Die Oder-Neiße-Linie ist keine alte, geschichtlich begründete

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Wie es zur Oder-Neiße-Linie kam
Historischer Bericht über das Schicksal der deutschen Ostgebiete auf Grund polnischer,
amerikanischer und englischer Darstellungen von Van Walther R«k«
Aktualisiert 11. Dezember 1947 07:00 Uhr
Von Walther Rock
Bis vor kurzem waren die Vorgänge, die den Polen die Möglichkeit gegeben haben, ihren
Machtbereich bis an die Oder-Neiße-Linie vor-, zuschieben, in ein fast undurchdringliches
Dunkel gehüllt. Über die letzte entscheidende Phase der Verhandlungen zwischen den
Vereinigten Staaten, Großbritannien und der Sowjetunion, die Konferenzen von Jalta (Februar
1945) und Potsdam (Juli/August 1945) August 1945) ist die Öffentlichkeit seit einem Monat
durch das außerordentlich aufschlußreiche Buch des früheren amerikanischen Außenministers
Byrnee („Speaking frankly“) eingehend, unterrichtet worden. Aber Jalta und Potsdam
bedeuten für das Schicksal der künftigen Grenze zwischen Deutschland und Polen nur den
vor-%läufigen Schlußstrich, unter eine Entwicklung, dieschon mit Beginn des zweiten
Weltkrieges, genauer gesagt, mit dem am 24. August 1939 abgeschlossenen Vertrag
zwischen; Deutschland und der Sowjetunion einsetzt Es sind die Beziehungen zwischen der
Sowjetunion und Polen und besonders der Streit um die künftige Grenze zwischen einem
wiedererstehenden Polen und der Sowjetunion gewesen, welche schon seit Ausbruch des
zweiten Weltkrieges im Mittelpunkt des politischen Geschehen gestanden und die Ereignisse
während der folgenden Jahre entscheidend beeinflußt haben. Bekanntlich ist die Überlassung
der weiten deutschen Ostgebiete bis zur Oder und Neiße der Kaufpreis gewesen, für den die
Regierung des neuen durch die Sowjetunion geschaffenen polnischen Staates auf die östlich
vom Bug und San gelegene Hälfte des früheren polnischen Staatsgebietes, wie es bis zum 1.
September 1939 Bestand gehabt, hatte, zugunsten der Sowjetunion verzichtet hat. (Vertrag
vom 16. 8. 1945.)
In die Hintergründe dieses für uns Deutsche so erschütternden Spiels, durch welches die
Würfel über das Schicksal der Osthälfte. des Deutschen Reiches und von über 9 Millionen
deutscher Menschen geworfen worden sind, gewähren zwei Veröffentlichungen
überraschende Einblicke. Die eine ist die bekannte Biographie Winston Churchills von Lewis
Broad, die in deutscher Übersetzung in den Jahren 1943 bis 1946 in Zürich erschienen ist. Die
andere Veröffentlichung hat einen Polen zum Verlassen W. W. Kulski, der von 1940 bis 1945
Bevollmächtigter Minister bei der polnischen Botschaft in London war und so vollauf
Gelegenheit gehabt hat, sowohl die englische wie die amerikanische Politik gegenüber dem
polnischen Problem kennenzulernen, wie auch besonders die Stellung der Sowjetunion. Diese
Veröffentlichung von polnischer Seite ist unter dem Titel: „Die entgangene Gelegenheit für
eine russisch-polnische Freundschaft“ in der führenden amerikanischen Zeitschrift „Foreign
Affairs“ erschienen (Band 25 Nr. 4, Juli 1947). Auf Grund dieser Unterlagen soll versucht
werden, in großen Zügen die Linien aufzuzeigen, die nach Jalta und Potsdam hingeführt
haben.
Die von der jetzigen polnischen Regierung an die Sowjetunion abgetretenen Gebiete östlich
vom Bug und San waren durch die Union zwischen dem Königreich Polen und dem
Großfürstentum Litauen im Jahr 1386 an den polnischen Staat angeschlossen worden. Sie sind
dann fast 400 Jahre lang immer wieder, der Gegenstand erbitterter Kämpfe zwischen Polen
und Russen gewesen, bis sie schließlich durch die Teilungen und damit den Untergang Polens
in den Jahren 1772 bis 1795 in das Kaiserreich Rußland einverleibt wurden. Nach dem
Zusammenbruch des Kaiserreichs Rußland stand das Schicksal dieser Gebiete wieder im
Mittelpunkt des europäischen Interesses. Der Oberste Rat der alliierten und Assoziierten
Hauptmächte bestimmte am 8. Dezember 1919 als künftige Ostgrenze Polens die Flüsse
Narew und Bug und ließ diese Grenzfestsetzung am 11. Juli 1920 durch den englischen
Außenminister Lord Curzon der Regierung der Sowjetunion bekanntgeben, als die Alliierten
den Versuch machten, den im Jahr 1920 zwischen Polen und der Sowjetunion
ausgebrochenen Krieg durch eine Friedensvermittlung zu beenden. Seit dieser Zeit trägt diese
vom Obersten Rat vorgeschlagene Grenze den Namen Curzon-Linie. Der polnische Marschall
Pilsudski weigerte sich aber, diesen Schiedsspruch der alliierten Mächte anzuerkennen, führte
den Krieg gegen die Sowjetunion weiter und beendete ihn so erfolgreich, daß er ohne Zutun
der Alliierten und sogar gegen deren Willen die Ostgrenze Polens viel weiter östlich, etwa in
der Mitte des zwischen Polen und Russen strittigen Gebietes ziehen konnte. Diese durch den
Frieden, zu Riga (18. März 1921) festgelegte Grenze zwischen Polen und der Sowjetunion hat
dann bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges Bestand gehabt. Die Sowjetunion hatte aber
die ihr durch Pilsudski aufgezwungene Grenze nie anerkannt und immer danach getrachtet,
sie ungültig zu machen. Die Polen dagegen sahen in den Gebieten östlich der Curzon-Linie
ihre Ostmarken. in die im Lauf der Jahrhunderte wertvolles polnisches Volkstum eingeströmt
war.
Als in den kritischen Wochen vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges England und Frankreich
sich um die Waffenhilfe der Sowjetunion gegen Deutschland, bemühten, ließen die
sowjetischen Politiker unzweideutig erkennen, daß die grundlegende Voraussetzung hierfür
sei, daß der Sowjetunion das Recht zuerkannt werde, die Ostgebiete Polen zu okkupieren,
„um sie besser gegen die deutsche Aggression verteidigen zu können“. Da die Westmächte
diese Forderung ablehnten, zeigte sich die Sowjetunion bereit, auf das Angebot Hitlers
einzugehen So war es zum Abschluß des Vertrages vom 24. August 1939 gekommen, in
dessen Geheimartikel vereinbart worden war, daß Polen zwischen Deutschland und der
Sowjetunion – mit der Linie Narew–Weichsel–Sai als Grenze aufgeteilt werden sollte. Am
31. August 1939 ratifizierte die Sowjetregierung diesen Pakt mit Deutschland; am 1.
September begann der Krieggegen Polen. Am 17. September 1939 rückten sowjetische
Truppen bis zu dieser Linie vor, und am 28. September kam es in Moskau, zur
Unterzeichnung eines zweiten Vertrages zwischen Deutschland und der Sowjetunion, durch
welchen proklamiert wurde, daß der polnische Staat zu bestehen aufgehört habe. Die
Grenzlinie wurde jetzt etwas weiter nach Osten an den Bug verlegt, an die ehemalige CurzonLinie. Wider alles Erwarten beeilte sich die englische Regierung, diese Abmachungen
zwischen Hitler und Stalin anzuerkennen. Am 26. September 1939 erklärte der damalige
britische Außenminister Lord Halifax, daß die Sowjets durch ihren Vorrmarsch seit dem 14.
September 1939 lediglich gegen die Grenzen vorgerückt seien, die im Jahr 1919 einer seiner
Amtsvorgänger, Lord Curzon, gezogen habe.
Der Beginn des Krieges zwischen Deutschland und der Sowjetunion am 22. Juni 1941 schien
dieser peinlichen Angelegenheit eine neue Wendung geben zu können. Auf englischer Seite
hoffte man jetzt, aus diesem durch Gewalt herbeigeführten Zustand eine völkerrechtlich
begründete Situation machen zu können. Schon bald nach dem Einmarsch der deutschen
Truppen in das Restgebiet Polens begann die englische Regierung einen Starken Druke auf
die polnische Exilregierung, die sich in London etabliert hatte, auszuüben, mit dem Ziel, die
Polen dahin, zu bringen, daß sie durch einen Vertrag mit der Sowjetunion von sich aus die
durch Hitler und Stirn gezogene neue Ostgrenze ihres Staates anerkannten. Nach längerem
Sträuben zeigte sich die polnische Exilregierung zu einer Verständigung mit der Sowjetunion
bereit. So kam es zum Abschluß des Vertrages vom 30. Juli 1941, Dank ihrer Zähigkeit war
es den Polen aber gelungen, die für sie wichtigste Frage der Ostgrenze offen zu halten. Als
Belohnung für ihre Bereitwilligkeit, mit der Sowjetregierung zu verhandeln, erhielten die
Polen von der britischen Regierung die schriftliche Zusicherung (3.1. August 1941), daß diese
nicht die Absicht habe, territoriale Veränderungen, die in Polen seit dem August 1939
stattgefunden hätten, anzuerkennen. Die Polen glaubten also, in ihrem Protest gegen die
Annekterung ihrer Ostmarken durch die Sowjetunion auf die Hilfe Englands rechnen zu
können. Auch die Sowjetregierung schien einlenken zu wollen. In einer Unterredung, die der
polnische Ministerpräsident General Sikorski im Dezember 1941 mit Stalin hatte, erklärte
dieser in sehr herzlichen Ton, sein Wunsch sei. nur, daß die künftige Grenze zwischen Polen
und der Sowjetunion gegenüber ihrem Zustand vom August 1939 nur ein ganz klein wenig
zugunsten der Sowjetunion nach Westen. verschoben würde. Sikorski glaubt? aus den Worten
Stalins entnehmen zu können daß dieser. an eine neue Grenze dachte, die zwischen der
Curzon-Linie und der Grenzlinie des Vertrages von Riga lag.
Je mehr sich die militärische Lage der Sowjetunion besserte, um so unfreundlicher wurde ihre
Haltung gegenüber den Polen. Auf der anderen Seite versuchten die sowjetischen Politiker,
die Diskussion über die neue Ostgrenze den Polen dadurch schmackhaft zu machen, daß sie
eine neue Idee in die Debatte warfen: den Gedanken, daß die Polen für die ihnen im Osten
zugemuteten Verluste im Westen durch Kompensationen auf Kosten deutschen Staatsgebietes
entschädigt werden sollten. Schon im Dezember 1941 hatte Stalin gegenüber dem britischen
Außenminister Eden gemeint, daß Deutschland militärisch und wirtschaftlich geschwächt
werden müsse, und zwar dadurch, daß man ihm Ostpreußen abnehme und den, Polen
übergebe. Während des Jahres 1942 war dieser Gedanke, daß Polen für den Verlust seiner
Ostmarken durch deutsche Gebiete entschädigt werden müsse, mehrfach von den Vertretern
der Sowjetunion bei ihren Verhandlungen mit den Polen betont worden. Im Laufe des Jahres
1943 schienen, wie Kulski bemerkt, England und Amerika diese Kompensationsidee der
Sowjetpolitiker akzeptiert zu haben, nämlich, daß Polen für seinen Verzicht im Osten durch
Ostpreußen, Danzig und Oberschlesien entschädigt werden sollte.
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Inzwischen war aber die Sowjetregierung von der Notwendigkeit befreit worden, weiter mit
der polnischen Exilregierung in London zu verhandeln. Denn diese hatte Moskau gegenüber
eine ausgesprochen feindliche Haltung eingenommen, und zwar im Zusammenhange mit der
Frage der Massengräber bei Katyn. Am 14. April 1943 hatte die deutsche Regierung ihre
Bekanntmachung über Katyn veröffentlicht, und schon zwei Tage später hatte die polnische
Regierung in London beim Internationalen Roten Kreuz eine Untersuchung der Gräber
beantragt. Die Sowjetregierung sah hierin einen feindlichen Akt und brach die diplomatischen
Beziehungen zu den Londoner Polen ab. – Sie tat dies augenscheinlich nicht ungern, denn sie
hatte schon alle Vorbereitungen getroffen, um miti-Hilfe polnischer Kommunisten (der Union
polnischer Patrioten) in Moskau eine polnische Konkurrenzregierung, die in jeder Weise
gefügig war, aufzuziehen. Zwei Wochen nach dem Schritt der Londoner Exilregierung in der
Katyn-Angelegenheit erklärte der Präsident dieser Union polnischer Patrioten, die polnische
Regierung in London besitze kein populäres Mandat; sie müsse also abtreten. Und als Stalin
im Mai 1943 in einem Brief an die russische Presse die Forderung nach einem starken,
unabhängigen und nicht zuletzt freundlich. gesinnten Polen aufstellte, war klar zu erkennen,
daß er damit die Mitglieder der Union meinte. Unter dem Protektorat dieser Union wurde
dann auch eine neue polnische Armee in der Sowjetunion aufgestellt.
So kam es, daß auf der Konferenz zu Teheran (27. Oktober 1943) das polnische Problem im
Mittelpunkt der politischen Verhandlungen zwischen den drei Alliierten stand. Jetzt wurde die
Curzon-Linie als die künftige Grenze zwischen Polen und der Sowjetunion anerkannt.
Zugleich nahmen Churchill und Roosevelt den Vorschlag Stalins an, daß Polen eine
umfangreiche Entschädigung auf Kosten Deutschlands erhalten solle. Zum ersten Male wurde
jetzt von Stalin die Oder als die Westgrenze des künftigen polnischen Staatsgebietes genannt.
Stalin war so freigebig, weil er schon begründete Hoffnungen haben konnte, daß die künftige
polnische Regierung nicht die reaktionäre Exilregierung in London, sondern eine
kommunistische sein wurde. Es ist bemerkenswert, daß – die Mitglieder der britischen
Delegation in Teheran auf diesen weitgehenden Vorschlag Stalins verschieden reagierten.
Churchill war sogleich bereit, die Oderlinie anzunehmen. Eden dagegen hatte gegenüber
dieser zu großen Ausdehnung der Kompensation Bedenken. Er empfahl den Polen, ihre
Forderungen auf Ostpreußen, Danzig, Oberschlesien und Teile von Pommern zu beschränken.
Trotz diesen weitgehenden Zusagen von Seiten der führenden britischen Staatsmänner war die
Londoner Exilregierung nicht bereit, auf diesen nun von den drei Alliierten gemeinsam
gemachten Tauschvorschlag – Anerkennung der Curzon-Linie gegen Kompensationen durch
deutsches Staatsgebiet – einzugehen. Der neue Premierminister Mikolajczyk – General
Sikorski war im Juli 1943 Opfer eines Flugzeugunglücks geworden – war jedoch trotz
schwerer Bedenken bereit, die Curzon-Linie zu akzeptieren, und versuchte auch, die
maßgebenden Polen in London für diesen Standpunkt zu gewinnen, indem er darauf hinwies,
daß nur so die Unabhängigkeit des künftigen polnischen Staates gerettet werden könne. Wenn
die Londoner Exilregierung weiter ablehnend bleibe, so werde sie bald durch eine
kommunistisch kontrollierte Regierung in Warschau ersetzt werden. Auch Churchill selbst
setzte sich für diesen Standpunkt ein und betonte in seiner Rede, die er am 22. Februar 1944
im Unterhaus hielt, daß die Sowjetunion das Gebiet bis zur Curzon-Linie unbedingt nötig
habe, um sich gegen erneute Aggressionen wirksam sichern zu können. Zugleich gab
Churchill im Unterhause bekannt, daß er mit Stalin in Teheran darüber gesprochen habe, daß
Polen auf Kosten Deutschlands entschädigt werden müsse, „sowohl im Norden als auch im
Westen“.
Das Jahr 1944 ist gekennzeichnet durch Churchills verzweifelte, immer von neuem
aufgenommene Versuche, die Londoner Exilregierung als einzige Repräsentation der Polen zu
retten, dabei aber durch diese Bemühungen nicht die Freundschaft Stalins zu verlieren. Vor
allem aber drängte die militärische Lage auf eine Klärung der Beziehungen zwischen der
Sowjetunion und der polnischen Exilregierung, denn im Juli 1944 hatten die Sowjettruppen
die Curzon-Linie überschritten. Dadurch hatten sich die Gegensätze zwischen Moskau und
den Londoner Polen aufs schärfste zugespitzt. Als Ende Juli 1944 der Aufstand der Polen in
Warschau ausbrach, kamen die Sowjettruppen, obwohl sie nur wenige Kilometer entfernt auf
dem anderen Ufer der Weichsel standen, ihnen nicht zu Hilfe, lediglich aus dem Grunde, weil
die Warschauer Polen sich zur Londoner Exilregierung bekannt hatten.
Stalin verlangte unbedingt als künftige Westgrenze der Sowjetunion die Curzon-Linie,
während die Londoner Polen nicht auf die polnischen, Ostmarken verzichten wollten. Nicht
nur Churchill selbst, sondern auch in seinem Auftrage Mikolajczyk versuchte mehrmals,
sowohl die Londoner Polen wie auch Stalin zu Konzessionen zu bewegen. Um die Londoner
Polen zu gewinnen, war Churchill in dem Ausmaß der angebotenen Kompensation immer
weiter gegangen. – Zweimal reiste er in der zweiten Hälfte des Jahres 1944 nach Moskau, im
August und im Oktober. Jedesmal versuchte er nach seiner Rückkehr, die Londoner Polen
durch neue Konzessionen zu gewinnen. Im August bot er ihnen schon Gebiete westlich der
Oder und vor allem den Hafen von Stettin an. Nach seinem zweiten Besuch in Moskau, der
fast zehn Tage, vom 9. bis zum 18. Oktober 1944 dauerte, gab Churchill einen ausführlichen
Rechenschaftsbericht im Unterhause. Zur Frage der den Polen versprochenen
Kompensationen erklärte er: Polen werde im Norden durch ganz Ostpreußen westlich und
südlich von Königsberg unter Einschluß, des Danziger Hafens entschädigt werden. Es werde
den Polen freistehen, sich nach Westen hin auf Kosten der Deutschen auszudehnen, wodurch
sie Gebiete erhalten würden, die wichtiger und viel höher, entwickelt seien als diejenigen, auf
die sie Verzicht leisten müßten. Nach diesen schon bekannten Angeboten kam als wesentliche
Steigerung eine außerordentlich schwerwiegende Konzession. Churchill wies darauf hin, daß
die Verwirklichung dieser – Pläne, einen Bevölkerungstransfer von mehreren Millionen,
Menschen, sowie die Vertreibung der Deutschen aus den den Polen zuzusprechenden
Gebieten mit sich bringen werde. Es würde eine gründliche Lösung getroffen werden.
Churchill meinte abschließend, er vermöge nicht einzusehen, warum Deutschland der aus dem
Osten vertriebenen deutschen Bevölkerung keinen Raum bieten könne. Es hätten ja schon
etwa sieben Millionen Deutsche im Kriege den Tod gefunden, und noch mehr würden in den
kommenden Kämpfen den Tod finden! Es dürfte kaum einem Zweifel unterliegen, daß das
Angebot der Vertreibung aller Deutschen aus. diesen den Polen angebotenen Deutschen
Ostgebieten von Stalin stammte. Denn es entsprach ja durchaus der von der Sowjetregierung
bei neuen Gebietserwerbungen angewandten Methode. Mikolajczyk glaubte nun, durch diese
Erklärungen Churchills einen besonderen Trumpf in der Hand zu haben, um die Gegner
innerhalb seiner Regierung zu zwingen, die Curzon-Linie in Verbindung mit den angebotenen
weitgehenden Kompensationen anzunehmen. Aber wider Erwarten wurde er Ende November
1944 überstimmt und mußte die Kreise der im Banne Moskaus stehenden polnischen
Kommunisten.
Fast in der gleichen Weise, wie die Franzosen vor der Pariser Friedenskonferenz den
Präsidenten Wilson für ihre Forderungen geneigt zu machen suchten, . indem sie ihn auf die
Schlachtfelder führten, wurde Roosevelt durch die sowjetischen Gastgeber stimmungsmäßig
vorbereitet. Man zeigte dem amerikanischen Präsidenten die Zerstörungen auf der Krim als
das Werk der deutschen Barbaren. Obwohl Roosevelt über diese Eindrücke entsetzt war,
wollte er doch nicht widerspruchslos del vorgeschlagenen Regelung der polnischen Frage
zustimmen. Ihm gefiel die jetzt von sowjetischer Seite in ihrer endgültigen Fassung
vorgeschlagene Regelung – Abtretung der polnischen Ostmarken an die Sowjetunion,
Entschädigung Polens durch Überweisung der deutschen Ostmärken an Polen – durchaus
nicht; Vor allem mußte er jetzt mit Bestürzung feststellen, daß Stalin die Westgrenze des
nunmehr unter dem Patronat der Sowjetunion stehenden polnischen Staates in entscheidender
Weise weiter nach Westen verschieben wollte. Stalin forderte jetzt als äußerste Westgrenze
die Neiße-Linie. Als er merkte, daß weder Roosevelt noch, Churchill – von diesem Vorschlag
entzückt waren, erhob er sich – Byrnes hat diese Szene anschaulich geschildert – und erklärte
in scharfem Tone, daß er auf dieser Forderung unter allen Umständen bestehen werde.
Während bisher Churchill die Kompensationen, welche er den hinter der Londoner
Exilregierung stehenden Polen in Aussicht gestellt hatte, in langwierigen Verhandlungen mit
Stalin hatte aushandeln müssen, trat jetzt Stalin für seine durch die Provisorische Regierung in
Warschau repräsentierten Polen energisch fordernd gegenüber seinen Alliierten auf, wobei er
die bisher von Churchill in Aussicht gestellten Kompensationen noch beträchtlich überbot.
Churchill versuchte, schwachen Widerstand zu leisten, indem er meinte, es sei zu bezweifeln,
das es klug sei, die Westgrenze Polens, an die Neiße zu verlegen. Er gab schließlich lediglich
seine Zustimmung dazu, daß die neue Grenze Polens bis in deutsches Gebiet hinein verlegt
werde.
Von schwerer Sorge um die Zukunft überschattet war der Rechenschaftsbericht, den Churchill
Ende Februar 1945 dem Unterhause über die Konferenz von Jalta vorlegte. Voll tiefer
Resignation, aber auch mit überraschend klarer Vorhersicht der tatsächlich später
eingetretenen Entwicklung, äußerte er-sich über das Schicksal des künftigen polnischen
Staates: „Der heimische Raum ist nun für die Polen festgelegt... Wird ihre Souveränität und
Unabhängigkeit uneingeschränkt sein,-oder sollen sie nur eine Fortsetzung der Sowjetstaaten
über deren Grenzen hinaus werden, gegen ihren eigenen Willen durch eine: bewaffnete
Minorität gezwungen, ein kommunistisches oder totalitäres System anzunehmen?“ Die nach
der Konferenz von Jalta veröffentlichte Deklaration der drei Alliierten (11. 2. 1945) legte
wiederum die Curzon-Linie als die Ostgrenze Polens fest und versprach den Polen eine
Kompensation auf Kosten Deutschlands. Zugleich hatten sich in dieser Deklaration Amerika
und England verpflichtet, die Provisorische Regierung in Warschau anzuerkennen, allerdings
unter der Bedingung, daß auch die anderen politischen Richtungen in Polen in ihr vertreten
sein müßten. Im April 1945 nahm Mikolajczyk die Beschlüsse von Jalta an, und Ende Juni
trat er auf starkes Drängen der britischen Regierung in die Provisorische Regierung ein, wo er
das Amt des Premierministers übernahm.
Damit war der Londoner Exilregierung tatsächlich der Boden unter, den Füßen weggezogen
worden. Und da ihr auch durch Amerika und England die weitere Anerkennung versagt
wurde, mußte sie abdanken. Sie tat dies unter erregten Protesten und erklärte, daß sie einem
noch nie dagewesenen Vorgehen und einem Bruche aller Prinzipien des Völkerrechts zum
Opfer gefallen sei. Die von den drei Alliierten beschlossene neue territoriale Gestaltung, die
tatsächlich eine Anerkennung der zwischen Hitler und Stalin am 24. August 1939
verabredeten Aufteilung des polirischen Staatsgebietes bedeutete, nannte die Exilregierung
die fünfte Teilung, Polens,
Wie sehr sich Amerika und England durch die Beschlüsse von Jalta die Hände gebunden
hatten, sollten sie dann auf der Konferenz von Potsdam, die Mitte Juni 1945 begann,
erkennen. Die unscharfe Fassung der Deklaration von Jalta und die inzwischen zu Ende
geführten militärischen Operationen boten der Sowjetunion die Möglichkeit die
angelsächsichen Mächte in Potsdam in der polnischen Frage im wesentlichen vor vollendete
Tatsachen zu stellen. Byrnes hat in seinem Buche das peinliche und besorgte Erstaunen des
Präsidenten Truman ebenso wie die scharfe Reaktion des neuen englischen Außenministers
Bevin meisterhaft gezeichnet. Truman und Churchill stellten voll Unwillen fest, daß das
gesamte deutsche Gebiet östlich der Neiße der polnischen Verwaltung ausgeliefert worden
war, Byrnes weist auch darauf hin, daß die Amerikaner über die Austreibung der Deutschen
aus den unter polnische Herrschaft gekommenen deutschen Ostmarken tief betroffen waren.
Die Hauptsorge Trumans in Potsdam in bezog auf das polnische Problem bestand
augenscheinlich darin, Stalin von weiteren direkten Aktionen zurückzuhalten. So betonte er
während der Konferenzverhandlungen mehrmals, „daß keine terrisein Amt niederlegen. Die
neue polnische Exilregierung stand der Verständigung mit der Sowjetregierung in noch
schärferer Ablehnung gegenüber. Nicht nur in London, auch in Washington war man über
diese Wendung peinlich berührt. Die neue Regierung wurde zwar anerkannt, erhielt aber
keine politische Unterstützung mehr. Im Dezember 1944 bildete sich in Warschau eine
Regierung aus den Kreisen des von der Sowjetunion abhängigen polnischen .nationalen
Befreiungskomitees. Diese neue polnische, Regierung erklärte die Diskussion über die
territorialen Fragen für abgeschlossen. Die Sowjetunion war am Ziele angelangt.
So war es durchaus verständlich, daß Stalin auf der nun folgenden, am 4. Februar 1945 in
Jalta eröffneten Konferenz in der polnischen Frage die Führung übernahm.. Denn immer mehr
wurde die neue polnische Regierung ein gefügiges Werkzeug Moskaus, und jede Förderung,
die dem neuen polnischen Staat zuteil wurde, bedeutete auch eine Förderung der Interessen
der Sowjetunion. Die Lage war in Jalta für Stalin insofern außerordentlich, günstig, als
Roosevelt schon als schwerkranker, vom. Tode gezeichneter Mann nach Jalta kam und
Churchill augenscheinlich kein Interesse mehr an der polnischen Frage hatte, da er ja klar
erkannt hatte, daß der im Werden begriffene polnische, Staat nicht mehr die auf Seiten
Englands und Amerikas stehenden Polen repräsentierte, sondern torialen Veränderungen vor
der Friedenskonferenz festgelegt werden sollten“.. Und Byrnes fügt noch hinzu:
„Insbesondere machten! wir keine Versprechungen. daß wir auf der Friedenskonferenz eine
bestimmte Linie als polnische Westgrenze befürworten würden“. Truman ist augenscheinlich
in dieser Frage so energisch geworden, daß Stalin, um ihn zu beruhigen, erklären mußte: „Die
westliche Grenzfrage steht noch offen, und die Sowjetunion ist in keiner Weise gebunden“.
Als Truman daraufhin fragt: Wirklich nicht?“, antwortet Stalin mit einem klaren „Nein“. So
war also in den Verhandlungen in Potsdam der Absatz VI des Schlußprotokolls der Konferenz
von Jalta erneut bestätigt worden, in welchem eindeutig beschlossen worden war, „die
endgültige Festsetzung der polnischen Westgrenze der Friedenskonferenz zu überlassen“.
Demgemäß wurde auch in dem Abschlußprotokoll über die Konferenz von Potsdam betont:
„Die drei-Regierungschefs sind der Ansicht, daß eine endgültige Festlegung der polnischen
Westgrenze bis zur Friedensregelung aufgeschoben werden soll“. Am 16. August 1945 fand
im englischen Unterhause eine längere Debatte über die Potsdamer Konferenz statt. Als
Führer der Opposition ergriff Churchill das Wort. Aber es war nicht mehr der Premierminister
des Jahres 1944, der noch im Oktober nach seiner zweiten Verhandlung mit Stalin vor. dem
Unterhause sich so zuversichtlich und positiv über die geplante territoriale Gestalt des
künftigen polnischen Staates ausgesprochen und sogar leichten Herzens von dem durch diese
Neuordnung notwendig werdenden Bevölkerungstransfer von mehreren Millionen Menschen
gesprochen hatte. Jetzt, kaum ein halbes Jahr später, mußte er erschüttert bekennen: Die neue
Westgrenze, die dem polnischen Staate den vierten Teil allen bebauungsfähigen deutschen
Landes einverleibe, bilde seiner Ansicht nach kein glückliches Vorzeichen für Europa. In der
Koalitionsregierung habe der Wunsch bestanden, Polen im Westen für das im Osten an
Rußland abgetretene Gebiet zu entschädigen. Aber die Polen hätten den großen Fehler
gemacht, viel weiter zu gehen, als Notwendigkeit oder Billigkeit es erfordert hätten. Jetzt
äußerte’sich Churchill auch voll Bestürzung über die Art und Weise der Austreibung der
Deutschen aus dem neuen Polen. Zwischen acht und neun Millionen Menschen hätten vor
dem Kriege in diesen Gebieten gelebt, und die polnische Regierung habe schätzungsweise
angegeben, es befänden sich noch anderthalb Millionen unvertrieben innerhalb der neuen
Grenzen. Was sei aus den anderen Millionen geworden? Welches Schicksal sei ihnen
zugestoßen? Es sei nicht unmöglich, daß sich hinter dem eisernen Vorhange, der Europa in
zwei Hälften teile, eine Tragödie von unvorstellbaren Ausmaßen abspiele.
Was, Churchill damals im August 1945 als Ahnung aussprach, ist durch die seitdem bekannt
gewordenen Vorgänge im deutschen Osten erschütternde Wirklichkeit geworden. Durch die
tatsächlich schon durchgeführten Kompensationen und die damit verbundene Ausrottung und
Vertreibung vieler Millionen besten deutschen Menschentums ist eine Lage geschaffen
worden, die jede Hoffnung auf einen wirklichen Frieden in dumpfer Verzweiflung und
tödlichem Haß der Völker gegeneinander zu ersticken droht.
Wenn Europa, nicht dem Chaos zum Opfer fallen soll, muß bald ein Friede aufgerichtet
werden, der nicht auf dem Haß der Völker gegeneinander und dem Vernichtungswillen
aufgebaut ist, sondern sich gründet auf der Anerkennung unverjährbarer Rechte der Völker
auf ihren seit vielen Jahrhunderten angestammten Heimatboden.
Die Oder-Neiße-Linie ist keine alte, geschichtlich begründete Grenze zwischen dem
Heimatboden der Deutschen und dem der Polen, sondern ein mitten in die deutschen
Ostmarken hineingetriebener Keil, der den geschlossenen, fast 800 Jahre alten Volks- und
Kulturboden Ostdeutschlands auseinanderzureißen droht.
http://www.zeit.de/1947/50/wie-es-zur-oder-neisse-linie-kam/seite-3
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