‹Umlernen!› - Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund

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‹Umlernen!›
Über das Vergessen der Leiblichkeit in der Medizin
Vortrag von Prof. Dr. Frank Mathwig anlässlich des
Nationalen Palliative Care Kongresses vom 13. - 14. November 2012 in Biel
Schweizerischer Evangelischer
Kirchenbund SEK
Sulgenauweg 26
CH-3000 Bern 23
Telefon +41 (0)31 370 25 25
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1.
Einleitung
Der schwere Stand der Leiblichkeit in der Medizin verweist auf kein disziplininternes Defizit,
sondern – allgemeiner und umfassender – auf ein Erbe der neuzeitlichen Philosophie.
Descartes denkendes Ich, das sich seiner Leiblichkeit entledigt, degradiert den eigenen
Körper zu einem verfügbaren Objekt. Damit schafft er – quasi nebenbei – überhaupt erst die
Voraussetzungen für die moderne Medizin. Bereits Nietzsche monierte ein solches Denken
und empfahl: «Also Umlernen! [...] Das Geistige ist als Zeichensprache des Leiblichen
festzuhalten»1 Obwohl der Philosoph nicht in den gängigen medizinischen Curricula
auftaucht, ist seine Forderung alles andere als unerheblich für das Fach. Sie lenkt den Blick
auf die korrektur- bzw. ergänzungsbedürftigen anthropologischen Voraussetzungen
medizinischen Handelns. Die folgenden Bemerkungen drehen sich näherhin um zwei
Fragen: 1. Was ist gemeint, wenn vom Leib die Rede ist? Und 2. Welche Rolle spielt die
Leib-Kategorie bei Palliative Care bzw. welche Bedeutung sollte sie haben?
2.
Vom ‹Missverständnis des Leibes› als Körper
Der Ausdruck ‹Leib› – in Abgrenzung zum ‹Körper› – präsentiert eine Eigenart der
deutschen Sprache. Die meisten anderen europäischen Sprachen kennen nur einen
einzigen Begriff: griechisch soma, lateinisch corpus, französisch corps oder englisch body.
Mit der philosophischen Tradition kann ‹Leib› als belebter und beseelter Körper definiert und
damit von anderen physischen Körpern abgegrenzt werden. Vor dem Hintergrund eines
naturwissenschaftlich-rationalistischen Weltbildes richtet sich die Leibkategorie seit der Mitte
des 19. Jahrhunderts kritisch gegen eine Objektivierung des menschlichen Körpers und
betont dagegen die Untrennbarkeit von Körper, Geist und Seele.2 Der französische
Existenzphilosoph Gabriel Marcel bringt den Zusammenhang auf den Punkt: «Wird dieser
Leib, als der ich inkarniert lebe, objektiviert, so erscheint mein Körper, das Missverständnis
des Leibes. Dieser Körper kann, wie die imaginäre Seele, die ihn informieren soll, in
beliebiger Weise objektiv betrachtet, klinisch untersucht und chirurgisch amputiert werden.
Diesen Körper habe ich; ich bin aber mein Leib.»3
Das Wissen über den eigenen Körper gewinnen wir – durch Beobachtung – von aussen: Im
Spiegel kann ich mich in einer Weise betrachten, die meiner leiblichen Perspektivität
1
Nietzsche, KSA Bd. 10, 285. Vgl. ders., Zarathustra, in: KSA 4, 40: «Das schaffende Selbst schuf sich Achten
und Verachten, es schuf sich Lust und Weh. Der schaffende Leib schuf den Geist als eine Hand seines Willens.»
2
Moderne Wegbereiter dieser Kritik waren in ganz unterschiedlicher Weise Edmund Husserl, Martin Heidegger,
Helmut Plessner, Jean-Paul Sartre, Maurice Merleau-Ponty oder Gabriel Marcel, gegenwärtig etwa Wilhelm
Schmitz, Bernhard Waldenfels oder Gernot Böhme. Die feministische und Genderdiskussion, sowie eine kritische
Medizinsoziologie und -ethik liefern ebenfalls wichtige Impulse für das Thema.
3
Gabriel Marcel, Leibliche Begegnung. Notizen aus einem gemeinsamen Gedankengang, in: Hilarion Petzold
(Hg.), Leiblichkeit. Philosophische, gesellschaftliche und therapeutische Perspektiven, Paderborn 1985, 15–46 (16).
2
verschlossen bleibt. Medizinische Geräte liefern Daten über meinen Körper, die Ärztin oder
der Arzt informieren mich über bestimmte körperliche Zustände, ich unterschreibe
Einwilligungen über medizinische Eingriffe an meinem Körper. Allgemein formuliert: Wir
konstruieren aus einer Aussensicht Körperbilder (body images), im Sinne von habituellen,
visuell-räumlichen Vorstellungen vom eigenen Körper, seinem Aussehen und seinen
Eigenschaften.4 Dem folgt eine medizinische Entwicklung, die immer mehr Techniken
bereitstellt, um die faktische Beschaffenheit des Körpers irgendwelchen Wunschbildern
anzupassen (Schönheitsoperationen, Enhancement-Technologien, Prothetische Chirurgie
etc.). Die moderne Medizin erlaubt also eine immer perfektere Externalisierung und
Objektivierung des eigenen Körpers.
Allerdings riskiert ein solches Körperverständnis stets, von der anderen Dimension des
menschlichen Körpers überrascht oder eingeholt zu werden: von der Tatsache dass ein
menschlicher Körper niemals anders als der Leib einer konkreten Person existiert. Am
eindrücklichsten zeigt sich diese Bezogenheit im Schmerz, bei dem jeder Abstand zum
Körper verloren geht. Gegenüber dem Schmerz gibt es keine Beobachterperspektive. Er
«tilgt den Abstand zur Situation und zu sich selbst. Das Selbst wird in die Gegenwart
eingeschmolzen. Die Differenz zwischen Aussen und Innen, zwischen Geschehnis und
Erlebnis ist ausgelöscht. [...] Die Kontrolle über den Körper ist dahin. Er ist kein Werkzeug
des Handelns mehr.»5 Im Schmerz ist – mit Sigmund Freud – das Ich nicht mehr «Herr im
eigenen Haus».6 Aus dem aktiven Subjekt wird nicht nur ein dem Schmerz (ohnmächtig)
ausgeliefertes, sondern auch ein leidendes Subjekt. Hier zeigt sich, was dem vormodernen
Denken ganz selbstverständlich war: die Nähe von Passivität und Pathos.
Das Pathos als Passivität – positiv im Sinne von Leidenschaft oder Hingabe und negativ als
Leiden – wird von der uns vertrauten Unterscheidung zwischen aktiv und passiv nicht
eingefangen.7 Es sträubt sich gegen unser Alltagsdenken, weil es die dualen Aktionsformen
unserer Grammatik und Handlungslogik auf den Kopf stellt. Es ist weder das Gegenteil von
Aktivität oder Souveränität, noch gleichbedeutend mit Abhängigkeit oder Unfreiheit. In der
Kürze kann Pathos als Disposition verstanden werden, freilich nicht in einem
psychologischen Sinne, sondern in der Weise eines leiblichen Disponiert-Seins, das dem
Handeln und Wissen als ihrem ‹Woher› und ‹Worauf› vorausgeht.8
4
Vgl. Thomas Fuchs, Leib, Raum Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Stuttgart 2000, 42.
Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt 1996, 74.
6
Siegmund Freud, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, in: ders., GW 12, Frankfurt/M. 1947, 3-12 (11).
7
Vgl. grundlegend Philipp Stoellger, Passivität aus Passion. Zur Problemgeschichte einer ‹categoria non grata›,
Tübingen 2010.
8
Martin Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, Pfullingen 1956, 39, spricht von «Stimmung» im doppelten
Sinne des «Gestimmtseins» (worauf) und «Bestimmtseins» (woher). In diesen Zusammenhang gehört auch die
Foucaultsche Kategorie des Dispositivs vgl. Michel Foucault, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und
Wahrheit, Berlin 1978 sowie Giorgio Agamben, Was ist ein Dispositiv?, Zürich, Berlin 2008.
5
3
Diese hier nur angedeuteten phänomenologisch-existenzialen Überlegungen führen zu einer
zunächst paradox erscheinenden Konsequenz: Der Mensch kann sich von seinem Leib nicht
distanzieren, er ist ihm in der Unmittelbarkeit seiner «Involviertheit»9 (vor-)gegeben. Der
Unterscheidung zwischen ‹einen Körper haben› und ‹ihr› resp. ‹sein Leib sein› entsprechen
also nicht die Aktionsmodi von ‹aktiv› und ‹passiv›, sondern die kategoriale Differenz
zwischen ‹Verfügbarkeit› und ‹Unverfügbarkeit›:
Verfügbarkeit des Körpers durch
Distanzierung und Unverfügbarkeit des Leibes durch die Unmittelbarkeit pathischen
Erlebens.
Die Pointe dieser Unterscheidung besteht darin, dass sie im medizinischen Funktionssystem
gar nicht vorkommt. Der Leib ist keine medizinische Kategorie. Anders gesagt: Die
Formulierung in einer Broschüre für Betroffene «In der Palliative Care wird der Mensch
ganzheitlich betreut und seine Selbstbestimmung gestärkt.»10 beschreibt keine medizinische
Massnahme und kein Ziel medizinischen Handelns. ‹Leib-Sorge› gelingt nicht durch die
disziplinexterne Anreicherung medizinischer Kernkompetenzen, wie es momentan etwa mit
der Etablierung von spiritual care versucht wird. Solche Strategien bestätigen lediglich die
allgemein gültige Einsicht von Georg Picht: «Wir handeln falsch, weil wir falsch denken.»11
Die Aufnahme fachfremder Kompetenzen in die medizinischen Curricula transformiert die
systemspezifische Körperfokussierung nicht in eine systemexterne Leibperspektivität.
3.
Palliative Care als ‹Leib-Sorge›
Jenseits gesundheitspolitischer Verteilungskämpfe kommt man nicht um die Einsicht herum,
dass die letzte Lebensphase und das Sterben keine Krankheiten sind, sondern Ausdruck der
leiblichen Natur und die Finals menschlicher Lebensgeschichten. Der letzte Lebensabschnitt
ist zwar häufig mit Krankheiten verbunden, aber er ist keine Krankheit.12 Er bedarf einer
medizinischen Beteiligung, eignet sich aber nicht als medizinische Fallgeschichte.
Fundamentale Leiberfahrungen stellen sich ja vor allem dann ein, wenn die Externalisierung
des Körpers nicht mehr gelingt und die Manipulationen am Körper an ihre Grenzen stossen.
Dann müssen wir anerkennen: «Mein Leib ist nicht meiner, weil ich ihn mir angeeignet habe,
sondern weil ich mir selbst als Leib gegeben bin.»13 Gegen diese existenzielle Leiberfahrung
ist kein medizinisches Kraut gewachsen.
9
Vgl. dazu Gernot Böhme, Ethik leiblicher Existenz, Frankfurt/M. 2008; ders., Der Begriff des Leibes. Die Natur,
die wir selbst sind, in: DZPhil 59/2011, 553–563.
10
EDI/GDK/palliativech (Hg.), Unheilbar krank – und jetzt?
11
Georg Picht, Zum Begriff der Verantwortung, in: ders., Hier und Jetzt: Philosophieren nach Auschwitz und
Hiroshima, Bd. I, Stuttgart 1980, 215.
12
Vgl. die treffende Formulierung in Oliver Tolmein, Keiner stirbt für sich allein. Sterbehilfe, Pflegenotstand und
das Recht auf Selbstbestimmung, München 2006, 7: «Ich bin nicht krank, ich sterbe nur!».
13
Böhme, Ethik, a.a.O., 160.
4
Jede ‹Gegen›-Reaktion wäre auch völlig fehl am Platz, weil solche Leiberfahrungen nicht in
den Handlungsraum unserer aktiv-passiv-Logik gehören. Die Raummetapher kann dabei
durchaus wörtlich genommen erden: «Sterben gehört nicht ins Krankenhaus»14 und
Palliative Care entsprechend nur in gewisser Hinsicht in die Hände der Medizin. Zugespitzt:
Nicht der Körper ist das Problem (er liefert allenfalls die Symptome), sondern die Faktizität
der Leiblichkeit drängt sich in ihrem spezifischen Doppelcharakter auf: als Gabe und
Aufgabe.15 Die Anerkennung der eigenen ‹Gegebenheit› als Leib, d.h. in und mit der eigenen
Leiblichkeit eröffnet einen Blick auf die pathische Seite menschlicher Existenz, die seit jeher
das Thema von Theologie und Seelsorge ist. Nicht dass solche Einsichten nicht auch anders
zu haben wären.16 Aber sie werden nirgendwo präsenter und eindringlicher reflektiert und
gelebt, als in der christlichen Theologie und kirchlichen Praxis. Sie öffnen den Blick für die
basalen Erfahrungen von Leiblichkeit gegenüber dem partikularen Denken im medizinischen
System. Hier geht es nicht mehr um die eigene Autonomie im Handeln, sondern um die
andere Souveränität im Erleben des eigenen Gegebenseins. Die Einsicht ist für ein
angemessenes Verständnis von Palliative Care fundamental. Greifbar würde dieses
Bewusstsein, wenn die Betroffenen der bekannten Formel aus der Abendmahlsliturgie ganz
selbstverständlich noch einen weiteren Sinn geben könnten: «Das ist mein Leib» (Mt 26,26).
Autor: Frank Mathwig
© Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund SEK
Bern, 13./14. November 2012
[email protected]
www.sek.ch
14
Vgl. Sterben gehört nicht ins Krankenhaus. Interview Christina Hucklenbroich mit Michael de Ridder, in: FAZ
7.11.2012, N 2.
15
Vgl. Böhme, Der Begriff, a.a.O., 562.
16
Vgl. etwa den brillanten Essay des politischen Philosophen Michael J. Sandel, Plädoyer gegen die Perfektion.
Ethik im Zeitalter der genetischen Technik, Berlin 2008.
5
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