht einfach mit dem im sozialen
Interventionsstaat vorherrschenden Kontrollmodus der Disziplinierung als normierend-assimilierender
Normalisierung gleichgesetzt werden, ohne andere Modi in ihrem teils funktionsäquivalenten, teils
modulierten, teils alternativen – Kontrollcharakter zu ignorieren.
Oder zumindest gerichtet war. Das Straf-Wohlfahrt-Paradigma hat sich, wie gezeigt werden wird, durchaus in eine andere
Richtung verschoben. Dabei nimmt die für die Jugendhilfe a-typische Form der sozialen Kontrolle im ‚kriminologischen’ Sinne
eher wieder zu als ab.
65
242
Die Kontrolle von Verhalten lässt sich allgemein als ein Prozess oder ein koordiniertes Arrangement
von Prozessen beschreiben
„by which norms are established, the behaviour of those subject to the norms monitored or fed back into the
regime, and for which there are mechanisms for holding the behaviour of regulated actors within the acceptable
limits of the regime (whether by enforcement action or by some other mechanism)” (Scott, 2001: 331).
Analytisch ist es daher sinnvoll, soziale Kontrolle als die Gesamtheit aller Mechanismen zu betrachten,
die als direkte oder indirekte Hervorbringung oder Unterdrückung, Manipulation, Überwachung,
Förderung, Verwaltung, Zuteilung, Organisation, Förderung, Erziehung, Beobachtung, Befriedung,
Interessenabgleich,
Verantwortungszuschreibung,
Mitteldistribution,
Inklusion
und
Exklusion,
Koordination, bis zu ‚Lebensführungsentscheidungshilfen’ und anderen Formen der Beeinflussung
interpersonaler Kooperation wie (intra-)individueller Selbststeuerung, sowie die Gestaltung und das
Arrangement ihrer strukturellen Einbindungen im Sinne einer sozialen, ökonomischen, kulturellen,
physikalischen und symbolischen Produktionen, Reproduktion, Regulation und eines Managements
ihres zeitlich-räumlich, situativen, gesellschaftlichen oder feldspezifischen Möglichkeitsspielraums,
gefasst werden können.
Zu den Mitteln sozialer Kontrolle in einem solchen weiten Sinn zählen demnach Recht und Religion,
Sitten, Traditionen und Gebräuche, Sprache und Wissen ebenso wie Sozialtherapie, Beratung
Begleitung und Unterstützung und selbst noch das gelenkte Vergnügen, wie es etwa in ‚Disney World’
rekonstruiert werden kann (Shearing/Stenning 1987). Die Forderung, Jugendhilfe solle das Soziale
stärker ‚präventiv’ gestalten, fällt ebenso unter diesen Kontrollbegriff, wie Sozialisationsprozesse, als
vergesellschaftende Hervorbringung von Subjekten eine – gerade in ihrer institutionalisierten Form
fundamentale – Form sozialer Kontrolle sind (vgl. Cohen 1985): „Social control“, stellt etwa Robert E.
Park (1921: 20) fest, „is the central fact and the central problem of society“.
In einem gewissen Sinne lassen sich daher zwar nicht alle Phänomene einer Gesellschaft als soziale
Kontrolle verstehen, aber nahezu alles, was als soziale Interaktion gefasst werden kann - oder, noch
weiterreichender, was sich als soziale Tatsache darstellen lässt – „kann mit Gewinn auch unter d[em]
Gesichtspunkt [sozialer Kontrolle] analysiert werden“66 (Scheerer 2000: 167).
Trotz aller theoretischer ‚Uferlosigkeit’ des Begriffs sozialer Kontrolle (vgl. Peters 2000), bleibt doch
„der genuine Handlungskern der gleiche: Die gezielt intendierte Beobachtung auf eine eventuelle
Differenz von Soll- und Ist-Wert“ (Nogala 2000c: 126) verbunden mit dem Ziel einer gegenwärtigen
oder erwartbaren Abweichung von dem Soll-Wert entgegenzutreten. Auch dann, wenn die fordistischkenysianistische Form der Vergesellschaftung und Risikoabsicherung als ‚socialized actuarialism‘ (vgl.
O´Malley 1992: 257) zurückgedrängt und die dazugehörigen disziplinierenden und ‚kolonialisierenden‘
Kontrollmodi zumindest teilweise – wie etwa im Falle der Kritik der ‚Eingriffsorientierung’ im Kontext
des
‚fachlichen’
Präventionsdiskurses
‚leistungsorientierten’
SGB
VIII
-
(vgl.
als
Böllert
1995)
anachronistische
bzw.
und
der
Implementation
freiheitsberaubende
des
Modelle
zurückgewiesen werden (vgl. Hoggett 2001), bleibt dieser Handlungskern der Kontrolle in der
Stan Cohen (1985) spricht von sozialer Kontrolle als einem ‚Mickey Mouse Concept’. Dennoch, um im Sprachspiel zu
bleiben: auch die ‚Disney order is not so Mickey Mouse’ (Shearing/Stenning 1987).
66
243
Jugendhilfe unberührt. Zwar mag die Gültigkeit und Reichweite des wohlfahrtsstaatlich-fordistischen
Sollwerts ‚fluider’ geworden sein (vgl. Bauman 1998) und sich die Angleichung des ‚Ist-Werts’ auf
andere - z.B. auf Kommunikation, Partizipation und Konsens gerichtete - Techniken verlagern, aber
die Jugendhilfe verzichtet weder auf das eine noch das andere (eine ‚Output-Orientierung’ und ex
ante Formulierung von ‚strategischen und operativen Zielen’ im Kontext der instrumentell
rationalisierenden Neuen Steuerungsmodelle ruft dies ebenso deutlich in Erinnerung, wie die Rede von
‚Prävention‘ und die Bestimmung dessen, was ‚präventiert’ werden soll). Jugendhilfe kann auf diese
Operationen gar nicht verzichten. Würde sie dies in einem fundamentalen Sinne tun, d.h. diese auch
nicht implizit und routinehaft vollziehen, so wären damit zwei mögliche Alternativen impliziert:
1. Die einzelnen Interventionen, die von der Jugendhilfe vollzogen werden sind in jeder Hinsicht
in Intention und Vollzug vollkommen kontingent, plan- und ziellos, auf nichts bezogen und auf
nichts gerichtet. Letztlich würde es Jugendhilfe damit nicht mehr geben – sie ließe sich auch
in keiner Weise bestimmen – und selbst wenn es ‚so etwas’ gäbe, wäre es bloße, ‚diffus
unzuständige’ Zeitverschwendung.
2.
Ist- und Sollwert sind dauerhaft und unhinterfragt identisch. Die in diesem Kontext
vollzogenen Interventionen wären ebenfalls im besten Falle nutz- und sinnlos, im
schlechtesten nutz-, sinnlos und paternalistisch. In beiden Fällen wäre Jugendhilfe bestenfalls
überflüssig.
Über diese Banalität, die den Handlungskern sozialer Kontrolle beschreibt, hinaus ist es jedoch
notwendig weitere Parameter anzugeben, die der Kontrolle als einem sozialem Vorgang eine
spezifische Kontur geben: Soziale Kontrolle, soweit sie sich auf Menschen und menschliches Handeln
bezieht, ist als eine Beziehung zwischen mindestens zwei, mittelbar oder unmittelbar wechselseitig
aufeinander bezogen agierenden sozialen Akteuren, ein unbedingt relationaler Begriff (vgl. Nogala
2000). Diese Relationalität ist für die Jugendhilfe gerade in ihrer analytischen Fassung als
personenbezogene soziale Dienstleistung bereits theoriearchitektonisch immanent. Im Falle sozialer
Kontrolle ist diese Relation durch eine Machtasymmetrie gekennzeichnet, die es dem ‚Kontrollsubjekt’
(vgl. Franz 2000) „ermöglicht, jene Faktoren zu steuern, die als bestimmend für die Herstellung der
gewünschten Ziele angesehen werden“ (Wolf 1997: 106): Das ‚Kontrollsubjekt’ konstituiert sich
dadurch, dass es über einen Vorsprung an Machtmitteln verfügt – für die Jugendhilfe vornehmlich
soziales und kulturelles Kapital. Ein Machtvorsprung der Jugendhilfe ist im Falle des Vollzugs nichtkonsensual und ‚unfreiwillig’ erbrachtet Leistungen unmittelbar evident. Aber auch jenseits so
genannter ‚eingriffsorientierter’ ‚echt hoheitlicher’ Interventionen ist ein Machtgefälle von Adressaten
und Professionellen, beispielsweise in Form eines Wissensvorsprungs oder einer höheren
infrastrukturellen Möglichkeit regulatorischer Einflussnahmen, ein ebenso zentrales wie notwendiges
Moment in allen Leistungserbringungen der Jugendhilfe. Schon alleine da gerade auch bei ‚Angeboten’
der konkrete Nutzer den Professionellen und seine Leistungen persönlich notwendiger braucht als
umgehrt, ist ein Machtgefälle zwischen Adressat und Professionellem für die Jugendhilfe konstitutiv
(vgl. Brumlik 1992, Schaarschuch 1998). Hätte die Jugendhilfe mit Bezug auf das vom Nutzer
artikulierte oder von ihr selbst eruierte Anliegen bzw. Problem nicht ‚mehr’ oder ‚passendere’
244
Machtmittel als der Nutzer selbst, könnte sie ihn auch nicht unterstützen, beraten usw., sie hätte sie
keinen Gebrauchswert für ihn. Dabei führt der leistungsermöglichende Machtvorsprung zwar nicht
zwangsläufig zu einem unilinearen, wohl aber zu einem asymmetrisch–nichtreziproken Verhältnis.
Inwiefern und in welcher Form sich das Machtgefälle zwischen Professionellen und Adressat äußert,
hängt von dem Grad der faktischen Interessendivergenz im Spannungsverhältnis von (administrativ
repräsentierter) Gesellschaft, Organisation, Profession und Nutzer ab. Besteht eine weitgehende
Interessengleichheit, können Kontrollprozesse unabhängig vom Grad der Machtdifferenz konsensual
verlaufen, während sich eventuelle Spannungen sich von einem Konflikt um den ‚opus operandum’ vor
allem auf ‚technische’ Fragen des ‚modus operandi’ verlagern. Weiter ist es denkbar, dass auch im
Falle von Interessendifferenzen von ihrer Durchsetzung entweder ganz abgesehen oder zeitweilig und
taktisch vermieden wird, um teure, unerwünschte oder offen konfliktuöse Folgen zu verhindern (vgl.
Nogala 2000: 127). Schließlich bietet der Machtvorsprung dem ‚Kontrollsubjekt’ aber auch die
Möglichkeit
seine
Regulationsversuche
im
Zweifelsfall
auch
gegenüber
einem
‚unwilligen’
‚Kontrollobjekt’ durchzusetzen. Diese Durchsetzung kann durch ‚aktive’ Sanktionen – in welcher Form
auch immer – geschehen oder in ‚passiver’ Form einfach dadurch, dass das unwillige Kontrollobjekt
die mittelbaren oder unmittelbaren negativen Konsequenzen seiner Unwilligkeit – beispielsweise den
Ausfall ‚subjektiv’ oder ‚objektiv’ eufunktionaler Leistungen - zu tragen hat. Die Folgen von
Unwilligkeit, mangelnder Kooperationsbereitschaft und unselbstverantwortlicher (Fehl)Entscheidungen
bestehen dann in einer nicht aktiv von außen an den Akteur herangetragenen Strafe - der
absichtsvollen Zufügung von Leid (vgl. Christie 1986) - sondern durch ‚Selbstschädigung’ als
Konsequenz der ‚Unvernünftigkeit’ ergeben, die der externalen Kompensation entzogen bleiben. D.h.
die Logik des ‚passiven’ oder strukturellen Zwangs besteht nicht in der Aufforderung ‚Du musst
mitspielen ob du willst oder nicht’ sondern, sondern in einem Angebot and den vernünftigen und
rational abwägenden Akteur das ungefähr lautet: ‚Hier sind die Spielregeln. Du hast die Wahl. Spiel
mit oder lass es bleiben. Wenn Du nicht mitspielst, dann trag die Konsequenzen’.
Mit dem Bestehen auf einen Kontrollcharakter der Jugendhilfe soll keinesfalls gesagt werden, dass
alles ‚beim Alten geblieben’ sei, oder dass ein tendenzieller Verzicht auf ‚aktive’ Sanktionen und
‚moralisch autoritäre Kontrollformen’ (vgl. Steinert 1992) keinen Fortschritt und Freiheitsgewinn für,
oder gar eine noch perfidere Kontrollform gegenüber den betroffenen Akteure darstellen würde. Die
Betonung von Freiwilligkeit und Wahlfreiheit ist ein historischer, demokratischer Fortschritt. In jedem
Fall aber, wird in den skizzierten Kontrollsituation eine Norm zur Geltung und mithin das Interesse
zum Ausdruck gebracht, eine (ausweisbare) Ordnung, in der diese Norm eingebunden ist,
durchzusetzen beziehungsweise zu (re)etablieren. Sofern sich Kontrolle auf eine solche Ordnung
bezieht, bezeichnet sie nicht die dieser Ordnung vorgängigen bzw. diese Ordnung etablierenden
sozialen Kämpfe und Auseinandersetzungen, die noch auf einer diachronen Ebene eines Widerstreits
mit offenem Ausgang angesiedelt sind – und für die Jugendhilfe als offener ‚Kampf’ antagonistischer
Interessen überdies jede Form eines ‚Arbeitsbündnisses’ von Professionellen und Adressaten ex ante
verunmöglichen würden -, sondern ist als eine synchrone Zustandsbewahrung zu fassen, die einem
solchen Widerstreit logisch nachgeordnet ist.
245
Ein durch diese Parameter bestimmbarer Vorgang ‚soziale Kontrolle’ kann im Sinne einer ‚PerspektivBezeichnung’ als ein Ensemble all dessen definiert werden, was das in Bezug auf diese Ordnung
unerwünschte „Verhalten verhindern soll und/oder faktisch verhindert (auch der Versuch der
Verhinderung kann ein Kontrollverhalten sein) – sowie all dessen, was auf ein unerwünschtes
Verhalten reagiert“ (Scheerer 2000: 167) und zwar unabhängig davon, ob diese Reaktion direkt und
interpersonal oder mittelbar und durch strukturelle Anordnungen von Möglichkeitsspielräumen erfolgt,
und auch unabhängig davon, ob die Interventionen die gewünschten Effekte auch tatsächlich zeitigen
oder nicht.
Betrachtet man die Kontrolldimensionen der Jugendhilfe in dem Verhältnis von Praxisformen der
mittelbar oder unmittelbar betroffenen Akteure und den Strukturen der Felder in denen ihre Praxis
situiert ist, erscheint es verkürzt, die Kontrolleffekte der Jugendhilfe alleine in den sich akut
vollziehenden prozessualen Interventionen zu verorten und das überdauernd wiederkehrende Resultat
der Steuerungs- und Regulationsversuche zu ignorieren, in denen die Kontrolldimension ihren aktualprozessualen Charakter verliert und ihren sozialregulatorischen Effekt dadurch äußert, dass sie zu
einem strukturierten und strukturierenden Zustand ‚gerinnt’ (vgl. Nogala 2000). Dabei sind diese
beiden
Ebenen
nur
analytisch
trennbar,
denn
auch
die
sich
je
akut
vollziehenden
Kontrollinteraktionen sind nicht freischwebend in einem Vakuum angesiedelt, sondern werden selbst
von den historisch zu (Kontroll)Strukturen geronnenen Regelmäßigkeiten der Kontrollpraktiken
strukturiert und präsuppositioniert. Insofern bei den Interventionen der Jugendhilfe auf strukturelle
(Kontext)Bedingungen der Situierung der Akteure und ihrer Praxisformen rekurriert wird - d.h. auf der
Ebene der Machtmittel die jugendhilfetypische Kombination von personal inkorporierbarem
‚kulturellem Kapital’ und ‚sozialem Kapital’ – lässt sich die Kontrolldimension der Jugendhilfe
idealtypisch insbesondere in zwei Dimensionen verorten:
1. In
der
Durchführung
von
professionellen
Handlungen
des
‚Kontrollsubjekts’,
die
als
kulturkapitalbasierte Interventionen auf der Seite des ‚Kontrollobjekts’ bestimmte Dispositionen
und Handlungsmuster hervorbringen, beziehungsweise (prä)strukturieren sollen.
2. In den Versuchen einer zielgerichteten diachronen Strukturierung, im Sinne von vornehmlich
sozialkapitalbasierten
Interventionen,
die
zu
einer
Hervorbringung,
Änderung,
oder
Aufrechterhaltung von Strukturen beitragen, die in einer überdauernden Form strukturierend auf
die Handlungen der Adressaten wirken.
Diese beiden Dimensionen werden in den jugendhilfetypischen Bezügen auf eine positionaldispositionale Matrix zu Versuchen der Lenkung und Regulation der Praxisformen ihrer Adressaten
innerhalb ihres qua Praxis strukturierten Möglichkeitsspielraums verknüpft, die idealerweise zu einer
Art professionell induzierten ‚Äquilibration’ von Praxis, Habitus und Struktur auf einer ‚höheren’ Ebene
führen sollen.
Es bietet sich daher an, einen Wandel der Formen und des Inhalts der Kontrolldimensionen der
Jugendhilfe nicht in nur in Bezug auf die durchaus wichtige Frage ihrer Dichte, ihrer Frequenz und
ihres Rigiditäts- und Repressionsgrad hin zu analysieren, sondern vor allem auch hinsichtlich ihres
246
praktisch und analytisch fundamentalen Bezugs auf und ihrer Aktualisierung der postionaldispositionalen Matrix, auf deren Basis ihre Nutzer repräsentiert bzw. ‚subjektiviert’ werden
III. 5. 3
NEUE KONTROLLMUSTER IN DER JUGENDHILFE
Die These ist, dass sich nicht nur und nicht in erster Line die Kontrolldimension der Jugendhilfe als
solche, sondern ihre Strategien, Rationalitäten und der Inhalte wie die Formen ihres Bezugs auf die
positional-disositionale Matrix ihrer Adressaten verändert haben. Die typische Kontrollform der
Jugendhilfe, als eine fordistische Profession, war die Sozialdisziplinierung. Von einem völligen
Verschwinden dieser Kontrollform kann zwar keine Rede sein, aber ihre Dominanz ist relativiert
worden.
Dabei kann davon ausgegangen werden, dass Veränderungen auf der Ebene administrativer
Kontrollformen ihren Ausdruck und ihre Basis bereits in den tendenziellen Veränderung der
Sozialverwaltungsarbeiten findet, wie sie in den Bestrebungen zu einer Verwaltungsmodernisierung
und
dabei
insbesondere
Modernisierungsvarianten
normalisierende,
in
den
gefunden
assimilative
durch
haben:
und
die
Neuen
der
sukzessiven
In
disziplinierende
Steuerungsmodelle
Zurückdrängung
Interventionsstrategien
induzierten
einer
für
typischen
‚Konditionalprogrammierung’ auf der administrativen Ebene zugunsten einer ‚Finalprogrammierung’
(vgl. Luhmann 1964).
Kinder- und jugendhilferechtlich ist dieser Wandel durch ein verändertes Selbstverständnis des SGB
VIII dokumentiert, in dessen Gesetzestext der Schwerpunkt auf den ‚Leistungen’ liegt, während
ordnungspolitische und fürsorgerische Aspekte zwar nicht verschwunden (vgl. SGB VIII § 42 ff) aber
in den Hintergrund getreten sind (vgl. Münder 2001: 1002). In einer der ‚Wenn-Dann-Logik‘ folgenden
Konditionalform der ‚Ordnungsverwaltungen‘ wird Verwaltungshandeln durch externe Anlässe in der
Form ausgelöst, dass der Vorgang nach Rechtsnormen geprüft und zumindest idealtypisch in einer wenn auch faktisch immer durch das notwendige ‚Ermessen‘ gebrochenen (vgl. Brodkin 2000) subsumptionslogischen Deduktion einschlägigen Vorschriften zugeordnet. Plakativ gesprochen war das
Ziel die möglichst genaue Anpassung der Wirklichkeit an die Norm. Ebenso idealtypisch betrachtet,
entspricht es den Logiken der Finalprogrammierungen von ‚Leistungsverwaltungen‘, dass sie jenseits
einzeln fixierter externer Anlässe und ohne starre Verknüpfungen durch - mehr oder weniger vage
und flexible - Aufträge und Zielvereinbarungen so wie Effektivitäts- und Effizienzkriterien gesteuert
wird (vgl. Offe 2001a: 433). Insofern sich diese Idealtypen im Kontext der administrativen
‚Umprogrammierung’ durch die ‚Verwaltungsmodernisierung’ empirisch realtypisch niederschlagen
muss davon ausgegangen werden, dass sich auch die verwaltungsmäßigen Akten eingelagerte
Kontrollform - nicht zwangsläufig ihr Ausmaß – verändert haben.
Dies gilt auch dann, wenn beispielsweise festgestellt werden kann, dass äußerliche Formerfordernisse
des Verwaltungshandeln abnehmen, während kooperative bzw. partnerschaftliche Handlungsweisen
und der Aushandlungsspielräume zunehmen, was die Fähigkeit zur unlinearen Durchsetzung von
Souveränität und Staatswillen, sei durch den (lokalen) Staat selbst oder durch staatliche und
247
staatsabhängige
Institutionen
einschränkt
(vgl.
Stehr
2000).
Das
Anwachsen
von
Aushandlungsspielräumen trifft – bezogen auf die ‚Kundenspaltung’ der Jugendhilfe – nicht nur auf
den ‚zahlenden’ Kunden zu. Auch für die direkten Nutzer bzw. Adressaten der Jugendhilfe lässt sich
der Tendenz nach davon sprechen, dass sich die Kontrollform von der Subordinierung seines ‚Falls‘
unter eine Norm, in die vorab weit weniger bestimmte Sphäre einer flexiblen Aushandlung verschiebt,
allerdings um den ‚Preis’ der Erhöhung seiner eigenen Mitverantwortung - auch im Falle des
Scheiterns. Selbst wenn ein ‚Eingriff’ von einer ‚Leistung’ dadurch unterschieden werden könnte, dass
erstgenannter eine direkte, hoheitliche, nicht erbetene Intervention in die Lebensverhältnisse von
Bürger und Bürgerinnen darstellt (vgl. Münder 2000: 40), während ‚Leistungen’ hierauf verzichten und
auch wenn man eine Verschiebung vom Eingriff zur Leistung in diesem Sinn als Freiheits- und
Autonomiegewinn der Nutzer betrachten und (professions-) politisch positiv beurteilen kann, greift es
analytisch zu kurz, eine subsidiäre Verlagerung vom Eingriff zur Leistung mit einer substanziellen
Abschwächung von administrativen Kontrolldimensionen selbst gleichzusetzen. Dabei ist nicht einmal
das Anbieten von Leistungen gemeint, die faktisch nicht angelehnt werden können (vgl.
Loedemel/Trickey 2002) und auch nicht, dass dies regelmäßig zu Bedingungen geschieht, die dem
Einfluss des Nutzers weitgehend enthoben bleiben. Es ist auch nicht gemeint, dass weder die
staatliche Kustodialfunktion, noch die Möglichkeit, im Falle eines Misslingens der freiwilligen
‚Leistungsangebote’ von den ‚echt hoheitlichen’ ‚anderen Aufgaben’ der Kinder- und Jugendhilfe
Gebrauch zu machen, in ihrem Kern in Frage gestellt worden sind. Wesentlich ist, dass sich die
Kontrollmodi – vielleicht weniger im Einzelnen als in ihrer Gesamtschau – eher moduliert als in ihrer
Quantität verschoben haben.
Die zentrale Veränderung betrifft auch hier die institutionelle Repräsentation des Nutzers, die gerade
im Kontext von ‚Finalprogrammierungen’ in der Leistungsverwaltung weniger der Vorstellung eines
‚abhängigen Klienten‘ folgt, der den feststellbaren, mehr oder weniger miserablen Bedingungen seines
sozialen Daseins unterworfen ist, sondern der eines selbstverantwortlichen ‚Subjekts‘, als ‚richtig‘ oder
‚falsch‘
kalkulierender
Unternehmer
seiner
selbst.
Je
nach
Handlungsgeschick
und
Durchsetzungsfähigkeit, führt dies für einige ‚Kunden‘ der Jugendhilfe unzweifelhaft dazu, dass sich
das Machtgefälle zwischen ihnen als ‚Kontrollobjekt‘ und den Vertretern der Instanzen als
‚Kontrollsubjekt’ verkleinert, d.h. ihnen – sieht man von Finanzierungsvorbehalten ab - mehr
Handlungsoptionen und Möglichkeiten zur Interessendurchsetzung gewährt werden, als dies in den
Normierungen
der
Konditionalprogramme
angelegt
war.
Für
‚Kunden‘
in
schwächeren
Verhandlungspositionen und in Verhandlungen in denen die divergierende Interessen der
verschiedenen ‚Arten‘ von Kunden auftreten, realisiert sich dieser Souveränitätsgewinn auf der
Nutzerseite jedoch faktisch nicht automatisch. Die Bedingungskontexte, das Ausmaß und die
Reichweite der Handlungsmöglichkeiten sind sozial deutlich ungleich verteilt (vgl. Stehr 2000), was
faktisch zu einer relationalen Verhärtung existierender Ungleichheiten und Ungleichbehandlungen
ebenso wie zu einer Neuverteilung von Privilegien für die ‚gute Gesellschaft’ der Jugendhilfe führen
kann (vgl. Stehr 2000, Schaarschuch 1996). Auch wenn sich für die ‚glücklicheren‘ Kunden die
Kontrollaktivität der Jugendhilfe, langfristig betrachtet, von zwangsausübenden oder überwachenden
248
zu schlichtenden und vermittelnden oder anleitenden und auf Konsens und Überzeugung gerichtete
Formen - zumindest so lange, wie sie sich einigermaßen willig und einsichtig zeigen - verschoben hat,
bleibt Kontrolle als Intervention in Handlungen und Zustände, die als ‚abweichend‘ oder
‚verbesserungsbedürftig‘ betrachtet werden, bestehen (vgl. Franz 2000). Dies gilt vor allem für den
weniger begünstigten und/oder ‚einsichtigen‘ Teil der Jugendhilfepopulation ebenso wie für
diejenigen, die sich nicht in adäquater Weise ‚empowern‘ lassen wollen oder können (vgl. Stenson
1996). Für genau diese lässt sich seit einigen Jahren ein deutlicher Trend zur verstärkten Ausübung
von Zwang und Überwachung feststellen (vgl. Dahme/Wohlfahrt 2002, Jordan/Jordan 2000, Kantel
2002). In einer sublimierten Form lassen sich auch in einer finalprogrammierten und dabei
ökonomischen Rationalitäten folgenden Jugendhilfe Züge dessen finden, was Wacquant (2001: 402)
‚Liberal-Paternalimus’ nennt: „it is liberal at the top, […] and it is paternalistic and punitive at the
bottom“.
Das Problem der ‚klassischen’, benachteiligten Klientel der Jugendhilfe kann sich unter Umständen
gerade vor dem Hintergrund, dass auf ‚Aushandlungsprozesse’ verstärkt Wert gelegt, und ihr Gelingen
und Misslingen zu einem Gradmesser für den Erfolg der Leistungsangebote wird, dadurch verschärfen,
dass sie mit einiger Regelmäßigkeit die Gruppen und Akteure darstellen, die „nur bedingt über die
kommunikative Kompetenz verfügen, die notwendig ist, um in solchen Aushandlungsprozessen nicht
nur zu bestehen, sondern auch aktiv mitbestimmend teilzuhaben“ (Böhnisch 1999: 168). Als
Antragssteller müssen sie in der Lage sein, ihre Lebensweise mit den administrativen Experten
auszuhandeln. Dabei werden nicht nur kommunizierte Inhalte, sondern implizit auch Sprachweise und
-form und der performative Gehalt ihres Äußeren zum Gegenstand offizieller Prüfung (vgl. Marx 1995:
228). Das ungleich verteilte symbolische Kapital, die ‚richtige’ Sprache zu sprechen, um in der
institutionellen
Sprachlogik
‚gehört’
zu
werden
‚Finalprogrammierung’ zusätzliches Gewicht.
249
(vgl.
Bourdieu
1990),
gewinnt
in
einer
III. 6
EINE JUGENDHILFE OHNE INTEGRATIONSPERSPEKTIVE?
Neben den ausgeführten Reformen auf der Ebene der Organisation der Jugendhilfe, sollen in diesem
Kapital zwei Argumente, die für die Relativierung einer ‚normierend-normalisierenden’ Kontrollform
sprechen, diskutiert werden. Zum einen ein ‚technologisches’ Argument, zum anderen ein für die
Jugendhilfe
ungleich
wichtigeres
Argument,
das
auf
eine
strukturelle
Veränderung
des
Gegenstandsbereichs verweist, auf den die normierend-normalisierenden Interventionen der
Jugendhilfe zielten.
Das erste Argument ist lautet, dass in fortgeschritten liberalen Gesellschaften eine ‚technische’
Vorraussetzung der ‚Disziplinierung’ sukzessive verloren geht. ‚Disziplinierung’ bezeichnet das
assimilative, normierend normalisierende Aufzwingen, repetetive Eintrainieren, Überwachen und
institutionalisierte Reproduzieren einer bestimmten, verallgemeinerten Lebensform und Form des
Sozialkontakts, die zugleich eine bestimmte Selbstbeziehung induzieren soll. Diese Selbstbeziehung
soll in einem möglichst optimalen Passungsverhältnis zu dem gegebenen Netz sozialer Regeln stehen.
Vor allem Foucault weist dabei auf die unauflösbare Verzahnung von ‚Macht’ und ‚Wissen’ hin:
„Wir können gewissermaßen gar nicht in ein soziales Regelwerk unter psychischem Druck eingeübt werden, wenn
wir nicht gleichzeitig auch die entsprechenden Formen des Wissens über uns selbst und restliche Wirklichkeit
erkennen. Insofern hängen […] Macht und Wissen aufs engste zusammen: Mit jeder Etablierung eines bestimmten
Machtsystems, verstanden als das Netzwerk all derjenigen praktischen Regeln, die eine soziale Lebensweise
begründen, geht die institutionelle Privilegierung besonderer Wissensformen und Rechtfertigungspraktiken einher,
die festlegen, was wir über die Welt überhaupt in Erfahrung bringen können“ (Honneth 2001: 22).
Unter den Bedingungen notwenig ausdifferenzierter und pluralisierter Marktgesellschaften und der
Resubjektivierung – möglichst aller – Subjekte als ‚autonome’ Marktsubjekte, die nicht nur ‚frei’ über
ihren Lebensstil entscheiden sollen, sondern den zugleich auch eine Lebensführungsverantwortung
zugeschrieben wird, wird die „meagalogical and obsessive fantasy“ (Rose 1990: 289) der
Disziplinargesellschaft als ‚totally administered society’ (vgl. Rose 1993) nicht nur kontraproduktiv,
sondern sozialtechnisch unmöglich.
Disziplinierung verweist auf einen Kontrollmodus der Assimilation und Kontingenzreduktion, die
differenzierte, professionalisierte und rationalisierte Fragen der Gewinnung von Informationen über
und der ‚richtigen’ Technik der neutralisierenden Beherrschung von sozialen Risiken fokussiert, und
dabei vor allem eine Angelegenheit des Expertenwissens verschiedener Diziplinen darstellt.
Disziplinierung ist ein Teil jener präventiven Haltung, die, wie François Ewald (1998: 13) ausführt,
„sich prinzipiell auf das Vertrauen in die Wissenschaft und ihre Gutachten stützt“. Man muss die
Wissensgesellschaftsmetapher nicht teilen um der Einsicht zuzustimmen, dass Wissens für jeden
einzelnen Akteur, in nahezu sämtlichen Lebensbereichen, die zentrale aber je ‚subjektiv’ variierende
Ressource seiner Produktion und Reproduktion darstellt (vgl. Stehr 2000). So fern es richtig ist, dass
der fortschritten liberale Arbeitsmarkt, Flexibilität, Selbstverantwortung und Selbstorganisation seiner
‚Arbeitskraftunternehmer’ bedarf (Voß/Pongratz 2001, Beck/Boness 2002) und in diesem Kontext das
individuelle ‚Wissensmanagement’ (vgl. Mandel/Reinmann-Rothmeier 2000) und damit verbunden die
Variabilität, Fragmentiertheit, Widersprüchlichkeit sowie die bloße Menge an Wissens- und
Lebensmustern in einer Weise zunimmt, dass alleine das Erfordernis an Wissen über die einzelnen
250
Lebensformen und Lebensentscheidungen, sowie ihrer Bedingungen und der Möglichkeiten der
Veränderung diese Bedingungen, das für eine umfassende, disziplinierende Kontrollform notwendig
wäre, ein so exzessives Ausmaß erreichen müsste, dass es die Kapazitäten jeder Disziplin und
Institution schlicht sprengen würde (vgl. Vaughan 2000, Stehr 2000).
Neben diesem ‚technischen’ Problem besteht ein weiteres Problem disziplinierender Kontrollformen. In
einer zugespitzten, aber treffenden Metapher beschreibt Young (1999a: 390) die fordistische oder
‚moderne’, inklusive Gesellschaftsformation als ‚anthropophagisch’. Es gilt den Abweichler vor allem
dadurch zu bändigen, dass er gesellschaftlich ‚absorbiert’ wird. So verstanden war dies eine Logik, die
zumindest ein gewisses ‚Verständnis-’ oder besser eine ‚Verständigungsbereitschaft’ gegenüber dem
Abweichler beinhaltete, die jedoch mit einer Intoleranz gegenüber Differenz verbunden war. Eine
relativ rigide Orientierung an verallgemeinert gültigen Normalitätsstandards, wurde an eine
Orientierung gekoppelt die auf der Ebene des einzelnen Kontrollobjekts, die Dimension der Hilfe - als
Verbesserung der positional- dispositionalen Matrix - betonte. In diesem Kontext ist der strukturelle,
und dem Problem der begrenzten ‚Machtressource Wissen’ selbst vorgängige Wandel des
Referenzsystems, auf das sich ihre ‚nomierend-normalisierenden’ Interventionen ‚traditionell’ beziehen
für die Jugendhilfe noch wesentlicher als das ‚technische’ Problem der Sozialdisziplinierung. Die
Ablösung der fordistischen Phase des Kapitalismus ist zugleich von einer veränderten Form der
Subjektivierung in fortgeschritten liberalen Gesellschaften begleitet, die auch jene soziale Ordnung
fragmentiert welche den zentralen Bezugsrahmen für die normierende Normalisierung der Jugendhilfe
darstellte. Nicht nur aufgrund markoökonomischer Entwicklungen, sondern auch weil die neoliberalen
Strategien „‚let the genie out of the bottle’ because the rise of individualism and consumerism
celebrate diversity, choice, difference and fragmentation“ (McLaughlin/Murji 2001: 105).
Wie Kessl und Otto (2002) nachzeichnen, werden jene Strategien, die radikale, emanzipatorische
Kritiker forderten und die eine der Tendenz nach technokratische ‚normierend-normalisierende’
Jugendhilfe mehr oder weniger absichtsvoll vermieden hatte, zunehmend zu einem funktionalen Mittel
der Wahl: Die Individuelle und intersubjektive Selbstorganisation, eine Schaffung von Freiräumen und
die Reduzierung der Notwendigkeit einer direkten pädagogischen Führung auf ein Minimum.
Damit ist zunächst ein relativer Bedeutungsverlust der sozialdisziplinierenden Kontrollfunktionen der
Jugendhilfe
genau
impliziert.
Wie
bereits
ausführlich
diskutiert
war
aber
genau
diese
Sozialdisziplinierungsfunktion die ‚Kehrseite der Medaille’ oder besser das negativ konnotierte
Synonym der Bemühungen der Jugendhilfe um die ‚Integration’ ihrer Adressaten in die fordistische
Gesellschaft. Weil das ‚doppelte Mandates’ eben keine ‚zwei Hälften’, sondern eher zwei organisch
verbundene Effekte hatte, bedeutetet die Relativierung der Sozialdisziplinierungsfunktion der
Jugendhilfe zugleich die Relativierung ihrer bisherigen sozialstaatlich orientierten, allgemeinen
Integrationsfunktion in der Bearbeitung des Verhältnisses von sozialem Akteur und Gesellschaft.
Böhnisch und Schefold (1985: 54 f) insistieren bereits Mitte der 1980er Jahren auf einen strukturellen
Veränderungsbedarf der Jugendhilfe. Dieser wird nicht von der Kontrollkritik aus argumentiert,
sondern quasi von der anderen Seite her begründet. Mit einer Gefährdung einer „Perspektive der
prinzipiellen Reintegration in die Arbeitsgesellschaft“, so das Argument, sei „auch das sozialstaatliche
251
Modell der erweiterten Integration grundlegend in Frage gestellt“. In dem Maße wie sich die
fordistische Ordnung des ökonomisch-sozialen Hintergrunds zugunsten einer einseitigen Dominanz
einer
Ökonomie
der
Ökonomie
(vgl.
Bourdieu
1998)
verschoben
hat,
ist
die
bisherige
Selbstverständlichkeit, mit der sich die Jugendhilfe auf ihre Hintergrundsicherheit verlassen konnte im
Verschwinden begriffen (vgl. Böhnisch/Schröer 2001). Da sich trotz der ‚Krise des Sozialstaates’, in
einer
nach-fordistischen
Gesellschaftsformation
insgesamt
keine
regulative
Alternative
zum
Wohlfahrtsstaat gefunden hat (vgl. Böhnisch 1994: 20) ist jedoch für die Jugendhilfe nicht geklärt, auf
welche Inklusionsperspektive jenseits der fordistisch-sozialstaatlichen zurückgegriffen werden kann.
Diese sozialregulative Krise im Kontext einer Infragestellung des allgemeinen Prinzips der
Erreichbarkeit gesellschaftlicher Integration qua Lohnarbeit wird dadurch verstärkt, dass in der
fortgeschritten liberalen gesellschaftlichen Formation eine integrierende Form der Lohnarbeit zwar
eine knappe Ressource wird, aber gleichzeitig als Ressource zum Zugang gesellschaftlicher Teilhabe vor allem auch weil sie zunehmend sozialpolitisch alternativlos vorangetrieben wird - an (subjektiver)
Bedeutung
gewinnt
(vgl.
Schaarschuch
1998).
Sofern
es
aber
diese
gesellschaftlichen
Hintergrundstrukturen sind, die von einer ‚Normalisierung’ Sozialer Arbeit reflektiert werden, ist diese
Normalisierung auf der Ebene der Adressaten zugleich einer ‚Normalität sozialer Desintegration’ (vgl.
Schaarschuch
1996)
geschuldet,
der
systematisch
keine
verallgemeinerte
Strategie
eines
Vergesellschaftungs- und vergesellschafteten Teilhabeentwurfs gegenübergestellt wird.
Jenseits partikularistischer, ‚neo-sozialen’ Strategien, hatten sich zunächst Böhnisch und Schefold
(1985) theoretisch konsequent von der Suche nach einer umfassenden, gesellschaftlich integrativen
Funktion Sozialer Arbeit verabschiedet, und ein ‚Wegdenken’ von der Integrationsperspektive hin zu
einem ‚Paradigma der Lebensbewältigung’ eingefordert.
Unabhängig
von
der
Frage
ihrer
Alternativen
im
Einzelnen,
kennzeichnet
das
Aufgeben
gesellschaftlicher Integration als ihre zentrale Ausrichtung zugleich die Kontur einer Sozialen Arbeit,
die im Rekurs auf die Flexiblitätsanforderungen einer fragmentierten, sektoralisierten und gespaltenen
Gesellschaftsformation, verschiedene Formen und Grade sozialer Prekarität zwischen den Polen einer
Ermöglichung und Sicherstellung sozialer Teilhabe auf der einen und sozialen Entkopplungen auf der
anderen Seite, zu vermitteln hat (vgl. Schaarschuch 1998). Vor diesem Hintergrund ist ein
Bedeutungszuwachs verständigungsorientierten Vermittlungshandeln - sei es zur Stützung von
Lebenswelten, sei es zur Unterstützung situativen Bewältigungshandeln - als zentraler Strategie- und
Praxismodus der Jugendhilfe jenseits einer Integrations- bzw. verallgemeinerten Teilhabeperspektive
theoretisch durchaus denkbar. Unter den Bedingungen gesellschaftlicher Spaltung wäre dies aber
letztlich kaum mehr als eine euphemistische Umschreibung einer Form des Daseinsmanagements
innerhalb
einer
‚Zone
der
Verwundbarkeit’
(vgl.
Castel
1996,
2001),
ohne dass damit
notwendigerweise eine Perspektive auf einen substanziellen sozialen Fortschritt der Adressaten
impliziert wäre. In diesem Kontext könnte sich die Jugendhilfe auf eine Hilfe, Unterstützung und
Beratung im alltäglichen ‚lebensweltlichen’ ‚Durchkommen’ im Gegebenen konzentrieren, würde es
aber zugleich aufgeben, eine Perspektive des sozialen ‚Vorwärtskommens’ zu formulieren.
252
Die Frage der Stützung der ‚Lebenswelt’, der von einer umfassenden sozialen Teilhabe entkoppelten
Bevölkerungsgruppen, kann sich allerdings dann nicht ohne Zynismus stellen, wenn deren Position
bereits im Wesentlichen durch Nicht-Zugänge gekennzeichnet ist. Überspitzt bedeutet ein solches
Verhandeln über Prekarität innerhalb derselben, animierend bis steuernd auf die Dispositionen der
Betroffenen so einzuwirken, dass sie sich mit ihrer gegebenen Position abfinden, und bestenfalls zu
verhindern, dass sie völlig in das ‚abrutschen’, was Robert Castel (1996) treffend die ‚Zone der
Exklusion’ nennt. Dass, wie z.B. Uwe Bittlingmeyer (2000: 8) den „völlig unscharfe[n[ coping-Begriff“
in der Sozialpädagogik wie der in der Armutsforschung kritisiert, „alle sozialen Akteure die
systematisch gestiegene Produktion von Unsicherheit und Flexibilitätsanforderungen in irgendeiner
Form verarbeiten ist trivial. Entscheidend ist aber, ob damit eine individuelle Mobilität oder aber die
Reproduktion des sozialen status quo einhergeht“. Genau diese Frage bleibt auch in einem
‚Bewältigungsparadigma’ jenseits einer Perspektive gesellschaftlicher Integration offen.
Deutlicher als im ‚Bewältigungsparadigma’ noch, kommt dieses Dilemma in den Konzepten eines
gelingenderen Alltags innerhalb der ‚Lebenswelt’ zum Ausdruck. Hans Thiersch (2000: 531)
beispielsweise, spricht in diesem Kontext nicht nur von einer Differenz, sondern gar von einem
„Gegensatz und Systemintegration und Sozialintegration“. Die Lebensweltorientierung der Sozialen
Arbeit widmet sich dabei - während Fragen der Kontrollfunktion vor allem in erstgenannter vermutet
werden - der Frage der ‚Sozialintegration’. In diesem Sinne stellt die ‚Lebensweltorientierung’ in der
Tat eine Art, wie es Christian Schrapper (2001: 76) formuliert „,Godesberger Programm’ der
modernen Sozialpädagogik“ dar, das sich in der Frage ob „Klasse oder Biographie, soziale Schicht oder
konkretes Leben“ die zentralen Bezugsgrößen in der Bearbeitung sozialer Problemlagen der Akteure
sein sollen dazu entschieden hat die Unmittelbarkeit des ‚konkreten Lebens’ und „Kompetenzen und
Ressourcen“ zu fokussieren, über die die Akteure verfügen, um „ihre Probleme eigenständig und in
ihrem Sinne (eigensinnig) zu lösen” und von „theoretisch abgeleiteten Vorgaben für das ,richtige’
Leben” Abstand zu nehmen“ (vgl. dazu kritisch: Brumlik 1992). Der Verzicht auf unmittelbare
Ableitungen aus positivistischen Einsichten in soziale Strukturen mag zwar noch so einsichtig sein, das
entscheidende ‚Integrationsproblem’ in Bezug auf fortgeschritten liberale Gesellschaften wird dabei
allerdings eher umgangen als gelöst: Um theoretisch gehaltvoll von ‚Lebenswelt’, als begrenzbaren
und benennbaren Gegenstand sprechen, ist es erforderlich, von einem durch spezifische
Regelmäßigkeiten und spezifische Logiken kollektiver Praxis strukturierten Sinnzusammenhang
auszugehen. In der dominierenden sozialpädagogischen Fassung von ‚Lebenswelt’ werden diese als
primäre durch soziale Interaktionen vermittelte soziale Räume lebenspraktischer Unmittelbarkeit
gefasst (dazu: Boden/Molotch 1994). In einer solchen ‚konkreten’ Form können sie aber kaum
widerspruchsfrei als Orte verständigungsorientierten Handelns (vgl. Habermas 1983) verhandelt
werden. Als Orte alltäglicher Praxis stellen sie eher (disaggregierte) strukturierte ‚soziale Räume’ (vgl.
Bourdieu 1985) dar - oder wie es Ray 1999 (6 f) formuliert, „structured unequal, and socially
constructed environment within which organizations are embedded and to which organizations and
activists constantly respond [… and thus] configurations of forces and […] sites of struggle to
maintain or transform those forces” -die ihrerseits durch soziale Abstände, herrschaftsförmige
253
Relationen, rigide Distinktionsprozesse symbolische Demarkationslinien und interessegebundenen
‚Klassen-’ und ‚Konkurrenzkämpfe’ gekennzeichnet sind und die in diesem Feld stattfinden und eben
nicht nur von außen darauf einwirken. Sofern von konfliktuösen, durch Ungleichheit und
Machtdifferentiale gekennzeichneten Prozessen in den kollektiven Alltagspraxen innerhalb der
Lebenswelten der Akteure nicht abstrahiert wird, ist es nicht einsichtig, warum diese Orte und
Entitäten, in die die Soziale Arbeit gemäß ihrer Funktions- und Zielperspektive certeris paribus zu
intervenieren hätte, einen konzeptionell-programmatischen Ziel- und Orientierungspunkt Sozialer
Arbeit darstellen sollen, die Lebenszusammenhänge und Daseinspraxen beschreiben, die als solche für
die Soziale Arbeit funktional und normativ in den Mittelpunkt zu stellen sind. Zwar scheint die
Annahme einer relativen Eigenlogik lebensweltlich strukturierter Praktiken durchaus sinnträchtig,
jedoch sind die Fragen relationaler sozialer Abstände ebenso wie die gerade in Alltagspraktiken
eingelagerten materiellen, kulturellen und symbolischen Machtrelationen keinesfalls bloße Produkte
der unmittelbar alltagspraktischen Regelmäßigkeiten einer zur kollektiven Robinsonade aggregierten
‚Lebenswelt’. Der soziale Mirkokosmos ‚Lebenswelt’ verfügt nicht über eine substanzhafte,
ontologische Autonomie sui generis, die unabhängig von den Logiken, Regelmäßigkeiten,
Verhältnissen und Positionierungen in der weiter gefassten gesellschaftlichen Markoebene des
sozialen Raums besteht. Aus der Einsicht, dass Problemkonfigurationen in einer bestimmten Form in
der alltagspraktischen Lebenswelt virulent werden, kann nicht ohne weiteres geschlossen werden,
dass diese auch hierin begründet und sinnvollerweise dort zu bearbeiten wären. Sofern der
konfliktuöse Charakter der Lebenswelt ebenso wie ihre Strukturierung durch und Relationierung
innerhalb weit reichender gesellschaftlicher Prozesse und Formierungen theoretisch und konzeptionell
ausgeblendet bleiben, wird es zu einer impliziten Aussage der ‚Lebensweltorientierung’, dass die
Regelmäßigkeiten des Zusammenlebens nun mal so sind wie sie eben sind und es nur zu Überlegen
sei, wie man ‚vom Subjekt ausgehend’ das Mitspielen innerhalb dieses Spiels ‚gelingender’ machen
kann. Eine Bearbeitung der innerhalb und außerhalb gegebener ‚Lebenswelten’ angelegten
Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse ist in einer solchen Orientierung weniger angelegt als der
Versuch
einer
Optimierung
eines
‚doxischen’
Passungsverhältnisses
der
Dispositionen
und
Handlungsmöglichkeiten des Akteurs mit den gegebenen Strukturen seines sozialen Daseins.
Gefordert wird ein Verständnis der „Probleme der Sozialen Arbeit […] von den heutigen, konkreten
Bewältigungsaufgaben, wie sich Menschen in ihrer Lebenswelt den Ressourcen und den Problemen
dieser Lebenswelt stellen“ und dem Versuch ihnen „in der gegebenen brüchigen Normalität
Unterstützungen und Lernhilfen zur Bewältigung“ (Thiersch 1998a: 18 ff) zu geben. Diese
Bewältigung leistet aber der betroffene Akteur selbst. Hilfe zur Lebensbewältigung innerhalb von
‚Lebenswelten’ ohne die Perspektive gesellschaftlicher Integration, kann jedoch unter derzeitigen
gesellschaftlichen Bedingungen analytisch konsequent zu Ende gedacht, für benachteiligte Gruppen
nicht mehr bedeuten, als das erträglich machen ihrer Existenz im Sinne eines ‚Überlebens’ im
marginalisierten Status quo am unteren Rand der Gesellschaft. In diesem Sinne ist - ungeachtet der in
der Normalisierungsthese ausgedrückten ‚Befreiungsperspektiven’ - die derzeitige Alternative einer
254
Jugendhilfe, die es aufgegeben hat, ein bestimmtes Normalitätskonzept durchzusetzen, kaum mehr
als ein „pädagogische[s] ‚Management der Spaltung der Gesellschaft´“ (Schaarschuch 1996: 92).
Auch die in einem solchem ‚Management’ nicht suspendierte Kontrolldimension der Jugendhilfe hat im
Vergleich zu dem kritisierten Integrations-Disziplinierungs-Nexus im fordistischen Sozialstaat eine
strukturell andere Qualität. Mit einem Schwinden der assimilativen Integrationsfunktion in einem
quasi-universellen sozialstaatlich induzierten und garantierten Sinne, verschiebt sich das Verhältnis
von sozialer und gesellschaftlich arrangierter Inklusion und der individuellen Bringschuld als deren (zu
erzeugende) Voraussetzung. Entlang der gesellschaftlichen Spaltungslinien kann man für eine
Jugendhilfe ohne Inklusionsperspektive von zwei Varianten der Leistungserbringung sprechen. Die
‚privilegierteren’, ‚unproblematischen’ Nutzer der Jugendhilfe können zwischen den Angeboten, die die
Jugendhilfe ihnen bereitstellt, relativ frei wählen, während – insofern ein Normalisierungsbedarf
wegfällt – auf der Ebene der Kontrolle, Normierung, im Sinne der Erzeugung eines erwünschten
Sozialcharakters,
gleichsam
an
Bedeutung
verliert.
Für
die
‚unterprivilegierten’
und/oder
‚problematischen’ Nutzer wird im bei einem Wegfall einer integrativen Perspektive eine andere Seite
dieser Verschiebung wirksam. Eine Seite in der die Normierungsperspektive alleine bestehen bleibt
und bezogen auf die Strukturierung und Gesamtorganisation der Gesellschaft ohne die positive
Bestimmung ihrer Aufgabe im Sinne der Erzeugung gesellschaftlicher Teilhabe, eine rein negative
Bestimmung, wie beispielsweise die Verhinderung von ‚Auffälligkeit’ und ‚Kriminalität’ erhält. Chassé
und Wensierski (1999: 11) beobachten beispielsweise eine grundlegende
„Infragestellung des sozialen Zusammenhangs der Gesellschaft infolge der Modernisierung und ihrer Zuspitzung
durch Globalisierung […Diese stelle die] Soziale Arbeit in ihrer Zentrierung auf gesellschaftliche Integration vor die
Herausforderung, daß ihre kompensatorischen Hilfen strukturell unwirksam werden. Bei der Fortschreibung der
gegenwärtigen Entwicklung würde Sozialer Arbeit die Aufgabe des Managements von ausgeschlossenen Personen
und Milieus zufallen – eine keineswegs abseitige Schreckensvision. Das für soziale Arbeit konstitutive doppelte
Mandat wäre in Zukunft aufgespalten in Hilfe für die Integrierten und Kontrolle für die Ausgeschlossenen.“
Dabei lassen sich für die Soziale Arbeit ‚in guter Gesellschaft’ (Schaarschuch 1996) - d.h. für die
Nutzer am ‚oberen’ Ende - vor allem „beratende, therapierende und sozialstrukturelle Angebote und
Projekte [finden], am ‚unteren’ hingegen, im Bereich manifest abweichender Verhaltensweisen,
kommt es zu einer […] ‚Rückkehr des strafenden Staates“ (Beckmann 2001: 55). Diese Diagnose
entspricht den Beobachtungen von Lutz (2000: 118) über die Entwicklung der Jugendhilfe in den
neuen Bundesländern, die in einer starken
„Betonung von Prävention als Problemverhinderung bei gleichzeitigem Bestrafungsdiskurs […und einer] Fixierung
auf ‚ausgewählte’ und ‚lohnenswerte’ Klienten […bestehen würde, wobei] professionelle Hilfe und methodische
Hilfen […] vor allem Entwicklungswilligen und –fähigen reserviert [blieben]“.
Aber auch in den ‚alten Ländern’ findet sich eine seit längerem berichtete Tendenz zu einer
weitgehend zwanglosen
„Jugendhilfe de luxe mit immer mehr Alltagsnähe, diskursoffen und erlebnisintensiv, für die Bessergestellten [und
einen auf…] Disziplinierungstechniken aufbauende[n], durch ein wenig Therapie abgefederte[n]
Verwahrungsbereich für nicht integrierbare (und damit auch nicht divertierbare) Restgruppen“ (von Wolffersdorff
1993: 55).
Für die Jugendhilfe ist es demnach fraglich, ob das im Kontext des keynesianischen Sozialstaats
dialektisch wirksame Bedingungsverhältnis von ‚integrativer’ Hilfe und ‚normierender’ Kontrolle, in
255
beide Richtungen kollabiert, wenn die Integrationsperspektive weg bricht, oder ob sich die
Normierung eines erwünschten Sozialcharakters auch ohne ein integratives Versprechen - das mit der
Einlösung der gestellten Anforderungen strukturell wirksam wird - als operativer Handlungsmodus der
Jugendhilfe
vollzieht.
Dabei
spricht
einiges
dafür,
dass
es
auch
ohne
sozialstaatliche
Integrationsperspektive eine
„Platzanweisung an die Sozialpädagogik [bleibt]– ob ihr das schmeckt oder nicht -, die Aufgabe zu leisten, soziale
Kontrolle möglichst präventiv mittels Anbieten von ‚Hilfen’ zu bewirken; also zu bewirken, dass es Devianten
lohnend erscheint, ‚sich zu benehmen’ und den übrigen sich daran ein Beispiel zu nehmen, so dass der Einsatz von
Zwangsmitteln und Sanktionen […] auf das unvermeidbare Minimum beschränkt werden kann“ (Hörster/Müller
1996: 616).
Dies gilt nicht nur für den Bereich des ‚Kriminellen’. Exemplarisch wäre eine Jugendberufshilfe zu
nennen, die für einen großen Teil ihrer Klientel versucht den (‚moralischen’) Habitus des Lohnarbeiters
zu erzeugen (vgl. Gericke et al 2001), ohne die Perspektive der allgemeinen Inklusion in den
Arbeitsmarkt aufrecht erhalten zu können, sondern für diesen funktional vor allem ein Organ der
selektiven Distribution, a priori gegebener Zugangsmöglichkeiten zum Lohnarbeiterstatus darstellt.
Beispielsweise im Kontext von Assessments und Maßnahmen zur Erhöhung der ‚Employabilität’ im
Rahmen des Beitrags der Jugendhilfe zu einer sozialpolitischen Umorientierung in Richtung ‚workfare’,
kann dies durchaus Formen einer ‚Normalisierung an der Oberfläche’ annehmen: Einer spezifischen
und
durchaus
rigiden
Dispositions-
und
Verhaltensorientierung
die
kein
verallgemeinertes
Teilhabeversprechen als ihr organisches Gegenstück mehr gibt (vgl. Jordan/Jordan 2000). In diesem
Sinne impliziert der ‚Wille zur Inklusion’ zwar Disziplinierung als seine im Kern unsuspendierbare
Kehrseite, die Kehrseite von Kontrolle und Disziplinierung muss aber weder logisch noch faktisch das
Versprechen von Inklusion und gesellschaftlicher Teilhabe sein.
Allerdings ist auch diese ‚Normierung an der Oberfläche’ nicht automatisch eine rein zwangförmige
Normierung, die keine Zugeständnisse an die Eigeninteressen der sozialen Akteure macht. Selbst im
äußersten Falle kann sich die Motivation der betroffenen Akteure den ‚nicht ablehnbaren Angeboten’
(vgl. Lodemel/Trickey 2001) und anderen sozialpädagogisch gestaltete Maßnahmen, um der
persönlich zugeschriebenen Lebensführungsverantwortung Nachdruck zu verleihen, all zuviel
Unwilligkeit oder Widerständigkeit entgegen zu bringen, alleine deshalb in Grenzen halten – bzw. die
‚ko-produktive’ Annahme dieser Dienstleistungsangebote kann alleine deshalb durchaus ‚freiwillig’
erfolgen - weil sie schlicht noch die vergleichsweise Besten der gegebenen Optionen darstellen. Dabei
geht es dann weniger um sanktionierende Maßnahmen durch die Jugendhilfe selbst, als um die
implizite oder explizite Drohung mit den Alternative – etwa mit einer (weiteren) Kürzung von
Sozialleistungen, einer Überstellung an die Kinder- und Jugendpsychiatrien oder Maßnahmen, die im
eher Umfeld der ‚Institution Verbrechen/Strafe‘ (vgl. Cremer-Schäfer/Steinert 1998) angesiedelt sind da es, wie es z.B. in den Vorschlägen der Jugendministerkonferenz (2000) und auch im 11. Kinderund Jugendhilfehilfebericht (2002) heißt, Mittel jenseits der freiwilligen Angebote bedarf, wenn sich
die Adressaten diesen entziehen. Jugendhilfe ist dann zwar nicht im engeren Sinn der Betreiber der
Sanktionen (vgl. Peters 2002) oder gar einer institutionell legitimierten und durchgeführten Form des
Ausschusses, aber in einem gewissen Sinne ein vorgelagerter Lieferant der Klassifikationen über den
‚schuldhaft‘ auszuschließenden Sozialcharakter (vgl. Cremer-Schäfer/Steinert 1998).
256
So lange Soziale Arbeit eine integrative Perspektive als Basis ihrer (präventiven) Interventionen
anbieten konnte, wandte sie sich zwar in erster Linie an die Verlierer in den praktischen Ökonomien
der Felder, konnte aber sicherstellen, dass sie in dem Spiel – wenn auch nach den Regeln des Spiels mitspielen konnten. In diesem Sinne kann man nicht nur von einer Dialektik von Integration und
Normalisierung bzw. Normierung sprechen, sondern bezogen auf den einzelnen Akteur von einer
Synonymität dieser Dimensionen. Sie stehen funktional nicht in einem These-Antithese Verhältnis,
sondern sind zwei synchrone Seiten einer Medaille. Auch mit einem Wegfall der integrativen
Perspektive
werden
gesellschaftlich
wie
feldspezifisch
‚entkoppelte’
(Castel
1996)
Gruppen
offensichtlich nicht nur mit den punitiven Strategien des staatlichen Souveräns bearbeitet, sondern
sind nach wie vor ein Klientel der Soziale Arbeit. In dieser Hinsicht wäre zumindest funktional „in der
gespaltenen Gesellschaft für [… die Soziale Arbeit] auch die Funktion des Verwahrens gesellschaftlich
Überflüssiger“ denkbar (Schaarschuch 2000b: 167). In diesem Falle wäre die konstitutive
Gleichzeitigkeit
von
Integration
und
Normierung/Normalisierung
als
‚doppeltes
Mandat’
im
keynesianische Wohlfahrtsstaat ohne ‚Verlust’ einer Kontrollfunktion aufgelöst. Eine Relativierung
einer gesamtgesellschaftlich gültigen Normalität, die die Kontrastfolie für gesellschaftliche Integration
darstellt, bedeutet eben keinesfalls, dass die Unterscheidung abweichend versus konform obsolet
wäre oder sich in subjektive Beliebigkeiten aufgelöst hätte. Vielmehr muss davon ausgegangen
werden, dass Normierung, z.B. in Form von ‚harten’, negativen Grenzziehungen wie im Falle von
Kriminalität als statischer erwiesen haben als die positive Feststellung gesellschaftlicher ‚Normalität’ in
die es zu integrieren gilt. Während die Disziplinierung sozialer Akteure qua Sozialer Arbeit ein
unhintergehbarer Teil ihrer Normalisierungsfunktion innerhalb des Sozialstaates ist, ist, wie es Lothar
Böhnisch (1994: 28) treffend formuliert, was ohne ein quasi-universelles öffentlich-sozialstaatliches
Integrationsversprechen „an Integrativem faktisch bleibt […] der Ordnungsstaat, dessen Institutionen
bei abnehmender sozialintegrativer Dynamik in den Vordergrund treten.“ Bezogen auf das ‚klassische’
doppelte Mandat ist es demnach nicht unplausibel, die normierende Dimension als Konstante, die
integrative Dimension als spezifische, historische Variable zu verhandeln67: Das klassische doppelte
Mandant ist nur in einer Richtung ein tatsächlich doppeltes: Integration beinhaltet immer zugleich
Normierung, aber Normierung bedeutet eben nicht immer Integration.
Betracht man die beiden Dimensionen des doppelten Mandats der Jugendhilfe im fordistischen
Sozialstaat, so fällt zunächst auf, dass sie keinesfalls auf einer Ebene liegen. Bezieht man diese
Dimensionen auf das Verhältnis von Position und Disposition, so richtet sich Integration primär auf
eine
gesellschaftliche
bzw.
politische
Position,
während
Normierung
zuvorderst
auf
die
individualisierbaren Dispositionen eines sozialen Akteurs zielt. Mit Blick auf diese Bezugsdifferenz lässt
sich eine ganze Reihe von Ansätzen vorstellen, die Dispositionen oder auch bloße Verhaltensweisen
ohne substanziellen Bezug auf soziale Positionen bearbeiten.
67 So hatte beispielsweise die frühneuzeitliche Armenfürsorge ohne Zweifel Ordnungsfunktionen, ihre Hilfedimension war
aber eher karitativ und bis zu einem gewissen Grad auch reformativ gegenüber ihren Subjekten als gesellschaftsintegrativ
ausgerichtet.
257
Mit Bezug auf den Wandel der Kontrollformen der Jugendhilfe ist ein Blick auf die von David Riesman
entwickelte Metapher des ‚innengeleiteten’ Menschen gewinnbringend, dem er - Theorien der
‚Massengesellschaft’
bzw.
‚Massenkultur’
reflektierend
-
den
wesentlich
flexibleren
und
kontextsensiblen ‚außengeleiteten Menschen’ gegenüberstellt: Der innengeleitete Mensch wird von
einer
Art
langfristigem,
früh
internalisierten
68
beeindruckenden ‚innerem Kompass’
und
von
situativen
Wandlungen
wenig
zu
in seinen Wertungen und Verhaltensweisen geleitet. In einem
gewissen Sinne reflektiert Sozialdisziplinierung als eine Erzeugung eines Passungsverhältnis von
Habitus und Normalitätsanforderungen diesen ‚innengeleiteten’ Menschen. Werden allerdings
Flexibilitätsanforderungen größer und finden Integrationsbemühungen in einem geringerem Maße
eine für alle Akteure erreichbare (vgl. Böhnisch 1994) verallgemeinerte, ‚assimilative’ gesellschaftliche
Normalität, verliert diese Figur ihre handlungsbestimmende Dominanz (vgl. Dubet 2003), während
situative Angemessenheit und modularisierende Anpassungsfähigkeit an Bedeutung gewinnen (vgl.
Lindenberg/Schmidt-Semisch 1995). Gilles Deleuze (1990) spitzt diese Position in seiner ‚Innenansicht
über die kontrollierte Gesellschaft’ auf die Frage zu, ob der Versuch der Hervorbringung von Personen
als In-Dividuen (‚Unteilbare’) nicht selbst einen Anachronismus darstelle, da ein permanenter
Übergang in unterschiedliche Sinn-, Regelmäßigkeits-, Norm-, Erwartungs- und Lebenskonstellationen
eine Form der Identitätsarbeit erfordere, der vielmehr die Figur eines wandlungs- bzw.
modulationsfähigen ‚Dividuums’ entspreche (vgl. Bradley 1997). Sofern man mit Bourdieu (2001: 238)
davon sprechen kann, dass die Habitus der Akteure einer „ständigen Revision unterworfen“ sind und
diese in Abhängigkeit der Individuen „und der ih[nen] eigenen Flexibilität oder Rigidität schwankt“
kann davon gesprochen werden, dass ein gesellschaftliches Arrangement bzw. eine politischsymbolische Figuration evoziert wird, die in Bezug auf die Habitusformierung der Akteure darauf zielt
die „Anpassungsfähigkeit“ des Habitus hervorzuheben, und damit den „Opportunismus einer Art mens
momentanea“ (Bourdieu 2001: 238) – bzw. einen unsteten, widersprüchlichen und ‚zerrissenen
Habitus’ (vgl. Bourdieu 2001c: 83) - zu einer Tugend werden lässt, während die Fähigkeit „in der
Begegnung mit der Welt ein Gefühl innerer Geschlossenheit zu bewahren“ (Bourdieu 2001: 238)
zunehmend als ein Problem der (post-)modernen Lebensführung repräsentiert wird (vgl. Ebrecht
2002). Das ‚Dividuum’ ist in der Tat nicht weit entfernt von jener Leitfigur des ‚situational man’ (vgl.
Lofland 1967), bzw. des ‚homo oeconomicus’, der weniger aufgrund seiner moralischen Dispositionen,
sondern vor dem Hintergrund einer persönlichen Kalkulation der Gelegenheitsstrukturen, den
Wahrscheinlichkeiten der Entdeckung und der mutmaßlichen Reaktion entweder abweichend oder
konform reagiert, und auf dem eine ganze ‚postmoderne Denkrichtung’ (vgl. Kunz 1998)
zeitgenössischer Kontroll- und Präventionsformen aufbaut (vgl. Lyon 1994, von Hirsch et al. 2000).
Sofern auch in der Jugendhilfe diversifizierte, je feldspezifisch-sektorale Modulationsanforderungen in
dem Maße in den Vordergrund, wie eine umfassende gesellschaftliche Teilhabeperspektive oder gar sicherung nicht mehr gewährleistet ist, macht es mehr Sinn von einer Vielzahl ‚doppelter Mandate‘ gemäß den Regelmäßigkeiten und relativ autonomen praktischen Ökonomien der einzelnen Felder und
François Dubet (2003: 79) verweist darauf, dass sich dieser ‚innere Kompass’ weniger durch Traditionen, sondern vor
allem durch einen „Grundbestand autonomer Werte“ konstituiert hat.
68
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Subfelder - zu sprechen, als von dem einen ‚doppelten Mandat’ das in einer verallgemeinerten
‚integrierenden Hilfe und normierenden Normalisierung’ besteht. ‚Doppelte Mandate‘ jenseits
sozialstaatlicher Integration lassen sich z.B. als (flexible und kontextbezogene) Formen der
Normierung vorstellen, denen in unterschiedlichem Maße (karitative) Hilfen, eine Vermeidung
punitiver Reaktionen, eine individuell konzipierte ‚Lebensbewältigung’, biographische Stützungen,
Lebenslaufbegleitungen, Formen der Integration in einem spezifischen, partikularen sozialen Feld,
Aktivierung zur Teilnahme an partikular-gemeinschaftlichen Aktivitäten innerhalb eines spezifischen
sozialen Raums usw. gegenüberstehen.
Solche Interventionsrationalitäten jenseits des Versprechens einer Integration in das Soziale - in dem
Sinne, dass durch eine wohlfahrtspolitische bzw. sozialstaatliche Moderierung Systemintegration und
soziale Integration mehr oder weniger ineinander fallen (vgl. Dubet 2003) - bedeuten demnach zwar
kein Abrücken von Kontroll- und Normierungsaufgaben aber eben auch nicht zwangsläufig, dass die
normierenden Funktionen in der Sozialen Arbeit an – relativem - Gewicht gewinnen. Die spezifischen
sektoralen Formen der Normierung können zwar ohne ein wohlfahrtsstaatliches Teilhabeversprechen
als Ganzes auskommen, aber kaum ohne Bezug auf die Bedürfnisse der sozialen Akteure. Treffend hat
Karl Otto Hondrich (1975) darauf hingewiesen, dass sich (Normierungs-)Macht aus menschlicher
Bedürftigkeit – bzw. ‚Begehren’ (vgl. Lemke 1997) - speist. „Wenn man sich den Rückzug eines
Menschen in die Bedürfnislosigkeit vorstellt“, führt er aus (1975: 68 f) aus, sei „ein Grenzfall
menschlicher und sozialer Existenz erreicht, der gegenüber Sanktionen unempfindlich macht und
große Handlungsfreiheit mit höchstem Risiko verbindet; Machtdrohungen greifen nicht mehr, der
Mensch wird gegenüber allen Machtbeziehungen souverän“.
In diesem Kontext lässt sich argumentieren, dass es den Interventionslogiken – und dem Rekurs auf
die Machtmittel soziales und kulturelles Kapital – der Sozialen Arbeit entspricht, sich von allen
Instanzen sozialer Kontrolle am deutlichsten an der Frage der Bedürfnisse ihrer Adressaten und
Adressatinnen auszurichten (vgl. Peters 2002). Eine solche Orientierung an den artikulierten oder
rekonstruierten Bedürfnissen der Adressaten ist zugleich ein wesentliches Merkmal und eine
Bedingung dafür eine Handlung semantisch angemessener Weise als ‚Hilfe’ zu bezeichnen (vgl.
Brumlik/Keckeisen 1976, Müller/Sünker 1995, Müller 2001, Peters 2002). In diesem Sinne spricht
nichts dagegen, dass nicht nur eine der Hilfe inhärente Form der Kontrolle in der Sozialen Arbeit zu
rekonstruieren ist (vgl. Bommes/Scherr 2000), sondern dass auch jenseits eines generalisierten
Teilhabeversprechens einer sozialpädagogisch adäquaten Form der Kontrolle ein Moment der Hilfe –
d.h. der Bedürfnisorientierung - immanent sein kann und in aller Regel auch ist.
Auch wenn der Verlust einer sozialstaatlich induzierten Perspektive gesellschaftlicher Teilhabe, als
positive Feststellung gesellschaftlicher ‚Normalität’, in die es zu integrieren gilt, sich in der Weise auf
die Dimensionen von ‚Hilfe und Kontrolle’ der Jugendhilfe auswirkt, dass diese in fortgeschritten
liberalen Gesellschaftsformationen flexibler, stärker individualisiert, diversivifiziert, situations- und
kontextbezogen und im Kotau mit jenen sozialen Ordnungen und Regelmäßigkeits- und
(Sub)Normsystemen, auf die sie sich beziehen, auch ‚verstreuter’ und ‚fragmentiert’ (vgl. Cohen 1979,
1985, Hall 1992, Lacombe 1996) geworden ist, bedeutet dies keinesfalls, dass für eine Organisation
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der Teilhabe an dem gesellschaftlichen ‚Großraum’ des Sozialen (vgl. Karstedt 2003) keine
Substitutive gefunden werden könnten.
Wie im folgenden Kapitel ausgeführt wird, hat ‚Integration’ weder für die Frage der Generierung
sozialer Ordnung noch für die Jugendhilfe an Bedeutung verloren. In diesem Zusammenhang kann vor
allem eine ‚Nah-’ oder ‚Sozialraumorientierung’ in der Sozialen Arbeit als der Entwurf einer sozialen
Entität gefasst werden, in der ‚Integration’ - durch ‚aktive’ ‚Teilnahme’ - unterhalb einer
verallgemeinerten und supra-feldspezifischen Gesellschaftsbegriff verhandelt werden kann. In diesem
Fall ist für die Jugendhilfe eine ‚neue’ Integrationsperspektive gefunden worden, die sich zugleich als
flexibler und kontextsensibler erweist als die in eine wohlfahrtsstaatliche, gesellschaftliche Normalität,
nämlich ‚Integration’ und flexible Normierung gemäß je feldspezifischen oder sektoralen Hegemonien.
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