Kommunalunternehmen Kliniken und Heime des BEZIRKS OBERFRANKEN BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Haus Immanuel in Hutschdorf Prof. Dr. med. Dr. h. c. Manfred Wolfersdorf, Facharzt für Psychiatrie – Psychotherapie -, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Bayreuth, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Leiter Abteilung Depressionszentrum/Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 1 Suizidalität * Definition Suizidalität ist die Summe aller Denk- und Verhaltensweisen von Menschen oder Gruppen von Menschen, die in Gedanken, durch aktives Handeln, Handelnlassen oder passives Unterlassen den eigenen Tod anstreben bzw. als möglichen Ausgang einer Handlung in Kauf nehmen BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 2 Suizidalität: Begriffsbestimmung (nach Wolfersdorf 1996, 2000) Suizidalität ist grundsätzlich allen Menschen möglich, tritt jedoch häufig in psychosozialen Krisen und bei psychischer Erkrankung auf (medizinisch-psychosoziales Paradigma) Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 3 Todesursachen in Deutschland 2005 • Illegale Drogen [Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung] • Mord und Totschlag [Bundeskriminalamt] • Verkehrsunfälle [Statistisches Bundesamt] • AIDS [Robert Koch Institut] • Suizid [Statistisches Bundesamt] BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Anzahl Verstorbene 1 326 869 5 458 8 373 720 10 260 Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 4 Gesundheitspolitische u. ä. Aktivitäten zum Thema Suizidalität/ Suizidprävention Nationales Suizidpräventions-programm (NASPRO) für Deutschland (seit 2003) „Greenbook“ der EU-Kommission für Gesundheit (Oktober 2005) „Gesundheitsziele.de AG Depression“ des Bundesministerium für Gesundheit (seit 2004) S3/NV-Leitlinie „Unipolare Depression“ der verschiedenen Psych-Gesellschaften unter Leitung der AWMF/ÄZQ BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 5 Beschreibung von Suizidalität. Kontinuitäts-Annahme mit Handlungskonsequenzen: zunehmende „sichernde Fürsorge“ Eigenverantwortung Fremdverantwortung Wunsch nach Ruhe, Pause Unterbrechung im Leben (mit dem Risiko von Versterben) eher passive Suizidalität Todeswunsch (jetzt oder in einer unveränderten Zukunft lieber tot sein zu wollen) Suizidgedanke - Erwägung als Möglichkeit - Impuls (spontan sich aufdrängend, zwanghaft) Zunehmender Handlungsdruck, Zunahme des Handlungsrisikos Suizidabsicht - mit bzw. ohne Plan - mit bzw. ohne Ankündigung Suizidhandlung - vorbereiteter Suizidversuch, begonnen und abgebrochen (Selbst- und Fremdeinfluss) - durchgeführt (selbst gemeldet, gefunden) - gezielt geplant, impulshaft durchgeführt BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 eher aktive Suizidalität 6 Tabelle 1 Suizidraten in Deutschland seit 1893 nach Geschlecht Jahr Männer Frauen Jahr Männer Frauen 1893 1895 1900 1905 1910 1915 1920 1925 1930 1935 1940 1945 1946 33,6 32,5 32,6 33,4 33,2 22,7 29,3 36,4 40,6 40,7 keine Zahlen vorhanden 31,8 8,3 8,4 8,5 9,5 10,3 10,7 14,6 13,3 15,7 15,7 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2007 30,0 28,4 30,1 29,9 31,1 31,4 31,7 32,4 24,7 23,2 20,2 18,6 17,4 15,1 15,3 16,2 16,3 16,7 17,6 16,3 14,3 10,6 8,7 6,9 6,5 5,7 15,4 [aktuell kommen auf 1 Frauensuizid 3 Mä Männersuizide] BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 7 Tabelle 2: Suizidzahlen und –raten 1990 – 2007 in Deutschland [nach Statistisches Bundesamt, Todesursachenstatistik. (ZwSt.Bonn), 2007] Jahr Anzahl gesamt m w 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 13 924 14 011 13 458 12 690 12 718 12 888 12 225 12 265 11 644 11 157 11 065 11 156 11 163 11 150 10 733 10 260 9 765 9 402 9 534 9 656 9 326 8 960 9 130 9 222 8 782 8 841 8 575 8 080 8 131 8 188 8 106 8 179 7 939 7 523 7 225 7 009 4 390 4 355 4 132 3 730 3 588 3 666 3 497 3 424 3 069 3 077 2 934 2 968 3 057 2 971 2 794 2 737 2 540 2 393 Raten auf 100 000 EW gesamt m 17,5 17,5 16,7 15,6 15,6 15,7 15,0 14,9 14,2 13,6 13,5 13,5 13,5 13,5 13,0 12,4 11,9 11,4 BEZIRKSKRANKENHAUS [bis einschließlich 1997 nach ICD-9 (E 950 – 959), ab 1998 nach ICD-10 (X60 – X84)] BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 24,9 25,0 23,9 22,7 23,1 23,0 21,9 22,1 21,4 20,2 20,3 20,4 20,1 20,3 19,7 18,6 17,9 17,4 w 10,7 10,5 9,9 8,9 8,6 8,7 8,3 8,1 7,3 7,3 7,0 7,0 7,2 7,0 6,6 6,5 6,0 5,7 8 Präsuizidales Syndrom (nach Ringel) Zunehmende Einengung • Situative Einengung • Dynamische Einengung (einseitige Ausrichtung von Apperzeption, Assoziation, Verhaltensmustern und Abwehrmechanismen) • Einengung der zwischenmenschlichen Beziehungen Aggressionsstauung und Aggressionsumkehr • Fehlende Aggressionsabfuhr und Wendung der Aggression gegen die eigene Person Suizidphantasien • Aktiv intendiert • Passiv sich aufdrängend BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 9 Grafik nach Pöldinger BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 10 Krisenmodell wird Verwendet im psychotherapeutischen und psychosozialen Therapie und Beratungsfeld BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 11 BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 12 Gruppen mit erhöhtem Risiko für suizidales Verhalten 1. Menschen mit psychischen Erkrankungen Depressive (primäre Depression, depressive Zustände, reaktive Depression) Suchtkranke (Alkoholkrankheit, illegale Drogen) Schizophrenie (in stat. Behandlung, Rehabilitation) Angststörungen Persönlichkeitsstörungen insbesondere vom emotional instabilen Typus 2. Menschen mit bereits vorliegender Suizidalität Suizidankündigungen (Appell in der Ambivalenz); Suizidale Krise nach Suizidversuch (10 % Rezidiv mit Suizid) 3. Alte Menschen mit Vereinsamung, mit schmerzhaften, chronischen einschränkenden Krankheiten, nach Verwitwung mit psychischer und körperlicher Erkrankung (Komorbidität) 4. Junge Erwachsene, Jugendliche mit Entwicklungskrisen, Beziehungskrisen (innerer Vereinsamung) Drogenproblemen Familiären Problemen, Ausbildungsproblemen 5. Menschen in traumatisierten Situationen und Veränderungskrisen Beziehungskrisen, Partnerverlust, Kränkungen Verlust des sozialen, kulturellen, politischen Lebensraumes Identitätskrisen chronische Arbeitslosigkeit Kriminalität, Z. n. Verkehrsdelikt (z. B. mit Verletzung, Tötung eines Anderen) 6. Menschen mit schmerzhaften, chronischen, lebenseinschränkenden, verstümmelnden, körperlichen Erkrankungen, insbesondere des Bewegungs- und zentralnervösen Systems, terminale Erkrankungen mit Siechtum und extremer Pflegebedürftigkeit BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 13 BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 14 „Major risk factors for suicide“ [nach Bertolote 2004, Forster and Wu 2002] Feststehende Möglicherweise Risikofaktoren änderbare Faktoren * Geschlecht * Zugang zu Suizidmethoden * Alter * psychische Störung * Ethnische Zugehörigkeit * körperliche Krankheit * Sexuelle Orientierung * soziale Isolation * frühere Suizidversuche * Arbeitssituation * Angstzustand * Hoffnungslosigkeit * Lebenszufriedenheit [aus: Bertolote JM. Suicide prevention: at what level does it work? World Psychiatry 2004; 3: 147 – 151] BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 15 Faktoren die protektiv gegen Suizid wirken • Kinder zu Hause1 • Gefühl der Verantwortlichkeit für die Familie2 • Schwangerschaft • Religiosität • Lebenszufriedenheit • Fähigkeit zur Realitätsüberprüfung2 • Positive Bewältigungsstrategien2 • Positive Problemlösungsstrategien2 • Positive soziale Unterstützung • Positive therapeutische Beziehung2 1 mit Ausnahme bei Patienten mit Postpartum-Psychose oder affektiver Erkrankung 2 Assoziation mit einer reduzierten Suizidrate basiert eher auf klinischer Erfahrung, weniger auf Forschungsdaten [American Psychiatric Association: Practice Guideline for the Assessment and Treatment of Patients with Suicidal Behaviours. Am J Psychiatry 2003; 160 (11) (suppl.): 1 – 60 (übersetzt Wolfersdorf 2004) BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 16 Suizidprävention * Grundprinzipien • Suizidprävention ist Verhütung der Umsetzung von Suizidideen in Suizidabsicht und aktuelle Suizidhandlung • Suizidprävention ist Zeitgewinn für optimale Therapie und Fürsorge • Suizidprävention ist Minderung von aktuellem Leidensdruck, von Handlungsdruck und von Hoffnungslosigkeit. Ziel ist, der Suizident verzichtet (vorerst) auf suizidale Handlung ( Wolfersdorf 2000) BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 17 Suizidprävention wichtige Aspekte für den Alltag • Wissen wer könnte gefährdet sein, wer ist gefährdet • Wissen wer kann helfen • Wissen um die notwendigen präsuizidalen Abläufe • Wissen um die Not der Hinterbliebenen nach einem Suizid BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 18 Ebenen der Suizidprävention - nationale/internationale Ebene • Definition von allgemeinen High-risk-group für Suizidalität (z. B. psychische Erkrankung: Depression; alte Menschen) (WHO), EU Grünbuch (Suizidprävention neben Prävention von Drogenmissbrauch und Depressionserkrankungen) Präventionsprogramm • Nationale Suizidpräventionsprogramme (z. B. Awareness-Programme, Interventionsprogramme), in Deutschland Nationales Suizidpräventionsprogramm (NaSPro), Einbeziehung aller mit Menschen in suizidalen Krisen befassten Einrichtungen • Suizidpräventionsprogramme i. R. anderer gesundheitspolitischer Aktivitäten (z. B. Leitlinienentwicklung, spezifische Gesundheitsprogramme: gesundheitsziele.de AG Depression, u. a.), Förderung spezifisch suizidpräventiver und Kriseninterventions-Einrichtungen • Aktivitäten nationaler und internationaler Gesellschaften/Vereine zur Suizidprävention,z. B. Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention – Hilfe in Lebenskrisen e. V. (DGS), Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung suizidalen Verhaltens/DGS, Internationale Gesellschaft für Suizidprävention e. V. (IASP), International Academy for Suicide Research e. V. (IASR), Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN): Referat Suizidologie • Fachlich wissenschaftliche und versorgungspolitische Programme: z. B. Kompetenznetz Depression/Suizidalität • Reduktion von Suizidmethoden bzw. Erschweren des Zuganges dazu (Waffengesetze, Haus- und Autogasentgiftung, Zugang zu Brücken, Hochhäusern, Bahnstrecken) • Medienarbeit (z. B. Berichterstattung in Medien entschärfen, Vermeidung von Nachahmung) BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 19 Ebenen der Suizidprävention – personenbezogene Ebene • Identifikation erhöht suizidgefährdeter Personen und Gruppen (z. B. depressiv Kranke, alte Männer, Menschen nach Suizidversuch) • Definition allgemeiner Risikogruppen (z. B. psychisch Kranke, Menschen in Krisen, Menschen nach Suizidversuch, Menschen in besonderen Lebenssituationen: Migration, Arbeitslose, Homophile, u. a.) • Awareness-Programme zum Erkennen und Behandeln von Risikogruppen • Verbesserung des Erkennens von Suizidalität in der hausärztlichen, fachärztlichen, psychologischen und sozialpädagogischen sowie theologischen Versorgung Weiterbildung von sog. Krisenteam (z. B. BRK, Notfallseelsorge) • Erarbeitung von Empfehlungen der Diagnostik, des Managements von Suizidalität • Erarbeitung der Prinzipien von Suizidprävention/Krisenintervention (z. B. Psychotherapie, Psychopharmakotherapie, fürsorgliche Sicherung und Kontrolle, ambulante und stationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung) • Verbesserung der Langzeitbehandlung (Psychotherapie, Prophylaxe) bei Suizidalität bzw. psychischer Krankheit und Suizidalität BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 20 Suizidalität und Erstkontakt - Was muss am Ende eines Erstkontaktes / Gesprächs geklärt sein? Diagnostisch? • Hat Patient Suizidideen / Todeswünsche oder Suizidabsichten? • Hat er einen hohen Handlungsdruck, Suizidideen in eine suizidale Handlung umzusetzen oder nicht? • Hat er Hoffnung auf Hilfe / Veränderung jetzt und entlastet das Gespräch / der Kontakt ihn? • Planungen für die nächste Zukunft? Realistisch? • Kann er bzw. hat er akute Suizidabsichten „auf später aufgeschoben“, d. h. ist aus Entschluss wieder Ambivalenz und Inanspruchnahme von Hilfe geworden? • Verleugnet der Patient trotz Ansprechens, trotz anders lautender Information Suizidalität? • Scheint er „glaubwürdig“, ist er „offen“? • Ist Patient überhaupt geschäftsfähig? • Hat er psychopathologisch suizidfördernde Symptome, z. B. Wahn, Halluzination, altruistische Ideen o. ä? BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 21 Grundzüge der Suizidprävention Beziehung * * * Zeit, Raum, Akzeptanz, Verständnis als Notsignal „Sicherung durch Beziehung“ Diagnostik * * * * Art von Suizidalität, Handlungsdruck psychische Störung/ Krise Psychopathologie Belastungs-, Konfliktfaktoren BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 22 Grundzüge der Suizidprävention (2) Fürsorge * * * * ambulant, stationär Notfall, längerfristige Therapieplanung Angehörige „Kommunikation und Kontrolle“ Therapie * * Psychotherapeutische Krisenintervention Psychopharmaka (+ Anxiolytikum und/oder Hypnotikum) Psychotherapie Soziotherapie Behandlung der Grundkrankheit * * * BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 23 Was gehört zu jeder Einschätzung aktueller Suizidalität? 1) Fragen nach Suizidalität: Konkret nach Todeswünschen; Suizidideen; Suizidabsichten; einschießende Suizidimpulse 2) Handlungsdruck, Handlungsdruck dabei Äußerung diesen kontrollieren zu können oder Angst vor Kontrollverlust 3) Hoffnung oder Hoffnungslosigkeit vorhanden 4) Will Hilfe oder „man kann mir sowieso nicht helfen“ 5) Kann Patient auf Umsetzung aktueller Suizidideen für Therapie/Hilfe verzichten? 6) Risikopsychopathologie für erhöhtes Suizidrisiko vorhanden? BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 24 Tabelle : ESEMED (European Study on the Epidemiology of Mental Disorders) (Bernal et al. 2007) ESEMED-Studie: Prävalenz von Suizidideen und –versuchen in der Allgemeinbevölkerung in Europa (Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, Niederlande, Spanien) CIDI bei n = 21 425 Personen Lifetimeprevalence of suicide ideations of suicide attempts 7,8% 1,3% lifetime lifetime Weibliches Geschlecht, jüngeres Alter, geschieden oder verwitwet war assoziiert mit höherer Prävalenz (SI, SV) Psychische Erkrankung BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Rate ratio Major depressive Episode 2.9 SI lifetime 4.8 SV lifetime Dysthymia 2.0 SI 1.6 SI lifetime Generalisierte Angsterkrankung 1.8 SI 2.3 SV lifetime PSTD 1.9 SI 2.0 SI lifetime Alkoholabhängigkeit 1.7 SI 2.5 SI lifetime Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 25 Tabelle : Suizidalität bei Suchtkranken * ausgewählte Beispiele • Battegay (1965) Basel suizidale Handlungen bei 21% der Alkoholkranken und 50% der Toxikomanen • Schmidtobreick (1976) Deutschland Untersuchungen in Sucht-Fachambulanzender Caritas (70 Amb) 1976 (n = 11 887) Suizidrate = 560 • Feuerlein (1982) Deutschland 6% - 21% der Alkoholkranken sterben durch Suizid • Molnar, Berkman & Buka (2001) (US NCS) Alkohol- und Drogenmissbrauch haben ein 6,2-fach erhöhtes Suizidrisiko gegenüber Allgemeinbevölkerung • Brent et al. (1988) USA 60% - 70% aller Suizide in USA von Adoleszenten und jungen Erwachsenen, hatten einen Substanzgebrauch • Appeley et al. (1999) in Europa 30% - 40% • Serpi et al. (2005) (6 Staten USA, NVDRS) 7 227 Suizide 2003; bei den positiv auf Substanzen gestesteten: 33,3% Alkohol, 16,4% Opiate, 9,4% Kokain, 7,7% Marihuana, 3,9% Amphetamine BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 26 Tabelle : Suizid / Suizidversuch und Alkohol • Ohberg et al. (1996) Finnland * 20% - 50% aller durch Suizid Verstorbenen wiesen Alkohol auf • Suokas & Lönnqvist Finnland * 62% aller Menschen mit Suizidversuch hatten vorher gleichzeitig Alkohol getrunken • Wolfersdorf & Mäulen (1985) * 30% aller Suizidenten in Autopsiestudien weisen eine Alkoholerkrankung (Missbrauch, Abhängigkeit auf) BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 27 Tabelle : Alkohol und Suizid • Inskip, Harris & Barraclough (1998) * Lebenszeitsuizidrisiko für Alkoholabhängigkeit = 7% • Pirkola et al. (2000) * bei Suiziden Prävalenz von Alkoholkrankheit = 20% - 56% • Schuckit (1986), Whitters et al. (1985) * erhöhtes Suizidversuchsrisiko bei Alkoholkranken: 17% - 29% weisen Suizidversuche auf Der Zusammenhang zwischen Alkoholgebrauch und Suizidalität, sowohl bei alkoholabhängigen wie auch bei nicht-alkoholabhängigen Menschen ist bekannt BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 28 Tabelle : Andere Suchtmittel außer Alkohol und Suizidalität (Misra et al. 2009) • Cannabis/Marihuana • Beautrais et al. (1999): 16,2% von 302 SV mit Cannabis versus 1,9% bei 1028 Kontrollen (nicht sig.!) • Schulstudien (Frankreich, Schweden) zeigen, dass jugendliche User später eine erhöhte Rate (2.5 – 2.9, odds ratio) von Suizidideen und –versuchen haben • Kokain • Marzuk et al. (1992): 1 von 5 Suiziden in New York, 21 – 30 Jahre alt, war positiv • Darke & kaye (2004): 31% Kokain-User ein Suizidversuch, 18% mehrere; die „injecting cocaine user“ sig. häufiger und gewalttätiger • Garlow et al. (2003): 777 Pat. Mit Substanzabhängigkeit in einem psychiatric emergency room: 43,7% der „only cocaine“Suizidideen, 38% der „cocaine and alcohol“, 24,3% der nur Alkoholkranken • Heroin/andere Opiate • O´Doherty & Farrington (1997): 3- 35% versterben durch Suizid 34% der Heroinabhängigen haben Suizidversuche in der Vorgeschichte Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 29 Tabelle : Beziehung Suchtmittel und Suizidalität Eine oftmals unklare Beziehung wegen • Substanzgebrauch (z. B. Alkohol) bei suizidalen Handlungen (z. B. Erhängen alkoholisiert) • Schädlicher Gebrauch von Alkohol u. a. als eigentherapeutischer Versuch in der aktuellen Vorgeschichte vor Suizid • Substanzgebrauch (z. B. Alkohol, Drogen) als führende Suizidmethode • Komorbidität Abhängigkeitserkrankung und depressive Erkrankung mit Suizidalität • Suizidförderung durch Alkohol- oder Benzodiazepingebrauch bei Impulskontrollverlust • Anhaltende Suchterkrankung mit sozialen Folgen und reaktiver/situtativer Suizidalität Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 30 Tabelle : Beziehung Substanzgebrauch und Suizidalität * Was ist bekannt • Ein erhöhtes Risiko für suizidales Verhalten liegt bei Substanzgebrauch, Substanzmissbrauch und –abhängigkeit vor. • Substanzgebrauch, auch bei fehlender Missbrauchs- bzw. Abhängigkeitserkrankung, ist ein signifikanter Risikofaktor für impulshafte suizidale Handlungen bei Menschen mit Suizidideen (Borges, Walter & Kessler 2000) • Die Ergebnisse zu erhöhtem Suizidrisiko durch Alkohol sind eindeutige als die bei anderen Suchtmitteln. Kokain/Crack-Gebrauch war bei Adoleszenten in North Carolina, USA, enger assoziiert als mit Alkohol, Marihuana oder „needle drings“ (Felts, Chenier & Barnes 1992) • Je höher der Alkoholgebrauch, desto höher die regionale Suizidrate (Stack 2000). Positive und signifikante Beziehung zwischen „per capita alcohol consumption and male suicide rates“ (Misra, Sabharwal (Kumar 2009) in Dänemark (Skog 1993), Frankreich (Norström 1995), Norwegen (Rossow 1993), Portugal (Skog et al. 1995). Auch für ehemalige UdSSR belegt (Wasserman et al. 1998) • Suizide sollen bei Alkoholkranken häufiger in späteren Stadien der Erkrankung zu finden sein (Robins & Murphy); ein Delir soll die Häufigkeit von suizidalen Verhalten erhöhen, ebenso eine Alkoholintoxikation Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 31 Tabelle : Klassifikationen von Suiziden nach Hankoff und Einsidler (1979) mit besonderer Berücksichtigung des „chronischen“ Suizides 1. Chronischer Suizid durch exzessives Benutzen von Drogen, Alkohol, multiplen chirurgischen Eingriffen usw. [„anhaltende Selbstzerstörung“] 2. Chronischer Suizid durch Vernachlässigung [„Noncompliance“], wobei das Opfer die Realität ignoriert 3. Subintentionaler Suizid (der nicht ganz beabsichtigte Suizid): Das Opfer beteiligt sich an vielen lebensgefährlichen Aktivitäten, verneint zwar die Suizidabsicht, man erkennt jedoch die Dynamik 4. Vollzogene Suizide [Hankoff LD, Einsidler B. Suicide. PSG Publihing, Littleton 1979; zit. Nach Gross J. Der protrahierte Suizid. In: Rimer C (Hrsg.). Suizid. Springer, Berlin 1982: 39 – 42] Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 32 Tabelle : Sucht und Suizidalität * zur Pathogenese (Feuerlein 1982) • Zwei gegensätzlich erscheinende Hypothesen zur Entstehung (nach Rushing 1968) • Common cause theory • • Sucht und Suizidhandlungen sind die Funktionen gemeinsamer zugrundeliegender Faktoren Processual cause interpretation • Sucht führt durch ihre spezifische Problematik vermehrt zu Suizidhandlungen [Feuerlein W. Sucht und Suizid. In: Reimer (Hrsg.). Suizid. Ergebnisse und Therapie. Springer, Berlin Heidelberg New York 1982: 43 – 50; Rushing WH. Alcoholism and suicide rates by status set and occupation. J Stud Alcohol 1968; 29: 399 – 412] Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 33 Tabelle : Biologische, psychologische und sozioökonomische Faktoren bei Sucht und suizidalem Verhalten (Misra et al. 2009, modifiziert) (1) • Neurobiochemische Faktoren Zusammenfassend: Alkohol beeinflusst die serotonergen Neuronen und verursacht im präfrontalen Cortex des Gehirns eine Reduktion der Serotonintransporterfunktionen. Niedrige 5HIAA-Spiegel im Liquor werden mit Suizidalität, aber auch mit Impulsivität und Aggression in Verbindung gebracht. Persönlichkeitsfaktoren wie Impulsivität und Aggression sind assoziiert mit Suchterkrankungen • Psychosoziale Faktoren/Negative Lebensereignisse Belastungsfaktoren bei Suizidalität: Beziehungsprobleme (Familie, Ehe), Abbruch einer signifikanten Beziehung, finanzielle Probleme [Anmerkung: Diese anhaltenden bzw. akuten Belastungsfaktoren finden sich üblicherweise auch bei Suchtkranken und fördern süchtiges Verhalten] Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 34 Tabelle : Biologische, psychologische und sozioökonomische Faktoren bei Sucht und suizidalem Verhalten (Misra et al. 2009, modifiziert) (2) • Psychologische/Faktoren als Sucht und Suizidalität vermittelnde Faktoren • Impulsivität [Problem: hohe neurovegetative Erregungslevel verführen zu Suchtmittelgebrauch, anderseits erhöhen sie Impulsivität, senken die Kontrolle und führen zu Kontrollverlust, fördern Suizidalität] • Aggressivität als suizidfördernde Eigenschaft • Kognitive Rigidität als suizidförderner Faktor, kognitive Flexibilität ist negativ korreliert mit Substanzgebrauch (insb. Bei Alkohol, weniger bei Amphetaminoder Heroingebrauch; Ornstein et al. 2000) • Unfähigkeit zur Problemlösung bei suizidalen sowie suchtkranken Menschen • Psychiatrische Komorbidität Jede Form von psychiatrischer Komorbidität erhöht bei Suchtkranken das Suizidrisiko: • Depression • Bipolare affektive Erkrankung • Persönlichkeitserkrankung • Essstörung Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 35 Tabelle : Was haben Sucht und Suizidalität gemeinsam? • Beides, süchtiges wie suizidales Verhalten, sind wie Sexualität und Spiritualität ureigene menschliche Möglichkeiten, mit sich (und/oder anderen) um zu gehen • Beides sind Mittel der Lebensgestaltung: Alkohol/Drogen als Genussmittel oder als Mittel, sich aus der Welt zu nehmen/Suizidalität als Frage, was an Leben hält (Freude, Verantwortung, etc.) und/oder was sich aus der Welt nehmen lässt (Januskopf) • Beides sind Möglichkeiten der Beziehungsgestaltung: gemeinsam Trinken/Doppelsuizid, als intentional-manipulatives Instrument • Alkohol stellt Beziehung her, Suizidalität ebenfalls • Beides ist lebensbedrohlich: anhaltender Suchtmittelgebrauch, anhaltende Lebensverneinung, akute Suizidalität • Rauschzustände und Suizidversuche sind wiederholbar; Suizid ist nicht wiederholbar Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 36 Kommunalunternehmen Kliniken und Heime des BEZIRKS OBERFRANKEN BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Depression und Alkoholkrankheit Epidemiologie, klinisches Bild, Behandlungsfragen Prof. Dr. med. Dr. h. c. Manfred Wolfersdorf Facharzt für Psychiatrie – Psychotherapie –, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Ärztlicher Direktor des BKH Bayreuth Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Vortrag 01. Oktober 2009 BKH Bayreuth © Prof. Dr. med. Dr. h. c. M. Wolfersdorf Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 37 Tabelle : Depression und Alkoholkrankheit Gliederung 1. Einführung 2. Epidemiologie – Komorbidität 3. Kasuistiken – Klinik 4. Behandlungsempfehlung 5. Abschlussbemerkung BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 38 Tabelle : „Alcohol-related disorders – comorbid conditions“ (Schnuckit 1995) „The alcohol-related disorders are highly prevalent conditions, and psychiatric symptoms are common during intoxication and withdrawal ....“ „Depression, panic attacks, and psychotic thought processes ocurring in the context of alcohol problems do not usually carry the same prognostic implications as actual major depressive episodes, panic disorders, and schizophrenia ....“ [Schuckit MA. Alcohol-related disorders. In: Kaplan HJ, Sadock BJ (eds.). Comprehensive textbook of psychiatry/XI. Williams & Wilkins, Baltimore Philadelphia HongKong 1995: 775 – 791, esp. 776] BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 39 Tabelle : Kasuistiken Kasuistik 1 Kasuistik 2 Kasuistik 3 Kasuistik 4 Kasuistik 5 BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 40 Kasuistik 1: Ein 52-jähriger Obstbauer verlor in den letzten acht Jahren vor Indexaufnahme die Ehefrau durch eine Krebserkrankung, die Tochter durch Suizid und einen Sohn zwei Jahre vor Aufnahme durch einen Verkehrsunfall. Er lebt allein mit seinem 24-jährigen Sohn, der wegen Fahrens unter Alkohol seinen Führerschein verliert, nach einer Auseinandersetzung mit dem Vater auszieht und die weitere Mitarbeit sowie die Übernahme des Hofes verweigert. Der Patient erleidet immer wieder depressive Verstimmungen, wirkt verzweifelt, kündigt Suizidversuche beim Hausarzt an, erhält von diesem Injektionen von Neuroleptika, von einem hinzugezogenen Nervenarzt Antidepressiva, die er unregelmäßig einnimmt, trinkt jede Nacht 2 – 3 Liter Rotwein, weil er nicht schlafen kann, zieht sich tageweise ins Bett zurück, fällt vom Traktor während der Arbeit und trinkt tagsüber zusätzlich Most. Er muss seinen Hund einschläfern lassen und wird dann zur stationären Behandlung auf die Depressionsstation eingewiesen. Der Hausarzt beharrt bei der Einweisung darauf, der Patient sei nicht alkoholkrank und weist ihn auf die Depressionsstation ein. In der Vorgeschichte des Patienten findet sich eine über 10 Jahre lange Entwicklung zur Alkoholabhängigkeit, wobei nach dem Tod der Ehefrau der Patient ohne Therapie zeitweise zu kontrolliertem Trinken bzw. zu einem Trinken mit noch möglichem sozialen Funktionieren wechseln konnte. Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 41 Kasuistik 1: Fortsetzung Zeitweise konnte er längere Zeit abstinent bleiben, verlor jedoch jegliche Kontrolle, wenn er Wein zu trinken begonnen hatte. In den letzten Monaten nimmt der Alkoholkonsum exzessiv zu und führt zur Arbeitsunfähigkeit. Bei der stationären Aufnahme weist der Patient depressive Symptomatik auf, ist suizidal, verweigert die Verlegung auf die Suchtstation. Auf die Alkoholproblematik angesprochen, reagiert er gereizt, beschimpft die Stationsärztin und wird nach ca. 10 Tagen Krisenintervention in einem von ihm inszenierten erscheinenden Krach mit Pflegepersonal und Ärztin, nachdem er jedoch bereits die stationäre Aufnahme in einem umliegendem Allgemeinkrankenhaus ohne Wissen der Ärztin arrangiert hatte, auf eigenen Wunsch entlassen. Er neigte zuletzt dazu, aus der Alkoholproblematik ein gelegentliches Trinken, ein Erleichterungstrinken i. S. der Eigenbehandlung zu machen und versteiftes sich auf die Sichtweise, seine Problematik sei die Vereinsamung und die Kränkung durch den Sohn und er benötige eigentlich nur eine neue Ehefrau, um wieder zurecht zu kommen. Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 42 Kasuistik 2: Eine 39-jährige Patientin kommt wegen Suizidalität zur stationären Aufnahme auf die Depressionsstation; sie bietet ein ausgeprägtes agitiertängstlich depressives Zustandsbild, wobei es um Versagen als Mutter, Ehefrau, um Schuldgefühle, aber auch um Vorwürfe gegen den kränkenden Ehemann geht. Derartige depressive Verstimmungen sind seit über 15 Jahren bekannt und erstmals aufgetreten als die Patientin ihren Mann wegen einer Schwangerschaft heiratete. Aus einer früheren Beziehung hatte sie bereits eine Tochter und wollte das zweite Kind nicht wieder vaterlos aufwachsen lassen. Von Anfang an bestanden Spannungen, die von der Patientin als belastend empfunden wurden. Der Ehemann war in leitender Funktion in einer großen Firma häufig in Übersee abwesend und erlebte die schwierige Schwangerschaft und Geburt der Zwillinge nicht. In dieser Zeit begann die Patientin zunehmend Wein zu konsumieren, zuerst zur Entspannung, dann am Abend regelmäßig, wenn sie allein zu Hause war, weil sie sich dann kommunikationsfähiger fühlte und sich zutraute, Klavierunterricht zu nehmen. BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 43 Kasuistik 2 Fortsetzung: Wegen ihrer unzureichenden Ausbildung fühlte sie sich stets minderwertig. Eine Tages merkte sie, nach etwa fünf Jahren Alkoholabusus, dass es den Kindern auffiel, dass sie angetrunken war und zweitweise die Kontrolle verlor. Sie ging von sich aus in eine Alkoholiker-Selbsthilfegruppe, besuchte eine ambulante Psychotherapie bei einer in der Suchtbehandlung erfahrenen Psychodrama-Therapeutin und ist zum Zeitpunkt der stationären Aufnahme nach eigen- und fremdanamnestischen Angaben abstinent. Sie muss jetzt wegen einer depressiven Verstimmung und einer suizidalen Krise im Rahmen einer sich zuspitzenden Eheproblematik aufgenommen werden. Es handelt sich um eine neurotische Depression bei chronischer Eheproblematik und bekannter Alkoholkrankheit. BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 44 Kasuistik 3: Aus einer Entwöhnungseinrichtung wird ein Mann wegen Depressivität und Suizidversuch notfallmäßig auf die Depressionsstation aufgenommen. Der 59-jährige Direktor einer Bank, der nach über 15-jähriger Alkoholkarriere nun eine Entwöhnungsbehandlung machte, entwickelte in der zweiten Hälfte der Entwöhnung eine schwere Depression, war bei der notfallmäßigen Aufnahme stuporös, wies einen Verarmungs- und Schuldwahn auf. Nach erfolgreicher antidepressiver Therapie von etwa 12 Wochen Dauer mit medikamentöser und psychotherapeutischer Behandlung wird der Patient nach Hause entlassen. Nach Absprache mit der Entwöhnungseinrichtung nimmt er die dortige Behandlung nicht mehr auf, schließt sich jedoch einer Alkoholiker-Selbsthilfegruppe an, bei gleichzeitiger pharmako- und psychotherapeutischer psychiatrischer Behandlung. Ein Vierteljahr nach Wiederaufnahme seiner Tätigkeit bei der Bank in seiner alten Position macht er eine Stabilisierungskur, eine Depressionsbehandlung wird weitergeführt. BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 45 Kasuistik 4: Ein 52-jähriger Hauptschullehrer kommt erstmals in die Depressionsambulanz, berichtet von rezidivierenden depressiven Episoden seit einem Jahrzehnt jeweils in den Wintermonaten, mit deutlicher Verschlechterung im Januar z. Z. der Zeugniserstellung. Der Patient ist familiär belastet, der ältere Bruder leidet ebenfalls an einer depressiven Erkrankung und kam in eine psychiatrische Klinik nach excessivem Alkoholmissbrauch zum Entzug; dabei bot er das Bild einer psychotischen Depression mit religiösem Schuldwahn. Der Bruder ist seit Jahren abstinent, in antidepressiver Langzeitbehandlung und wieder berufstätig. Der Patient versucht seit langem, sich eigentherapeutisch zur Angst- und Spannungslösung mit Alkohol (Bier zuletzt 6 – 8 Flaschen pro Tag) zu behandeln, fiel mehrfach angetrunken in der Schule auf. Unter ambulanter antidepressiver Therapie mehrere Jahre ausreichend stabil und arbeitsfähig, bei schädlichem Gebrauch. Wegen Eheproblematik vermehrt Alkoholabusus, stationäre Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung, danach antidepressive und suchmedizinische Therapie. Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 46 Kasuistik 5: 62-jähriger, wirtschaftlich erfolgreicher Mann, Mitbesitzer einer Europa weit arbeitenden Firma, leidet an einer bekannten rezidivierenden Erkrankung. Nicht bekannt war lange Zeit ein exzessiver Alkoholmissbrauch bei Hotelübernachtungen im Ausland [Mini-Bar], nach Aussage des Patienten zur Vermeidung von Besuchen in Spielhöhlen und im Rotlichtmilieu. Patient macht in seiner Heimat auf Druck der Firma und der Ehefrau eine Entzugsbehandlung mit anschließender ambulanter Betreuung. Bei einer Auslandsreise lernt er eine Frau kennen, verliebt sich, die Ehefrau droht mit Trennung. Patient wird depressiv, geht in ambulante Therapie, vermeidet das Thema Alkohol. Als der Firmenvorstand ihn entfernen will, wird er massiv alkoholrückfällig und suizidiert sich durch Ertränken in der Ostsee. Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 47 Tabelle : Überlegungen zu den Kasuistiken 1. Jemand kann „Läuse und Flöhe“ haben. Depressions- und suchtspezifische Diagnostik nötig! Für beides muss Kompetenz da sein! 2. Parallele Behandlungen sind möglich 3. Psychotherapie-Ansatz bei Sucht mag sich vom Ansatz zur Psychodynamik ei Depression unterscheiden 4. Bipolare Erkrankungen gehen in der manischen Phase oft mit Alkoholmissbrauch einher Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 48 Depression / depressive Episode Depression ist eine krankhafte Störung/Krankheit der Affektivität eines Menschen • mit einer beobachtbaren, beschreibbaren Symptomatik (Psychopathologie) • mit innerseelischen und/oder äußeren prädepressiven Ereignissen und Belastungen (Lebensereignisse, seelische Belastungen) • überwiegend von Verlust-, Überforderung-, Kränkungscharakter (Psychodynamik) • mit einer sog. depressiven Persönlichkeitsstruktur (melancholischer Typus, depressive Persönlichkeitszüge) (Psychodynamik, Biographie) • mit beschreibbaren depressiven Verhaltensweisen des Appells, des Rückzugs, der Dysphorie und des Negativismus (Verhalten) mit depressiven Einstellungen von Hoffnungs- und Hilflosigkeit, IchInsuffizienz, Selbstentwertung und Schuldzuweisung an sich selbst (Attributationen: Bewertungsstile) BEZIRKSKRANKENHAUS • BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 49 BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 50 12-Monats-Prävalenz psychischer Erkrankungen in verschiedenen WHOLändern 2001 – 2002 (2002 – 2003) (WHO-CIDI/DSM IV) Land Angststö Angststörungen Affektive Stö Störungen SubstanzSubstanzabhä abhängigkeit irgendeine psychische Stö Störung Kolumbien 10.0 (8.4 – 11.7) 6.8 (6.0 – 7.7) 2.8 (2.0 – 3.7) 17.8 (16.1 – 19.5) 6.8 (5.6 – 7.9) 4.8 (4.0 – 5.6) 2.5 (1.8 – 3.3) 12.2 (10.5 – 13.8) 18.2 (16.9 – 19.5) 9.6 (8.8 – 10.4) 3.8 (3.2 – 4.5) 26.4 (24.7 – 28.0) 6.9 (4.5 – 9.4) 6.2 (4.8 – 7.6) 1.2 (0.6 – 1.9) 12.0 (9.6 – 14.3) 12.0 (9.8 – 14.2) 8.5 (6.4 – 10.6) 0.7 (0.3 – 1.2) 18.4 (15.3 – 21.5) Deutschland 6.2 (4.7 – 7.6) 3.6 (2.8 – 4.3) 1.1 (0.4 – 1.7) 9.1 (7.3 – 10.8) Italien 5.8 (4.5 – 7.1) 3.8 (3.1 – 4.5) 0.1 (0.0 – 0.2) 8.2 (6.7 – 9.7) Niederlande 8.8 (6.6 – 11.0) 6.9 (4.1 – 9.7) 3.0 (0.7 – 5.2) 14.9 (12.2 – 17.6) Spanien 5.9 (4.5 – 7.3) 4.9 (4.0 – 5.8) 0.3 (0.0 – 0.5) 9.2 (7.8 – 10.6) Ukraine 7.1 (5.6 – 8.6) 9.1 (7.3 – 10.9) 6.4 (4.8 – 8.1) 20.5 (17.7 – 23.2) Libanon 11.2 (8.9 – 13.5) 6.6 (4.9 – 8.2) 1.3 (0.0 – 2.8) 16.9 (13.6 – 20.2) Nigeria 3.3 (2.4 – 4.2) 0.8 (0.5 – 1.0) 0.8 (0.3 – 1.2) 4.7 (3.6 – 5.8) Japan 5.3 (3.5 – 7.0) 3.1 (2.2 – 4.1) 1.7 (0.3 – 3.0) 8.8 (6.4 – 11.2) China, Peking, Shanghai 2.4 (0.9 – 3.9) 1.7 (0.6 – 2.9) 0.5 (0.3 – 0.6) 4.3 (2.7 – 5.9) Mexiko United States Amerika Belgien Frankreich BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 51 Welche psychischen Krankheiten gibt es in der EU? Wittchen 2006 1-Jahres-Prävalenzen • Alkoholabhängigkeit 2,4% • Psychotische Störungen 1,2% • Depressionen, schwer 6,1% • Phobien, spezifische 6,1% • Somatoforme Störungen 6,3% • Panikstörungen 1,8% • Agoraphobie 1,3% • Essstörungen 0,4% • Zwangsstörungen 0,9% BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 52 12-Monats-Prävalenz psychischer Erkrankungen in verschiedenen WHOLändern 2001 – 2002 (2002 – 2003) (WHO-CIDI/DSM IV) Land Angststö Angststörungen Affektive Stö Störungen SubstanzSubstanzabhä abhängigkeit irgendeine psychische Stö Störung Kolumbien 10.0 (8.4 – 11.7) 6.8 (6.0 – 7.7) 2.8 (2.0 – 3.7) 17.8 (16.1 – 19.5) 6.8 (5.6 – 7.9) 4.8 (4.0 – 5.6) 2.5 (1.8 – 3.3) 12.2 (10.5 – 13.8) 18.2 (16.9 – 19.5) 9.6 (8.8 – 10.4) 3.8 (3.2 – 4.5) 26.4 (24.7 – 28.0) 6.9 (4.5 – 9.4) 6.2 (4.8 – 7.6) 1.2 (0.6 – 1.9) 12.0 (9.6 – 14.3) 12.0 (9.8 – 14.2) 8.5 (6.4 – 10.6) 0.7 (0.3 – 1.2) 18.4 (15.3 – 21.5) Deutschland 6.2 (4.7 – 7.6) 3.6 (2.8 – 4.3) 1.1 (0.4 – 1.7) 9.1 (7.3 – 10.8) Italien 5.8 (4.5 – 7.1) 3.8 (3.1 – 4.5) 0.1 (0.0 – 0.2) 8.2 (6.7 – 9.7) Niederlande 8.8 (6.6 – 11.0) 6.9 (4.1 – 9.7) 3.0 (0.7 – 5.2) 14.9 (12.2 – 17.6) Spanien 5.9 (4.5 – 7.3) 4.9 (4.0 – 5.8) 0.3 (0.0 – 0.5) 9.2 (7.8 – 10.6) Ukraine 7.1 (5.6 – 8.6) 9.1 (7.3 – 10.9) 6.4 (4.8 – 8.1) 20.5 (17.7 – 23.2) Libanon 11.2 (8.9 – 13.5) 6.6 (4.9 – 8.2) 1.3 (0.0 – 2.8) 16.9 (13.6 – 20.2) Nigeria 3.3 (2.4 – 4.2) 0.8 (0.5 – 1.0) 0.8 (0.3 – 1.2) 4.7 (3.6 – 5.8) Japan 5.3 (3.5 – 7.0) 3.1 (2.2 – 4.1) 1.7 (0.3 – 3.0) 8.8 (6.4 – 11.2) China, Peking, Shanghai 2.4 (0.9 – 3.9) 1.7 (0.6 – 2.9) 0.5 (0.3 – 0.6) 4.3 (2.7 – 5.9) Mexiko United States Amerika Belgien Frankreich BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 53 Psychische Erkrankung in USA: Angststö Angststörungen, affektive Stö Störungen, Suchterkrankungen * Lebenszeitprä Lebenszeitprävalenz (Kessler et al. 2005) (nach DSM IV/WMHIV/WMH-CIDDI) *Auswahl Diagnosen (DSM IV) gesamt % Altersgruppen 18 – 29 30 – 44 45 – 59 > 60 x2 * Panikstörung 4,7 4,4 5,7 5,9 2,0 sign1 * Agoraphobie ohne Panik 1,4 1,1 1,7 1,6 1,0 n.s. * Spezifische Phobien 12,5 13,3 13,9 14,1 7,5 sign * Generalisierte Angststörung 5,7 4,1 6,8 7,7 3,6 sign * PTSD 6,8 6,3 8,2 9,2 2,5 sign * irgendeine Angststörung 28,8 30,2 35,1 30,8 15,3 sign * depressive Episode 16,6 15,4 19,8 18,8 10,6 sign BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 54 Psychische Erkrankung in USA: Angststö Angststörungen, affektive Stö Störungen, Suchterkrankungen * Lebenszeitprä Lebenszeitprävalenz (Kessler et al. 2005) (nach DSM IV/WMHIV/WMH-CIDDI) *Auswahl Fortsetzung 1 Diagnosen (DSM IV) gesamt % Altersgruppen 18 – 29 30 – 44 45 – 59 > 60 x2 * Dysthymia 2,5 1,7 2,9 3,7 1,3 sign * Bipolar I + II 3,9 5,9 4,5 3,5 1,0 sign * irgendeine Affektive Störung 20,8 21,4 24,6 22,9 11,9 sign * irgendeine Impulskontrollstörung 24,8 26,8 23,0 -- -- sign * Alkoholmissbrauch 13,2 14,3 16,3 14,0 6,2 sign * Alkoholabhängigkeit 5,4 6,3 6,4 6,0 2,2 sign BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 55 Psychische Erkrankung in USA: Angststö Angststörungen, affektive Stö Störungen, Suchterkrankungen * Lebenszeitprä Lebenszeitprävalenz (Kessler et al. 2005) (nach DSM IV/WMHIV/WMH-CIDDI) *Auswahl Fortsetzung 2 Diagnosen (DSM IV) Altersgruppen 18 – 29 30 – 44 45 – 59 > 60 x2 * Drogenmiss- 7,9 brauch 10,9 11,9 6,5 0,3 sign * Drogen3,0 abhängigkeit 3,9 4,9 2,3 0,2 sign * irgendeine Erkrankung 46,4 52,4 55,0 46,5 26,1 sign * 2 und mehr 27,7 Erkrankungen 33,9 34,0 27,0 11,6 sign 1) gesamt % 1) sign = p > .05 [Kessler RC, Berlund P, Demler O, Jin R, Walters EE. Lifetime prevalence and age-of onset distributions of DSM-IV diagnosis in the National Comorbidity Survey Replication. Arch Gen Psychiatry 2005; 62: 593 – 602] BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 56 Tabelle 2: Patientenprofil heutiger Kliniken fü für Psychiatrie und Psychotherapie mit Versorgungsauftrag in Bayern Bayern Einschä Einschätzung des EK Zukunft der Psychiatrie des VBB; BorrmannBorrmann-Hassenbach, Hassenbach, Brieger, Brieger, Wolfersdorf et al. 2009) ICD-10 % - Anteil an gesamter Akutklientel/ Tendenz F0 etwa 10 %, Zunahme? F1 etwa 30 %, in etwa gleich F2 etwa 15 %, Abnahme, gleich F3 etwa 20 %, Zunahme F4 etwa 10 %, Zunahme F5 etwa 2 %, in etwa gleich F6 etwa 10 %, Zunahme F7 etwa 3 % BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 57 DEPRESSIVES SYNDROM * Wesentliche Symptome Psychische Symptome • depressive Herabgestimmtheit • freudlos, niedergedrückt • Ängste vor den Tagesanforderungen, Panikattacken • Gedanken von Leistungsunfähigkeit, Wertlosigkeit, Sinnlosigkeit, Versagen • Gedanken von Hoffnungslosigkeit, Lebensmüdigkeit, an Suizid • Grübeln, Einengung der Gedanken BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 58 Antriebssymptome • Antriebslosigkeit, Lustlosigkeit • Verlangsamung, Hemmung der Psychomotorik • Unruhe, Getriebenheit, Agitiertheit BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 59 Körperliche („psychosomatische“) Symptome • Kraftlosigkeit, Erschöpftheit • Schlafstörungen • Tagesschwankungen • Libidoverlust, sexuelle Störungen • Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust • Leibgefühlsstörungen BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 60 MännerDepression Klinisches Bild/Unterschiede zu Frauen • eher gehemmte Bilder • mehr Neigung zu Rückzug • eigentherapeutischer Alkoholmissbrauch, Alkoholabhängigkeit und Depression • Neigung zu Impulsivität, Aggressivität • vermehrt Somatisierungstendenz • signifikant erhöhte Suizidrate bei Männern • eingeschränkte Veränderungsfähigkeit bei Männern • unzureichende Inanspruchnahme des Hilfsangebotes durch Männer BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 61 Depression und Lebensereignisse Zusammenfassung klinisch relevanter Konstellationen • Vulnerabilitätsfaktoren nach Brown & Harris (z. B. 1980): Fehlen einer vertrauensvollen Beziehung, Verlust der Mutter vor dem 11. Lebensjahr, 3 und mehr Kinder zuhause, Fehlen einer Beschäftigung außerhalb des Haushaltes, kein eigenes Einkommen, Fehlen sozialer Unterstützung, Selbstwertstörung • Lebensereignisse Verlustereignisse: (6 Klassen nach Brown et al., Keller F): Verlust als Folge von a) Tod, b) Trennung, c) Verlust des Arbeitsplatzes (Selbst- oder Hauptverdiener), d) Verlust materieller Güter, e) von Gesundheit und f) einer Wunschvorstellung von sich und anderen, die unter Vertrauensverlust zerstört wird. Derartige Verlustereignisse sind prädiktiv für Depression • Reaktualisierung früher Verlust- und emotionale Mangelerfahrungen durch realen, subjektiv erlebten oder antizipierten Verlust Lebensereignisse verknüpft mit Verpflichtungsbereich • Verlust von Soziotropie d. h. sozialer Wertschätzung bzw. Autonomie d. h. persönlicher Unabhängigkeit BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 62 Zur Depression neigende Menschen sind oft • überstark leistungsorientiert • Selbstwertgefühl hängt von Leistung ab • in Beziehungen überangepasst • rasch verletzbar • überstark beziehungsabhängig • überstark schuldbezogen BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 63 BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 64 BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 65 Psychodynamisch wichtige Aspekte bei der Depression • hoher Zuwendungsbedarf („Oralität“) • mangelndes bzw. instabiles Selbstwertgefühl (narzisstische Störung) • Ich-Insuffizienz, gefühl des „Ausgebranntseins“, Vitalitätsverlust • Hoffnungslosigkeit, fehlende Entwicklungs- (Zukunfts-) perspektive, Suizidalität • Aggressionsvermeidung, Fehlen von Zugreifenkönnen, indirekte Aggressivität, Forderung an Umfeld • Schuldgefühl, Versagensgefühl, Selbst- und Fremdanklage, Schamgefühl • Negatives Selbstbild, Verlust eines positiven Fremdbildes BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 66 Abb. 5 Akutbehandlung der Depression im stationären Rahmen Psychotherapie Biologische Therapien Soziotherapie Selbsthilfe Einzelgespräche, Einzelpsychotherapie Antidepressiva, Lichttherapie Sozialarbeit Selbsthilfegruppen für Depressive Gruppenpsychotherapie, Gruppenarbeit Wachtherapie/ Schlafentzug Ergotherapie Psychoedukation für Angehörige Selbstsicherheitstraining, Soziales Kompetenztraining Psychiatrische Sport- und Bewegungstherapie, Gymnastik Belastungserprobungen Selbsthilfe für Angehörige Aktivitätsgruppen Elektrokrampftherapie Rehabilitative Behandlungsmaßnahmen Entspannungsverfahren/ Hypnose Leistungserprobung und Diagnostik Gestaltungs-/ Kunsttherapie Gestufte Wiedereingliederung Psychoedukation für Patienten Begleitung von „place und train“ ambulante psychiatrische Pflege Basis: empathisch-fürsorgliche therapeutisch-pflegerische Beziehung, Aktivierung Therapie der Depression - ein integratives Konzept Würzburg - 12. Juli 2008 und Strukturierung Tabelle : Zur Epidemiologie von Depression und Alkoholkrankheit • Bronisch (1985): in der Allgemeinbevölkerung 0,2% gemeinsames Auftreten von unipolarer Depression und Alkoholismus • Hole & Wolfersdorf: (1989) Angaben zur Häufigkeit Depression und Alkoholismus schwanken zwischen 4 – 27% • Prokop (1977): 50% - 60% der durch Suizid verstorbenen alkoholkranken litten zum Zeitpunkt des Suizides an einer ausgeprägten depressiven Episode [aus Wolfersdorf M, Rothenbacher H, Fritsch T. Zur adäquaten Behandlung von Depression und Alkoholkrankheit – Erfahrungen zweier Spezialbereiche am PLK Weissenau. Psychiatrische Praxis 1993; 20 (suppl. 1): S 24 – S 28 BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 68 Tabelle : Aktueller Psychiatrischer Befund bei 161 konsiliarpsychiatrisch untersuchten stationären Patienten mit Alkoholkrankheit im Klinikum Ulm • Syndromdiagnose bei Aufnahme • akute Intoxikation 36% • Prädelir 17% • Aggressivität 13% • Delir 11% • organisches Psychosyndrom BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 9% 69 Tabelle : Aktueller Psychiatrischer Befund bei 161 konsiliarpsychiatrisch untersuchten stationären Patienten mit Alkoholkrankheit im Klinikum Ulm (Fortsetzung) • Psychiatrische Komorbidität (nach Diagnostik durch PIA Universitätsklinikum Ulm) • Keine 70% • Depression 17% • Schädelhirntrauma in Anamnese 10% • Narzisstische Persönlichkeitsstörung 9% • Münchhausen-Syndrom 3% • Schizophrenie 3% • Angststörung 2% • Neurotische Störung allgemein 1% BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 70 Tabelle : Aktueller Psychiatrischer Befund bei 161 konsiliarpsychiatrisch untersuchten stationären Patienten mit Alkoholkrankheit im Klinikum Ulm (Fortsetzung 2) • Angaben zur Suizidalität • Suizidideen in der Vorgeschichte25% • Mindestens 1 Suizidversuch bisher 18% • Aktuelle Suizidgefahr jetzt 7% [Wolfersdorf M, Bachthaler S, Herrlen-Pelzer S. Die konsiliarpsychiatrische und internistische Versorgung alkoholkranker Patienten na der Medizinischen Klinik der Universität Ulm. Krankenhauspsychiatrie 1998; 9: 146 – 151] BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 71 Tabelle : Lebenszeit-Komorbidität von Alkoholmissbrauch/-abhängigkeit und typische depressive Episode (Major depression) in 2 großen amerikanischen epidemiologischen Studien Studie Alkoholmissbrauch Alkoholabhängigkeit OR (95% - CI) OR (95% - CI) • National Comorbidity Study (NCS) (Kessler et al. 1994, 1997) 0,9 (0,7 – 1,2) 2,0 (1,6 – 2,6) • National Longitudinal Alcohol Epidemiologic Survey (NLAES) (Grant 1995, Grant & Harford 1995) 1,7 (1,5 – 1,9) 3,8 (2,8 – 4,2) [OR = Odds Ratio, CI = Konfidenzintervall] Eine Störung erhöht jeweils das komorbide Auftreten der anderen um das 2- bis 3-fache! [Aus Kapfhammer H-P. Alkohol und Depression ind er Konsultation-Liaison-Psychiatrie. J Neurol Neurochir Psychiatr 2004; 5 (3): 30 – 36 BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 72 Tabelle : Alkoholismus bei 400 internistischen bzw. chirurgischen Patienten und psychiatrische Komorbidität: Lebenszeit (L) und aktuelle Punktprävalenz (A) (Arolt & Driessen 1996) Alkoholismus (L) Alkoholismus (A) (n = 75) (n = 45) Prävalenz der Komorbidität (%) Diagnostik nach CIDI L A L A • psychische Störung 41,3 37,3 48,9 44,4* • organische psychisch 18,7 16,0* -- 20,0 • bipolar 0,0 0,0 0,0 0,0 • typische depressive Episode 5,3 5,3 2,2 2,2 • typische depressive Episode, 9,3* rezidivierend 9,3* 8,9 8,9 • Dysthymia 8,0 5,3 8,9 4,4 • Angst 6,7 5,3 11,1 8,9 • Substanzmissbrauch 8,0** 4,0* 8,9* 4,4* [* = p<0.05; ** = p<0.01, Fisher´s Exact Test Vergleich Gruppe Patient mit bzw. ohne Alkoholismus] [Arolt V, Driessen M. Alcoholism and psychiatric comorbidity in general hospital inpatients. Gen Hosp Psychiatry 1996; 18: 211 – 217] Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 73 Tabelle : Suizidalität bei Abhängigkeitserkrankungen (Preuss et al. 2004) • Ca. 33% aller Patienten mit schizophrenen Erkrankungen konsumieren illegale Substanzen und ca. 20% Alkohol zumindest missbräuchlich (Soyka 1994) • Bei Adoleszenten und jungen Erwachsenen mit Suizid liegt bei mehr als der Hälfte neben der psychischen Erkrankung eine Mischintoxikation Alkohol und Drogen vor (Fowler et al. 1986) • 25% - 30% der Suizide werden von Alkoholkranken durchgeführt (Murphy et al. 1979, Wolfersdorf und Mäulen 1996, Bertolote et al. 2004), bei Suiziden im stationären Rahmen ist der Anteil Alkoholkranker dagegen gering (Wolfersdorf 1989). Suizidversuche sind 6 – 10 mal höher als in der Allgemeinbevölkerung. • Das Risiko für Suizid liegt bei Alkoholkranken um ein 4,5-faches höher (Harris & Barraclough 1997) Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 74 Tabelle : Studie Erkrankungsbeginn von Alkoholabhängigkeit bzw. Depression bei Komorbidität (Swendsen et al. 1998) Erkrankungsbeginn bei Komorbidität Alkohol Kh primär Alkohol Kh Alkohol Kh und Depression sekundär gleichzeitig • ECA 45,0% 10,0% 45,0% • NCS 54,9% 10,7% 34,4% [nach Kapfhammer H-J. Alkohol und Depression in der Konsultation-Liaison-Psychiatrie. J Neurol Neurochir Psychiatr 2004; 5 (3): 30 – 36] BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 75 Abbildung : Depression und Alkoholkrankheit – mögliche Kombination Alkohol Depression & Alkoholmissbrauch/abhängigkeit Depression Depression Alkoholmissbrauch/ Abhängigkeit Alkoholkrankheit & Depression Depression Depression Alkoholkrankheit Alkoholkrankheit Depression Depression & Alkoholkrankheit Depression & Alkoholkrankheit Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 Alkoholkrankheit 76 Tabelle : Depression und Alkohol und Geschlecht Männer • Die sog. „male depression“ ist häufig mit Suchtmittelmissbrauch verbunden Männerspezifische Symptomatik • Depressive Herabgestimmtheit im Hintergrund, eher Reizbarkeit • Impulsivität, „acting out“ trotz depressiver Hemmung • Alkoholmissbrauch, -abhängigkeit • „einsame Suizidalität mit hoher Todesintensität und harten Methoden • Fehlende Inanspruchnahme von Hilfe • Somatoforme Symptomatik [z. B. Lesse 1974, Möller-Leimkühler et al. 2002, Müller-Leimkühler 2009, Wolfersdorf et al. 2008, 2009] BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 77 Tabelle : Depression und Alkohol und Geschlecht Frauen • Von 112 alkoholabhängigen Menschen zeigen 49% ein „undifferenziertes Selbstkonzept“ • Weibliche Alkoholkranke beschreiben sich sign. Häufiger als „undifferenziert“ und mehr „feminin“ als „maskuline“ • Gering oder hoch ausgeprägtes „feminines Selbstkonzept“ korreliert positiv mit Stresserleben, Depressivität, sozialer Angst, Selbstunsicherheit und Persönlichkeit [Möller-Leimkühler AM, Schwarz R, Burtscheidt W, Gaebel W. Alcohol dependence and gender-role orientation Eur Psychiatry 2002; 17: 1 – 8] BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 78 Tabelle : Depression und Alkohol bei Frauen (1) 1. Die Verknüpfung zwischen Depression und Alkoholerkrankung ist bei Frauen höher als bei Männern [Helzer & Pryzbeck 1988, Reiger et al. 1990, Grant & Harford 1995, Kessler 1997] 2. Bei alkoholkranken Frauen geht eine Depression der Alkoholkrankheit voraus, bei Männern scheint es umgekehrt zu sein [Helzer & Pryzbeck 1988, Hesselbrock et al. 1985] Nach Hesselbrock et al. (1985) geht es bei 65% aller weiblichen Alkoholkranken eine Deprsssion dem Alkoholproblem voraus Wilsnack et al. (1986, 1991) „heavy drinking tended to begin after, not before, problems with depression“ BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 79 Tabelle : 3. Depression und Alkohol bei Frauen (2) Das Risiko einer Alkoholproblematik ist bei Frauen mit einer Depression in der Lebensgeschichte 2,60 mal höher wie ohne Depression. (relatives Risiko von 2,2 blieb auch nach Korrektur nach Alter, Persönlichkeitsstörung, Alkoholkrankheit des Vaters). [Dixit AR, Crum RM. Prospective stucy of depression and the risk of heavy alcohol use in women. Am J Psychiatry 2000; 157: 751 – 758] • n = 1671 Frauen aus ECA-Studie Baltimore 1980 – 1984 und Follow-upInterview 1 Jahr später • Davon n = 252 Frauen und 36 Frauen mit aktuellem bzw. früherem schweren Alkoholmissbrauch excludiert; • Es verbleiben 1 383 Frauen „at risk“, davon entwickelten 56 Frauen eine Alkoholproblematik („heavy drinking“) und 1327 keine • 14,3% der Frauen mit Alkohol und 6,0% der ohne hatten eine Depression (p = 0.02) erlitten, „estimated relative risk“ = 2,60. Je jünger (18 – 29 J: risk = 12,40; 30 – 44 Jahre: risk = 9,38; p = 0.001 bzw. 0.003) • 41,1% aller Frauen 18 – 29 Jahre mit Alkohol, 26,8% aller 30- 44-Jährigen, 10,7% der 45-54-Jährigen, 17,9% der 55-64-Jährigen, 3,6% der > 65Jährigen BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 80 Tabelle : Gemeinsamkeiten/Trennendes der Depressions- und Alkholkrankheit Alkoholkrankheit Depression Delir-/Entzugsbehandlung antidepressive Medikation Evtl. pharmakotherapeutische Rückfallprophylaxe evtl. somatische Mitbehandlung med. Rezidiv- bzw. Verschlechterungsprophylaxe Psychotherapie (eher Gruppe?!) Psychotherapie (duale therapeutische Beziehung, Gruppe) Psychoedukation Psychoedukation Ziel Abstinenz, evtl. kontrolliertes Trinken (Genussfähigkeit) Ziel Krankheits- und langfristiges Behandlungskonzept (Genussfähigkeit) Betonung der Oralität und des Nichtkönnens Oralität, Nichtkönnen, Selbstwertthema Empowerment, Selbsthilfe/Selbstbewertung Empowerment, Selbsthilfe „Suchtmittel- und Therapeuten-freies Leben“ Langzeittherapie Arzt gebunden BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 81 Tabelle : Behandlungsempfehlungen Was primär und wo? 1. Bei bekannter und primärer Depression mit schädlichem Gebrauch/Missbrauch von Alkohol/Substanzen unter Abstinenz Depressionsbehandlung (Suchtmedizin) [im Idealfall Einbeziehung Suchtberatung, Suchtpsychoedukation] 2. Bei bekannter und primärer Depression und Alkoholabhängigkeit immer zuerst Suchtbehandlung [Entgiftung/qualifizierter Entzug, suchtspezifische Therapie[, dann zusätzlich Depressionsbehandlung (Suchtmedizin und/oder anschlißend Depressionsstation) 3. Bei „psychotischer Depression“ mit Alkohol-/Substanzmissbrauch/abhängigkeit immer zuerst Depressionsbehandlung (Depressionsstation) 4. Entzugsbehandlung/Delirbehandlung immer zuerst (Suchtmedizin), dann erst bei primärer oder/und symptomreicher sekundärer depressiver Erkrankung Depressionsbehandlung BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 82 Tabelle : Psychopharmakotherapie bei Depression und Alkohol 1. Im Entzug/Delir keine Antidepressiva (Phasenprophylaktika z. B. Lithium weiter außer somatische Kontraindikation: Cave Intoxikation, Absetzproblematik) 2. Abwarten ob Depression nach Entzug weiter besteht. Symptomprofil/Schweregrad! Wenn „depressive Episode“ mittelgradig oder schwer bzw. rezidivierende Depression bekannt, Antidepressiva (evtl. plus atypische Neuroleptika, Fortsetzung von Prophylaxe). Hypnotika/Benzodiazepine vermeiden (außer in akuter suizidaler Krise Anxiolyse!) BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 83 Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit BEZIRKSKRANKENHAUS BAYREUTH Sucht und Suizid Hutschdorf 04.11.09 84