Vorlesung7.WS.2016-17 - Prof. Dr. Kazimierz Rynkiewicz

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Prof. Dr. Kazimierz Rynkiewicz
Die epistemische Koexistenz
von Theorie und Wissen
- aus wissenschaftstheoretischer Perspektive
Vorlesung
Ludwig-Maximilians-Universität München
WS 2016/17
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Vorlesung 7
(30.11.2016)
Teil II (=> die sachliche Phase A)
THEORIE ALS SPRACHLICH FORMULIERTES SYSTEM
1. Einführung
2. Der kontextuelle Aspekt der Theorie
2.1. Theorie und Praxis
2.2. Theorie und Axiome
2.3. Theorie und Tatsachen: Naturalisierung der Theorie?
THEORIE ALS SPRACHLICH FORMULIERTES SYSTEM
Einführung
Reflexion als solche, mithin auch die philosophische Reflexion kann man auf
ein qualitativ neues Niveau heben, indem man sie sozial institutionalisiert. Das
führt dazu, dass sich die Reflexion von den situativen und personalen
Einschränkungen löst und einen dauerhaften Charakter gewinnt. Diese Lösung
der Reflexion von Situationen und Personen hat offenbar weitreichende Folgen.
Im Rahmen des Alltagsbewusstseins bleibt Reflexion immer improvisiert; d.h.
es gibt manche Handlungszwänge und Grenzen, subjektive Perspektiven und die
Notwendigkeit, mit epistemischen Routinen zu arbeiten. Dies ändert sich jedoch
durch Institutionalisierung. Institutionalisierte Reflexion ist zwar nicht
unbedingt frei von Begrenzungen, aber sie ist nicht mehr auf situative und
individuelle Verarbeitungskapazitäten beschränkt. Sie kann deshalb Reflexion
(als solche) in eine systematische Form bringen und diese Form dann stets
modernisieren und aufbewahren.
Durch methodisch kontrollierte Wissenserzeugung entstehen in dieser Weise
Theorien, d.h. systematisch begründete Interpretationen. Unter der
methodischen Kontrolle ist hier das planmäßige und angemessene Verfahren zur
Gewinnung von verlässlichen Informationen zu verstehen, die Gegenstand und
Prüfstein von Theorien sind.
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Eine Theorie ist dabei die Form, in der Reflexion organisiert werden kann,
wenn sie sich von den Zwängen der alltäglichen Praxis löst, um dann einen
„professionellen“ und differenzierten Charakter zu erhalten.
Theorie konzentriert sich auf sich selbst, entwickelt ihre eigenen Strukturen und
Kriterien und entfernt sich vom alltäglichen Denken, Reden und Tun. Darum
kann man durchaus behaupten, dass Theorien sich von den Vorstellungen des
Alltagsbewusstseins nicht nur dank ihrer Reichweite unterscheiden, sondern
auch dank ihrer Sprache. Theorien verwenden also ihre eigene Sprache, die sich
von der natürlichen Sprache dadurch unterscheidet, dass sie keine offene
Semantik und Grammatik besitzt, sondern nur bestimmte Bedeutungen und
Verknüpfungen erlaubt.
Obwohl der Gegenstand der Theorien-Sprache und der Umgang mit ihr
gewissermaßen eingeengt und reduziert sind, hindert das sie noch nicht, klare
und präzise Formulierungen zu schaffen. Insofern gelten Theorien als Idealform
(institutionalisierter) Reflexion.
Als solche ermöglichen sie dann erst die Wissenschaft, die sich aber wiederum
mit Hilfe von (wissenschaftlichen) Theorien objektiv zu demonstrieren habe.
Mit dieser Reflexion beginnen wir die sachliche Phase der Wissenschaftstheorie
zu erarbeiten, deren leitende Begriffe sind: Theorie, Wissenschaft und
Wissenschaftstheorie.
Dabei gilt zunächst die These, Theorie sei sprachlich formuliertes System. Um
diese These begründen zu können, muss dann die Frage nach dem „Wie der
Theorie“ gestellt werden. Dies erfordert jedoch die Klärung der Begriffe, welche
jede Theorie notwendig voraussetzen muss. Daraus ergibt sich, dass Begriffe
auch das Fundament der Wissenschaftstheorie (WT) bilden, die verstehen will,
wie wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung funktioniert. Anders ausgedrückt:
Die WT fragt nach dem „Wie des Wissens“.
Der kontextuelle Aspekt der Theorie
Theorien stellen das in einem Zustand vorhandene Wissen in objektivierter,
meist sprachlich niedergelegter Weise dar. Sie sind dann vor allem in Form von
Hypothesen und Daten relativ leicht identifizierbar und in zusammengehörige
Gruppen klassifizierbar. Theorien, die ein gewisses Maß an Kohärenz
aufweisen, erlauben die Konstruktion von Modellen. Damit sind viele Faktoren
angesprochen, die wir in weiteren Abschnitten genauer analysieren werden.
Hier geht es vorab darum, den Kontext dieser Analyse zu bestimmen. Den
Kontext bildet jeweils ein bestimmtes Begriffspaar, wobei die leitende
Komponente immer die Theorie selbst ist: (1) Theorie und Praxis; (2) Theorie
und Axiome; und (3) Theorie und Tatsachen; (4) Theorie und Begriffe; (5)
Theorie und Statistik; und (6) Theorie und Realismus.
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Theorie und Praxis
Das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis weist einen besonderen Charakter
auf, der sich im Entfaltungsprozess von Wissenschaften deutlich offenbart.
Denn zum einen lassen sich etliche logische Beziehungen nachweisen: Es gibt
etwa keine Theorie ohne Praxis, und zwar in dem Sinne, dass man jedwede
Theorie nur im Kontext einer bestimmten Praxis richtig verstehen kann, und
umgekehrt. Zum anderen kann eine Theorie ihre völlige semantische
Ausgestaltung erst dann erlangen, wenn sie sich auch in die Tat umsetzen lässt,
d.h. wenn ihr eine praktische Umrahmung zugeschrieben werden kann.
Wollen wir jedoch unsere Argumentation anders formulieren, so können wir
sagen, alle Praxis sei an vorgegebene Bedingungen gebunden und in eine
vorgegebene Ordnung hineingestellt, mit der sie rechnen und die sie im Voraus
erkennen muss, sollte sie nicht scheitern. Im Gegensatz zur Praxis wird also die
Theorie in erster Linie für die bloße Erkenntnis, für das bloß zuschauende
Betrachten gehalten, während Praxis jede Art von Tätigkeit außer der Erkenntnis
selbst bedeutet, insbesondere die nach außen gewandte Tätigkeit.
Sowohl bei Aristoteles als auch bei Kant werden die Termini „Praxis“ (gr.
πρᾶξις) und „praktisch“ (gr. πρακτικός) der sittlichen Willenshandlung
vorbehalten; für die sich auf äußere Gegenstände wendende Tätigkeit werden
hingegen die Ausdrücke „Téchnē“ (gr. Τέχνη) und „technisch“ (gr. τεχνικός)
gebraucht. Bei Aristoteles lesen wir unter anderem Folgendes:
(1) „Dennoch aber glauben wir, dass Wissen und Verstehen mehr der Kunst
zukomme als der Erfahrung und halten die Künstler für weiser als die
Erfahrenen, dass Weisheit einen jeden mehr nach dem Maßstabe des Wissens
begleite“ (Met 981a).
(2) „Da unfreiwillig ist, was aus Zwang oder Unwissenheit geschieht, so
möchte freiwillig sein, dessen Prinzip in dem Handelnden selbst ist und zwar
so, dass er auch die einzelnen Umstände der Handlung kennt“ (NE III 21f).
Selbst wenn diese beiden Fragmente den verschiedenen Werken Aristoteles
entnommen wurden, zeigen sie den Begriff des Praktischen ganz klar auf im
Kontext der Handlung bzw. der Erfahrung, die aber meist auch in einem
Handlungszusammenhang steht. Ähnliches finden wir bei Kant vor, wenn er
zwischen der „Kritik der reinen (d.h. theoretischen) Vernunft“ und der „Kritik
der praktischen Vernunft“ differenziert.
Verbleiben wir noch bei der Analyse der Relation zwischen Theorie und Praxis,
dann stellen wir unter anderem fest, mit der Theorie als bloßer Erkenntnis seien
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Meditationen und Spekulationen verbunden, die eine besondere Aufmerksamkeit
von Erkennen und Denken verlangen.
Eine derartige Aufmerksamkeit trägt zudem erheblich zur Entfaltung praktischer
Disziplinen wie Medizin, Rechtswissenschaft, Ingenieurwissenschaften usf. bei.
Diese Disziplinen setzen jedoch stets entsprechende Theorien voraus, damit ihre
zweckbezogene Artikulation sich möglichst effizient ausgestalten kann. Genauer
gesagt werden insbesondere Modelle verwendet, die eine grundlegende
Komponente von Theorien darstellen. In praktischen Disziplinen dienen also
Modelle weniger der Repräsentation realer Systeme, sondern mehr als
Grundlage zur Konstruktion neuer realer Systeme.
In der Technik will man etwa bestimmte Systeme ganz neu herstellen, in der
Medizin geht es vor allem um die Heilung von Krankheiten und in den
juristischen Disziplinen um die Subsumption realer Ereignisse unter gegebene
Gesetze sowie um die Urteilsfindung. Das, was auf diesen Gebieten jeweils
angestrebt wird, könnte man als „intendierte Systeme“ bezeichnen, die sich
empirischen Regularitäten verdanken. Diese Regularitäten stellen einen
kausalen oder probabilistischen Zusammenhang her. Bringen wir dazu ein
Beispiel aus dem Medizinbereich vor:
„In der Medizin wurde in den 60er Jahren die Myokardprotektion durch
Kardioplegie nach Bretschneider als Methode eingeführt, bei Herzoperationen
Schäden am Myokard zu vermeiden, die ohne zusätzliche Vorkehrungen dann
auftreten, wenn die Operationsdauer mehr als 15 Minuten beträgt. Mit dieser
Methode wird das Herz durch eine Kombination von Hypothermie,
Natriumentzug und Kaliumentzug ruhiggestellt und damit die Zeit, in der ohne
Folgeschäden operiert werden kann, auf etwa 120 Minuten verlängert. Die so
teilweise gefundene und teilweise hergestellte Regularität lautet wie folgt:
Wenn bei einer Herzoperation Myokardprotektion vorgenommen wird, kann
bis zu 120 Minuten operiert werden, ohne dass Folgeschäden am Myokard
auftreten.“
Wenn man schon den letzten Satz des obigen Zitats einer Analyse unterzieht,
d.h. den Satz „Wenn bei einer Herzoperation Myokardprotektion vorgenommen
wird, kann bis zu 120 Minuten operiert werden, ohne dass Folgeschäden am
Myokard auftreten“, kann man eine Art Theoriegeladenheit von
Beobachtungssätzen feststellen.
Wir können also empirisch beobachten, dass das Myokard (= Herzmuskel)
keinen Schaden erleidet, wenn es entsprechend geschützt wird. Unsere
empirische Beobachtung wird also hier durch eine Theorie „positiv getragen“,
deren Fundament eine kausale Regularität darstellt.
Es kann aber auch eine andere „negativ gefärbte“ Konstellation vorkommen:
Theorien können selber an der Erfahrung scheitern, die einen wesentlichen Teil
von Praxis darstellt. Es handelt sich also um die empirische Prüfung von
Theorien, die darin besteht, dass man nach logischen Widersprüchen zwischen
Theorien und Beobachtungssätzen sucht. Die Erfahrung kann nicht unmittelbar
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herangezogen werden, weil Theorien nur Sätze über Erfahrungstatsachen
logisch widersprechen können.
Popper bezeichnete solche Sätze zunächst als „Basissätze“, dann aber als
„Prüfsätze“. Prüfsätze sollen - anders als die Protokollsätze im Logischen
Empirismus etwa bei Carnap – nicht durch die Erfahrung sicher begründet
werden. Wie Theorien sind sie nicht verifizierbar, sie sind auch nicht letztlich
sicherbar, sondern bleiben stets hypothetisch. Das liegt daran, dass Sätze über
Beobachtungen theoretische Bestandteile enthalten.
Darum sprechen wir von der Theoriegeladenheit von Beobachtungssätzen.
Nehmen wir den Satz „Hier steht ein Glas Wasser“. Begriffe wie „Glas“ und
„Wasser“ transzendieren die Erfahrung. „Glas“ bringt z.B. die Erwartung zum
Ausdruck, dass der so bezeichnete Gegenstand eine bestimmte Eigenschaft hat
und sich so verhält, wie es für Glas die Regel ist. Damit wird dem Gegenstand
mehr zugeschrieben, als beobachtet werden kann. Etwas als Glas zu bezeichnen,
beinhaltet z.B. die These, es sei zerbrechlich. Das ist aber nicht Teil der
Erfahrung des vor uns stehenden Gegenstandes. Vielleicht wird die
Zerbrochenheit des Glases erfahren, wenn es zu Boden gefallen ist.
Mit der Bezeichnung „Glas“ wird also ein gesetzmäßiges Verhalten unterstellt,
welches für Dinge charakteristisch ist, die aus Glas sind. Für die Beschreibung
von gesetzmäßigem Verhalten sind aber Axiome erforderlich.
Theorie und Axiome
Wenn wir ein gesetzmäßiges Verhalten beschreiben, dann bedienen wir uns
meist einer Theorie. In jeder Theorie kommt aber Axiomen eine besondere Rolle
zu. Ein Axiom ist ein Grundsatz einer Theorie, einer Wissenschaft oder eines
axiomatischen Systems, der innerhalb dieses Systems nicht begründet oder
deduktiv abgeleitet wird. Mit anderen Worten:
Ein Axiom ist ein Satz, der nicht in der Theorie bewiesen werden soll, sondern
beweislos vorausgesetzt wird.
Axiome werden als Gegenbegriffe zu Theoremen verwendet. Theoreme sind ähnlich wie Axiome - Sätze eines formalisierten Kalküls, die durch
Ableitungsbeziehungen verbunden sind.
Theoreme sind also Sätze, die durch formale Beweisgänge von Axiomen
abgeleitet werden. Und die Axiome kann man als Bedingungen der
vollständigen Theorie verstehen, insofern diese in einem formalisierten Kalkül
ausdrückbar sind.
Durch die Auswahl der Axiome können verschiedene Theorien innerhalb einer
interpretierten formalen Sprache unterschieden werden. Bei nicht-interpretierten
Kalkülen der formalen Logik sprechen wir nicht von Theorien, sondern von
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logischen Systemen, die durch Axiome und Schlussregeln vollständig bestimmt
sind. Damit wird der Begriff der Ableitbarkeit relativiert. Die Ableitbarkeit
besteht allerdings immer nur in Bezug auf ein gegebenes System. Die Axiome
und die abgeleiteten Aussagen gehören zur Objektsprache, die Regeln hingegen
zur Metasprache.
Der Terminus „Axiom“ tritt generell in drei Grundbedeutungen auf, d.h. als
(1) klassischer (materialer) Axiombegriff – ist ein unmittelbar einleuchtendes,
bzw. konventionell akzeptiertes Prinzip, wird auf die Elemente der Geometrie
des Euklid und die Analytica posteriora des Aristoteles zurückgeführt, und war
bis in das 19. Jahrhundert herrschend;
(2) naturwissenschaftlicher (physikalischer) Axiombegriff – ist ein Naturgesetz,
das als Prinzip für empirisch gut bestätigte Regeln postuliert werden kann.
Axiom ist hier, d.h. in empirischen Wissenschaften, ein grundlegendes Gesetz,
das vielfach empirisch bestätigt worden ist, z.B. die Newtonschen Axiome der
Mechanik; und
(3) moderner (formaler) Axiombegriff – ist eine grundlegende Aussage, die
Bestandteil eines formalisierten Systems ist, ohne Beweis angenommen wird,
und aus der zusammen mit anderen Axiomen alle Sätze (d.h. Theoreme) des
Systems logisch abgeleitet werden. Allerdings bedeutet das noch nicht, dass ein
Axiom unbeweisbar sein muss. Die Eigenschaft, ein Axiom zu sein, ist relativ
zu einem formalen System. Denn was in einer Wissenschaft ein Axiom ist, kann
in einer anderen lediglich ein Theorem sein.
Dementsprechend könnte man auch konkrete Beispiele formulieren.
Wenn man also das Gebiet der traditionellen Logik betritt, so findet man hier als
Axiome etwa
* den Satz von der Identität: „A ist mit B identisch dann und nur dann, wenn alle
Eigenschaften von A mit allen Eigenschaften von B identisch sind“,
* den Satz vom Widerspruch: „Es ist unmöglich, dass dieselbe Bestimmung
demselben Seienden unter der gleichen Rücksicht zugleich zukommt und nicht
zukommt“,
*den Satz vom ausgeschlossenen Dritten: „Zwischen Sein und Nichtsein
desselben gibt es kein Drittes, das weder Sein noch Nichtsein ist“, und
*den Satz vom zureichenden Grund: „Jeder Sachverhalt hat einen zureichenden
Seinsgrund“.
Im Hinblick auf die klassische Logik können wir etwa vom
Komprehensionsaxiom reden: „Zu jedem Prädikat P gibt es eine Menge aller
Dinge, die dieses Prädikat erfüllen“.
Auf dem Gebiet der Mathematik stoßen wir unter anderem auf das
Parallelenaxiom: „Zu jeder Geraden und jedem Punkt, der nicht auf dieser
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Geraden liegt, gibt es genau eine zu der Geraden parallele Gerade durch diesen
Punkt“.
Schließlich lassen sich auch Theorien der empirischen Wissenschaften (z.B. der
Physik) „axiomatisiert“ rekonstruieren: Es gibt also eine Axiomatisierung der
Quantenmechanik, Thermodynamik, die Axiomatische Quantenfeldtheorie usf.
Theorie und Tatsachen: Naturalisierung der Theorie?
Aus dem vorangehenden Abschnitt ergibt sich, dass Axiome, wenn sie in den
empirischen Wissenschaften angewendet werden, eine Art Brücke zwischen
Theorie und Tatsachen darstellen. Jetzt wollen wir unsere Aufmerksamkeit auf
die beiden Zwischenstücke dieser Relation richten, d.h. auf Theorie und
Tatsachen, und dann deren Verhältnis zueinander prüfen. Anschließend werden
wir nach der Möglichkeit der Naturalisierung von Theorien fragen.
Der erste ernsthafte Versuch, wissenschaftliche Theorien zu erfassen, führte im
logischen Empirismus dazu, Theorien als deduktiv abgeschlossene Mengen von
Sätzen zu definieren, d.h. von Satzmengen, die alle ihre logischen Folgerungen
schon enthalten.
Dieser Begriff erfasst zwar mit der Betonung logischer Beziehungen einen
wesentlichen Aspekt wissenschaftlichen Vorgehens, aber es ist ohne weitere
Argumentation klar, dass empirische Wissenschaft (bzw. Theorie) mehr als
Sätze und logische Ableitungen beinhaltet. Aus dieser epistemischwissenschaftlichen Lage können wir vielleicht gewissermaßen herauskommen,
wenn wir den Begriff der Tatsache ins Spiel bringen.
Betrachten wir dazu einige Überlegungen Wittgensteins aus seinem
„Tractatus“. Er schreibt:
„[…] Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge. Die Welt ist
durch die Tatsachen bestimmt und dadurch, dass es alle Tatsachen sind. Denn,
die Gesamtheit der Tatsachen bestimmt, was der Fall ist und auch, was alles
nicht der Fall ist. Die Tatsachen im logischen Raum sind die Welt. Die Welt
zerfällt in Tatsachen […]. Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von
Sachverhalten“ (TLP 1.1 – 2).
Wittgenstein gebraucht also den Begriff „Tatsache“, um die Theorie der Welt zu
„konstruieren“. Wenn man aber Tatsache als Komponente mit einem
empirischen Hintergrund versteht, so kann man auch die Relevanz empirischer
Elemente beim Aufbau von Theorien (der Welt) problemlos erkennen. Dabei
handelt es sich vor allem um Beobachtungen und Experimente, mit deren Hilfe
die epistemischen Subjekte den Zugang zu Tatsachen der Welt haben.
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Will man jedoch Beobachtungen und Experimente als wissenschaftliche
Instrumente richtig verstehen, dann muss man sie vorab von den Gebieten
fernhalten, auf welchen von den Scheinproblemen geredet wird. Gemeint sind
also manche Bereiche der Philosophie und Theologie. Denn die streng
empirischen Wissenschaftler, wie z.B. Physiker behaupten etwa, Philosophie sei
das Bemühen, eine schwarze Katze in einem dunklen Zimmer zu fangen. Bei
den Theologen würde es noch schlimmer, da existiert nicht einmal die schwarze
Katze, und trotzdem ertönt der Ruf „Wir haben sie!“.
Nennen wir zwei klassische Beispiele von Scheinproblemen bzw. sinnlosen
Begriffen (aus naturwissenschaftlicher Sicht gesehen):
(1) Engel – es ist sinnlos zu fragen, ob Engel einen Körper haben, ob sie
männlich oder weiblich sind usf.? Das heißt, Engel werden als Metapher
angesehen;
(2) die Mitte des Universums – angesichts dessen, was wir heute über das
Universum wissen, kann man die Formulierung „die Mitte des Universums“
nicht gelten lassen, weil das Weltall keine schlichte Kugel ist.
Wie oben angedeutet erlangen wir den Zugang zu Tatsachen unter anderem
durch die Analyse von Beobachtungen und Experimenten. Auch wenn wir stets
mit empirischen Wahrnehmungen beginnen, wie dies vor allem Kant
einleuchtend zeigte, reichen sie doch nicht aus, um Wissenschaft zu begründen.
Ein Wissenschaftler, somit auch Theoretiker nimmt nicht nur wahr, sondern er
beobachtet desgleichen.
Zwar ist jede Beobachtung auch Wahrnehmung, aber nicht jede Wahrnehmung
ist Beobachtung. Wenn ich etwas beobachten will, spitzt sich die Wahrnehmung
gleichsam zu. Wahrnehmungen habe ich, beobachten tue ich. Ich kann auch
experimentieren. Um diesen Unterschied zu verdeutlichen, bringen wir mit
Bruno Heller zwei Beispiele vor:
(1) „Herr Schmidt ist furchtbar neugierig. Hinter der Gardine lauert er auf
seine Nachbarin, späht über den Gartenzaun und registriert, was drüber vor
sich geht. Da steigt ein schmucker Herr aus dem Auto, klingelt an der Haustür
gegenüber. Ein neuer Liebhaber, der Gerichtsvollzieher oder…? Eins kann
man Herrn Schmidt nicht absprechen: Er nimmt an seiner Umwelt teil, er hat
Interesse an ihr.“
(2) Der kleine Max will wissen, ob ein Frosch nach Ameisen schnappt. Im
Teich wird sich kaum Gelegenheit dazu bieten; also fängt der kleine Max einen
Frosch, sucht sich ein paar Ameisen und serviert sie dem Frosch auf der Platte
des Gartentischs. Mal sehen, was passiert. Fehlanzeige! Vermutlich war der
Frosch satt.“
(Heller, B., Wie entsteht Wissen? Eine Reise durch die Wissenschaftstheorie, Darmstadt 2005,
97f.)
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Im ersten Beispiel werden die Relevanz und der Kontext von Beobachtung
hervorgehoben. Ich sehe einen Vogel am Himmel vorüber fliegen, aber ich
beobachte, wie er sein Nest baut. Der Übergang vom alltäglichen zum
wissenschaftlichen Beobachten geht fließend vor sich. Dabei schwingt immer
etwas Neugier mit, aber ein Forscher beobachtet seine Objekte systematisch,
d.h. er bringt bereits gewisse Vermutungen über das mit, was passieren kann.
Beobachten geht von Erwartungen aus. Deshalb kann man sagen, dass jede
Beobachtung theoriegeleitet ist. Sie erfolgt nicht ins Blaue hinein, sondern im
Horizont eines bestimmten Vorwissens. Vor der Beobachtung steht zumindest
ein Gedanke, manchmal ein ganzes Gedankengerüst.
Es gibt allerdings Situationen, wo das Beobachten nicht ausreicht. Beobachten
kann man nur, was bereits da ist, ob es sich um die Nachbarin von Herrn
Schmidt handelt, den Nestbau eines Vogels oder eine Sonnenfinsternis.
Demnach gibt es wissenschaftliche Gebiete, auf denen nur die Beobachtung als
einziger methodischer Weg denkbar ist, etwa die Astronomie.
Es gibt aber auch Gebiete, wo das Experimentieren sinnvoll und sogar
erforderlich ist. So will etwa der kleine Max (im 2. Beispiel) wissen, ob ein
Frosch nach Ameisen schnappt, und konstruiert dazu ein Experiment.
Experimente haben jedoch immer etwas Künstliches an sich, weil wir als
Menschen gezwungen sind, künstliche Welten zu bauen. Nur so kann man den
bloßen Urzustand hinter sich lassen. Experimentieren gehört also zur Kultur der
Menschheit.
Da Beobachtungen und Experimente immer in einem gedanklichen Rahmen
erfolgen, der ihnen den Stempel aufdrückt, könnte man auch von der
Naturalisierung von Theorien reden. Beobachtungen und Experimente liefern
also keine „nackten Tatsachen“.
Abschließend ist noch zu fragen, was eine Tatsache überhaupt sei. Denn bis jetzt
wurde nur die Frage beantwortet, wie wir den Zugang zu Tatsachen erlangen
können.
Und die Antwort lautete: durch Beobachtungen und Experimente. Ich blicke
nach oben und sehe den blauen Himmel. Ist aber der „blaue Himmel“ eine
Tatsache? Nein! Denn erstens hat niemand den Himmel blau angestrichen,
sondern das Sonnenlicht wird in der Atmosphäre gestreut, und dadurch entsteht
der Eindruck: blau. Und zweitens kann man das Reden vom „Himmel“
grundsätzlich verwerfen. Ist ein Flugzeug, das seine Bahn in 1000 m Höhe zieht,
„im Himmel“?
Wer von einer Wahrnehmung spricht, hat also noch längst keine Tatsache vor
Augen. Verdeutlichen wir dies noch mit dem Hinweis auf Galilei, der dem
Hofstaat in Florenz einmal zeigen wollte, dass es auf dem Mond Gebirge gibt
und die Sonne Flecken haben kann. So baute er ein Fernrohr auf und bat seine
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Begleiter hindurchzuschauen. Für die an Aristoteles glaubenden Astronomen
war das unvorstellbar. Einige lehnten es überhaupt ab, solch ein fragwürdiges
Instrument zu benutzen, andere sahen nichts. Galilei war sehr enttäuscht.
Imre Lakatos erklärt diese Konstellation folgendermaßen:
„Es handelte sich nicht um einen Konflikt zwischen Galileos – reinen und
untheoretischen – Beobachtungen und der Aristotelischen Theorie, sondern um
einen Konflikt zwischen Galileos „Beobachtungen“ – gesehen im Lichte seiner
optischen Theorie, und den „Beobachtungen“ der Aristoteliker – gesehen im
Lichte ihrer Theorie des Himmels“.
(Lakatos, I., Falsifiacation and the Methodology of Scientic Research Programmes, in: ders.
u.a. (Hrsg.), Criticism and the Growth of Knowledge, Cambridge 1970, 96 [deutsche Version
1974])
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