3. September 2016 Eröffnungskonzert Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks Wolfgang Rihm Berliner Festspiele in Zusammenarbeit mit der Stiftung Berliner Philharmoniker Berliner Festspiele 1 Berliner Festspiele in Zusammenarbeit mit der Stiftung Berliner Philharmoniker Bildnachweise Titel:Wandrelief aus Mitla Oaxaca, Mexiko, Wikimedia Commons S. 11Lavafontaine im Süden des Pu’u Kahaualea auf Hawai 2007, Wikimedia Commons S. 14Antonin Artaud 1926, Foto: Man Ray S. 24Wolfgang Rihm 2011 © Kai Bienert S. 25Antonin Artaud 1926, Foto: Man Ray S. 27Graham F. Valentine © Werner Büchler S. 28Daniel Harding © Julian Hargreaves S. 30Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks © Astrid Ackermann Musikfest Berlin 2016 Samstag, 3. September, 19:00 Uhr 5 Konzertprogramm 6 Besetzungen 8 Martin Wilkening: Tutuguri Antonin Artaud: Tutuguri (1. Fassung) 18 Antonin Artaud: Tutuguri (1. Fassung, franz. Original) 20 Antonin Artaud: Tutuguri (2. Fassung) 24 Komponisten 27 Interpreten 36 Musikfest Berlin 2016 im Radio und Internet 38 Musikfest Berlin 2016 Programmübersicht 40 Impressum Weitere Texte und Beiträge zum Musikfest Berlin lesen Sie im Blog der Berliner Festspiele: blog.berlinerfestspiele.de 3 16 4 Bitte schalten Sie Ihr Mobiltelefon vor Beginn des Konzerts aus. Bitte beachten Sie, dass Mitschnitte und Fotografieren während des Konzerts nicht erlaubt sind. Das Konzert wird von Deutschlandradio Kultur live am 3. September 2016 ab 19:05 Uhr übertragen. Deutschlandradio Kultur ist in Berlin über UKW 89,6 MHz, Kabel 97,50 MHz, digital und über Livestream auf www.dradio.de zu empfangen. Das Konzert wird in der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker live unter www.digitalconcerthall.com übertragen. Programm Eröffnungskonzert Wolfgang Rihm (* 1952) Tutuguri Poème dansé nach dem Gedicht „Tutuguri“ aus dem Hörspiel „Pour en finir avec le jugement de dieu“ von Antonin Artaud für großes Orchester, Schlagzeuger, Chor vom Tonband und Sprecher (1980–1982) Erster Teil I. Bild ( Anrufung … das schwarze Loch … ) II. Bild ( schwarze und rote Tänze … das Pferd … ) III. Bild ( der Peyotl-Tanz … die letzte Sonne … der schreiende Mann … ) Pause Konzertante Aufführung Samstag, 3. September 19:00 Uhr Philharmonie 18:00 Uhr Einführung mit Martin Wilkening Veranstaltungsende ca. 21:30 Uhr Graham Forbes Valentine Sprecher Christian Pilz, Bart Jansen, Markus Steckeler, Ignasi Domènech Ramos, Wolfram Winkel, Jochen Ille Solo-Schlagzeuger Zoro Babel Klangregie Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks Daniel Harding Leitung Eine Veranstaltung der Berliner Festspiele / Musikfest Berlin 5 Zweiter Teil IV. Bild ( Kreuze … das Hufeisen … die sechs Männer … der Siebte … ) Besetzung Wolfgang Rihm Tutuguri 3 Flöten (alle auch Piccolo) 3 Oboen (3. auch Englischhorn) 3 Klarinetten in B (2. und 3. auch Bassklarinette in B) 3 Fagotte (2. und 3. auch Kontrafagott) 4 Hörner in F 3 Trompeten in C 3 Posaunen Tuba 6 Pauke (ein Spieler) 4 Tamtams im Auditorium Harfe Klavier Violinen I Violinen Il Bratschen Violoncelli Kontrabässe gemischter Chor vom Tonband 1 Sprecher 6 Schlagzeuger 1. Flexaton, Plattenglocken, 3 Woodblocks (hoch, mittel, tief), große Holzschlitztrommel, Guiro, Becken à 2, 3 hängende Becken (klein, mittel, groß), großes Donnerblech, großes Tamtam, Kleine Trommel, Tambourin, 3 Tomtoms (hoch, mittel, groß), tiefe Conga, Große Trommel 2. Vibraphon, 3 Woodblocks (hoch, mittel, tief), große Holzschlitztrommel, Guiro, Triangel, Becken à 2, 3 hängende Becken (klein, mittel, groß), großes Donnerblech, großer Hammer, kleines und großes Tamtam, Kleine Trommel, 3 Tomtoms (hoch, mittel, tief), tiefe Conga, Lions Roar, Große Trommel 3. Marimbaphon, 3 Woodblocks (hoch, mittel, tief), große Holzschlitztrommel, Guiro, Triangel, Becken à 2, 3 hängende Becken (klein, mittel, groß), 3 liegende Metallplatten (klein, mittel, groß), großes Tamtam, Kleine Trommel, 3 Tomtoms (hoch, mittel, tief), tiefe Conga, Große Trommel 4. Xylophon, Plattenglocken, 3 Woodblocks (hoch, mittel, tief), große Holzschlitztrommel, Guiro, Becken à 2, 3 hängende Becken (klein, mittel, groß), 3 liegende Metallplatten (klein, mittel, groß), kleines und großes Tamtam, Kleine Trommel, 3 Tomtoms (hoch, mittel, tief), tiefe Conga, Große Trommel 5. Flexaton, Röhrenglocken, 3 Woodblocks (hoch, mittel, tief), Guiro, Becken à 2, 3 hängende Becken (klein, mittel, groß), großer Hammer, großes Donnerblech, großes Tamtam, Kleine Trommel, 3 Tomtoms (hoch, mittel, tief), tiefe Conga, Lions Roar, Große Trommel Entstehungszeit: Komposition begonnen im November 1980 in Rom, beendet im August 1982 in Contra / Ticino. Auftraggeber: Deutsche Oper Berlin Uraufführung: 12. November 1982 an der Deutschen Oper Berlin. 6. Glockenspiel, Flexaton, Pauke, 3 Woodblocks (hoch, mittel, tief), Guiro, Becken à 2, 3 hängende Becken (klein, mittel, groß), 3 liegende Metallplatten (klein, mittel, groß), großes Donnerblech, großes Tamtam, Kleine Trommel, 3 Tomtoms (hoch, mittel, tief), tiefe Conga, Lions Roar, Große Trommel Alles muss haargenau in eine tobende Ordnung gebracht werden Antonin Artaud 1947 puc te puk te li le pek ti le kruk 7 kré kré pek kre e pte Essay Tutuguri Zur konzertanten Aufführung von Wolfgang Rihms Tanz-Poèm 8 I. Antonin Artauds „Tutuguri“ Im Mai 1935 spielte der französische Dichter und Schauspieler Antonin Artaud seine letzte Rolle auf der Bühne eines Theaters. Siebzehn Vorstellungen hatte die Produktion seines Stückes „Les Cenci“ in Paris erlebt. Die Serie endete in einem finanziellen Desaster und in der Erkenntnis, mit den vorhandenen Mitteln und Kräften den eigenen Vorstellungen eines rituellen Theaters nur ungenügend entsprochen zu haben, eines Theaters, das Artaud in zwei kurz zuvor veröffentlichten Manifesten als „Theater der Grausamkeit“ annoncierte, und das nicht mehr einen literarischen Text repräsentieren, sondern die Kräfte einer Handlung auf der Bühne entfalten sollte. „Die Bücher, die Texte, die Zeitschriften sind Gräber, Gräber, die endlich aufgewühlt werden müssen … Ich sage, die Pflicht des Schriftstellers, des Dichters ist es nicht, sich feige in einen Text, ein Buch, eine Zeitschrift einzuschließen, aus denen er nie mehr herauskommen wird, sondern im Gegenteil: herauszutreten, um die öffentliche Meinung aufzurütteln, zu attackieren – wozu taugt er sonst? Und warum wurde er geboren?“ Dies schrieb Artaud viel später, im Jahr 1948, in einem Brief, der auf das Sendeverbot seines Hörspiels „Schluss mit dem Gottesgericht“ Bezug nimmt. Beides, der Abschied von der Bühne im Jahr 1935 und die ihm vorenthaltene Öffentlichkeit im Jahr 1947, umrahmt nicht nur ein Lebensschicksal, sondern es führt auch zur Geschichte des „Tutuguri“, dessen Spur in Artauds Werk mit seiner Reise zu den mexikanischen Tarahumara-Indianern beginnt und in zwei Gedicht-Fassungen ausläuft. Eine erste, mehr bildhafte Version des „Tutuguri“ erscheint in dem erwähnten Hörspiel von 1947, eine zweite, eher erklärende Version schrieb Artaud 1948, in seinem letzten Lebensjahr, für die erst posthum erschienene Ausgabe seines Buches „Die Tarahumaras“. Bereits 1933 hatte Artaud, im Zusammenhang mit seinen Theater-Manifesten, Mexiko zum Thema eines Szenarios gemacht, das, vor dem Hintergrund einer aktuellen Debatte um Kolonialismus, Befreiung und Revolution, die Vernichtung der indianischen Kulturen durch die spanischen Eroberer zum Thema hat: „Die Eroberung von Mexiko“. Drei Jahre später bricht er zu der weiten Reise zu den Indianern auf. Fast das ganze Jahr 1936 nahm Artauds Reise nach Mexiko in Anspruch, wo er, wie er kurz vor seinem Aufbruch schrieb, „die magische Realität einer Kultur, deren Feuer wahrscheinlich wieder angefacht werden könnte“, erleben wollte. Er lebt dort mit bescheidenen Geldmitteln, hält Vorträge, schreibt für Zeitungen in Mexiko und Frankreich zur Kunst und zu den okkulten Quellen der mexikanischen Kultur und unternimmt schließlich eine Expedition in die weit von Mexiko-Stadt gelegenen Indianergebiete der Sierra Madre Occidental, wo, wie er hofft, „Mexikos rote Erde noch ihre echte Sprache spricht“. Essay In dem Buch, das Artaud elf Jahre später über seine Reise zu den Tarahumaras schreibt, erscheinen Motive der „Tutuguri“-Gedichte als Motive seiner eigenen Erfahrungen wieder. Er selbst ist auf der letzten Etappe ins Gebirge der apokalytische Reiter, der wie gelähmt, fast ein Teil des Tieres, sich von einem Pferd durch die Wüste tragen lässt, er erlebt die von wahnhaften und halluzinogenen Anfällen begleiteten körperlichen Anstrengungen als seine eigene Kreuzigung. Sein Ziel ist die Reinigung durch die Teilnahme am Peyotl-Kult der Indianer, aber auf dem Weg dahin sieht er sich durch eine okkulte Verschwörung umstellt, die ganze Landschaft wird für ihn zum Zeichen der Verhexung, er meint, Zauberern zu begegnen, die ihm wie Vampire die Lebenskraft aussaugen wollen und durch rituelle Masturbation Dämonen in die Welt setzen, die von ihm Macht ergreifen wollen. Gegen solche Kräfte des Bösen wird er lebenslang ankämpfen, und er versucht, sich und andere mit solchen Zaubersprüchen zu schützen, wie jenem, der dem „Tutuguri“-Gedicht in seinem Hörspiel vorangestellt ist: „kré / kré / pek / kre / e / pte // puc te / puk te / li le / pek ti le / kruk“. Für Artaud war dieses Erlebnis zunächst auch eine Befreiung von seiner Ur-Angst des Eingeschlossenseins und des Einschlusses von Fremdem, Bösem in seinem Körper, eine Angst, wie sie selbst in den Ausdrücken jener zu Beginn zitierten Briefpassage deutlich wird. „Seltsame Möglichkeiten, seltsame Erleuchtungen sprudeln jetzt aus all dem hervor, und es scheint mir, dass ich endlich zu sagen vermag, was ich auf dem Herzen habe, was mich erstickte“, schreibt er nun nach seiner Rückkehr in einem Brief. Indes sind das, was ihn drängt, mitgeteilt zu werden, nun vor allem Prophezeihungen, Offenbarungen oder apokalyptische Warnungen. Aus Mexiko hat er ein magisches Schwert mitgebracht, in Paris 9 Der mystische Inhalt des Peyotl-Kultes mit seinen Tänzen und der Einnahme des meskalinhaltigen Kaktusbreis ist eine Art Wiedergeburt, ein Heraustreten aus sich selbst und die Schaffung eines neuen, in ein anderes Sein eingeweihten Menschen, des „Ciguri“. „Denn ‚Ciguri‘, sagen sie, war der Mensch, der Mensch, wie er aus sich selbst, aus sich selbst im Raum sich erbaute, als Gott ihn ermordet hat.“ Und in dem Zeichensystem, das der Ritus während des Vollzugs ausbildet, und das Artaud ebenso genau wie intuitiv erfasste, fügen sich Tanz, Musik und gleichsam Malerisches wie Skripturales zu einem Gesamtkunstwerk: „Auf einige schnelle Schläge des Priesters, der seinen Stock mittlerweile mit beiden Händen hielt, bewegten sie sich rhythmisch aufeinander zu, mit gespreizten Ellbogen und Händen, die so aneinandergelegt waren, dass zwei Dreiecke entstanden, in die Leben käme. Und gleichzeitig zeichneten ihre Füße auf die Erde Kreise und gleichzeitig irgendetwas wie die Glieder eines Buchstabens, ein S, ein U, ein J, ein V. Ziffern, in denen hauptsächlich die Form 8 wiederkehrte.“ Essay 10 entdeckt er einen Stock, der für ihn aus der Hand des Heiligen Patrick stammt und mit dem er 1937 zu einer Reise nach Irland aufbricht. Dort steigert er sich in eine Art missionarischen religiösen Wahn, der ihn sämtliche Realitätszwänge, wie etwa das Bezahlen von Hotelrechnungen vergessen lässt, und völlig abgebrannt wird er schließlich nach Frankreich zwangsrückgeführt. Die kommenden neun Jahre verbringt er zwangsweise in psychiatrischen Anstalten. Erst 1947 gelingt es ihm, auch dank der Unterstützung seiner zahlreichen bedeutenden Künstlerfreunde, wieder ein freieres Leben führen zu können. Er zeichnet, schreibt und entwickelt eine Reihe von Publikationsprojekten. Von den Pariser Intellektuellen wird er gleichermaßen gefürchtet wie bewundert, man erschrickt über sein zerstörtes Gesicht, die abgemagerte Gestalt, die Heftigkeit seiner Gesten, das Getriebene seiner Gedanken. Ein geplantes Buch über seine Erfahrungen in Irland kommt nicht mehr zustande, aber die „Briefe aus Rodez“ führen in die tiefe Verlassenheit seiner Anstaltsaufenthalte, und der ganze Komplex seiner durch die Mexikoreise verdichteten Selbsterfahrung bestimmt seine letzten fertiggestellten Werke. Skandalös an seinem im Studio fertig aufgenommenen, dann aber mit Sendeverbot belegten Hörspiel „Schluss mit dem Gottesgericht“ ist nicht das als poetisches Konzentrat und mythischer Hintergrund dort eingefügte „Tutuguri“Gedicht. Was damals inakzeptabel war und auch heute noch heikel und ver­ störend wirkt, sind die darum gruppierten Erörterungstexte. Zunächst werden amerikanische Geheimpläne zur Züchtung von Soldaten aus dem Sperma von Schulkindern dargelegt, gegen die dann der Tutuguri als Botschafter einer Gegenkultur gewissermaßen ins Feld geführt wird, und schließlich folgt ein Text mit dem Titel „Das Streben nach Fäkalität“, der allenfalls durch den allgemeinen Protestcharakter seiner regressiven Botschaft erträglich erscheint. In Deutschland begann die Rezeption des ganzen Artaud‘schen Mexiko-Komplexes erst in der Mitte der siebziger Jahre, und zwar mit dem erstmals übersetzten „Tarahumara“-Buch, in dem Artaud seine Reise und den Peyotl-Kult beschreibt; das günstige Umfeld für die Beschäftigung mit Artauds extremen Erfahrungen lieferte der in den siebziger Jahren viel gelesene esoterische Kult-Autor Carlos Castaneda. Erst 1980 erschien zum ersten Mal auf Deutsch „Schluss mit dem Gottesgericht“. Der 28-jährige Wolfgang Rihm, der in jenem Jahr mit seiner Komposition des „Tutuguri“ begann, dürfte einer der ersten Leser gewesen sein. II. Artaud und seine Komponisten Wolfgang Rihm ist der erste Komponist, auf dessen Kompositionen die Gedanken und Werke Antonin Artauds eine direkte Wirkung ausgeübt haben. Zwar hatte der Dichter selbst mehrmals auch mit Komponisten zusammengearbeitet, denn zu seinem Konzept eines „Theaters der Grausamkeit“ gehörte unbedingt auch die Mitwirkung von Musik und Klängen, aber zu einer intensiven Ausein- Essay 11 12 Essay andersetzung kam es dabei nicht. Kurzeitig hatte er 1932 Kontakt zu Olivier Messiaen, dessen Orgelimprovisationen zu einer Theaterproduktion Artaud jedoch zu wenig direkt erschienen. Für Edgard Varèse schrieb er im selben Jahr ein Fragment gebliebenes Szenario mit dem Titel „Es gibt kein Firmament mehr“. Für die eingespielten Klänge und die Musik bei seiner „Cenci“-Produktion 1935 war Roger Désnormière der Komponist. Zu seinem Hörspiel schließlich steuerte Artaud selbst als jemand, der, wie er behauptete zuvor „nie ein Instrument in der Hand hatte“, (sich aber bei seinen privaten Deklamation oft mit Hammerschlägen, Messerwürfen oder rhythmischem Klopfen zu begleiten pflegte) Improvisationen auf dem Xylophon bei, aber auch andere Geräusche und Schläge sowie schließlich einen „Schrei auf der Treppe“. Zu denen, die Artaud in seinen letzten Lebensjahren nahestanden, gehörte auch der junge Pierre Boulez. Er schrieb über die letzte öffentliche Lesung des Dichters 1947: „Ich habe ihn gesehen, wie er seine eigenen Texte las, die er mit Schreien, Geräuschen und Rhythmen begleitete. Er hat uns gezeigt, wie man eine Verbindung von Wort und Ton herstellen kann, wie man die Laute herausspringen lassen kann, nachdem dieses dem Wort unmöglich geworden ist“. Was kann die Musik dem noch hinzufügen? Boulez selbst hat sich als Komponist nie direkt an Texte von Artaud herangewagt, aber seine Theatermusiken sind ebenso wie etwa das Orchesterwerk „Rituel“ von Artauds Sicht auf das Theater beeinflusst. 1976 hatte Wolfgang Rihm in seinem Aufsatz „Der geschockte Komponist“ konstatiert: „Wir schreiben Durchführungsmusik, vielleicht können oder wollen wir nicht anders. Die Musik unseres Kulturkreises ist geprägt vom Exponieren und Durchführen … Musik loszulassen und strömen zu lassen gibt uns Schwierigkeiten auf. Wir scheinen abhängig zu sein von unseren Themen, Leitmotiven, Formeln etc., um Durchführungen oder Verläufe zu begründen. Vielleicht entspricht uns das und unserer zielgerichteten Lebensgestaltung? Ich weiß es nicht. Woher auch, war ich je ‚draußen‘?“ Die erste Begegnung mit Artauds Text wurde für Rihm vier Jahre später gleichermaßen zur Inspiration wie zur Legitimation der von ihm erstrebten „losgelassenen“ Musik. Er erlebte, wie er in einem Notat zur „Tutuguri“-Uraufführung schrieb, einen „Musikstrom, Musik-Sturz“, sah die Möglichkeit einer Musik, die „nicht länger Verknüpfungskonfiguration“ sein sollte, einer Musik, die „im Rohzustand, als sie selbst, nackt, als Zustand von Musik auf uns kommen“ könnte. Artauds Theater wurde für Rihm zur Herausforderung, die bis heute anhält, ein Nährboden zur Abwehr der Verführungen des Metiers, der Apell zum immerwährenden Selbstversuch. In diesem Sinn hat Rihm auch seine eigene deutende Übersetzung für Artauds „Théatre de la cruauté“ entworfen. Dessen „Grausamkeit“ steht für ihn als „Rohes“ im Gegensatz zum „Gekochten“, sie sucht „ ein Theater der ‚rohen‘, das heißt: der nicht in artifizielle Konventionen gekleideten Ideen“. Rihms Auseinandersetzung mit Artaud umfasst bis heute drei große Werke, bzw. Werkkomplexe: „Tutuguri“ (1980-82), vom Komponisten in einer durch Artaud inspirierten Neudeutung der Bezeichnung Debussys als „Poème dansé“ tituliert; Essay das Musik-Theater „Die Eroberung von Mexiko“ (1987–1991); und schließlich, seit 1993 die verschiedenen „Zustände“ des Musik-Theaters „Séraphin“. Die Werke nehmen auch untereinander Bezug. So erscheint in der „Eroberung von Mexiko“ sowohl erneut eine Gestalt aus „Tutuguri“ („Der schreiende Mann“) als auch eine Vor-Spiegelung des „Séraphin“ , und Rihm nimmt in dem selbst zusammengestellten Libretto auch jenen Zauberspruch Artauds wieder auf, der wie als Stellvertreter von dessen Stimme schon in „Tutuguri“ den größten Teil der Textschicht bestimmt. Außerhalb des Theater-Kontextes schließlich hat Rihm 1988 auch ein Orchesterstück geschrieben, das mit seinem Titel „Kein Firmament“ auf jenes einst von Artaud für Edgard Varèse entworfene und nie ausgeführte Szenario „Es gibt kein Firmament mehr“ verweist. III. Wolfgang Rihms „Tutuguri“ Die ritualhafte Dimension der Schlaginstrumente und des Schlages wird einerseits noch dadurch erweitert, dass auch außerhalb des Podiums noch vier große Tamtams zum Einsatz kommen und andererseits dadurch, dass am Schluss des dritten Bildes, wo im Schlagzeug Metallplatten eingesetzt werden und zum ersten Mal auch die Tamtams im Zuschauerraum erklingen, bei einer szenischen Realisation auch die Tänzer auf der Bühne verschiedene Metallteile perkussiv frei zu bearbeiten haben. Im Grunde genommen wird das ganze Orchester in „Tutuguri“ noch extremer als in anderen Werken des Komponisten wie ein Schlag­instrument behandelt. Schläge, sei es als Teil eines Pulses, sei es als gleich-­ 13 1982 schrieb Rihm einmal von „sieben geplanten Teilen des Rituals“. Von diesem latent siebenteiligen „Tutuguri“-Komplex sind indes die Teile fünf und sieben bis jetzt nicht erschienen. Zuerst brachte Rihm 1981 „Tutuguri VI (Kreuze)“ für sechs Schlagzeuger heraus. Das „Poème dansé“ umfasst dann, seit der Uraufführung an der Deutschen Oper Berlin 1982, die Teile eins bis vier. „Herausgerissen“ (Rihm) aus dem Tanz-Poèm wurde als reines Konzertstück später das Fragment „Schwarzer und roter Tanz“. Die vier Teile des Tanz-Poèms werden in der Partitur „Bilder“ genannt, wobei Bild eins bis drei den ersten „Teil“ bilden und Bild vier alleine den zweiten Teil. Die Sonderstellung dieses Schluss-Bildes ist evident, denn die Musik wird nun alleine von den sechs Schlagzeugern ausgeführt, die zuvor noch einen Teil des Orchesters bildeten, auch wenn bereits ab dem zweiten Bild und zunehmend im dritten Bild immer wieder die Schlagzeuggruppe auch als eigene Klangschicht behandelt wird. Alle Instrumente der sechs Schlagzeuger sind in der Tonhöhe unbestimmt, und Rihm verwendet sie sowohl in gemischten Klanggruppen als auch, und dies macht die eigentliche Wucht dieser Musik aus, in homogenen Ensembles von beispielsweise sechs Großen bzw. Kleinen Trommeln oder sechs Doppel-Becken. Deren Klang hebt Rihm bis ganz zum Schluss auf, wo die durch mehrfache Wandlungen hindurch gleichsam zum Siedepunkt gebrachte Musik wie zischend verdampft. 14 Essay Essay Martin Wilkening 15 sam autonome symbolische Setzung, bestimmen, in gebündelter wie in aufgesplitterter Weise die ganze Klanglandschaft des Stückes, seiner Oberfläche voller Furchen, Rissen, Schluchten und Schlünden. Selbst da, wo das Geschehen deutlich um einen Zentralton kreist, wie am Anfang, wo eine Flöte paradoxerweise sehr tief und in großer Lautstärke den Ton d exponiert, geschieht dies in der Auffaserung durch schnelle Schlagfolgen, Tremoli, bei denen jeder Ton akzentuiert ist, und die durch Pausen zusätzlich aufgerissen werden. Umso stärker prägen sich der Hörerinnerung jene wenigen Momente ein, in denen Linien oder sozusagen geschlossene Klänge hervortreten, melodische Ruf-Formeln im ersten und zweiten Bild oder eine Art mystischer „Chor“ mit wechselnden Akkordblöcken der Instrumentalstimmen im ersten Bild, bevor bald danach zum ersten Mal in diesem Stück der Sprechchor einsetzt, der vom Tonband aus eingespielt wird. Das Gedicht „Tutuguri“, das für Rihm die Musik mit „hervorbrachte“, erscheint als solches nicht in seiner Komposition. In der heutigen Aufführung wird es jedoch zu Beginn des Stückes gesprochen, als eine Imagination der Szene, in die sonst die Tänzer auf der Bühne einführen. Der im eigentlichen Sinn komponierte Text des Stücks entstammt, als Lautdichtung, einer Sphäre zwischen Sprache und Musik. Rihm verwendet hauptsächlich die Silben und Silbenreihungen jenes Zauberspruchs, den Artaud seinem Hörspiel vorangestellt hatte. Es gibt aber auch zwei Fragmente aus einem letzten, lange nach den ersten Manifesten geschriebenen Text mit dem Titel „Das Theater der Grausamkeit“ aus dem Jahr 1947: „ko embach / kou embach“ und „Kha Kha“, in dem Artikulation wie ein Ausstoßen des Atems, von Artaud dort zur Charakterisierung einer Art Tanz der menschlichen Organe benutzt: „Dann tanzt er / in unendlich trockeneren / aber organischen / KHA KHA-Blöcken“. Rihm verteilt diese Laut-Texte auf den Chor vom Band, der spricht und singt, und einen Sprecher, der live rezitiert und agiert, im dritten Teil auch seinen Brustkorb als Schlaginstrument einsetzt und dann zu jenem „Schreienden Mann“ wird, für den Artaud in der Aufnahme seines Hörspiels seine eigene Stimme eingesetzt hatte. In gewisser Weise ist „Tutuguri“ also auch ein Stück über Antonin Artaud, allerdings nicht im inhaltlichen Sinne jener „Handlung“, die dem Tanzstück bei der Uraufführung unterlegt wurde und die weder von Rihm stammt noch in das Aufführungsmaterial aufgenommen wurde. Im Vorwort zu seiner Partitur betont der Komponist, dass er kein Handlungs-Tanztheater geschrieben habe, sondern „ein rituelles Bild auseinanderstrebender Energie“ bei dem Antonin Artauds Text, das Gedicht „Tutuguri“, „in jedem Abschnitt, in jeder Note gleichermaßen präsent ist“. In der späteren Selbsterforschung der Wege, die seine Musikfindung hier gingen, hat Rihm dann in den fragmentarischen, in Klammern gesetzten Titeln zu jedem der Bilder eine Art assoziatives Zentrum zu benennen versucht, ohne das durch diese andeutenden Worte jedoch die Musik nur auf einzelne Teile des Textes zu beziehen wäre. Tutuguri Tutuguri Der Ritus der schwarzen Sonne Da unten, wie am Fuße des bitteren Hanges, grausam verzweifelt vom Herzen, öffnet sich der Kreis der sechs Kreuze, weit unten, wie eingeschlossen in die Mutter Erde, ausgeschlossen von der ekelhaften Umarmung der sabbernden Mutter. Die Erde aus schwarzer Kohle ist der einzige feuchte Platz in dieser Felsspalte. 16 Der Ritus besteht darin, daß die neue Sonne an sieben Punkten vorüberzieht, bevor sie am Loch der Erde explodiert. Und es gibt sechs Männer, einen für jede Sonne, und einen siebten Mann, der die ganz grelle Sonne ist, schwarz gekleidet und von rotem Fleisch. Nun, dieser siebte Mann ist ein Pferd, ein Pferd mit einem Mann, der es führt. Aber das Pferd ist eine Sonne und nicht der Mann. Auf das Zerreißen einer Trommel und einer Trompete, langgezogen, seltsam, springen nacheinander wie Sonnenblumen die sechs Männer auf, die sich flach auf die Erde gelegt, zusammengekrümmt hatten, keine Sonnen, Tutuguri sondern drehende Sonnen, Wasserlotus, und jedem Aufspringen entspricht der immer dunkler werdende und von der Trommel gedämpfte Gong, bis man plötzlich, in vollem Galopp, mit irrsinniger Geschwindigkeit die letzte Sonne ankommen sieht, den ersten Mann, das schwarze Pferd mit einem nackten Mann, völlig nackt und jungfräulich darauf. Nun, das Dur des Ritus ist, mit Recht, DIE ABSCHAFFUNG DES KREUZES. Fertig mit dem Umkreisen, verpflanzen sie die Erdkreuze, und der nackte Mann auf dem Pferd richtet ein riesiges Hufeisen auf, das er in die Wunde seines Blutes getaucht hatte. Erste Fassung von 1947 Übersetzung: Elena Kapralik Aus: Antonin Artaud, „Schluß mit dem Gottesgericht. Das Theater der Grausamkeit.“ Letzte Schriften zum Theater, Matthes & Seitz Verlag, München 2002, S. 12f Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Matthes & Seitz Berlin 17 Aufgebäumt, nähern sie sich, kreisförmigen Krümmungen folgend, und das Pferd aus blutendem Fleisch verliert den Kopf und tänzelt unablässig auf seinem Felsgipfel, bis die sechs Männer fertig sind, die sechs Kreuze vollständig zu umzingeln. Tutuguri Tutuguri Le rite du soleil noir Et en bas, comme au bas de la pente amère, Cruellement désespéré du coeur, s‘ouvre le cercle des six croix, très en bas, comme encastré dans Ia terre mère, désencastré de l‘étreinte immonde de Ia mere qui bave. La terre de charbon noir est le seul emplacement humide dans cette fente de rocher. 18 Le Rite est que le nouveau soleil passe par sept points avant d’éclater a l’orifice de Ia terre. Et il y a six hommes, un pour chaque soleil, et un septième homme qui est le soleil tout cru habillé de noir et de chair rouge. Or, ce septième homme est un cheval, un cheval avec un homme qui le mène. Mais c’est le cheval qui est le soleil et non l’homme. Sur le déchirement d’un tambour et d’une trompette longue, étrange, les six hommes qui etaient couchés, roulés à ras de terre, jaillissent successivement comme des tournesols, non pas soleils mais sols toumants, des Iotus d’eau, Tutuguri et à chaque jaillissement correspond le gong de plus en plus sombre et rentré du tambour jusqu’à ce que tout à coup on voit arriver au grand galop, avec une vitesse de vertige, le dernier soleil, le premier homme, le cheval noir avec un homme nu, absolument nu et vierge sur lui. Or, le ton majeur du Rite est justement L’ABOLITION DE LA CROIX Ayant achevé de tourner ils déplantent les croix de terre et l’homme nu sur le cheval arbore un immense fer à cheval qu’il a trempe dans une coupure de son sang. Première Version 1947 Antonin Artaud, „Tutuguri. Le rite du soleil noir.” Œuvres Complètes. Gallimard, Paris 1974, Bd.XIII, S. 77f. 19 Ayant bondi, ils avancent suivant des méandres circulaires et le cheval de viande saignante s’affole et caracole sans arrêt au faîte de son rocher jusqu’à ce que les six hommes aient achevé de cerner complètement Ies six croix Tutuguri 20 Tutuguri Zum äußeren Glanz der Sonne geschaffen, ist Tutuguri ein schwarzer Ritus. Der Ritus der schwarzen Nacht und des ewigen Todes der Sonne. Nein, die Sonne wird nicht mehr wiederkehren, und die sechs Kreuze des Kreises, den das Gestirn durch queren muß, sind in Wirklichkeit nur da, um ihm den Weg zu versperren. Denn man weiß kaum, man weiß hier in Europa überhaupt nicht, was für ein schwarzes Zeichen das Kreuz ist, weiß kaum um „des Kreuzes Speichelkraft“, und was für ein Speichelfluß über die Worte des Denkens das Kreuz ist. In Mexiko gehören Kreuz und Sonne zusammen, und die hüpfende Sonne ist dieser gewundene Satz, der sechs Takte braucht, um ans Licht zu kommen, das Kreuz ist ein gemeines Zeichen, die Materie muß es verbrennen, warum gemein, weil die Zunge, die sein Zeichen einspeichelt, gemein ist, und warum speichelt sie sein Zeichen ein? Um es zu salben. Kein heiliges, geweihtes Zeichen, das nicht gesalbt wäre. Ist aber die Zunge, wenn sie es salbt, nicht selber spitz? Versetzt sie sich nicht zwischen die vier Himmelsrichtungen? Also muß die Sonne, wenn sie erscheint, über die sechs Punkte des gemeinen Satzes springen, den es zu retten gilt, und wird aus ihm eine Art Übertragung auf der Ebene des Blitzes machen. Denn die Sonne erscheint wirklich auf gleicher Höhe mit den Kreuzen, aber wie ein blitzender Ball, von dem man weiß, daß er nicht verzeihen wird? Daß er was nicht verzeihen wird? Die Sünde des Menschen und des Dorfes ringsum, und deshalb sieht man, wie sich ein paar Wochen vor dem Ritus die ganze Rasse der Tarahumaras reinigt, saubere weiße Gewänder anzieht und sich wäscht. Und schließlich bricht der Tag des Ritus und der blitzenden Erscheinung an. Tutuguri 21 Da werden sechs Männer in ihren weißen Gewändern flach auf den Boden gelegt, sechs Männer, die als die reinsten des Stammes gelten. Und jeder, so glaubt man, ist ein Kreuz geworden. Eins dieser Kreuze aus zwei Balken, die mit einem schmutzigen Strick zusammengebunden sind. Und ein siebenter Mann steht aufrecht, ein Kreuz auf die Lenden gebunden, in den Händen ein sonderbares, aus Holzlamellen verschiedener Länge zusammengesetztes Musikinstrument mit einem Klang zwischen Glocke und Kanone. Und an einem bestimmten Tag, im Morgengrauen, beginnt der siebente Tutuguri den Tanz, schlägt mit einem tiefschwarzen Roheisenschlegel auf eine Lamelle. Dann sieht man die Männer der Kreuze, wie aus dem Boden geschossen, im Kreis vorwärtshüpfen, und jeder muß sich siebenmal um sein Kreuz drehen, ohne den großen Kreis zu sprengen. Ich weiß nicht, ist es, weil Wind aufkommt, oder kommt Wind aus dieser Musik von einst, die heute noch fortlebt, doch man fühlt sich wie von einem Nachthauch gepeitscht, von einem Atem, der aus den Grüften einer getilgten Menschheit steigt, die hier ihr Antlitz enthüllt, ein bemaltes Antlitz, ein grinsendes Gesicht ohne Erbarmen. Ohne Erbarmen, weil die Gerechtigkeit, die es bringt, nicht von dieser Welt ist. Sei rein und keusch, scheint es zu sagen. Sei auch unberührt. Oder im öffne dir meine Hölle. Und die Hölle öffnet sich auch. Das Hackbrett des siebenten Tutuguri wird von einem schrecklichen Reißen geschüttelt: es ist der Krater eines Vulkans auf dem Höhepunkt seines Ausbruchs. Die Lamellen scheinen zu splittern unter den Klängen wie ein von der Axt eines phantastischen Holzfällers zerschmetterter Wald. Und plötzlich tritt das Erwartete ein: fliederfarbene Schwefeldämpfe steigen geballt aus einem Punkt des Kreises auf, den die sechs Männer gezogen haben, 22 Tutuguri den die sechs Kreuze umschlossen haben, und unter den Dämpfen hat sich plötzlich eine Flamme, eine Riesenflamme entzündet, und diese Riesenflamme kocht. Sie kocht mit unerhörtem Tosen. Ihr Inneres schwillt an von Gestirnen, von weißglühenden Korpuskeln; als wenn die Sonne bei ihrem Aufzug ein Himmelssystem mit sich führte. Und jetzt hat die Sonne Aufstellung genommen. Sie hat in der Mitte des Himmelssystems Gestalt angenommen. Sie hat sich mit einem Mal gleichsam ins Zentrum einer kolossalen Explosion gestellt. Denn die Korpuskeln, blitzend wie Soldaten einer kriegführenden Armee, haben sich aufeinandergestürzt und sind dabei explodiert. · Da ist die Sonne rund geworden. Und man sieht, denn jetzt bricht die Morgendämmerung an, wie ein Feuerball genau in der Achse der natürlichen Sonne aufsteigt und von Kreuz zu Kreuz hüpft. Die sechs Männer haben die Arme ausgebreitet, nicht so, daß ein Kreuz entsteht, sondern mit den Händen nach vorn, als wenn sie den Ball auffangen wollten, der jedes eingerammte Kreuz umkreist und sich noch immer verweigert. Denn das Hackbrett ist ein Wind, es ist gleichsam der Boden eines Windes geworden, auf dem eine Armee ausgezeichnet vorrücken könnte. Und tatsächlich. Von dort, wo das Tosen und das Nichts aufeinanderstoßen, denn so groß ist das Tosen, daß vor ihm nur das Nichts eintreten kann, von dort also lebhaftes Stampfen. Skandierter Rhythmus einer marschierenden Armee oder Galopp eines verstörten Angriffs. Der Feuerball hat die sechs Kreuze verbrannt; die sechs Männer, wohl ahnend, was kommt, mit vorgestreckten Händen, sind alle sechs erschöpft, haben Schaum vorm Mund. Tutuguri Ivry-sur-Seine, 16. Februar 1948 Zweite Fassung von 1948 Übersetzung: Brigitte Weidmann Aus: Antonin Artaud, „Mexiko. Die Tarahumaras. Revolutionäre Botschaften. Briefe“, Matthes & Seitz Verlag, München 1992, S. 58ff Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Matthes & Seitz Berlin 23 Und das Tosen des Galopps wird immer schlimmer. Und am Horizont der Kreuze wird etwas wie ein scheuendes Pferd sichtbar, das näherkommt, auf ihm ein nackter Mann, denn der getrommelte Rhythmus war 7. Nun gibt es aber nur sechs Kreuze. Und im hölzernen Hackbrett des siebenten Tutuguri noch immer ein Vorspiel aus Nichts noch immer dieses Vorspiel aus Nichts: dieser hohle Takt, ein hohler Takt, etwas wie erschöpfende Leere zwischen den scharfkantigen Holzlamellen, Nichts, das den Rumpf des Mannes beschwört, den zerstückelten Körper des Mannes in der Wut (nein: in der Glut) der Dinge im Innern. Da, wo unterhalb des Nichts das Tosen der großen Glocken im Wind, der Streit der Schiffskanonen, das Wogengebell in den Stürmen südlicher Winde zur Wahl stehn; kurz, das näherkommende Pferd trägt den Rumpf eines Mannes, eines nackten Mannes, der nicht etwa ein Kreuz schwenkt, sondern einen Eisenholzstab, und der von einem gigantischen Hufeisen festgehalten wird, das seinen ganzen Körper umklammert, seinen Körper, zerschnitten von einem blutigen Striemen und das Hufeisen ist da wie die Kiefer eines Halseisens, das den Mann gepackt hielte um den Striemen seines Blutes. Biografien / Komponisten 24 Wolfgang Rihm In über 50 Jahren schöpferischer Tätigkeit hat der 1952 in Karlsruhe geborene Wolfgang Rihm ein Œuvre geschaffen, das inzwischen auf mehr als 380 veröffentlichte Werke angewachsen ist. Die kom­ positorische Begabung Wolfgang Rihms wurde schon während seiner Schulzeit manifest. Prägenden Einfluss hatte später der Unterricht bei Karlheinz Stockhausen, dessen unbedingte Konzentration und Hingabe an das eigene Schaffen Rihm nachhaltig beeindruckten. 1976 setzte dann Rihms eigentliche Karriere als Komponist mit der Uraufführung des Orchesterstücks „Sub-Kontur“ ein. Zwei Jahre später machte die Uraufführung der alsbald an vielen Bühnen gespielten Kammeroper „Jakob Lenz“ den Musiker einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Seitdem ist Wolfgang Rihm einer der angesehensten und am häufigsten aufgeführten Komponisten unserer Zeit. Wenn man einen Schlüsselbegriff für Rihms Schaffen benennen möchte, ist das der der künstlerischen Freiheit. Denn Rihm ist allen Kompositionsstrategien gegenüber, die seiner klanglichen Imagination Fesseln anlegen würden, zutiefst skeptisch und vertraut stattdessen seinem Ausdrucksimpuls. Künstlerische Freiheit charakterisiert auch Rihms Umgang mit den musikalischen Mitteln. Etiketten wie tonal, atonal, avantgardistisch und traditionalistisch passen nicht auf sein Schaffen. Es ist vielmehr gekennzeichnet von einer außer­ ordent­lichen Fähigkeit zur plastischen Gestaltung musikalischer Vorgänge und von einer besonderen Ausdruckskraft. Dominierte in seinen Stücken anfangs Wildheit und eine fragmentarische Gestaltungsweise, so eroberte Rihm sich später eine ganz eigene lyrische Kantabilität und ein besonderes, weite Verläufe tragendes musikalisches Fließen. Inspiration erhielt er dabei in vielfacher Weise von der Literatur, und hier insbesondere vom Surrealismus, oder etwa den Ideen Antonin Artauds, und von der bildenden Kunst. Eine Besonderheit seines Schaffens sind übergreifende Werk­ reihen, zu denen sich viele Kompositionen, die auch einzeln aufgeführt werden können, formieren. In jüngster Zeit bildet zudem die Auseinandersetzung mit dem Instrumentalkonzert einen besonderen kompositorischen Schwerpunkt. Wolfgang Rihm ist ein eminent reflektierter und theoriebewusster Künstler, der aus einer profunden Kenntnis der Tradition und der Entwicklungen der Musik der Gegenwart heraus schafft. Mehrere Bände Schriften und Gespräche sind erschienen, die beredt, originell und erhellend von künst­lerischen Fragen und der Musik an­derer Komponisten handeln. Gegen das erklären­de Sprechen und Schreiben über die eigenen Stücke hat Rihm dagegen einen Widerwillen. Seine Musik soll für sich selbst stehen. Biografien / Komponisten Seit 1985 lehrt Wolfgang Rihm Komposition an der Musikhochschule Karlsruhe. Zu seinen ehemaligen Studenten zählen zahl­reiche prominente Komponisten wie etwa Jörg Widmann. Trotz all seiner Verpflichtungen arbeitet Wolfgang Rihm in einer Reihe bedeutsamer Gremien des Musik­lebens mit. Für sein Wirken hat der Kom­ponist zahl­reiche Ehrungen und Preise erhalten. Antonin Artaud 25 Antonin Artaud (1896–1948), Schriftsteller, Schauspieler und Theatertheoretiker, be­einflusste mit seiner Konzeption eines Theaters der Grausamkeit die Entwicklung des modernen Theaters entscheidend. Ausgelöst durch eine Erkrankung in der Kindheit war er zeitlebens in psychiatrischer Behandlung. Antonin Marie Joseph Artaud wird am 4. September 1896 in Marseille geboren. Sein Großvater, ein Großschifffahrtskapitän, hatte in Marseille eine kleine Schifffahrt­ gesellschaft gegründet. Artauds Vater war ebenfalls Kapitän geworden und übernahm das Familiengeschäft. Von den insgesamt neun Geschwistern überleben nur drei. Mit fünf Jahren erkrankt Antonin Artaud schwer an Meningitis. Er übersteht die Krankheit zwar, bleibt aber lebenslang Patient. Um seine Schmerzen zu erleichtern, werden ihm als Kind die Medika­men­te in die Speisen gemischt. Außerdem wird er mit einem damals populären neuen Gerät behandelt, einem Ozon sowie Gleichstrom erzeugenden Apparat, der an die Kopfhaut angeschlossen wird. Mit 14 Jahren gibt Artaud gemeinsam mit Schulkameraden eine Zeitschrift heraus, in der er unter dem Pseudonym Louis de Attides erste Gedichte veröffentlicht. Das erste erhaltene Gedicht schreibt er im Alter von 17 („Le navire mystique“). Kurz vor seinem Schulabschluss verschlechtert sich Artauds Gesundheitszustand so sehr, dass er sich für einige Monate in ein Sanatorium begeben muss. Ab diesem Zeitpunkt kann er nicht mehr ohne Opium leben. Bis Anfang 1920 hält er sich in verschiedenen psychiatrischen Kliniken auf, unterbrochen durch den Militärdienst, den er dank Intervention seines Vaters nach neun Monaten abbrechen kann. Nach mehreren Kur- und Klinikaufenthalten, in denen er auch dichtet, zeichnet und malt, zieht er Ende 1920 nach Paris, wo er fortan ambulant behandelt wird. In den folgenden Jahren spielt er über zwanzig kleine Theaterrollen und in etlichen Filmrollen, bleibt allerdings als 26 Biografien / Komponisten Schauspieler ohne durchschlagenden Erfolg. Als Mitglied der Theatergruppe Théâtre de l‘Atelier von Charles Dullin entwickelt er eine große Theaterbegeisterung, lässt sich aber kaum in die Gruppe einbinden. Im Herbst 1924 schließt sich Artaud, trotz stetiger Skepsis, der surrealistischen Gruppe um André Breton an. Bereits zwei Jahre später wird er, im Zuge der Krise vor der revolutionären Neuausrichtung des „2. Manifestes“, offiziell wieder ausge­­schlos­sen. Artaud hatte gemeinsam mit dem antikonformistischen Schriftsteller Roger Vitrac und dem Historiker Robert Aron das Théâtre Alfred Jarry gegründet und sich mit der surrealistischen Bewegung nicht im Sinne der anderen Vertreter identifiziert. Im Juni 1927 wird das Théâtre Alfred Jarry ohne festes Haus mit Inszenierungen von Artaud und Vitrac eröffnet. Geprägt von finanziellen Problemen, inhaltlichen Differenzen mit den Surrealisten und wechselnder Motivation der Beteiligten musste es trotz massiver finanzieller Unterstützung durch private Gönner schon zwei Jahre später wieder schließen. Während dieser Zeit ist Artaud außerdem mit wechselndem Erfolg als Schauspiellehrer, Mitarbeiter an Filmen und Publizist tätig. Anfang der 1930er Jahre verfasst Artaud, inzwischen Mitte 30, seine wichtigsten theoretischen Aufsätze über das Theater. So entsteht 1931 „Das balinesische Theater“, 1932 das auf dem balinesischen Theater gründende, von ihm entwickelte „Theater der Grausamkeit“, sowie 1933 „Das Theater und die Pest“ und „Schluss mit den Meisterwerken“. 1935 wird das von ihm geschriebene und gespielte Stück „Les Cenci“ uraufgeführt. Es wird ein Misserfolg, wo­­ rauf­hin Artaud eine Reise nach Mexiko antritt. Er hält sich, von Mexiko City enttäuscht, einige Wochen bei den Tara­humara-Indianern in der Sierra Madre auf und beschäftigt sich mit altmexikanischer Kultur und deren Magie. 1937 schifft er sich ein paar Monate nach der Rückkehr aus Mexiko nach Irland ein. Dort widmet er sich mystischen Studien und der Astrologie. Unter dramatischen Umständen endet der Irland-Aufenthalt. Artaud wird in geistig verwirrtem Zustand für eine kurze Zeit inhaftiert und daraufhin ohne Geld aber im Glauben an die baldige Apokalypse nach Paris zurückgebracht. Dort wird er dann in wechselnden geschlossenen psy­ chiatrischen Kliniken untergebracht, weil er als Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit eingeschätzt wird. Artauds Abhängigkeit von verschiedenen Drogen nimmt stetig zu. Auch muss er sich ab 1942 wieder einer Behandlung mit Elektroschocks unterziehen. Zwischendurch ver­sucht er, literarisch zu arbeiten. Durch finanzielle Unterstützung von Freunden kann er 1946 aus der Anstalt von Rodez entlassen werden. Ein Jahr später gelingt es ihm im „Théâtre du Vieux-Colombier“ und später in einer Sendung des französischen Rundfunks nochmals, sein „Theater der Grausamkeit“ in Vorträgen darzustellen. Antonin Artaud stirbt am 4. März 1948 in der Klinik von Ivry. Er wird vom Gärtner am Fußende seines Bettes sitzend, mit einem Schuh in der Hand, tot aufgefunden. (Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Matthes & Seitz Berlin) Biografien / Interpreten Daniel Harding Graham Forbes Valentine studierte nach einem Abschluss in modernen Sprachen Schauspiel in Aberdeen und Zürich und an der École internationale de théâtre Jacques Lecoq in Paris. Engagements hatte er am Royal National Theatre London, Covent Garden, Teatro Real, Opéra Bastille, Burg­theater, Volksbühne Berlin, Staatsoper Berlin, Oper Stuttgart, Münchener Biennale, Vlaamse Opera, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Théâtre de la Colline Paris, Schauspielhaus Zürich und Theater Basel. Seit 1970 arbeitet er mit Christoph Marthaler zusammen, so in „Stunde Null“, „Pierrot Lunaire“, „Winch Only“, „Twen­tieth Century Blues“, „Meine Faire Dame“, „Isoldes Abendbrot“. Er trat bei Festspielen u.a. in Salzburg, Edinburgh, Avignon und auf der Ruhrtriennale und agiert als Sprecher / Sänger mit dem Ensemble intercontemporain, dem Klangforum Wien, der Scottish Opera, dem Freiburger Barockorchester und Hebrides Ensemble. Der 1975 in Oxford geborene Daniel Harding begann seine Laufbahn als Assistent von Sir Simon Rattle beim City of Birmingham Symphony Orchestra, mit dem er 1994 sein Debüt als Dirigent gab. Darauf arbeitete er mit Claudio Abbado bei den Berliner Philharmonikern zusammen, die er erstmals 1996 im Rahmen der Berliner Festwochen mit Werken von Berlioz, Brahms und Dvořák dirigierte. 1996 debütierte Harding auch als jüngster Dirigent der BBC Proms in London. Seither ist Daniel Harding mehrfach beim Musikfest Berlin zu Gast gewesen: Im Jahr 2010 dirigierte er das Eröffnungskonzert mit dem London Symphony Orchestra, 2014 mit dem Mahler Chamber Orchestra und 2015 mit dem Swedish Radio Symphony Orchestra. Daniel Harding ist musikalischer Leiter des Swedish Radio Symphony Orchestra und Erster Gastdirigent des London Symphony Orchestra. In Japan fungiert er zudem als musikalischer Partner der New Japan Philharmonic und als künstlerischer Leiter der Ohga Hall in Karuizawa. Zuvor bekleidete er Führungspositionen bei skandinavischen Symphonieorchestern in Trondheim und Norrköping und bei der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Eine besonders produktive künstlerische Zusammenarbeit verbindet Daniel Harding mit dem Mahler Chamber Orchestra, dessen Leitung er von 2003 bis 2011 innehatte und das ihn zu seinem Ehrendirigenten auf Lebenszeit ernannte. Seit 2005 ist Daniel Harding regelmäßiger Gast beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, zuletzt im Juli 2016 stand er beim großen Open Air Event „Klassik am Odeonsplatz“ am Pult. Auch sind aus dieser Zusammenarbeit zwei CD-Produktionen hervorgegangen: Arien deutscher Opern der Romantik und Robert 27 Graham Forbes Valentine 28 Biografien / Interpreten Schumanns Faust-Szenen, beide mit dem Bariton Christian Gerhaher. Daniel Harding steht als Gastdirigent regelmäßig am Pult führender Orchester in aller Welt. So gastierte er mehrfach mit der Dresdner Staatskapelle und mit den Wiener Philharmonikern bei den Salzburger Festspielen. Er dirigiert unter anderem die Münchener Philharmoniker, das Orchestre de Paris und die Berliner Philharmoniker. Als gefragter Operndirigent hat Daniel Harding in den letzten Jahren Vorstellungen an bedeutenden Häusern wie der Mailänder Scala, dem Royal Opera House, und der Wiener Staatsoper sowie bei erstrangigen Festivals geleitet. Daniel Harding hat eine eindrucksvolle Diskographie vorgelegt, die mit Aufnahmen von MozartOpern bis zu zeitgenössischer Musik seine künstlerische Vielseitigkeit widerspiegelt. Mehrere dieser Einspielungen wurden mit internationalen Preisen ausgezeichnet. Daniel Harding ist Mitglied der Königlich Schwedischen Musikakademie sowie Ritter des „Ordre des Arts et des Lettres.“ Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks Schon bald nach seiner Gründung 1949 durch Eugen Jochum entwickelte sich das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zu einem international hoch­ geschätzten Orchester, dessen Ruhm sich nicht zuletzt durch die intensive Reisetätigkeit schnell verbreitete. Den verschiedenen programmatischen Schwerpunkten der bisherigen Chefdirigenten sowie der großen Flexibilität und Stilsicherheit jedes einzelnen Musikers verdankt das Orchester sein außergewöhnlich breit gefächertes Repertoire und sein beeindruckendes Klang­spektrum. Besonders die Pflege der neuen Musik hat beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks lange Tradition, gehören die Auftritte im Rahmen der 1945 von Karl Amadeus Hartmann gegründeten musica viva doch von Beginn an zu den zentralen Aufgaben. Hier erlebte das Münchner Publikum legendäre Aufführungen zeitgenös­ sischer Werke, bei denen die Komponisten meist selbst am Pult des Orchesters standen, so etwa Igor Strawinsky, Darius ­Milhaud, Paul Hindemith, Pierre Boulez sowie in jüngerer Zeit Hans Werner Henze, Karlheinz Stockhausen, Mauricio Kagel, Luciano Berio, Peter Eötvös und Jörg Widmann. Als einziges deutsches Orchester hat das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks viele Jahre lang mit Leonard Bernstein zusammengearbeitet, dessen Einspielung von Wagners „Tristan und Isolde“ noch heute Maßstab setzend ist. Überhaupt haben viele renommierte Gastdirigenten, wie Clemens Krauss, Erich und Carlos Kleiber, Charles Münch, Ferenc F ­ ricsay, Otto Klemperer, Karl Böhm, Biografien / Interpreten orchester im Rahmen seines Jugendförderprogramms mit zahlreichen Aktivitäten dafür, dass Klassische Musik auch einer jüngeren Generation wieder nähergebracht wird. Die Geschichte des Symphonieorchesters verbindet sich auf das Engste mit den Namen der bisherigen Chefdirigenten, die immer zugleich auch Chefdirigent des Chores des Bayerischen Rundfunks sind. Eugen Jochum, der als erster Chefdirigent das Orchester aus Spitzenmusikern auf­ gebaut hat, begründete den weltweiten Ruf des Orchesters durch erste Auslands­ tour­neen. Ihm verdankte das Münchner Publikum unvergleichliche Interpretationen der Symphonien Anton Bruckners und der Werke der Wiener Klassik. Außerdem hat sich Eugen Jochum in besonderem Maß der geistlichen Musik angenommen, stand aber auch bei der musica viva regelmäßig am Pult. Rafael Kubelík, der das Orchester 18 Jahre lang leitete und ihm darüber hinaus noch bis 1985 als ständiger Gastdirigent verbunden blieb, erweiterte das Repertoire um Werke slawischer Komponisten, so von Smetana, Janáček und Dvořák, setzte sich bevorzugt für Komponisten des 20. Jahrhunderts wie z. B. Karl Amadeus Hartmann ein und dirigierte den ersten Mahler-Zyklus mit einem deutschen Orchester, der auf Schallplatte aufgenommen wurde. Als der bereits designierte Nachfolger Kyrill Kondraschin überraschend in Amsterdam starb, fand das Orchester in Sir Colin Davis einen neuen Chef – einen anerkannten Berlioz-Spezialisten, der sich zugleich als exzellenter Anwalt der Wiener Klassik sowie der Werke englischer Komponisten, insbesondere von Edward Elgar, Michael Tippett und Ralph Vaughan Williams, präsentierte. Als Chefdirigent verlangte Lorin Maazel von den Musikern des Symphonieorchesters 29 Günter Wand, Sir Georg Solti, Carlo Maria Giulini, Kurt Sanderling und Wolfgang Sawallisch das Symphonieorchester in der Vergangenheit nachhaltig geprägt. Heute sind Riccardo Muti, Bernard Haitink, Sir Simon Rattle, Esa-Pekka Salonen, Franz Welser-­Möst, Daniel Harding, Kent Nagano, Andris Nelsons und Yannick Nézet-Séguin wichtige Partner, die häufig in München am Pult stehen. Seit einigen Jahren verfolgt das Symphonieorchester neue Ansätze in der Interpretation Alter Musik und arbeitet regelmäßig mit Experten der Historischen Aufführungspraxis wie Sir John Eliot ­Gardiner, Giovanni Antonini und Thomas Hengelbrock zusammen. Neben zahlreichen Auftritten in München sowie in anderen Städten des Sendegebiets sind ausgedehnte Konzertreisen heute wichtiger Bestandteil des Orchesteralltags. Tourneen führen das Orchester in nahezu alle bedeutenden Musikzentren europäischer Länder, Asiens sowie Nord- und Südamerikas. Dabei gastiert es regelmäßig in der New Yorker Carnegie Hall und in den bedeutenden japanischen Musikzentren. Seit 2004 ist das Symphonieorchester zudem Orchestra in Residence bei den Osterfestspielen des Lucerne Festivals. Ein weiterer Aufgabenschwerpunkt ist die Förderung des musikalischen Nachwuchses. Im Rahmen des Internationalen Musikwettbewerbs der ARD begleitet das Symphonieorchester seit 1952 junge Musiker sowohl in den Finalrunden als auch im symphonischen Schlusskonzert der Preisträger. Im Oktober 2001 begann die Akademie des Symphonieorchesters ihre wertvolle pädagogische Arbeit, indem sie angehende Orchestermusiker auf ihren späteren Beruf vorbereitet und damit eine wichtige Brücke zwischen Ausbildung und professioneller Orchesterlaufbahn schlägt. Außerdem engagiert sich das Symphonie- 30 Biografien / Interpreten höchste technische Präzision und hob damit das Orchester nochmals auf eine neue Stufe musikalischer Perfektion und Brillanz. Programmatische Akzente setzte er durch die zyklische Aufführung der symphonischen Werke von Beethoven (1995 und 2000), Brahms (1998), Bruckner (1999) und Schubert (2001). Mit dem MahlerZyklus 2002 verabschiedete er sich von seinem Orchester. Ein neuer und für beide Seiten äußerst glücklicher Abschnitt in der Geschichte des Symphonieorchesters hat im Oktober 2003 begonnen, als Mariss Jansons, der gemeinsame Wunschkandidat aller Musiker, sein Amt als neuer Chefdirigent von Symphonieorchester und Chor des Bayerischen Rundfunks antrat. Innerhalb kürzester Zeit ist es ihm gelungen, eine Atmosphäre höchsten künstlerischen Anspruchs und enger emotionaler Verbundenheit zu schaffen. Mit zahlreichen CD-Veröffentlichungen, etwa einer Reihe von Live-Mitschnitten der Münchner Konzerte, führt Mariss Jansons die umfangreiche Diskographie des Orches­ters fort. Zur Komplettierung seines Schostakowitsch-Zyklus trug das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks die Symphonien Nr. 2, 3, 4, 12, 13 und 14 bei. Die Aufnahme der 13. Symphonie erhielt GRAMMY in der Kategorie Beste Orchesterdarbietung. Die Gesamteinspielung wurde mit dem Jahrespreis 2006 der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet. Seit 2009 veröffentlicht das Symphonieorchester herausragende Konzertmitschnitte ebenso wie ausgesuchte historische Aufnahmen beim neu gegründeten Label des Bayerischen Rundfunks: BR-KLASSIK. 2008 kam das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks beim Orchesterranking der britischen Fachzeitschrift „Gramophone“, für das international renommierte Musikkritiker nach „The world’s greatest orchestras“ befragt wurden, auf Platz sechs. Damit ist es das einzige Rundfunkorchester, das es unter die besten 20 Orchester der Welt geschafft hat. Das japanische Musikmagazin „Mostly Classic“ wählte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks bei seiner Umfrage in 2010 auf den 4. Platz. Im August 2013 wurde die Aufnahme der 9. Symphonie von Antonín Dvořák „Aus der Neuen Welt“ mit dem Preis der Deutschen Schallplatten­kritik ausgezeichnet. Die Einspielung der 9. Symphonie von Gustav Mahler, dirigiert von Bernard Haitink, erhielt im gleichen Monat den ECHO Klassik. 2017 DORNRÖSCHEN Sonntag, 22. Januar SCHWANENSEE Sonntag, 5. Februar A CONTEMPORARY EVENING Sonntag, 19. März EIN HELD UNSERER ZEIT Sonntag, 9. April 2016 DAS GOLDENE ZEITALTER Sonntag, 16. Oktober im Delphi Filmpalast und Filmtheater am Friedrichshain DER HELLE BACH Sonntag, 06. November DER NUSSKNACKER Sonntag, 18. Dezember YORCK.DE 128 DAS MAGAZIN DER BERLINER PHILHARMONIKER ABO ✆ BESTELLEN SIE JETZ T! Te l e f o n: 040 / 468 605 117 @ E - M a i l: [email protected] O n l i n e: www.berliner-philharmoniker.de/128 RBB-ONLINE.DE DAS VOLLE PROGRAMM KULTUR STILBRUCH DONNERSTAGS, 22:15 UHR LESEANREGUNG In neue Richtungen denken CICERO Illustration: Martin Haake n probelese Das Magazin für ungezähmte Gedanken. Mit Essays, Reportagen und Bildern, die den Horizont erweitern. Jeden Monat neu am Kiosk oder unter shop.cicero.de probelesen. Das Musikfest Berlin 2016 im Radio und Internet 36 Deutschlandradio Kultur Die Sendetermine Sa 3.9. 19:05 Uhr Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks Live-Übertragung Mi 7.9. 20:03 Uhr „Quartett der Kritiker“ Aufzeichnung vom 6.9. Do 8.9. 20:03 Uhr Münchner Philharmoniker Aufzeichnung vom 6.9. So 11.9. 20:03 Uhr Deutsches Symphonie-Orchester Berlin Live-Übertragung Mi 14.9. 20:03 Uhr F. Busoni zum 150. Geburtstag: GrauSchumacher Piano Duo Aufzeichnung vom Do 15.9. 20:03 Uhr Berliner Philharmoniker Live-Übertragung Fr 16.9. 20:03 Uhr Bayerisches Staatsorchester Aufzeichnung vom 14.9. Sa 17.9. 21:30 Uhr Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin „Die besondere Aufnahme“ Aufzeichnung vom 16.9. Di 20.9. 20:03 Uhr Staatskapelle Berlin Live-Übertragung Do 22.9. 20:03 Uhr Junge Deutsche Philharmonie Aufzeichnung vom 11.9. Di 27.9. 20:03 Uhr IPPNW-Benefizkonzert Aufzeichnung vom 10.9. Di 4.10. 20:03 Uhr Hommage à Pierre Boulez Pierre-Laurent Aimard Tamara Stefanovich Aufzeichnung vom 12.9. Deutschlandradio Kultur ist in Berlin über 89,6 MHz, Kabel 97,50, digital und über Livestream auf www.dradio.de zu empfangen. Neu beim Musikfest Berlin Ausgewählte Einführungsveranstaltungen finden Sie zum Nachhören auf: www.berlinerfestspiele.de/einfuehrungen 4.9. kulturradio vom rbb Die Sendetermine Do 8.9. 20:04 Uhr Konzerthausorchester Berlin Live-Übertragung im Rahmen des ARD Radiofestival Do 8.9. 20:04 Uhr Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin Aufzeichnung vom in Ausschnitten im Anschluss an die Live-Übertragung des Konzerthausorchesters Berlin vom 7.9. 8.9. So 25.9. 20:04 Uhr Berliner Philharmoniker „Berliner Philharmoniker“ Aufzeichnung vom 9.9. Sa 1.10. 20:04 Uhr Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin „Konzert am Samstagabend“ Aufzeichnung vom 7.9. Sa 15.10. 18:04 Uhr Hommage à Artur Schnabel Szymanowski Quartett Aufzeichnung vom 11.9. 37 kulturradio vom rbb ist in Berlin über 92,4 MHz, Kabel 95,35, digital und über Livestream auf www.kulturradio.de zu empfangen. Digital Concert Hall Die Sendetermine Sa 3.9. 19:00 Uhr Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks Digital Concert Hall Live-Übertragung So 4.9. 19:00 Uhr The John Wilson Orchestra Digital Concert Hall Live-Übertragung Di 6.9. 20:00 Uhr Münchner Philharmoniker Digital Concert Hall Live-Übertragung Do 8.9. 20:00 Uhr Konzerthausorchester Berlin Digital Concert Hall Live-Übertragung Sa 10.9. 19:00 Uhr Berliner Philharmoniker Digital Concert Hall Live-Übertragung So 11.9. 11:00 Uhr Junge Deutsche Philharmonie Digital Concert Hall Live-Übertragung Di 13.9. 20:00 Uhr Orquesta Sinfónica Simón Bolívar de Venezuela Digital Concert Hall Live-Übertragung Mi 14.9. 20:00 Uhr Bayerisches Staatsorchester Digital Concert Hall Live-Übertragung Sa 17.9. 19:00 Uhr Berliner Philharmoniker Digital Concert Hall Live-Übertragung www.digitalconcerthall.com Veranstaltungsübersicht 2.9. 19:00 Kammermusiksaal GrauSchumacher Piano Duo Fr 2.9. 21:30 Kammermusiksaal Isabelle Faust Sa 3.9. 19:00 Eröffnungskonzert Philharmonie Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks Daniel Harding So 4.9. 11:00 Kammermusiksaal F. Busoni zum 150. Geburtstag: GrauSchumacher Piano Duo So 4.9 13:00 Kunstbibliothek am Kulturforum Ausstellungseröffnung „BUSONI: Freiheit für die Tonkunst!” So 4.9 19:00 Philharmonie The John Wilson Orchestra John Wilson Mo 5.9. 19:00 21:30 Kammermusiksaal The Danish String Quartet Late Night: Folk Tunes Di 6.9. 18:00 Ausstellungsfoyer des Kammermusiksaals „Quartett der Kritiker“ Di 6.9. 20:00 Philharmonie Münchner Philharmoniker Valery Gergiev Mi 7.9. 20:00 Philharmonie Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin Donald Runnicles Do 8.9. 20:00 Philharmonie Konzerthausorchester Berlin Iván Fischer Fr 9.9. 20:00 Haus der Berliner Festspiele Ensemble intercontemporain Matthias Pintscher Fr Sa 9.9. 10.9. 20:00: 19:00 Philharmonie Berliner Philharmoniker Andris Nelsons Sa 10.9. 20:00 Kammermusiksaal IPPNW-Benefizkonzert 38 Fr 11.9. 11:00 Philharmonie Junge Deutsche Philharmonie Jonathan Nott So 11.9. 17:00 Haus des Rundfunks Hommage à Artur Schnabel So 11.9. 20:00 Philharmonie Deutsches Symphonie-Orchester Berlin Jakub Hrůša Mo 12.9. 19:00 Kammermusiksaal Hommage à Pierre Boulez: Pierre-Laurent Aimard Tamara Stefanovich Di 13.9. 20:00 Philharmonie Orquesta Sinfónica Simón Bolívar de Venezuela Gustavo Dudamel Mi 14.9. 20:00 Philharmonie Bayerisches Staatsorchester Kirill Petrenko Do Fr Sa 15.9. 16.9. 17.9. 20:00 20:00 19:00 Philharmonie Berliner Philharmoniker John Adams Fr 16.9. 18:30 Konzerthaus Berlin Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin Rundfunkchor Berlin Frank Strobel Sa 17.9. 19:00 Kammermusiksaal Tabea Zimmermann & Ensemble Resonanz So 18.9. 20:00 Haus der Berliner Festspiele Varèse & Zappa: Ensemble Musikfabrik Mo Di 19.9. 20.9. 20:00 20:00 Philharmonie Staatskapelle Berlin Daniel Barenboim 39 So Impressum Musikfest Berlin Veranstaltet von den Berliner Festspielen in Zusammenarbeit mit der Stiftung Berliner Philharmoniker Künstlerischer Leiter: Dr. Winrich Hopp Organisation: Anke Buckentin (Ltg.), Kathrin Müller, Thalia Hertel, Ina Steffan Presse: Patricia Hofmann, Jennifer Wilkens 40 Programmheft Herausgeber: Berliner Festspiele Redaktion: Dr. Barbara Barthelmes Mitarbeit: Anke Buckentin Komponistenbiografien: Dr. Volker Rülke Gestaltung: Ta-Trung, Berlin Grafik: Christine Berkenhoff und Fleck · Zimmermann | Visuelle Kommunikation, Berlin Herstellung: enka-druck GmbH, Berlin Stand: August 2016. Programm- und Besetzungsänderungen vorbehalten. Copyright: 2016 Berliner Festspiele, Autoren und Fotografen Berliner Festspiele Ein Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen des Bundes GmbH Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien In Zusammenarbeit mit der Stiftung Berliner Philharmoniker Intendant: Dr. Thomas Oberender Kaufmännische Geschäftsführerin: Charlotte Sieben Presse: Claudia Nola (Ltg.), Sara Franke, Patricia Hofmann, Jennifer Wilkens Redaktion: Christina Tilmann (Ltg.), Dr. Barbara Barthelmes, Jochen Werner, Anne Philipps Krug Internet: Frank Giesker, Jan Köhler Marketing: Stefan Wollmann (Ltg.), Gerlind Fichte, Christian Kawalla Grafik: Christine Berkenhoff Vertrieb: Uwe Krey, Florian Schinagl Ticket Office: Ingo Franke (Ltg.), Simone Erlein, Frano Ivic, Gabriele Mielke, Marika Recknagel, Torsten Sommer, Alexa Stümpke Hotelbüro: Heinz Bernd Kleinpaß (Ltg.), Frauke Nissen Protokoll: Gerhild Heyder Technik: Andreas Weidmann (Ltg.) 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