Brasilien - ein Musterbeispiel für die Dependenztheorie? Inhalt: 1. Einleitung 1.1. Problemaufriß 1.2. Dependenztheorie vs. Modernisierungstheorie im Überblick 1.3. Das Senghaassche Zentrum-Peripherie-Modell 2. Hauptteil 2.1. Definition eines Schwellenlandes 2.2. Die Wirtschaftsgeschichte Brasiliens und ihre Auswirkungen auf die Wirtschaftsstruktur 2.3. Erörterung: Ist Brasilien ein Fall von abhängiger Entwicklung 3. Schlußteil 3.1. Schlußfolgerungen aus der Erörterung Anhang: Literaturliste 1. Einleitung 1.1. Problemaufriß Brasilien ist das fünftgrößte Land der Erde und nimmt ca. die Hälfte der Fläche Lateinamerikas ein. International gilt es dank seinem hohen Pro-Kopf-Einkommen von 2930 US-Dollar, einem Anteil der Industrieproduktion am BIP von 37 Prozent und einem Fertigwarenanteil von über 60 Prozent zu den ,,Schwellenländern". (Vgl. Langmann 1996, S.23ff) Nichtsdestotrotz war Brasilien 1993 das höchstverschuldete Entwicklungsland und mußte über ¼ seiner Exporterlöse für den Schuldendienst zahlen. 50 % der Bevölkerung konzentrieren sich auf den gut industrialisierten Süden, in den Städten leben 71%. Es besteht zudem ein beträchtliches Gefälle zwischen dem Südosten, der einen Anteil von 70% an der industriellen Wertschöpfung aufweist, und dem Nordosten, der aufgrund seine Unterentwicklung als ,,Armenhaus" Brasiliens bezeichnet wird. Die Unterentwicklung spiegelt sich v.a. in den heftigen Einkommensunterschieden, Gesundheitsversorgung, Ernährung, Bildung und den Wohnverhältnissen. (ebenda) In Anbetracht dieser Tatsachen wirft sich die Frage auf, wie diese Unterschiede zustande gekommen sind, bzw. was ihre Beseitigung verhindert hat. Diese Arbeit setzt sich mit der Hypothese auseinander, daß jene Differenzen die Folge der Eingliederung Brasiliens in den Weltmarkt seit der Kolonialzeit seien - laut der dependenztheoretischen Erklärung für Unterentwicklung. Dabei soll der Konflikt zwischen einerseits dependenz- und andererseits modernisierungstheoretischen Ansätzen skizziert werden. Es ist die Frage, ob tatsächlich exogene Faktoren ( (v.a. der Weltmarkt) die Unterentwicklung in diesem Fall bedingen, und inwieweit endogene Faktoren ( z.B. Machtverteilung im Land ) eine Rolle dabei spielen. Dieses soll in einer Erörterung diskutiert werden. 1.2. Dependenztheorie und Modernisierungstheorie im Überblick In den 70er Jahren gab es eine öffentliche Debatte über Entwicklungstheorien, welche die Forscher in zwei ,,feindliche Lager" (Nuscheler 1996, S. 157) spaltete. Es ging um die Fragen, ob die Ursachen von Unterentwicklung innerhalb oder außerhalb der betroffenen Gesellschaften zu suchen sind, ob der Kolonialismus oder sogar der ,,neokoloniale Abhängigkeit" oder kulturelle Faktoren entscheidend sind (Nuscheler 1996, S. 158). Die Modernisierungstheoretiker gehen davon aus, daß die ,,Gründe für Stagnation und Unterentwicklung in so vielen Entwicklungsländern wesentlich interner Art, nicht externer" sind (Kohlhammer 1993, S.112). Axelle Kabou führte z.B. die Krise Afrikas auf kulturelle Faktoren wie die Mentalität der Afrikaner zurück: ,, Die Situation Afrikas sei ,,direkt mit dem Verhalten der Afrikaner in einen Zusammenhang zu bringen." (Kabou 1993, S.41). Man geht davon aus, daß interne Faktoren wie Kultur, Religion, Machtstrukturen die Modernisierung und Industrialisierung behinderten, was zur Unterentwicklung führe. Klima- und Ökologietheorien, sowie aus der Kolonialzeit stammende, rassistisch gefärbte Theorie, fallen auch darunter. Allein die Befreiung aus den Fesseln der Tradition bringe Entwicklung. Dabei dienen die westlichen Gesellschaften als Vorbilder bei der Durchkapitalisierung des traditionellen Sektors (Vgl. Wöhlcke 1981, S. 63ff). Das Problem der Modernisierungstheorien liegt v.a. in deren Einseitigkeit, so lassen sich unterschiedliche Religionen nicht in einen Topf schmeißen (denn z.B der Konfuzianismus bejaht entwicklungspolitische Dynamik). Im Gegensatz dazu heben Dependenztheoretiker exogene Faktoren hervor. Unterentwicklung wird auf die Eingliederung der Ex-Kolonien in den Weltmarkt zurückgeführt; die Rückständigkeit der internen Wirtschafts- und Sozialstrukturen wird also durch strukturell angelegte, ,,außenwirtschaftliche Abhängigkeit" (Nuscheler 1996, S.167) erklärt. Daraus erwächst die Forderung nach Dissoziation vom kapitalistischen Weltmarkt und autozentrierter Entwicklung. Es gibt unterschiedliche Positionen innerhalb der Dependenztheorien: eine betont die Ausbeutung der Entwicklungsländer durch Handel, oder durch hohe Gewinntransfers transnationaler Konzerne, oder gar durch die strukturelle Verflechtung der peripheren Ökonomien mit den Zentren der ,,Ersten Welt". 1.3. Das Senghaassche Zentrum-Peripherie-Modell Nun soll das Modell des ,,peripheren Kapitalismus" von Dieter Senghaas vorgestellt werden, anhand dessen das brasilianischen Problem im Folgenden diskutiert werden soll. Laut Senghaas wirkt sich die Eingliederung einer ,,peripheren Ökonomie" in den Weltmarkt sehr negativ aus: es entstehen Monostrukturen, ein dynamischer Exportsektor wird in den Weltmarkt integriert, während die übrige Ökonomie verelendet. Für Exportzwecke werden vorwiegend Luxusgüter produziert. Der nicht auf Export ausgelegte Sektor zeichnet sich durch niedrige Produktivität aus, was zur Nahrungsmittelknappheit und großen Einkommensunterschieden bei der eigenen Bevölkerung führt. Die weitgehend ,,außengerichtete Entwicklung" nennt er ,,strukturelle Abhängigkeit" (Vgl. Nuscheler 1996, S.168). Hinzu kommt die Tatsache, daß Produktionsmittel nicht oder nicht im genügenden Maße produziert werden, was sich im Technologieimport spiegelt. Wirtschaftliches Wachstum in der Dritten Welt (bei Einbindung in den Weltmarkt) ist deformiert: Der periphere Kapitalismus orientiert sich nicht an der Nachfrage im eigenen Land, sondern an der der Industrieländer. Unterentwicklung wird also zwanghaft aufrechterhalten, bzw. dauernd reproduziert. 2. Hauptteil 2.1. Definition eines Schwellenlandes Ein ,,Schwellenland", oder take-off-Land ist, wie der Name schon andeutet, ein halbindustrialisiertes Land, welches sich an der Schwelle zu einem Industrieland befindet. Seine Merkmale sind: ein Pro-Kopf-Produkt von über 1000 US$ laut Weltbank, ein Anteil der verarbeitenden Industrie am BSP über 20%, ein wachsender Anteil an der Weltindustrieproduktion und dem Weltfertigwarenexport, sowie gewisse nichtökonomische Indikatoren wie Alphabetisierung, Lebenserwartung etc. Das Problem vieler newly industrializing countries ist, daß ,,Wachstumsraten in vielen Fällen zu zuwachsenden sektoralen und regionalen Disparitäten innerhalb der Länder führen und v.a., daß die wirtschaftliche Entwicklung nicht oder nur kaum mit einer entsprechenden sozialen einhergeht..." (Nohlen 1996, S.599). Es wird grob zwischen zwei Typen von NIC unterschieden: den exportorientierten, modernisierten Tigerstaaten Ostasiens und den lateinamerikanischen Staaten, wo ,,die regionalen und sozialen Disparitäten eher zu - als abnehmen". (Nohlen 1996, S.600). 2.2. Die Wirtschaftsgeschichte Brasiliens und ihre Auswirkungen auf die Wirtschaftsstruktur Brasilien wurde von den Portugiesen 1500 entdeckt und gelangte 80 Jahre später Unter englische Herrschaft. Um die Wende zum 17. Jh. Geriet Portugal und somit der brasilianische Nordosten unter wirtschaftliche Abhängigkeit von Holland, bis England wieder die Oberhand gewann (Vgl. Maus 1979, S.38f). Die Wirtschaftsgeschichte ist geprägt von unterschiedlichen ,,Prosperitätsphasen, die durch exportorientierte landwirtschaftliche Monokulturen hervorgerufen wurden" (Maus 1979, S.41). Dabei ist charakteristisch, daß jeweils alle Ressourcen der betreffenden Region gefördert wurden und nach dem Nachlassen der Nachfrage die regionale Wirtschaft komplett dem Niedergang geweiht war. Der ,,Zuckerboom" dauerte ca. bis 1680, der ,,Baumwollboom" mit Reis-, Kakao- und Zuckerproduktion bis 1815 und der Kakaoboom in Bahia, der 1900 aufhörte, sind die entscheidenden Phasen. Außerdem sind der Goldrausch im Minas Gerias bis 1750 und der Kautschukboom im Norden zu nennen. Der Nordosten stellt das Reservoir an Arbeitskräften in diesen Phasen dar. (Vgl. Maus 1979, S.42ff). Man kann also sagen, daß ca. alle 2 Generationen ein großer Umbruch in der ganzen internen Wirtschaftsstruktur stattgefunden hatte, so daß sich die Wirtschaftsstrukturen in den Regionen nicht autozentrisch entwickeln konnten, geschweige denn die Möglichkeit zur Diversifizierung und somit langfristiger Wachstumssicherung gehabt hätten Der reine Rohstofflieferant Brasilien ließ die Kolonialherren kein Netz von Verkehrswegen vorfinden, so daß die Entwicklung der Städte und somit der industrialisierten Enklaven hauptsächlich an der Küste entlang passiert. Nach der Erlangung der Unabhängigkeit 1822 waren sie die Exportzentren für die ehemaligen Kolonialherren geblieben (Vgl. Füchtner 1991, S. 22). Hinzu kommt, daß die Verschuldung Brasiliens in den ersten Stunden der Unabhängigkeit durch englische Kredite begann. Die Vernachlässigung der Nahrungsmittelproduktion für den Binnenmarkt zugunsten von devisenbringenden Produkten verschärfte die Lage. Diese Faktoren, die die regionalen und sozialen Verzerrungen bewirkten, wirken sich bis heute aus. (Vgl. Füchtner 1991, S. 27ff). Seit 1889 ist Brasilien eine föderative Republik. Nach dem Staatsstreich 1930 erfolgte eine Phase ,,importsubsituierender Industrialisierung", bis 1964 das Militär die Macht an sich riß und durch wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik und starke staatliche Wirtschaftsaktivitäten hohe Wachstumsraten (,,brasilianisches Wirtschaftswunder") hervorriefen. (Vgl. Langmann 1996, S. 23f). Die Ölkrise der 70er Jahre warf Brasilien in eine Wirtschaftsrezession, die Inflation galoppierte bis das Land 1993 das meistverschuldete Entwicklungsland der Welt wurde. Die Militärregierungen folgten dem Konzept der ,,abhängigen und assoziieren Industrialisierung" (Schirm 1990, S. 75), wobei der Staat und ausländisches Kapital die Entwicklung vorantrieben. Auslandskapital wurde begünstigt, was sich im der Expansion der transnationalen Unternehmen (TNC) und dem damit verbundenem Technologieimport zur Erhaltung des modernen Industriesektors spiegelte. So wurde die extreme Dualität zwischen modernisierten Enklaven und marginalisiertem Hinterland aufrechterhalten. ( Vgl. Schirm 1990, S. 76). Die Exportabhängigkeit resultierte aus dem Zwang, Devisen für Technologie oder Kapitalgüter oder Auslandsschulden zu beschaffen. Andererseits veränderte sich das ,,historische Warentauschverhältnis Rohstoffe gegen Industriegüter, und die damit verbundenen Abhängigkeitsstrukturen - im Rahmen des ,,Zentrum-Peripherie-Modells" (Schirm 1990, S.82), 1985 wurden zu 64% Industriegüter exportiert, Primärgüter zu 35%. Es ist eine relative Autonomie gegenüber dem Rohstoffpreisverfall erlangt worden. Allerdings verursacht die Auslandsverschuldung, die zu diesen Veränderungen nötig war, seit 1980 eine ,,neue" Abhängigkeit. Um jeden Preis sollten die Schulden beglichen werden, was wiederum zu Lasten der sozialen Entwicklung ging. Brasilien mußte sich an den IWF wenden, was zur Folge hatte, daß es sein Stabilisierungsprogramm befolgen mußte, was schwerwiegende Eingriffe in die Wirtschaftspolitik bedeutet. (Vgl. Schirm 1990, S. 91-93). Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sich Brasilien durch ,,strukturelle ökonomische Dependenz" bei gleichzeitiger ,, relativer politischer Autonomie und regionaler Dominanz" (Schirm 1990, S. 153) auszeichnet, seine internationalen Beziehungen konnten diversifiziert und die außenpolitische Autonomie gegenüber der Industrieländern gestärkt werden ( eigene Rüstungsindustrie), es entwickelte sich sogar zu einem ,,Sub-Zentrum" für Lateinamerika. Die Dependenz konzentriert sich auf privates, transnationales Kapital, nicht mehr auf die Industrieländer als Ganzes. Die wirtschaftliche Kooperation mit anderen lateinamerikanischen Ländern wurde v.a. durch den Zwang, neue Märkte zu erschließen um durch Handelsbilanzüberschüsse die Auslandsschulden zu begleichen. 2.3. Erörterung: Ist Brasilien ein Fall abhängiger Entwicklung? Im Teil 2.2. ist gezeigt worden, daß die Kolonialgeschichte Brasiliens sich stark auf die regionale Wirtschaftsstruktur ausgewirkt hat. Die Disparitäten zwischen dem unterentwickelten Nordosten und seinem Gegenpol im Süden haben dort ihren Ursprung genommen. Dabei hat der Nordosten ein vorteilhaftes Klima, fruchtbaren Boden etc., doch die Zuckerindustrie hatte den Boden an sich gerissen und den Hunger der Region verursacht. (Vgl. Wöhlcke 1981, S.69). Die historische externe Abhängigkeit ist durchaus als ein wesentlicher Verursachungsfaktor zu betrachten wobei sie im Falle der regionalen ,,Booms" direkt in die Unterentwicklung geführt hatte. Die brasilianische Wirtschaft entwickelte sich als ,,Reflex des internationalen Systems" (Wöhlcke 1981, S.118). Das Phänomen der ,,strukturellen Abhängigkeit" (Senghaas), zeigt sich hier darin, daß die Industrialisierung ( der Enklaven des Südens, d. Verf.) fast gänzlich abhängig vonstatten gegangen ist, eben weil sie von ,, international übergreifenden Strukturen und externen Entscheidungszentren koordiniert" (Wöhlcke 1981, S.73) war, wofür der Technologieimport und die ausländische Finanzierung ( siehe 2.2.) Indizien sind. Die externen ,,Sachzwänge" verhindern, daß die Unterernährung der Bevölkerung überwunden werden kann (Vgl. Wöhlcke 1981, S. 79). Andererseits hat sich am Beispiel Brasilien gezeigt, daß diversifizierter Außenhandel noch nicht ausreicht, um Abhängigkeit und Unterentwicklung zu überwinden. Die Dependenztheorie reizt hier besonders zur Überbetonung externer Faktoren, es ist deshalb notwendig, z.B. die internen Machtstrukturen nach der formalen Unabhängigkeit 1822 zu thematisieren. Dabei ist die Entwicklungspolitik der Militärregierungen ein wichtiger Faktor. Der Präsident war im Brasilien unabhängig vom jeweiligen System im Zentrum der Machtstruktur. Er konnte laut Verfassung alle wirtschaftlichen Probleme durch Dekrete mit Gesetzeskraft beantworten ( Vgl. Schwalbach 1999, S. 29ff). Die entscheidenden Machtgruppen für die Entwicklungspolitik setzen sich folglich aus einem Kreis v.a. militärischer Entscheidungsträger in engem Kontakt zum Präsidenten, den Führungskräften der nationalen Unternehmen und der Agrareliten zusammen. Brasiliens Grundbesitzztruktur ist nämlich durch eine übermäßige Dominanz des Großgrundbesitzes gekennzeichnet: 1% aller landwirtschaftlichen Betriebe verfügen über 44% des Ackerlandes (Vgl. Langmann 1996, S. 25), weshalb große Flächen nicht produktiv genutzt werden können. Außerdem führt die Abhängigkeit der Pächter - Kleinbauern von ihren Landbesitzern zum Mißbrauch von Machtpositionen: ,, für die Bereitstellung des Bodens oder anderer Gefälligkeiten, wie z.B. Gewährung von Krediten, kann sich der Mittellose und Verschuldete nur in Form einer bestimmten Stimmabgabe erkenntlich zeigen." ( Schwalbach 1999, S. 68). Diese Form des ,,politischen Klientelismus" (ebenda) verhindert politische Veränderungen zugunsten einer Demokratisierung der Gesellschaft und sozialen Fortschritten. Hinzu kommt, daß zahlreiche Großgrundbesitzer selber im politischen Prozeß Entscheidungspositionen besetzen. Das assoziierte Modell fand v.a. große Unterstützung durch die kleine Elite, die in dessen Sektor eingebunden war. Ein weiterer endogener Faktor ist die Tatsache, daß der "materiell fehlende Föderalismus" die Einflußnahme der Peripherie auf die Zentralregierung verhindert ( Schwalbach 1999, S. 82). Der bürokratisch-autoritäre Staat beschneidet die Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung ganz massiv. Ein anderer Aspekt ist die Tätigkeit der Militärregierungen bei der Wirtschaftsplanung, welche ausschließlich einen modernistischen Entwicklungsbegriff propagierte, d.h. quantitatives Wachstumsdenken. Regionale Ziele spielten keine Rolle. Wie bereits erwähnt, ist die ungleiche Verteilung des Bodens ein großes Hemmnis für die Entwicklung des Nordostens; die Bodenkonzentration hat während der Militärherrschaft aber sogar noch zugenommen. Engpässe bei der Nahrungsmittelherstellung setzen also eine Bodenreform voraus, die eine Erhöhung der Beschäftigung und der Produktion erreichen und die Macht der traditionellen Agrareliten brechen würde. In der Tat beinhaltet das Entwicklungsprogramm Brasiliens eine Landreform, das ,,Estatuto da Terra" von 1964 (Siehe Schwalbach 1999, S. 94 - 101). Eine entsprechende Reform kam aber aufgrund der Machtstellungen der Agrareliten nie zustande, statt dessen wurde z.B. Amazonien kolonialisiert und die Landwirtschaft modernisiert. Die Besitzstrukturen änderten sich jedoch nicht. Klientelismus und Korruptionsstrukturen stellen somit einen starken endogenen Faktor dar, der die Unterentwicklung aufrechterhält. Trotzdem ist die Wirtschaftspolitik ( der Militärs) nicht direkt als unabhängige Variable zu betrachten: Die Phase der Importsubstitution war durch einen des Außenhandels bedingt, aufgrund der rückläufigen Weltnachfrage nach Kaffee. (Vgl. Wöhlcke 1981, S.118). Letztendlich erweist sich die Geschichte Brasiliens doch seit 1500 als eine Geschichte externer Abhängigkeit, so daß die Unterentwicklung keinesfalls auf mangelnde Ressourcen oder unzureichendes Humankapital zurückzuführen ist. Bis zur Unabhängigkeit sind Brasilien die auf Rohstoffexport ausgerichteten Strukturen aufgezwungen worden, danach war das Land bis 1930 stark ökonomisch außengeleitet bis zur nationalistischen Zwischenperiode unter Vargas bis 1955, wobei sich das Land im Rahmen asymmetrisch angelegter Beziehungen relativ autonom und relativ souverän entwickeln konnte. Nach der kolonialen Ausplünderung erfolgte eine Periode exogen induzierten Aufbaus von Exportsektoren, was sich nach dem Niedergang in eine innere Struktur einer peripheren Gesellschaft übersetzte. (Vgl. Wöhlcke 1982, S.203ff). 3. Schlußteil 3.1. Schlußfolgerungen aus der Erörterung Es ist offensichtlich, daß bei der Suche nach den Gründen für die Unterentwicklung des brasilianischen Nordostens sowohl exogene, als auch endogene Faktoren eine Rolle spielen. Es erweist sich als falsch, die Disparitäten in der Wirtschaftsstruktur des Landes ausschließlich durch die Folgen des Kolonialismus und durch wirtschaftliche Abhängigkeit zu erklären. Jedoch unterstellt der Begriff ,,abhängige Industrialisierung" auch nicht, daß die gesamte Industrialisierung komplett fremdbestimmt ist, daß eine ,,deterministische Konditionierung dieses Prozesses seitens des Auslandes stattfindet" (Wöhlcke 1981, S.115). Vielmehr haben die Abhängigkeitsverhältnisse Strukturen geschaffen, die keine noch so mächtige politische Führung des Landes beseitigen konnte, weil es einfach nicht in ihrem Interesse lag. Das ,,brasilianische Modell" ist ein Modell der ,,dynamischen abhängigen Entwicklung unter autoritären Bedingungen" (Wöhlcke 1981, S.123), das sich durch Abhängigkeit, Marginalität und Legitimitätsmangel auszeichnet. Solange sich der Staat selber nach den Sachzwängen, welche aus der strukturellen Abhängigkeit resultieren, verhält und sein Hauptaugenmerk auf die Exportsektoren richtet, notwendige Reformen verweigert (Landreform), kann keine Verbesserung der sozialen Lage verzeichnet werden. Durch endogene Faktoren ( Machtkonstellationen) werden die extern aufgelegten Zwänge aufrechterhalten. Zwar ist Wöhlcke zuzustimmen, daß ,,strukturelle Abhängigkeit der Schlüsselbegriff zum Verständnis von Entwicklung und Unterentwicklung im modernen Brasilien" ist, doch erweist sich der Staat als ein Instrument, welches diese Zustände zementiert. Es wäre wahrscheinlich durchaus möglich, endogene Reserven in Wirtschaft und Gesellschaft zu mobilisieren, es wurde schließlich gezeigt, daß sich die Wirtschaft diversifizieren konnte und Austauschstrukturen ,,Rohstoffe gegen Industriegüter" nach dem Senghaasschen Modell überwunden werden konnten. Zwar ist auch Tatsache, daß ,,das ausländische Kapital in mehreren Branchen eine führende Position oder gar eine monopolistische Kontrolle - Automobilbau, Pharmaindustrie, Elektronik" - erreichte (Füchtner1991, S. 44), doch das wurde schließlich vom brasilianischen Staat gebilligt. Das Demokratiedefizit erweist sich in diesem Zusammenhang als eine sehr schwerwiegendes Hindernis: erstens bedienen die nicht ausreichend legitimierten Regierungen vorwiegend ihre eigene Klientel, zweitens fehlt es an Partizipationsmöglichkeiten und damit zusammenhängenden Einflußmöglichkeiten breiter Bevölkerungsschichten auf die Politik. Systemfehler wie mangelnder Föderalismus werden durch gesellschaftliche Machtstrukturen (etwa Agrareliten) ergänzt, so daß es zu Mißständen ( Tatsache, daß die abhängigen Kleinbauern nicht frei wählen) kommt, die richtige Interessenartikulation verhindern. Diese endogenen Faktoren dürfen genauso wenig wie exogene Faktoren (wie in der Erörterung gezeigt) verabsolutiert werden. Sie dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Kolonialismus und internationale Handelsstrukturen, wie die Weltmarktnachfrage in der Folgezeit, die Spaltung Brasiliens in den reichen Süden und unterentwickelten Nordosten extern induziert und aufrechterhalten haben. Um auf die Frage aus der Einleitung zurückzukommen, wo es um den Konflikt zwischen Modernisierungs - und Dependenztheorien ging, läßt sich sagen, daß zu einer möglichst vollständigen Erklärung der Unterentwicklung des Nordostens Elemente beider Theorierichtungen kombiniert werden sollten: der Weltmarkteinfluß und gesellschaftsinterne Machtstrukturen als Hindernisse für den Aufstieg des Schwellenlands Brasilien zu einem Industrieland. Literaturliste: ¬ Füchtner, Hans: Städtisches Massenelend in Brasilien. Seine Entstehungsgeschichte, Ursachen und Absicherung durch politische Herrschaft und soziale Kontrolle. Mettingen 1991. ¬ Kabou, Axelle: Weder arm noch ohnmächtig. Basel 1993. ¬ Kohlhammer, S. : Leben wir auf Kosten der Dritten Welt?. Göttingen 1993. ¬ Langmann, Andreas: Schwellenland Brasilien. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Entwicklungsländer. Bonn 1996. ¬ Maus, Thomas: Entwicklungspolitik und Unterentwicklung: ein Beitrag zum Problem der Steuerbarkeit abhängiger Entwicklungsprozesse am Beispiel Nordostbrasiliens. Königstein /Ts. 1979. ¬ Nohlen, Dieter: Lexikon Dritte Welt. Länder, Organisationen, Theorien, Begriffe, Personen. 9.Aufl. Hamburg 1996. ¬ Nuscheler, Franz: Lern- und Arbeitsbuch Entwicklungspolitik. 4., aktualisierte Aufl. Bonn 1996. ¬ Schirm, Stefan A. : Brasilien: Regionalmacht zwischen Autonomie und Dependenz. Außenpolitik, Wirtschaft und Sicherheit im internationalen und lateinamerikanischen Kontext (1979-1988). Hamburg 1990. ¬ Schwalbach, Michael: Autoritarismus und Wirtschaftspolitik in Brasilien ( 1964-1985). Zur politischen Ökonomie der wirtschaftlichen Entwicklung der Nordostregion. Frankfurt am Main 1999. ¬ Wöhlcke, Manfred: Abhängige Industrialisierung und sozialer Wandel: Der Fall Brasilien. München 1981. Regionale Disparitäten: Stadtregionen <----> Periphere Räume Dynamische Entwicklung <---> Abwanderung der arbeitsfähigen Bevölkerung Problem: Punktuelle, keine flächendeckende Entwicklung z.B. Brasilien: fast ges. Bev. im SO (Küste) => unkontrolliertes Städtewachstum + ungenutzte Passivräume => weitere Abwanderung => Verschärfung der Disparitäten Probleme der Passivräume - keine Infrastruktur - ungünstige nat. Voraussetzungen ( Klima / Ressourcen / Lage - Abgeschlossenheit) Probleme der Aktivräume (Städte) - Bevolkerungsexplosion findet in den Städten statt => Slums / Favelas => Kriminalität Nebeneinander von Aktiv- und Passivräumen => Landflucht + unkontrollierbare Ballungsräume (politisch/ sozial/ ökologisch/ Infrastruktur) Folgen: Segregation (Absonderung von Minderheiten) => Slums (Favelas)/ Gettos => soziale Spannungen (kein Anteil an politischen Entscheidungen / krasser Gegensatz arm - reich Pullfaktoren: Verdienstmöglichkeiten Infrastruktur -> Bildung / Gesundheitswesen Pushfaktoren: Ernährungsstuation Abhängigkeit von Großgrundbesitzern => keine Aussichten auf Verbesserung der Situation => Sogwirkung durch Freunde / Vewandte Folgen: Überalterung am Land / kaum arbeitsfähige Bevölkerung Schattenwirtschaft in den Städten = informeller Sektor: statistisch nich erfasst => Zahlen erscheinen nicht im BS - keinerlei Arbeitsschutz, keinerlei Ansprüche (städtische Subsistenzwirschaft) (Befragung (afrikanische Großstädte): 20% Lohnbeschäfigte >60% Selbstständige Slums: (Marginalsiedlungen...) Oft sozial wichtig - "Nachtbarschaftshilfe" in Staaten ohne Kreditinfrastruktu Unterschiedliche Enstehung in Entw.- und Ind.-Ländern o -Entwicklungsland: Unkontollierte Zuwanderung ->Stadtrand o -Industieland: z.T. ehemalige Vornehme Wohnsiedlungen