VORLESUNG: PHILOSOPHIE UND RELIGION 8. Vorlesung: Doppelte Wahrheit – zum epistemischen Status theologischer Argumente I. Rückblick • Diskursraum Theologie • spätantike Philosophie und Christentum: eine (wirkliche) Begegnung von Philosophie und Religion • theologia naturalis und Vernunftreligion • vera religio: die wahre Religion • die Wahrheit der Religion Modelle einer theologia naturalis • Modell 1: Augustinus • Die Notwendigkeit einer höchsten Wahrheit als Konvergenzpunkt alles Wissens. • Diese unveränderliche Wahrheit ist Gegenstand der Theologie als des Wissens von den göttlichen und unveränderlichen Dingen. • Diese Theologie ist die christliche Theologie. • Modell 2: Boethius • Alles Wissen konvergiert im Wissen der je höheren Prinzipien und mithin im Wissen der höchsten Prinzipien. • Die Theologie betrachtet die abgetrennten und abtrennbaren unbewegten Dinge, d.h. die unstofflichen Substanzen und Gott • Diese Theologie vermag auch die Glaubenswahrheiten als Vernunftwahrheiten einzusehen. • Modell 3: Leibniz • Gott ist die in den Vollkommenheiten ausgedrückte vollkommene Ordnung („mathesis universalis“) • die Pflicht, der Vernunft zu gehorchen, zugleich als Prinzip der wahren Frömmigkeit • die aufgeklärteste Religion: das Christentum Wahrheit: Referenz und Geltung • Gültigkeit – Schlüssigkeit – Wahrheit • Induktion und Apriorizität • Gibt es universale Wahrheiten? • Welche Geltung besitzen religiöse Wahrheiten? • Geltung und Reichweite von Prinzipien • Universalität und Partikularität Streitfelder • Religion und Wissenschaft • Evolutionstheorie vs. Kreatianismus • Religion und Menschenrechte • Universalität der Menschenrechte • Intervention • Religion und Gesellschaft • Religionsfreiheit • Gesetzgebung 38 Kritische Anfragen: • die Konkurrenz von Wahrheitsansprüchen • die Konkurrenz von Geltungsansprüchen • wissenschaftliche Begründungsverfahren • absolutes Wissen • eine Wahrheit – doppelte Wahrheit II. Doppelte Wahrheit – eine mittelalterliche Debatte um den epistemischen Status theologischer Argumente [Brief des Pariser Bischofs Etienne Tempier vom 7. März 1277] Zur Archäologie der Debatte • „doppelte Wahrheit“ • Theologie und / als Wissenschaft • „Averroismus“ • Christentum und Islam • Averroes / Ibn Rushd – Thomas von Aquin Thomas von Aquin um 1225 auf Schloss Roccasecca bei Aquino in Italien 1245 geht er nach Paris ins Dominikanerkloster Saint-Jacques 1248 bis 1252 Schüler von Albertus Magnus in Köln. anschl. zweimal Professor an der Sorbonne, ferner Studienpräfekt seines Ordens in Neapel, Orm, Oriveto † 7. März 1274 in Fossanova Averroës (Abū l-Walīd Muḥammad b. Aḥmad ibn Muḥammad b. Rušd) • * 1126 in Córdoba • † 10. Dezember 1198 in Marrakesch • Philosoph: Aristoteleskommentator • Arzt (Hofarzt der Dynastie der Almohaden, 1182 Leibarzt des Kalifen Abu Yakub) • Richter (1169 Richter in Córdoba und Sevilla) Die Bedeutung des Ibn Rušd für die arabische Moderne Für die einen verkörpert Ibn Rušd einen spezifisch “islamischen Rationalismus”, d.h. eine Übereinstimmung von Vernunft- und Offenbarungswissen, für die anderen den Vorläufer der europäischen Aufklärung und Säkularisierung. – Muḥammad Amāra (geb. 1931) – Muḥammad Ābid al-Ǧābirī (geb. 1936) – Yūsuf Šāhīn (Youssef Chahine, 1926-2008) mit seinem Film Das Schicksal 39 ein kurzer Blick zurück: III. Die Begegnung von Philosophie und Religion im Islam Zur Erinnerung: Zeitachsen • 325: das Konzil von Nizäa • 381: das Konzil von Konstantinopel • 410: Eroberung Roms durch Alarich (Flüchtlingsstrom nach Afrika) Augustinus’ De civitate Dei • 4. 9. 467: Eroberung Roms durch die Germanen unter Führung des Odoaker (Odovacar), Abdankung des letzten römischen Kaisers Romulus Augustulus • 529: Gründung von Montecassino durch Benedikt von Nursia & Schließung der Akademie von Athen durch Kaiser Justinian I. • 16. 7. 622: Beginn der Hidschra (Jahr 0 des islamischen Kalenders) • 632 Tod Mohammeds in Medina • 662-750 Kalifat der Omaiyaden: Expansion des Islam bis nach Marokko und Andalus sowie bis zum Indus und nach Samarkand Die Formierung der falasafa • Motive für das Interesse an der antiken Philosophie: – pragmatische Interessen: angewandtes Wissen – theoretische Interessen – religiöse Fragen Wissenschaft im Dienst des islamischen Glaubens (kalam) • institutionelle Voraussetzungen – die Förderung antiken Erbes durch die abassidischen Kalifen (750-1258) • die Übersetzungsbewegung in Bagdad Die Mu‘taziliten Angehörige der islamischen Theologenschule der Mu‘tazila, die unter Aufnahme griechischen Gedankengutes und mittels rationaler Begründungsverfahren wesentlich zur Ausbildung des dogmatischen Systems des Islam beigetragen hat. Hervorgegangen aus den politischdogmatischen Kämpfen in der 1. Hälfte des 8. Jhdts. Wurden die Mutaziliten unter den Abassidenkalifen zur führenden Theologenschule. Abû Nasr al-Fârâbî (~870-950) • der „zweite Meister“ nach Aristoteles • In Bagadad erzogen, in Damaskus gestorben • Kreis Bagdader Intellektueller, vorwiegend Christen: Yûhanna ibn Hailân und Abû Bischr Mattâ • Kommentare zu Aristoteles – bes. zu Organon & Eth. Nic. • Einführungsschriften: – Compendien (u.a. zu den Nomoi) – Paraphrasen (u.a. zu den Kategorien) – zur Philosophie Platons und Aristoteles – zur Harmonie zw.Platon und Aristoteles • Eigene Schriften: – De scientiis – De intellectu et intellecto – Der Musterstaat • das „Große Buch der Musik“ 40 De scientiis – eine Wissenschaftslehre • Divisio scientiarum: reales & sermocinales • Realdisziplinen (scientiae reales): – propädeutisch: Quadrivium (scientiae domatrices) – Physik (ars naturalis): lunarisch – sublunarisch • sublunarisch: Prognostik (sc. de iudiciis),Medizin, Nigromantie, sc. de imaginibus, Ackerbau und Schiffahrt, Alchimie, sc. de speculis • lunarisch: von den Himmelssphären – Metaphysik (scientia post naturam) - Theologie (scientia de deo) • Formaldisziplinen (scientiae sermocinales): – Sprache (sc. de lingua), Grammatik, Logik, Poetik Position 4 al-Fārābī • Alles Wissen basiert auf einem Schluss • Es gibt verschiedene Schlussarten • Universal gültig ist nur der demonstrative Schluss auf dieses Wissen zielt unser Vernunftstreben • Davon zu unterscheiden sind dialektische Schlüsse, deren Prämissen nur partial gelten, oder rhetorische / poetische Schlüsse, die kein Wissen begründen • Der Primat des demonstrativen Wissens ( falasafa) gegenüber Theologie (kalam) und Recht (fiqh) sowie gegenüber Religion • Der Weise (Philosoph) als Prophet al-Gazālī (Algazel) • Abu Hamid Muhammad ibn Muhammad al-Ghazali • * 1058 in Tūs bei Maschhad, heute Iran; † 1111 • 1091 zum Professor an der Nizamiyyah-Madrasa in Bagdad • Einerseits zeugen seine Werke von einer gründlichen Kenntnis der griechischen und islamischen Philosophie, andererseits lehnte er die Philosophie als eigenen Weg zur Wahrheit ab und warf Vorgängern wie Avicenna und Al-Farabi vor, durch ihre unkritische Adaption der heidnischen aristotelischen und platonischen Philosophie den islamischen Glauben zu verderben. • Tahafut al falasifa (Inkohärenz der Philosophen) • Der Erretter aus dem Irrtum Position 5 (al-Gazālī ) • Die Kritik am Primat der Philosophen, die keinen eigenen (autonomen) Weg zur Wahrheit haben • Die Kritik an den verschiedenen Theologenschulen und ihren Beweisverfahren • Die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Kontroversen • Die Notwendigkeit einer (verbindlichen) Wahrheit für die Gewißheit der Erkenntnis • Der wahre Prophet steht über dem Philosophen 41 IV. AVERROES: FASL AL-MAQĀL Das Buch der entscheidenden Abhandlung und der Urteilsfällung über das Verhältnis von Gesetz und Philosophie Die „entscheidende Abhandlung“ • der Fasl als Antwort auf den Vorwurf der Ungläubigkeit (kufr) • al-Gazālīs Widerlegung der Philosophen • Averroes’ Widerlegung der Widerlegung (Tahāfut at-Tahāfut) • der Fasl als juristische Verteidigung der Philosophie gegen die ascharitischen Theologen Die Schlussarten und die Formen menschlichen Wissens • • • der demonstrative Schluss: Beweis universal gültiger Sätze Philosophie (falasfa) der dialektische Schluss: Beweise, deren Prämissen nur von einem Teil der Menschen anerkannt werden Theologie (kalam), Recht (fiqh) der rhetorische oder poetische Schluss: dieser kann gar keine Wissenschaft begründen (Religion, Offenbarung) „die Wahrheit kann der Wahrheit nicht widersprechen“ • • • • • • • • das religiöse Gesetz: der Koran das religiöse Gesetz fordert zur Spekulation auf die verschiedenen Schlussformen: • demonstrativer, dialektischer und rhetorischer Syllogismus die verschiedenen hermeneutischen Ebenen (zwischen diesen kann es keinen Widerspruch geben, nur innerhalb) Übereinstimmung von Philosophie und Religion äußerer Wortlaut und Interpretierbares „Redet den Menschen von dem, was sie verstehen.“ der Zweck der Religion – die spekulative Dogmatik Position 6: Averroes • das religiöse Gesetz selbst fordert zur Spekulation auf • die verschiedenen Schlussformen: • demonstrativer, dialektischer und rhetorischer Syllogismus • die verschiedenen hermeneutischen Ebenen (zwischen diesen kann es keinen Widerspruch geben, nur innerhalb) • „Redet den Menschen von dem, was sie verstehen.“ • „Die Wahrheit kann der Wahrheit nicht widersprechen.“ 42