architekturtheorie-heute-mitschrift-vorlesung - ARCHPOINT-X

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Architekturtheorie heute (Beginnend in den 70ern)
Als wichtiges Architekturtheoretisches Werk sei ‘Delirious New York‘ als Lektüre empfohlen.
Geschrieben von Rem Koolhaas, dem bekanntesten erfolgreichsten einflussreichsten Architekt der
Gegenwart, der wichtigste Theoretiker. Er hat verinnerlicht, dass Architekturtheorie kein ‘nebenbei‘
sondern ein fundamentaler Teil von Architektur ist
1. Was ist Architektur heute? oder: Architektur im Zeitalter des Pop
Es gibt immer wieder den Versuch einen Unterschied zwischen Architektur und ‘normalem‘ Bauen zu
machen. Architekten definieren Architektur meist als Bauten, die von einem Architekten
hervorgebracht wurden – Bauingenieure, Handwerker oder Baumeister erstellen NUR Bauwerke –
keine architektonischen Kunstwerke. Im Zeitalter des Pop ist eine derartige Unterscheidung aber
eigentlich nicht (mehr) möglich.
Günther Fischer, ‘Vitruv NEU oder Was ist Architektur?‘ 2009
Er teilt in Bauen - Architektur - Baukunst ein.
- Bauen ist alles: eine Autobahn, ein Traffohäuschen, Brücke, Uferböschung…
- Architektur ist Design mit gewissem ästhetischem Anspruch
- Baukunst ist Architektur mit sehr hohem ästhetischem Anspruch, sie geht in die Kunstgeschichte
ein, wird kommuniziert, wird besucht.
 Diese Unterscheidung ist aber problematisch, weil man in der Praxis kein objektives Urteil über
ästhetischen Anspruch fällen kann, und weil die Definition ob etwas Baukunst oder Architektur ist,
dann erst nach einigen Generationen möglich ist - es könnte ja sein, dass ein Gebäude bald vergessen
ist, obwohl es zur Zeit groß gefeiert wird. Die Unterscheidung tut außerdem so, als ob ‘banales
Bauen‘ nichts mit Architektur zu tun hat.
Bernard Tschumi, ‘Common Ground?‘ Biennale Venedig, 2012
Tschumi hat 2012 eine Theoriearbeit ausgestellt, es geht um den Canale Grande in Venedig und den
Nachbau in Las Vegas (mit gechlortem Wasser - wie eine saubere Version, aber sonst ganz Gleich,
auch mit Gondeln etc.). Er sagt was Architektur vom bloßen Bauen unterscheidet, ist das Konzept
und nicht nur um die äußere Form.
- Heißt das, dass das Original die Architektur und der Neubau bloßes Bauen ist oder umgekehrt? Das
Konzept gibt es in Las Vegas sicher - beim Original damals auch? Das weiß man heute nicht…
Robert Venturi, Denise Scott Brown, und Steven Izenour, ‘Learning from Las Vegas‘, 1969 Seminar
in Yale, 1972 Buch veröffentlicht
Das war DER Skandal. Das schlimmste kommerzielle Bauen inklusive der ganzen Reklame, eine ganze
Stadt versinkt im Kitsch - die Architekten der 50/60er rümpften die Nase darüber. Sie meinten, die
Amis gehören mit Bauhausstil erzogen, sie wüssten nicht was Geschmack/Form eigentlich sei. Und
dann kommt die Info ‘lasst mal den Mies und schaut euch den ordinäre nicht-architektonischen
Kitsch an und lernt davon‘ von der Un-Architektur des schlechten Geschmacks. ‘Learning from Las
Vegas‘ hat die Aussagen konkretisiert und zugespitzt - die popkulturelle Wende innerhalb der
Architekturtheorie wurde aber nicht hier erfunden. Es gab einige Vorläufer, wie zum Beispiel:
John Brinckerhoff Jackson, ‘Der Pfad des Fremden‘ 1957 in einer Zeitschrift veröffentlicht
- Er dehnt den Landschaftsbegriff aus. Landschaft heißt bei ihm nicht nur Landschaftsmalerei oder
eine romantische Szene wie Meer oder See die von Menschen unberührt ist, sondern genauso
Kulturlandschaft - vom Mensch geformte Landschaft. Eine Stadt ist eine Kulturlandschaft, die
Auskunft über die jeweilige menschliche Kultur gibt.
- Seine Intension ist anders, als die eines Architekten. Er stellt nicht die Frage nach Defiziten oder
danach was man verbessern/erneuern kann, er nimmt den geisteswissenschaftlichen Ansatz und
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versucht so vorurteilsfrei wie möglich zu beobachten. Er will verstehen wie eine Kultur tickt. Er hat
Brown (die Hauptverantwortliche für ‘Learning from Las Vegas‘) stark geprägt.
- In ‘Der Pfad des Fremden‘ geht es um die Ankunft eines jungen, mittellosen Mann in einer
beliebigen Provinzstadt. Er betritt die Stadt vom Bahnhofsviertel aus, das traditionell auf der ganzen
Welt eine eher sozial schwache Gegend ist. Migranten, Bordelle, Spelunken - Stadtplaner wollen
diese Gegend immer verbessern, optimieren, verschönern (zurzeit auch in Graz)
- Jackson sagt aber, dass das ist der falsche Ansatz ist. Ankömmlinge können so erst mal dort Fuß
fassen. Sie bewegen sich im ‘schlechten‘ Viertel, sie könnten im ‘guten‘ nicht ankommen - die Viertel
sind essentiell für eine Stadt. Sie bringen Ideen, Input von außen, das bedeutet Lebendigkeit und
Vitalität. Sie werden gebraucht, um die Stadt lebendig zu halten, man braucht Bahnhofsviertel.
- Sein Ansatz: etwas Kitschiges, Billiges, Schlechtes, Geschmackloses in seiner kulturellen Funktion zu
begreifen und zu rechtfertigen.
Patrick Geddes, 1925, Schnittzeichnungen
Fischer, Jäger Waldarbeiter sorgen dafür, dass etwas in der Stadt passieren kann.
Architectural Review, England 1950er
Schnitte durchs Land gezogen, durch alle Landschaften von Nord nach Süd und Fotos von Früher und
1955 verglichen. Mit Architekturhistorischem und Kulturkritischem Ansatz berichten, wie sich durch
die Industrialisierung und die Urbanisierung die Englische Landschaft verändert bzw. verschlechtert.
Denise Scott Brown zum Problem des ‘Ist- und Soll-Zustand‘ 1957 in Afrika
- Architekten lernen in ihrer Ausbildung, dass der Ist-Zustand ein zu verbessernder ist. Man soll den
Soll-Zustand im Auge haben, er ist das Ziel. Kommen Europäer/Nordamerikaner nach Südafrika, hört
man von ihnen, dass Barackensiedlungen armseelig sind, dass man Helfen muss oder gar, dass ‘die‘
sich doch gescheite Häuser bauen sollen.
- Sinnvoller wäre es, neutral an die Sache zu gehen und herauszufinden, welche kulturellen
Mechanismen wie funktionieren - die Bewertungsmaßstäbe hinter sich lassend. Auch sprachlich wird
automatisch bewertet - Slum assoziiert abwertig und negativ, man könnte zum Beispiel ‘informelle
Siedlungen‘ sagen.
- 50er: was man im Blick hat, ist der Sollzustand. So sollen die Armen Afrikaner leben, da sollen sie
hin. Zum Sollzustand, Den die Europäer mitgebracht haben und als positiv und vorbildlich empfinden.
Ein strohgedecktes Haus im englischen Landhausstil z.B. da gibt es in Südafrika eh auch viele
- wesentlich für Brown war, von dem Denken des Soll-Zustandes wegzukommen. Ein revolutionärer
methodischer Ansatz, der war für die Lehrveranstaltung maßgeblich war.
- man soll sich vorurteilsfrei den Strip, die Hauptstraße ansehen - inklusive Reklametafeln, Gebäuden
die hinter den Schildern im rechten Winkel zur Straße stehen etc., man soll untersuchen, wie das auf
ein Auto abgestimmtes, kommerzielles Vergnügungszentrum funktioniert. Wenn man das verstanden
hat, kann man einen revolutionären Schritt wagen und davon lernen. Architekten sollen von
gewöhnlichem bzw. ganz schlechtem bauen lernen.
Ed Ruscha, ‘Every Building on the Sunset Strip‘, 1966, Fotostrecke und Leporello von L.A. Sunset
Boulevard.
- Zählt auch zu Pop-Art und Konzeptkunst der 60er
- Jedes Gebäude der Straße fotografiert (auch Traffohäuschen und Bushaltestellen) Hat alles zu einer
Fotostrecke gemacht. Beschäftigte sich mit der Populärkultur, mit Gewöhnlichem, damit was man
jeden Tag vorfindet.
Warren Chalk, Archigram, die Architektenboygroup und deren Zeitschrift von 1964
Entmaterialisierung, Enzeitlichung. Orientiert sich an Comics statt an der Architekturtheorie der
Professoren und Hochkultur. Revolutionäre Ideen und Herangehensweisen. Zeichnungen utopischer
Stadtentwürfe vermengt mit Comichandlungen und poetischen Gedichten.
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Auch ‘seriösere‘ zählen zur Avantgarde der 60er - Vorreiter, nicht nur Trendsetter:
Rudofsky Bernard 1964 ‘Architektur ohne Architekten. Eine Einführung in die anonyme Architektur‘
‘vernakuläre‘ Architektur, lat. vernaculus = einheimisch
- Einführung in eine Architektur ohne Stammbaum. Auch er hat in den 60ern festgestellt, dass eine
Unterscheidung von Architektur und gewöhnlichem Bauen hinfällig ist.
- vernakuläre (einheimische, lokale, traditionelle) Bauernhäuser, das Ländliche, das nie von
Architekten geplant wurde sondern von Zimmerleuten, Maurern und Bauersleuten selbst erschaffen
wurde, die dies über Generationen vermittelt bekommen hatten zählen also zur Architektu
- Diese Bauwerke besitzen sehr hohe architektonische Qualität. Die Einfügung in die Umgebung, die
Materialgerechtigkeit, der Einsatz der Materialien, die Funktionalität, die Materialität, dies sind
Vokabeln, die man in der modernen Architekten kennt. Man soll/muss den Architekturbegriff
ausdehnen auf anonymes Bauen.
Das macht ein bisschen unverständlich, warum erst vor kurzem (2012) folgendes Projekt aufkam:
Tschumi Bernard, Biennale Venedig, 2012, Common Ground
- die Unterscheidungen sind zwar sicher polemisch gedacht, aber dennoch ist die Ansicht Rückwärts
gerichtet.
- er sagt ‘Architektur ist nicht nur wie es aussieht, sondern auch was es tut‘ er vergleicht dabei das
Guggenheim Museum in NY mit einem Parkhaus, das eine ähnliche Silhouette hat. Frank Lloyd
Wright hat sich auch auf ein Parkhaus bezogen. Tschumi sagt aber, dass eine Parkahaus keine
Architektur ist, sondern nur ähnlich ausschaut. Für ihn geht es wieder um das Konzept dahinter.
- das Guggenheim ist Hochkultur, beim Parkhaus fahren nur Autos im Kreis. Banales tägliches Leben
vs. Gemälde. Eine reaktionäre (rückschrittliche) Gegenüberstellung.
Hans Hollein, ‘Alles ist Architektur‘, 1968
- Er will den Architekturbegriff ausdehnen. Er behauptet, eine Pille, ein Spray, eine Brille, alles was
das Bewusstsein verändern kann und einen den Raum anderes wahrnehmen lässt, ist Architektur.
- Sein Projekt zur Erweiterung der Uni Wien, er will nicht dran bauen, sondern durch Fernseher
vergrößern: Streaming und Fernstudien, so kann man sich die Bauwerke sparen. Hollein sagt, auch
mediale Erweiterung ist Architektur.
- Seine Vorschläge (teils humoristisch aber auch als Manifest) wurden von der Architectural Society
nicht angenommen (im Gegensatz zum ‘Kitsch‘ und den Bauernhäusern. Von den Meisten werden
diese Bauwerke mittlerweile als Architektur wahr genommen.
- Außerdem will Hollein Fischers Argumentation der Unterschiede wiederlegen: Architektur ist keine
Eigenschaft die einer bestimmten Gruppe von Gegenständen zukommt, sondern umgekehrt. Der
architekturtheoretische Diskurs, der Austausch, wenn der Konsens sagt, dass etwas wahr ist – dann
bringt es Architektur hervor
- so wurde der Architekturbegriff durch Rudolfsky erweitert (Bauernhäuser), weil seine
Argumentation von der Mehrheit der Architectural Society akzeptiert und für wahr befunden wurde.
[Behauptungen, auch wenn sie als Texte mit Argumenten geprintet werden, sind noch lange nicht
einfach übernommen - Stichwor Laserpointer ist Architektur - es muss zuerst im Diskurs/in der
Gruppe für wahr genommen werden]. Zitat:
‘Architektur‘ beschreibt weder eine definierbare Gruppe von Gegenständen noch stellt sie
eine Eigenschaft dar, die bestimmten Gegenständen (Gebäuden) wesensmäßig zukommt.
Vielmehr umfasst ‘Architektur‘ all jene Gegenstände oder Strukturen, die im jeweiligen
Architekturdiskurs als ‘Architektur‘ behandelt und anerkannt werden. Erst der
Architekturdiskurs bringt die ‘Architektur‘ hervor.
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Das gibt es nicht erst seit den 60ern, das war auch in der Moderne schon so. Die Moderne war
dadurch charakterisiert, dass man plötzlich entdeckt hat, dass Bauwerke des Ingenieurbaus des 19.
JH die man davor ignoriert hat, plötzlich als Architektur ernst genommen wurden.
Joseph Paxton, Kristallpalast, Weltausstellung in London, 1851
- Architekturgeschichtsbücher behaupten, hier beginne die Moderne. Alle Prinzipien, die die
Moderne charakterisieren sind vorhanden: Vorfertigung, schnelle Montage, Entmaterialisierung,
serielle Fertigung, Transparenz - Gusseisen und Glas
- Für Zeitgenossen war das aber keine Architektur - der Bau des Gärtners war zwar interessant, aber
Architektur waren Bauten wie Opern und andere Repräsentativbauten. Säulenordnung beachten,
Geschichte einarbeiten - was heute als historischer Kitsch definiert wird war damals Architektur.
- Dann wurde eine Gruppe von Gegenständen (Schiffe, Brücken, Ingenieurbauten) in den
Architekturdiskurs gebracht und letztendlich als Architektur betrachtet. Der Historismus wurde
verdrängt.
Die Ausweitung des Architekturdiskurses beginnt also in der Moderne.
2. Was bedeutet „Theorie“ im Zusammenhang mit Architektur?
theorein ist griechisch und heißt: beobachten, betrachten, [an]schauen
theoría heißt: die Anschauung, die Überlegung, die Einsicht
praxis heißt: die Handlung, die Verrichtung  die Vollendung
- man betrachtet etwas aus einem gewissen Abstand. Aber: Erkenntnisse bei der Beobachtung
desselben Sonnenauf- und Sonnenuntergangs haben zu verschiedenen Erkenntnissen geführt [Erde
Scheibe, Erde Kugel etc.] Betrachtung und Theorie ergeben also oft unterschiedliche Interpretationen
des gesehenen, trotz neutraler Betrachtung.
- diese gewonnene Theorie fließt dann in die Praxis mit ein und hat Einfluss darauf. Man kann
dieselbe Sache in unterschiedlichen Zusammenhang bringen.
- gibt es zu viele Theorien im Kopf, muss man den Kopf leeren um beim entwerfen nicht belastet zu
sein. Wenn aber etwas im Kopf ist das verdaut und verinnerlicht wurde, kann es, oder das Prinzip
dahinter, in den Entwurf mit einfließen [die Erde dreht sich um die Sonne, nicht umgekehrt]
3. Was ist Architekturtheorie heute?
Es ist keine Wissenschaft, die Vitruv vor 2000 Jahren erfunden hat und die wir einfach weiteführen.
Ebensowenig ist sie gleich, wie die Architekturtheorie von vor 100 oder 200 Jahren.
A) Prinzipiell kann man unterscheiden zwischen Architekturtheorie, Architekturgeschichte und
Architekturkritik.
- Architekturkritik ist, was wir in Zeitschriften lesen können, Analysen der Bauwerke.
Positive/negative Offenbarungen, die Kriterien dafür werden aber nicht offen gelegt. Keiner schreibt
z.B. ‘…ein gutes Bauwerk braucht 1. … 2. … 3. … - bei diesem Bauwerke hier ist das nicht der Fall…‘
Die Kriterien sind sozusagen impliziert.
- Architekturgeschichte - historische Architektur und geschichtliche Zusammenhänge sind nicht
wertend, nur berichtend. Es wird aber durch auswählen und weglassen automatisch bewertet. Die
Kriterien für die Auswahl sind nicht immer klar. Manchmal spielt ein heutiger Kriterienkatalog mit
zukünftiger Geschichte (man redet von Vergangenheit, meint aber die Zukunft oder Gegenwart. Das
ist dann für die Architekturtheorie maßgeblich.
- Architekturtheorie ist die theoretische Begründung, der Wertung der Architekturkritik. Sie muss
systematisch sein. Nicht nur ‘ich finde gut/schlecht‘, die Meinung muss mit einem Theorem
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untermauert und umfassend erarbeitet sein. Architekturtheorie steckt oft in der Geschichte bereits
drinnen - auch in der Architekturkritik – wird nur nicht (immer) offen dargelegt.
Kate Nesbitt, Sammlung zur Architekturtheorie - neue Agenda, 1998
- Architekturtheorie ist verordnend, ächtend, bestätigend, kritisch. Alle Theorieformen von ihr sind
wertend. Architekturtheorie ist der Versuch, aus Werturteilen ein System zu machen und theoretisch
zu Begründen.
Publikationen mit dem Thema ‘Qualitätsbegriff‘ - was ist gute Architektur? was ist gut in der
Architektur?
- Alain de Botton, ‘Glück und Architektur - Von der Kunst, daheim zu Hause zu sein‘, 2008 (The
Architecture of Happiness, London 2006)
- Georg Franck/Dorothea Franck, ‘Architektonische Qualität‘, München 2008
- Oase (Zeitschrift) ‘What is good architecture? ‘
Damit berührt man das Zentrum der Architekturtheorie:
Architekturtheorie versucht, eine theoretische/systematische/wissenschaftliche Begründung für
architektonische Werturteile zu treffen und ist deshalb immer auf Zukunft ausgerichtet.
Architekturtheorie versucht die ‘Urfrage‘ der Architekten zu beantworten: Wie sollen wir bauen? (im
ästhetischen Sinne gemeint)
B) Das Verhältnis von
Architektur
ist vergleichbar mit
Handeln
Das Handeln entspricht der
Architekturproduktion, das
Tun, die Praxis - dafür gibt
es Regeln.
Architekturkritik
Moral
Die Regeln werden als
Moral bezeichnet (= Gebote
und Verbote) Verhaltensregeln werden indirekt
vermittelt, das tut man
nicht, das macht man so,
das gehört sich nicht (vgl.
Kinder - beginnen diese zu
fragen ‘warum‘ brauchen
Eltern eine Begründung.
Architekturtheorie
Ethik
Um Moral und Regeln
begründen zu können, muss
man eine Ethik entwickeln
und
den
Kindern
beibringen) Die Ethik ist
eine Wissenschaft, die
versucht die in einer
Gesellschaft
gültige
Moralordnung argumentativ
logisch zu begründen.
- Vormoderne Gesellschaften kannten Moral und Vorschriften, aber keine Begründung, sie waren
nicht Rational (z.B. man tötet nicht, weil Gott es verboten hat)
- Unterschied USA und Europa: in Europa auf der Autobahn wird an die Vernunft appelliert: ‘Schnall
dich an, dein Leben wird dadurch gerettet‘ In den USA heißt es, ‘schnall dich an, es ist Gesetz‘. Das
Europäische Plakat ist ethisch, das amerikanische ist moralisch.
Die traditionelle Architekturtheorie von Vitruv bis zum Klassizismus hat ähnlich wie Religion
funktioniert. Die Autorität des göttlichen Gebotes ist die Begründung = moralisch. Auch in der
traditionellen Architekturtheorie ist Vitruv die antike Autorität: Wenn man etwas gut hinstellen
wollte sagte man ‘das war schon in der Antike so‘. Wenn man etwas kritisieren wollte ‘Vitruv sagte,
dass soll man nicht machen‘ Die Antike ist quasi die Gottheit, eine absolute Autorität. Sie entscheidet
über gut und schlecht.
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Der Streit ob die Autorität der Antike eine ausreichende Begründung ist, war der Kern der Diskussion
zwischen ‘Alten‘ und ‘Modernen‘. Das führte im Endeffekt zur Geburt der Modernen
Architekturtheorie.
C) Das Verhältnis von Architekturtheorie und Architektur verglichen mit Ethik und Handeln
Was in Antike unter Vitruv/Palladio gemacht wurde, entspricht der moralischen Argumentation, dem
Regelwerk. Was die Moderne und die heutige Architekturtheorie leisten muss, ist vergleichbar mit
dem, was die Ethik als Unterdisziplin der Philosophie leisten muss: die herrschende (oder noch nicht
herrschende) Moral argumentativ begründen = kritische Architekturtheorie - befindet sich immer im
Wandel
Warum dieser Vergleich aber Hinkt: Seit dem Ende des Vitruvianismus und dem Beginn der Moderne
gibt es keinen Glauben an feststehende Regeln mehr. Das Äquivalent zur Moral hat sich aufgelöst
(oder vervielfältigt). Die Architektur der Moderne ist durch die Kunst des Regelverstoßes
gekennzeichnet.
Der Beginn der Moderne (= französische Revolutionsarchitektur) stellt alles auf den Kopf was davor
galt: Gesetze des Dekor, Maßstab, Tektonik, Statik. Utopische Entwürfe die früher nicht möglich
gewesen wären, mit dem Ziel die Traditionen zu überwinden.
Francisco de Goya schrieb 1792 in einem Brief an die Akademie der bildenden Künste ‘Es gibt keine
Regeln in der Malerei‘
Es dauerte dennoch 100 Jahre, bis die Moderne kam, wo alles möglich und erlaubt war.
Die Architektur als angewandte Kunst ist weniger frei als die bildenden Künste. Mittlerweile ist aber
ein Maximum an Pluralität erreicht. Es macht keinen Sinn, an Verbindlichkeiten der Regeln zu
glauben:
Futurismus des Jean Nouvel am Guthrie Theater (erbaut 1999–2006) und die Neokonservative Villa
Gerl in Berlin von Kollhoff/Timmermann (erbaut 1999–2001) zeigen das.
Architekturtheorie begründet die Praxis architektonischen Handelns. Ist also, wie die Ethik, eine
Praxisbezogene Wissenschaft, bzw. eine praktische Ästhetik.
4. Ausgangspunkt 1960. Die Architekturtheorie heute
Die moderne Architektur wird in den Fundamenten kritisiert. Die Moderne hatte die Hochzeit
zwischen den Beiden Weltkriegen, als die Pioniere am Werk waren. Nach dem 2. Weltkrieg konnte
sich die Moderne ausbreiten - durch die Zerstörungen des Krieges konnten großflächig Moderne
Bauten realisiert werden. In den 60ern allerdings kam der Katzenjammer: man beklagte sich über die
Städte.
Bsp: Alexander Mitscherlich, ‘Die Unwirtlichkeit unserer Städte‘, 1965
Jane Jacobs startete eine Bürgerbewegung gegen den Umbau von Greenwich Village 1961
Dadurch wurde eine unglaubliche Zerstörung von Kultur und von städtischem Leben durch die
Moderne Architektur verhindert.
In den 60ern kam die Moderne in die große Krise. Die Postmoderne entstand. CIAM-Vereinbarung als
Flaggschiff des ’neuen Bauens‘ wird aufgelöst (CIAM 1928–1959)
Die Architektur muss sich neu erfinden - das kritische Element bekommt eine größere Rolle in der
Architekturtheorie. Davor hatte Architekturtheorie hauptsächlich die Moderne propagiert und
gepusht, wollte sie durchsetzen und hat Hymnen auf die Zukunft gesungen. Dann wird der Ton
sachlich und nüchtern, kritisch.
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Architekturtheorie heute beginnt in den 70ern, in den 60ern fand die große Umwälzung statt.
(inhaltlich und in der Umsetzung beginnen hier die heutigen Ansätze)
5. Quellensammlungen und Sekundärliteratur:
5.1 Anthologien
Das man Anthologien raus bringt ist nichts neues, das gibt es seit der Antike. Seit 15 Jahren ca. ist es
aber sehr modern, Sammlungen von Architektur als ‘Best Off‘ in einem Buch zusammenzufassen und
zu veröffentlichen. Das hat den Vorteil, dass man ein Buch als Sammelwerk kaufen kann und nicht so
viele einzelne Bücher kaufen muss. Einerseits zeugt das von einem großen Bedarf, aber andererseits
auch von Hilflosigkeit im Pool des Angebotes.
Eine Anthologie verschafft oft die Illusion eines Überblickes - was aber eigentlich nicht wirklich
möglich ist. Als erster Einblick/Einstieg sind die Sammlungen gut, aber dann muss man weiter lesen.
Es gibt zwei Nachteile. Erstens sind Anthologien immer nur die subjektive Auswahl der Herausgeber,
und zweitens sind es meistens nur Auszüge aus Texten, also oft nicht vollständig. (Manchmal auf 3
Seiten zusammengekürzt). Man kann gut schmökern und stöbern, man sollte dennoch Monografien,
also ganze Bücher lesen.
• Charles Jencks / Karl Kropf (Hg.), ‘Theories and Manifestoes of Contemporary Architecture‘, Chichester 1997,
2. erw. Aufl. 2005
Ist eher Kunsthistorisch, Texte sind nach Stilrichtungen chronologisch geordnet.
• Kate Nesbitt (Hg.), ‘Theorizing a New Agenda for Architecture. An Anthology of Architectural Theory‘ 1965–
1995, New York 1998
Als Einführung empfehlenswert, es gibt 14 Kapitel, je 2-3 Texte. Das Buch hat ca 600 Seiten, nur 51
Texte, die dafür ausführlich.
• K. Michael Hays (Hg.), ‘Architectural Theory Since 1968‘, Cambridge/Mass.-London 1998
Ein sehr amerikanischer Einblick, nur amerikanische Autoren
• Fritz Neumeyer (Hg.), ‘Quellentexte zur Architekturtheorie‘, München-Berlin-London New York 2002
Beinhaltet 10 ausführliche Texte.
• Gerd de Bruyn/Stephan Trüby (Hg.), ‘architektur_theorie.doc: texte seit 1960‘, BaselBoston-Berlin 2003
Anregend. Themen sind nicht chronologisch, keine thematische Entwicklung.
• Ákos Moravánszky (Hg.), ‘Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Eine kritische Anthologie‘, Wien-New York
2003
Weiter ausholend. Nur 20. JH. Kunsthistorisch. Thematisch gegliedert.
• Vittorio Magnago Lampugnani (Hg.), ‘Architekturtheorie 20. Jahrhundert. Positionen, Programme,
Manifeste‘, Ostfildern-Ruit 2004
Konkurrenzwerk zu Moravánszky, ausschließlich Texte von Architekten
• Harry Francis Mallgrave/Christina Contandriopoulos (Hg.), ‘Architectural Theory, Bd. II, An Anthology from
1871 to 2005‘, Malden/Mass.-Oxford 2008
2 Bände, ausführlich. Sehr viele Texte – aber nur Appetizer (je 2 Seiten) man lernt viel kennen, man
sieht was es alles gibt.
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• A. Krista Sykes (Hg.), ‘Constructing A New Agenda: Architectural Theory 1993–2009‘, New York 2010
Sehr relevant, beschäftigt sich nur mit sehr kurzem Zeitraum
5.2 Quellensammlungen und Sekundärliteratur: Überblickswerke
• Hanno-Walter Kruft: Geschichte der Architekturtheorie. Von der Antike bis zur Gegenwart, München 1985
Bis zur damaligen Gegenwart, also Antike bis 1985
• Jürgen Pahl: Architekturtheorie des 20. Jahrhunderts. Zeit-Räume, München-LondonNew York 1999
Eher Architekturtheorie des Pahl, weniger ein Überblick
• Petra Lamers-Schütze (Hg.): Architekturtheorie von der Renaissance bis zur Gegenwart, Köln 2003
Hauptsächlich 20. JH
• Kari Jormakka: Geschichte der Architekturtheorie, Wien 2003; 3. Aufl. 2007
Grober Überblick
• Harry F. Mallgrave/David Goodman: An Introduction to Architectural Theory: 1968 to the Present,
Chichester 2011
1968-2011
• C. Greig Crysler/Stephen Cairns/Hilde Heynen (Hg.): The SAGE Handbook of Architectural Theory, Los
Angeles-London-New Delhi-Singapore-Washington 2012
Architekturtheorie verschiedener Themenbereiche - Überblicke
Gründerzeit Fassaden in Berlin - Prenzlauer Berg
Kann etwas, was bereits in Architektur anerkannt worden war, wieder aus dem kulturellen Archiv
verstoßen werden und wieder zu Abfall werden?
Jeder Architektur-Stil wird, wenn er von einem Anderen abgelöst wird, zum Abschuss freigegeben:
Romanik, Gotik, Barock.. da passiert immer das Gleiche.
Vor Augen stehendes Beispiel: Historismus ist die Architektur der Gründerzeit - die Stadterweiterung
Graz in der 2. Hälfte des 19. JH folgte dieser Stilrichtung - St. Leonhard, Geidorf etc. sind fast
durchgehend dementsprechend gestaltet.
Der Historismus ist/war DAS große Feindbild der Moderne --> grauenhaft falsch kitschig - bis in die
70er wusste man diese Gründerzeitbauten nicht zu schätzen und hat sie abgerissen und durch
Neubauten ersetzt - oder sie ab fassadiert - von öffentlicher Hand gab es Budget, wenn man die
Ornamente abgeschlagen und die Fassade geglättet hat - aus gesundheitlichen Gründen, weil in der
glatten Fassade weniger Bakterien haften bleiben - und natürlich weil eine glatte Fassade als schöner
empfunden wurde.
Die abgeschlagen Gebäude wirken sehr eigen - sie haben Geschichte, man spürt das sie alt sind, sie
wirken zeitlos - ein bisschen aus der Substanz herausgefallen
Im 70er-Erwachen wird dann auch der Historismus neubewertet und man lernt die Gebäude zu
schätzen.
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6. Pop-Architektur oder: Lob der Langeweile ‘Learning from Las Vegas‘
Pop-Architektur hieß damals was heute als Postmoderne bezeichnet wird. Das ist in der Architektur
vielleicht ein bisschen der Pausenclown zwischen Moderne und Neo-Moderne (90er). In den
bildenden Künsten gibt es noch immer die Postmoderne, sie hält seit den 60ern an - ebenso in
Philosophie und Literatur.
Venturi/Scott Brown/Izenour: ‘Learning from Las Vegas‘ 1986 Aufsatz, im Herbst darauf das
Seminar an der Yale Universität mit 13 Studierenden. 3 Wochen Vorbereitung, 4 Tage Feldforschung
in L.A., 10 Tage Feldforschung in Las Vegas und 10 Wochen Nachbearbeitung und schreiben.
- 1972 Seminarergebnisse als Buch veröffentlicht
- 1978 überarbeitete Neufassung mit Untertitel ‘the forgotten symbolism of architectural form‘
- 1978 deutsche Übersetzung ‘Lernen von Las Vegas, Ikonografie und Architektur, Symbolik der
Geschäftsstadt‘
• Bereits bei Erscheinen des Buchs war eine Wende in Richtung Pop erkennbar. Der Inbegriff des
schlechten amerikanischen Geschmacks und überdrehten Konsumkultur von Las Vegas soll als
architektonisches Vorbild herhalten. Für die Autoren war dies nichts Neues. (Mies und Gropius
hatten die Industriebauten des 19 JH als Vorbilder) Im Sinne des Bauhausstils hatten die Schüler von
Gropius gelernt über Las Vegas die Nase zu rümpfen. Das Ziel war es ja eigentlich, den Amerikanern
das Bauhaus näher zu bringen - was also sollte man von dieser Kitsch-Hochburg lernen?
Vergleichbar mit der Gegenüberstellung des Kristallpalastes in London (der nicht als Architektur galt)
und der Oper in Paris (die als Hochpunkt der zeitgenössischen Baukunst galt). Die Moderne hatte
diese Haltung umgedreht, und das Wort Kitsch abwertend eingefügt.
Die Aussage ‘von Las Vegas etwas zu lernen‘ ist ein Tabubruch. Der Titel ist so provokant gewählt,
dass es schon allein deshalb ideal für die Postmoderne ist - die Pop Architektur macht aus LOW ein
HIGH
• Oft wird nur Robert Venturi genannt, er bekommt sehr viel Lob für die Arbeit, dabei hat Denise
Scott-Brown (seine Ehefrau) den Löwenanteil der Arbeit gemacht - sowohl beim Buch als auch die
Seminarvorbereitungen. Um das zu verarbeiten, schreibt sie einen Text mit dem Titel ‘sexism and the
starsystem of architecture‘ in welchem sie sozusagen beklagt wie sehr sie unter den Tisch fällt.
Das Buch gliedert sich in drei Teile:
- Parkflächen von Atlantik und Pazifik (ist im Grunde eine städtebauliche Analyse des Strip und
dessen Struktur)
- Seminartexte von 1968
- hässliche alltägliche Architektur oder dekorierter Schuppen (Beispiele und allgemeines und eigene
Konsequenzen in den Arbeiten)
In ‘Learning from Las Vegas‘ geht es hauptsächlich darum anzuerkennen, wie etwas ist – anstatt zu
schauen wie etwas sein soll. Das kann man von Las Vegas lernen
6.1 Die Grundthese des Buches:
Die Fixierung der Architektur und der Architekten auf den Raum und die Bewältigung von
Raumproblemen ist zu einseitig. Das ist ein Resultat eines puristischen Kunstkonzeptes. Die Aufgabe
sei es, das eigene Medium rein darzustellen, dass die Kunstgattung sich auf die jeweils
angestammten Medien konzentrieren.
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[In Malerei muss vermieden werden was nicht genug malerisch ist - das Wesen ist die Farbe auf der
Leinwand. Man muss so zweidimensional wie möglich malen, nichts Räumliches, Illusionistisches
Perspektivisches darstellen, Dreidimensionalität widerspricht der Malerei. Außerdem soll sie keine
Geschichten erzählen, keine wiedererkennbaren Inhalte erzählen, das ist die Aufgabe der Literatur.
Ebenso wurden widererkennbare Gegenstände ausgeblendet. Gegenstandslose, monochrome,
zweidimensionale Malerei in der nichts mehr dargestellt wird - nur noch die Farbe auf der Leinwand.]
Die Konsequenzen für die Moderne Architektur: alles was nicht architektonisch genug ist, muss aus
der Architektur ausgeschieden werden (bildhaftes, Symbole, Zeichen). Wo kommt die Architektur zu
sich selbst? Im Raum - das ist das zentrale Medium der Architektur. Das malerische muss aus der
Architektur entfernt werden.
Venturi/Scott-Brown/Izenour sahen in der Konzentration auf den Raum aber eine unnötige
Beschränkung. Z.B. geht die Reduktion auf den Raum nicht auf die Erfordernisse des Verkehrs ein.
Man braucht Zeichen (Bilder und Texte) um sich im Raum zu Orientieren - Himmelsrichtungen zu
lesen ist bei Autobahnabfahrten nicht möglich.
Besonders eine Autogerechte Stadt wie Las Vegas brauche Reklame und Schilder um Gebäude
rechtzeitig zu sehen - man ist dort nicht ohne Auto unterwegs. Die Gebäude sind weit zurückgesetzt,
davor gibt es großen Parkplatz - sonst ist die Motivation abzubiegen kleiner [Supermarkt - lieber 3x
auf Parkplatz im Kreis fahren als in die Tiefgarage] oft sind die Schilder riesig und die Gebäude relativ
klein.
Las Vegas zeigt also in übersteigerter extremer Form ein räumliches und symbolisches Zeichen- und
Kommunikationssystem wie es sie in allen Modernen Städten gibt.
Das Resümee des analytischen Teils: das nebeneinander und Übereinander verschiedenster Zeichen,
Signale und Stile sind eine Schule des Sehens.
Ohne Zutun der modernen Architekten wurden moderne Kisten in die Gegend gestellt, Nutzer stellen
Schilder davor auf. ‘Learning from Las Vegas‘ erkennt nicht nur in der Pop Architektur so etwas, die
gesamte Umwelt wird als ein Zeichensystem wahrgenommen. Den Alltagsgeschmack, das was
populistisch der breiten Masse gefällt, erheben sie zu ästhetischer Maxime.
‘...Diese Bilder zeigen, wie vital eine Architektur beziehungsreicher Anspielungen sein kann;
sie öffnen uns die Augen dafür, wie tödlich andererseits die Befangenheit im Ghetto des
guten Geschmacks, das angestrengte Mühen um die konsequente Gestaltung auch des
letzten Details werden können. Das Beispiel des Strip beweist, wie wertvoll die Verwendung
des Symbolischen, die Zuflucht zu dosierten Irritationen für eine Architektur sind, die mit
großen leeren Räumen und hohen Geschwindigkeiten zu Rande kommen muss; es beweist,
dass die Leute (...) ihre Freude an einer Architektur haben, die sie auch an etwas anderes als
eben nur Architektur erinnert. (...) Anspielungen und Kommentare (...) und die Einbeziehung
des Alltäglichen aus unserer jeweiligen Umgebung, sei es profan oder geheiligt – dies alles
fehlt unserer heutigen ‘modernen‘ Architektur. Über diesen Mangel können wir in Las Vegas
vieles lernen...‘
6.2 Ente und dekorierter Schuppen
Scott-Brown unterscheidet zwei Grundtypen von Gebäuden. Duck und decorated shed. Beide sind
Möglichkeiten der Zeichenbildung, um mit dem Umfeld zu kommunizieren - was darin wartet.
- Ente = Begehbare Struktur – die äußere Form gibt Aufschluss über die Nutzung, die plastische Form
will Aufmerksamkeit erzielen. Der Inhalt des Gebäudes wird zu seiner Form. Sprechende Architektur,
Architektenhäuser
Architekturtheorie Heute [10 / 93]
- Dekorierte Schuppen sind multifunktionale Schachteln, funktionale einfach Kisten. Sie enthalten
alles was man braucht, dann die Fassade drauf um zu sehen was drinnen ist und ein großes Schild
davor.
[Hintergrund zur Ente: es gibt den Long Island Duckling, das ist ein Schnellimbiss-Restaurant. Man
geht in eine gebaute Ente um Entenfleisch zu essen - das Gebäude ist interessant, es fällt auf. Es wird
Ausdruck des Inhalts, es ist eine dreidimensionale Werbeanzeige.
Peter Blake hat sich zu diesem Phänomen der Verschandelung kritisch geäußert: Verkitschung und
Vermüllung der Amerikanischen, von Gott gegebenen Landschaft in ‘God’s own Junkyard‘ von 1964]
Scott-Brown dreht das Beispiel um - es wird positiv aufgefasst. Sie sieht es als grundsätzliche
Möglichkeit der Architektur und hat es in die Theorie mit einbezogen (auch wenn es die weniger
präferierte Möglichkeit ist.)
Theoretisch sind auch Kirchen Enten: eindrucksvolle Form, von außen erkennbar: Suchen
Aufmerksamkeit. Meistens sind sie auch ein bisschen dekorierte Schuppen (Himmel abgebildet,
Skulpturen als Beschreibung des Inhalts)
Das Golden Nugget in Las Vegas ist ein Paradebeispiel eines dekorierten Schuppen. – es wird erst zu
dem was es ist wenn Abends die Leuchtreklame und die Lichter angehen.
6.3 Der Unterschied anhand einer Ente und eines dekorierten Schuppen
Der Unterschied zwischen Ente und dekoriertem Schuppen genauer erklärt. Zwei Altersheime im
Vergleich: das Guild House in Philadelphia (als Schuppen) und das Crawford Manor in Connecticut
(als Ente)
Das Guild House
Es ist achsial, symmetrisch gebaut, hat eine Hauptfassade mit Aufschrift, der Eingang soll sich vom
Rest abheben (als Stilmittel der Vormodernen Architektur). Die Pop Architektur macht mit der
überspitzten Darstellung der Antenne die Hauptbeschäftigung der Bewohner zum Motto.
Das Gebäude versucht sich durch Materialität, Form und Gliederung in die Gegebenheiten der Straße
einzufügen, in den durchschnittlichen Fassaden unterzugehen, sich einzureihen. Es versucht nicht als
Architektenhaus aufzufallen oder originell zu sein, neuartig zu wirken.
Das Crawford Manor
Das Gebäude hat keine Hauptfassade, was typisch für ein Modernes Gebäude ist: wenn man nicht
weiß wo der Eingang ist. Das Gebäude ist da und die Umgebung muss sich eben damit zurechtfinden.
Es ist im Stil des Brutalismus (Sichtbeton) gebaut. Es steht selbstbehauptend als Solitär, fügt sich
nicht in die Umgebung ein und verlangt Aufmerksamkeit. ‘ich bin neu, ich bin anders, ich bin von
einem Architekten entworfen, ich bin eine Skulptur.
Es gibt im Buch eine tabellenartige Gegenüberstellung der Fakten:
Architektur der Bedeutung vs. Architektur des Expressivismus
Gewöhnlich vs.
Heroisch
Billig, langweilig vs. Teuer interessant
Der größte Fehler in der Architektur ist es interessant sein zu wollen – Habe Mut zur Langeweile!
Architekturtheorie Heute [11 / 93]
Die Moderne hat beinahe nur Enten produziert, die Entwicklung von Stadt ist dadurch nicht möglich.
Ein paar Enten in einer Stadt sind wichtig und gut [ein Kunsthaus in Graz soll eine Ente sein, sie soll
erkannt werden] Auch eine Bibliothek ist ein Kulturbau, da ist es total ok, wenn es eine Ente ist. Zum
Problem wird es nur, wenn die enten die Wohnbauten übernehmen wollen. Da sollte man beim
dekorierten Schuppen bleiben.
Zaha Hadid war eine Enten-Architektin. Oft ist es OK, manchmal sollten Gebäude aber auf die
Umgebung reagieren. Ihr Einkaufszentrum ‘Galaxy Soho‘ in Peking, soll keine Kommunikation mit der
Umgebung herstellen. Es soll eigenständig und ein Blickfang sein, das ist ihre Absicht.
Es gibt nach wie vor sehr viele Enten (auch in Bau) - es gibt sogar ganze Entenparks (siehe WUCampus) Sind öffentliche Gebäude dazu verpflichtet Enten zu sein? Kunsthaus Graz, Stephansdom.
Bekommt ein Büro einen großen Auftrag, wollen sie etwas Besonderes machen um bekannt zu
werden. Das ist auch das Problem der Grazer Schule gewesen. Interessant sein zu wollen - von der
Umgebung abgegrenzt, abgehoben sein. Das Lessingstraßen Gebäude ist auch eine Ente, anderes als
die Konventionelle Umgebung.
Nach Venturi/Scott-Brown soll man Mut zum langweiligen haben. Architektur ist Hintergrund,
man soll sie nicht extra wahrnehmen. Wie ein Kleidungsstück, sollen es Supporten und gut sein aber
nicht auffallen. Ebenso ein super bequemer Stuhl, auf dem man jahrelang sitzt ohne sich über Design
zu wundern.
Hermann Czech hat ein Café in Wien in den 70ern gebaut, das aussieht als wäre es schon ewig dort
gewesen. Er hat es so geplant und eingefügt, dass es nicht sichtbar ist. Das höchste Maß an
Normalität und Unauffälligkeit - neues sollte im Hintergrund sein und mit unglaublicher Coolnes
daher kommen - und nicht nach Aufmerksamkeit schreien.
Innocad hat 2008 das Golden Nugget in Graz gebaut. Ein spektakuläres Gebäude, das sich in die
Umgebung perfekt einfügt: Höhe, Farbe, Dachschräge sind in traditionellen Kontext der Umgebung
eingefügt, ohne ein dekorierter Schuppen zu sein. Eine Ente zu bauen, die zugleich ein dekorierter
Schuppen ist und sich dennoch in seine Umgebung einfügt ist sozusagen die Quadratur des Kreises.
7. Postmoderne
Dieser Begriff bestimmt den Architekturdiskurs der 70/80er und wird danach zum ‘un‘-Wort. Er hat
bis heute ein negatives Image. Ab Mitte der 70er wurde Architektur von Scott-Brown und Venturi als
typisch Postmodern empfunden, als dieser Begriff aufkam hatten sie bereits an die 15 Jahre
Baupraxis mit dem Stil.
7.1 Charles Jencks und der literaturwissenschaftliche Postmoderne-Begriff
Charles Jencks, ‘The Rise of Post Modern Architecture‘ 1975
- Er hat den Begriff nicht erfunden, aber aus der Literatur übernommen. Er hat ihn als erstes im
positiven Sinne auf Architektur angewendet, hat den Begriff für Architekturdiskurs geprägt.
- Architektur ist nicht so sehr die Organisation von Raum, sondern die Sprache, die etwas mitteilt.
Nicht nur wenn wie in las Vegas mit Text, Icons und Bildern gearbeitet wird, sondern auch wenn
NICHT dekorierte Schuppen zu Architektur werden. Architektur ist wie eine sprachliche Aussage zu
verstehen, die gelesen werden muss.
- Jencks Grundthese: Architektur ist wie die Sprache ein Zeichensystem
Architekturtheorie Heute [12 / 93]
Charles Jencks, ‘Die Sprache der postmodernen Architektur‘ 1977
Das ist das erfolgreichste Architekturtheoretische Buch/Werk des 20.JH
- Es gliedert sich in 3 Teile:
• Tot der modernen Architektur (Polemik gegenüber der Moderne)
• Notes of architectural communications
• Postmoderne Architektur (zeitgenössische Gegenspieler zur Moderne)
- Es geht um die ewig gleiche Frage: Was ist gute Architektur? Hier: Warum ist die Moderne
Architektur gescheitert? [man muss nicht mehr erklären, dass sie gescheitert ist - das war schon in
den 60ern common sense - nur noch warum]
- Er bezieht sich auf 2 Referenzwerke: Jane Jacobs und Philippe Boudon.
Irving Howe schrieb 1959 einen kritischen Artikel über Gegenwartsliteratur
Eindeutig negativer Beigeschmack: Postmodern heißt schlechter billiger Massengeschmack.
Schwacher bis mangelnder Neugestaltungswille, Symptome des Verfalls. Das ist der Blick eines
akademischen Snobs, auf den schlechten Geschmack der Masse.
Leslie Fiedler 1969 ‘überschreitet die Grenzen, schließt den Graben‘
- Er ruft die Postmoderne Literatur aus und erklärt zeitgleich die Moderne Literatur für Tot
‘…wir den Todeskampf der literarischen Moderne und die Geburtswehen der Post-Moderne
durchleben. Die Spezies Literatur, die die Bezeichnung ‘modern’ für sich beansprucht hat (mit
der Anmaßung, sie repräsentiere äußerste Fortgeschrittenheit in Sensibilität und Form und
über sie hinaus sei ‘Neuheit’ nicht mehr möglich) und deren Siegeszug kurz vor dem Ersten
Weltkrieg begann und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg endete, ist tot, das heißt, sie gehört
der Geschichte an, nicht der Wirklichkeit. ‘
Mythos und Wirklichkeit, high und low, Traumwelt und Maschinenwelt, sollen in postmoderner
Literatur verbunden sein
- Er plädiert für 3 Punkte:
• Grenzen zwischen Elitär- und Trivialliteratur verwischen
• Text soll mehrere Dinge zugleich ansprechen
• Montagetechnik, übernehmen von vorhandenem = Collagieren
- Postmoderne Grundüberzeugung: es gibt nichts Neues. Die Moderne stellte alles in Frage, macht
Tabula rasa und erfindet alles neu. Die Postmoderne erfindet nicht jeden Montag das Rad neu,
sondern setzt dagewesenes neu zusammen (Texte sind Verarbeitungen anderer Texte)
- Erst der Leser selbst gibt dem Test den Sinn - er liest sich selbst hinein, findet sich selbst wieder.
Jeder interpretiert anders [Lebenserfahrung und Perspektiven verändern sich in 10 Jahren, mit 16
und mit 26 das Selbe Buch gelesen = zwei verschiedene Bücher]
Jane Jacobs ‘Tot und Leben großer amerikanischer Städte‘ 1961
- Fundamentalkritik an modernistischer Stadtplanung, die sich auf die Charta von Athen bezieht
[Trennung von Funktionen: Wohnen, Arbeiten, Freizeit Verkehr in der Stadtplanung] sie plädiert für
Kleinräumigkeit und Dichte. Sie bezieht sich auf Sitte und sein romantisches Bild von alten
europäischen Städten und Plätzen.
- Sie bekommt eine Schlüsselfunktion im ‘New Urbanism‘ (ab 70er) in dem amerikanische Städte
zurückgebaut werden sollen. Stadtzentren mit Vorbild europäischer historische Städte sollen
entstehen. Sie möchte die Kleinräumigkeit in die Autogerechte Stadt verpflanzen, was Rückbau
bedeutet.
Architekturtheorie Heute [13 / 93]
Philippe Boudon, 1969 ‘Die Siedlung Pessac – 40 Jahre Wohnen à la Corbusier‘
- Analyse einer Arbeitersiedlung, die im Sinne des ‘neuen Bauens‘ der Moderne geplant wurde. Sie
wurde von den Arbeitern selbst umgebaut ‘fertig gebaut‘ - sie bauten auf die Modernen Gebäude ein
Dach und machten es zu einem Wohnhaus. Sie haben nicht verstanden was Le Corbusier wollte.
• Die Moderne meinte dazu, dass die Bewohner erst erzogen werden müssten
• In den 60ern hieß es, dass die Leute ja nicht gefragt wurden, die modernen Lebensformen wurden
ihnen aufgezwungen, es wurde nicht an die Bewohner gedacht
• mittlerweile wurden viele der Bauten wieder Rückrestauriert
Jencks sagt, dass moderne Architektur gestorben ist und gibt Datum und Uhrzeit an:
am 15.7.1972 um 15 Uhr 32 Minuten. Da wurde das erste Gebäude der Wohnsiedlung Pruitt-Igoe in
Missouri gesprengt. Die erste Moderne Sozialwohnbau-Siedlung aus den 50ern mit 2800
Wohnungen. Die amerikanischen Medien machten ein spektakuläres Ereignis daraus
- alle Sünden der Moderne seien dort begangen worden: lange Gänge, Anonymität, keine
Selbstkontrolle, puristische Architektursprache, keine Individualität, keine Identifizierung. Deshalb
wurde sie von den Bewohnern devastiert und abgelehnt (dabei hatte die Siedlung sogar einen
Innovations-Preis gewonnen) Alle Probleme der Moderne wurden sichtbar
[Mitschuld war aber auch der zu große Maßstab und, dass die Stadtverwaltung ein Ghetto geschaffen
hatte. Nur afroamerikanische Sozialhilfeempfänger wurden angesiedelt. Außerdem war die Siedlung
nicht voll belegt, was zu einer hohen kriminalitätsrate geführt hat.
Die Moderne ist gestorben, nachdem sie von Kritikern wie Jane Jacobs 10 Jahre lang erbarmungslos
zu Tode geprügelt worden war
- Charles Jencks Hauptkritikpunkte an moderner Architektur sind die formale und inhaltliche
Verarmung der Architektur - einwertige Formen und dementsprechender Inhalt. Standartform der
Moderne ist die Stahlglasbox - was noch ok ist wenn es ein Bürohochaus ist oder eine Fabrik, aber
zum Problem wird, wenn auch alle anderen Nutzungen diese Form verwenden (Mies v.d. Rohe Schule)
- Bei Mies spiele die Funktion eine sehr untergeordnete Rolle - NICHT form follows function o.ä. eigentlich sogar das Gegenteil:
‘die Hauptaufgabe der Architektur ist es Ausdruck der eigenen Zeit zu sein‘ das bedeutet für ihn,
Architektur muss durch Industriealisierung bestimmt sein, wenn man in der ersten Hälfte des 20. JH
Architekt ist. Alles muss den industriellen Geist der Moderne haben, egal ob es aus funktionalen
Gründen passt oder eben nicht
- Jencks sagt, alle Bauten der Moderne schauen wie Fabriken aus - egal welche Funktion sie haben.
Zum Beispiel das Seagram-building, DAS klassische Hochhaus des 20. JH, entstanden in den 50ern im
Vergleich mit dem Chicagoer Civic-center, entstanden 1964 das auch im 'Miesischen' Stil gebaut
wurde - beide sehen sehr ähnlich aus, obwohl nur eines der beiden ein Bürohochhaus ist (für das
laut Jencks dieses Aussehen ok ist) und das andere ein öffentliches Haus der Begegnung sein soll.
- Jencks sagt auch, dass die Architekten der Moderne an die internationale universelle Sprache der
Architektur glaubten, die jeder versteht - in der Praxis wurde diese aber nicht eingehalten - die
Sprache der Architekten sei eher unleserlich und unverständlich. die Moderne Architektur spricht
überhaupt nicht mehr - sie schweigt.
Spezielle Kritik äußert er am IIT in Chicago - ein Hochschulcampus der 1947 von Mies v.d. Rohe
gebaut wurde. Alle Gebäude wurden - wie es die Moderne verlangte - weggeräumt und Mies konnte
dort seine Kuben verteilen. Die Sprache die die Gebäude sprechen ist aber missverständlich:
das Hörsaalgebäude sagt 'ich bin eine Fabrik'
das Heizhaus sagt 'ich bin eine moderne Kirche'
die Kapelle wiederum sagt 'ich bin ein Heizhaus'
und die Architekturfakultät sagt 'ich bin eine crownhall, ein Tempel, ich herrsche hier'
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Mies sagt uns also, dass das Heizhaus wichtiger ist als die Kapelle und dass die Architektur wie
heidnische Götter über das Areal herrschen. (war vielleicht von Mies nicht so intendiert, in Jencks
Augen drückt es sich aber so aus)
Moderne Architekten - generell - produzieren laut Jencks eine reduzierende Form, mit
unbeabsichtigten Bedeutungen, die sie nicht kontrollieren können - Formen die Schweigen/nichts
bedeuten, gibt es nicht. Deshalb ist es besser sie bewusst einzusetzen als zu unterdrücken und dann
unfreiwillige Bedeutungen zu bekommen.
Sprache beruht auf Codes - Zeichen. sie sind für jede Kultur anders und können nicht so einfach
verändert oder abgeschafft werden. Sprache wird erlernt - so wie alle Zeichensysteme, auch
Architektur ist ein Zeichensystem. Er geht dem 'Problem' nach, wie man ein Zeichensystem
verändern kann - um Innovation in die Architektur bringen zu können.
Die Sprache verändert sich. Neue Wörter kommen dazu, alte werden nicht mehr verwenden und
scheiden aus. das ist ein sehr langsamer Prozess - Sprache ist nicht so einfach veränderbar.
Innovation, das Neue (der Moderne) kann also nur über einen langen Zeitraum hinweg umgesetzt
werden. Die traditionelle architektonische Typologie kann nicht so einfach verändert/abgeschafft
werden, sonst versteht keiner mehr die Sprache.
Jencks Lösung: er fordert für Architektur doppel oder mehrfach Deutungen - die architektonische
Sprache soll nicht nur eine Bedeutung zum Ausdruck bringen sondern mehrere. Um der
pluralistischen Gesellschaft gerecht zu werden und um Innovation möglich zu machen (wenn man
traditionelle Formensprache in einem Gebäude verwendet, wird es verstanden - man kann dann
noch eine zweite und dritte Sinnesebene einfügen, mit Codes die NEU sind, die nur eine Minderheit
des Publikums verstehen kann. DAS sind die Aspekte die die Architektur weiter bringen.
Jencks Beispiel: Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp, ein berühmtes Gebäude der modernen
Architektur (von Le Corbusier 1950) von dem man sagt es sei das ERSTE Gebäude der Postmoderne.
Es ist ein typisches übercodiertes Gebäude - viele Metaphern sind hinein gepackt (heute ist das
Gebäude leicht als moderner Kirchenbau lesbar, damals nicht so sehr) es steckt viel drinnen - die
visuelle Akustik, wie sich der Ton ausbreitet, die Form eines Krabbenpanzer - Jencks findet noch
einige mehr Metaphern die hinein lesbar sind: gefaltete Hände, ein Dampfer, die Kopfbedeckung
einer Nonne, eine Umarmung 2er Menschen, eine Ente (auch der Bezug auf Scott-Browns Ente
möglich - von Jencks hier aber nicht beabsichtigt). "Das Gebäude ist wie ein Tempel einer sehr
komplizierten Sekte."
Zeitgenössisches Beispiel (aus den 70ern) für die postmoderne Architektur (die man heute nicht
mehr als postmodern bezeichnen würde - der Begriff hat sich einfach so schnell so stark verändert)
Medizinische Fakultät bei Brüssel, von 1969, Kroll - zeigt eine unglaubliche Dichte, eine Komplexität
das gegenseitige durchdringen von Funktionen und deren Abzeichnung nach außen (beinahe
übertrieben gezeigt) verschiedenste Fensterformen - wirkt eher wie informell gewachsene Struktur (Favela Ästhetik - nicht wie von einem Architekten geplant - nicht auf die Formale Geste gesetzt)
Pluralismus, vielstimmiger Chor
Vielfalt der Bedeutung - Pluralismus, der einer demokratischen Gesellschaft angemessen ist . Das
vielstimmige kleine ist in einer Demokratie angemessen nicht große diktatorische Großformen.
Das gilt 1977 als postmodern - hat sich aber überhaupt nicht durchgesetzt. Auch die Arbeiten von
Venturi/Scott Brown haben sich nicht als Definition für Postmoderne durchgesetzt - wird zwar heute
noch zitiert - jedoch nicht das was sie Architektonisch gemacht haben.
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Das kollektive architekturgeschichtliche Bewusstsein definiert Postmoderne als eine Architektur
die mit historischen Zitaten speilt
zum Beispiel Piazza d'Italia in New Orleans aus 1975/78
Bei der erweiterten Auflage 1980 nennt Jencks ebenso diesen Platz als Paradebeispiel für
Postmoderne.
Der Platz sollte ein neues Zentrum für die Umgebung werden. Die Fassade des angrenzenden
Gebäudes findet sich im Platz in Form von Ringen wieder - teils als Platten teils als Säulenreihen
wiedergegeben. Verschiedene Zitate aus "alten" Stilen eine Vielzahl von Formen. (Stiefel von Italien
und Neonketten als Symbol für das 20. JH und den schlechten kommerziellen Geschmack der damit
kommt)
Sehr Arm steht die Kulissenarchitektur im Schatten der Hochhäuser am Rande eines Parkplatzes - es
wurde kein Zentrum daraus. Kein pulsierendes Lebensgefühl - der Platz ist halt dort, beschreitet ein
bescheidenes Dasein (schaut in Architekturpublikationen imposanter aus)
Das Problem: es kann keine Dauerlösung, kein Ziel von Architektur sein, weil ironisierter schlechter
Geschmack zum dauerhaft schlechten Geschmack werden müsste. Es ist beinahe eine Krankheit der
Gegenwart, dass das Kommunizieren - egal welchen Inhalts - immer für gut geheißen wird - das ist
eine Fetischisierung des Kommunikationsbegriffes.
Günther Fischer, 1987, 'Sprache kann inhaltsreich sein, oder bloßes Geplapper'
'Ein Mensch der pausenlos auf einen einredet geht einem nicht minder auf die Nerven wie ein
Gebäude, das mit seiner schreienden Botschaft auf sich aufmerksam zu machen versucht. '
Das ist ein historisches Zitat und hat eine gewisse Prominenz in der postmodernen Architektur: Die
Postmoderne ist die Gegenbewegung zur Moderne welche sich als geschichtslos - überhistorisch
verstand. Das ist etwas, was das alle Beziehungen zur Geschichte kappt. Möchte ich also die
Moderne kritisieren, muss ich Beziehung zur Geschichte aufnehmen.
Roger Fayet, 2003, Abfall der Moderne ist der Kompost der Nachmoderne
These: die Moderne ist nichts anderes als eine gewaltige Säuberungsaktion bis hin zum
Nationalsozialismus. Die Idee des reinen Volksköper, die von nicht Arischen Individuen gesäubert
werden muss.
Bildende Kunst: reine Farbe reine Form/Musik: reiner Klang/Architektur: geometrisch reine Formen
werden zu Grundformen - Kontaminierung durch Ornamente müssen eliminiert werden.
In der Moderne wäre das Selbe passiert, wie in einem Garten bei dem alle Abfälle sofort entfernt
werden: er wird steril, ist nicht mehr fruchtbar, der Kompost muss dem Garten wieder zugeführt
werden um wieder fruchtbar zu werden. Am Ende der Moderne muss der ausgeschlossene
verdrängte Schmutz, Abfall wieder in die Architektur rein geholt werden - deshalb gibt es in der
Postmoderne alle Baustile die in der Moderne verabschiedet worden waren. Ornament, Symbolik,
Sprache erzählerisches, bildhaftes etc.
ABER: mit dem großen Unterschied zum Historismus - was recycelt ist - also was schon mal am
Kompost war, verliert den Charakter des 'einmal auf dem Misthaufen der Geschichte gewesen' sein
nicht mehr. Recyceltes hat nicht mehr den Selben Stellenwert wie das Neue, die Wiedereinführung
ist eine Art 'Gnadenakt'. Es bleibt aber auch nach außen hin sichtbar. Absichtlich.
Man merkt es der Architektur an - Elemente die in der Moderne entfernt worden waren, behalten
den Charakter von Schmutz. Es wird ironisiert - wie wenn man unter Anführungszeichen spricht.
Siehe Piazza d'Italia: Kulissenarchitektur als Kulissen zeigen sagt sowas wie 'nehmt das nicht ernst, ist
nur eine Kulisse, ich mach mich eh selbst drüber lustig'. Ein Zitat stellt immer Distanzierung zu dem
her, was man zitiert.
Vom Müllhaufen der Geschichte geht es nie mehr in eine führende Rolle.
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7.2 Der Postmoderne-Begriff in der Philosophie
man muss aufpassen, über welche Postmoderne von wem gesprochen wird - Architektur, bildende
Kunst, Naturwissenschaften, Philosophie - alle haben eine andere Bedeutung
In der Philosophie wurde der Begriff später und anders eingesetzt
Jean Francois Lyotard - 1979 - Das postmoderne Wissen (ein Auftragswerd der französischen
Regierung). Er versuchte Neuerungen in Wissenschaft, Technik, Politik, Kunst und Alltag ab Ende der
50er - also ab Ende der Nachkriegszeit - als Bruch mit der Moderne zu beschreiben.
Lyotards Definition von Moderne waren die großen Erzählungen, die Meta-Erzählungen. Alles
Wissen, alle Anstrengungen einer Epoche richten sich auf ein Ziel aus - also im Grunde eine finale
theologische Erzählung - Die Erwartung eines großartigen Happy Ends, das so toll sein wird, dass man
dafür sehr viel in Kauf nimmt um dorthin zukommen. Das macht für ihn die Moderne aus.
Die drei "Großen Erzählungen“ der Moderne:
- Die Erzählung der Aufklärung - Progression von Vernunft und Freiheit
- die progressive Emanzipation der Arbeit - eine Erzählung des Marxismus
- Die Bereicherung der gesamten Menschheit durch den Fortschritt der kapitalistischen Technik ,der
Techno-Wissenschaft, also eine Erzählung des Kapitalismus
- Alle Erzählungen sind auf eine bessere Zukunft ausgerichtet - sind nur unverhüllte religiöse HeilsVersprechen, die provanisiert und säkularisiert worden sind (auf den Boden der Tatsachen zurück
geholt und von Religion losgelöst)
- Kapitalismus, Marxismus und Aufklärung - alle orientieren sich an Heils-Erzählungen der jüdischchristlichen Religionen. Die Geschichte hat damit ein Ziel bekommen - eine lineare Entwicklung. Das
Ziel ist zu 100% positiv. Die ganze Geschichte arbeitet auf das Ziel hin - es wird immer besser und
irgendwann ist der ideal-Zustand da (kommen des Messias, das Reich Gottes, die klassenlose
Gesellschaft (Marxismus), die Herrschaft der Vernunft (Aufklärung). Das ist die zentrale Denkfigur der
westlichen abendländischen Kultur.
- Der Unterschied zwischen der Moderne-Erzählung und der Christlich/jüdischen Erzählung ist, dass
die Moderne eine Lösung noch für das Diesseits erwartet und nicht erst für das Jenseits. Traditionelle
Architekturgeschichten der Moderne versuchen bereits vorweggenommene Gendanken der
Moderne in der Vormoderne zu finden (Kristallpalast) Paxton ist der "Prophet" der die Moderne
vorausgesagt hat.
- Der Messias selbst erscheint in Form von Mies oder Gropius - Wenn er da ist, ist es unaufhaltsam,
dass er sich überall durchsetzt "alle Widerstände und Kritikpunkte sind halt wie überall vorhanden
aber die Moderne setzt sich trotzdem durch - weil sie heil und Paradies auf Erden bringt.
- Das Problem bei dieser Erzählung: nicht das sie falsch ist, sondern dass sie historisch denkt. Es
ändert sich immer was und dann, wenn Moderne da ist hört die Geschichte auf, dann gibt es keine
Entwicklung mehr - rein logisch betrachtet ist das ein großer Denkfehler.
- Die Menschheits- und Kulturgeschichte arbeitet durch Veränderung und Verbesserung auf ein Ziel
hin, dann auf einmal kommt man in den Idealzustand und kann sich zurücklehnen (= Himmelreich auf
Erden)
- Das kann nicht sein: die Geschichte kann nicht auf einmal aufhören - es kann nicht eine Entwicklung
gedacht werden, die sich dann irgendwann nicht mehr entwickelt, das ist eine widersinnige
Vorstellung. Deshalb - sagt Lyotard - sind alle Heilsversprechen gescheitert.
Architekturtheorie Heute [17 / 93]
Vereinfachung: Postmoderne = Den Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr schenken. Die
Erzählungen sind nicht falsch aber A-Historisch. Die Versprechungen wurden nicht gebrochen weil sie
vergessen wurden, sondern weil die Entwicklung selbst untersagte sie zu halten
Neoanalphabetismus und Verarmung in der 3. Welt, Arbeitslosigkeit, Vorurteile sind Gesetz (wobei
gut ist was wirksam ist). All das ist nicht die Folge unterbliebener Entwicklung, sondern es entwickelt
sich selbst. Deshalb wagt man es nicht mehr, von Fortschritt zu sprechen (stammt aus "Postmoderne
für Kinder" von Lyotard)
Die allgemeine Entwicklung tendiert nicht zur Aufklärung und Entwirrung und Emanzipation sondern
Destabilisierung in materieller und Intelektueller Hinsicht. Alles wird nicht einfacher, sondern viel
komplexer. Deshalb ist die eigentliche Aufgabe von Kunst und Wissenschaft nicht EINE Wirklichkeit
zu liefern, sonder die Anspielungen auf ein Denkbares, das nicht dargestellt werden kann (wie
Einstein/Heisenberg es praktiziert haben)
Die Avantgarde des 20. JH haben die philosophische Moderne vorweggenommen. Die auf hohem
Niveau agierende Moderne sei mit Wissen und Komplexität, Widersprüchlichkeit und der
Unauschöpfbarkeit von Wahrheit im Kern bereits postmodern gewesen.
Lyotard war kein Anhänger der Postmodernen Architektur - er war ein Kritiker von Charles Jencks.
Indifferente, nostalgische, eklektizistischer Stil der postmodernen Architektur bediene nur die
Gewohnheiten der Illustrierten-Leser und befördert den Geist des Supermarktkunden (das ist das
Naserümpfen des feinen französischen kulturellen gegen die "kleine" Masse und den vulgären
amerikanischen Geschmack)
Der Vorwurf der die Postmoderne nicht trifft (was 'Learning from Las Vegas' zeigt): Das genau DAS
das Ziel ist, das man Architektur für den breiten Massengeschmack schafft.
'In äußerster Vereinfachung kann man sagen: ‚Postmoderne’ bedeutet, dass man diesen MetaErzählungen keinen Glauben mehr schenkt.' Jean-Francois Lyotard
7.3 Gemeinsamkeiten der Postmoderne in Kunst, Architektur, Wissenschaft,
Gesellschaft
verschiedene Charakteristika, die sich in allen Bereichen decken - was zum Beispiel alle gemeinsam
haben, so widersprüchlich sie auch sein mögen, alle haben einen gemeinsamen Feind: die Moderne
• Kritik am Dogmatismus der Moderne (Komplexität, Pluralismus)
Vor allem der Wahrheitsanspruch, allein Seelig machend zu sein, wird von allen kritisiert - man setzt
dagegen Werte von Komplexität, Pluralismus. Es gibt nicht nur einen Weg zum Ziel, sondern viele.
• Ablehnung geschlossener Systeme als totalitär (offene Form, Widerspruch)
Die Moderne wird kritisiert als genauso totalitär wie der Faschismus und der Stalinismus - sie sind
nicht eine Gegenbewegung zur Moderne sondern deren Vollstrecker - die radikalste Umsetzung. Es
ist die Aufgabe gegen diese geschlossene Totalsysteme die offene Form und den Widerspruch zu
kultivieren.
• Wissenschaftstheorie: „Wissenschaft als Kunst“, „Paradigmenwechsel“
- Paul Feyerabend, 1982, 'Wider dem Methodenzwang' Wissenschaft wird als neue Religion kritisiert,
die mit absolutem Wahrheitsanspruch auftritt.
1984, 'Wissenschaft als Kunst' Er versucht zu zeigen, dass auch in der Wissenschaft Denkstile
existieren - Richtungen, Strömungen - wie es sie in der Kunst gibt.
Architekturtheorie Heute [18 / 93]
- Thomas Kuhn, 1962, 'Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen' Paradigmenwechsel (= eine
grundlegende Veränderung von Auffassungen in einem bestimmten Bereich). Wann kommt es in der
Wissenschaft zum umwälzen neuer Erkenntnisse, wo vieles revidiert werden muss (also auch
Lehrbücher umgeschrieben werden müssen ? Die scientific community operiert nach einem Modell,
das sie sich zurecht gelegt hat, alles was ins Modell passt, wird zur Bestätigung herangezogen - alles
was aber nicht hinein passt wird negiert oder ignoriert. Paradigmenwechsel sind sehr mühsam, bis
die wirkliche Perspektive auf eine Sache wirklich komplett verändert.
• Skeptizismus als erkenntnistheoretische und Ironie als ästhetische Haltung
- Gegenüber allem Skeptisch sein und letzte Wahrheiten gibt es nicht - zumindest t nicht erkennbar.
Alles ist nur vorläufig, nur eine Theorie die so lange gilt, bis die nächste Theorie kommt und das
Gegenteil beweist. Das Weltbild ist nicht sicher, nicht fertig, eher vorläufig - alles ist unter
Anführungszeichen.
- Die Ironie ist in der Literatur der Architektur und den Bildennden Künsten eine prinzipielle
postmoderne Haltung - die Ironie ist ein starkes Indiz für die Postmoderne, sie ist dadurch leicht
erkennbar.
-Sigmar Polke, 1966, 'Vitrinenstück' Ein kapitalistischer Realismus. Stellwände und eine Vitrine - ein
absichtlich sehr schlechtes Ausstellungsdesign. Betont ungekonnt, laienhaft und unkünstlerisch und
mit dem absichtlichen vermeiden eines ästhetischen Anspruches. Ein Blaues Bild mit weißen
Buchstaben und einem Text der besagt, dass der Maler von Höheren Wesen aufgefordert wurde,
Flamingos anstatt eines Blumenstrauß zu malen. Was Polke hier persifliert (also auf geistreiche Art
verspottet) ist das Genie-Mythos der Moderne. Der Künstler folgt bedingungslos Inspiration und der
Eingebung durch höherer Wesen. Er macht sich über das ganze Künstlerbild Moderne lustig.
-Sigmar Polke, 1968, 'Moderne Kunst' ein Gemälde. Es gibt in den gesamten Kunstwerken der
Moderne kein einziges Werk, das diesen Titel trägt - es ist ein Zitat moderner Kunst, eine Abbildung
von moderner Kunst und Titel. Alle Konventionen die die Moderne hervorgebracht hat werden
bemüht: der Klecks, eine große Geste, geometrische Abstraktion, monochromie. Alles kombiniert
wird schrecklich, schlecht, unvorstellbar. Dieses Bild Zeigt klar, dass die Moderne am Ende ist.
• Soziologie: Industriegesellschaft wird von Informationsgesellschaft abgelöst
soziologisch betrachtet ist der Übergang von Moderne zu Postmoderne ganz eindeutig synchron mit
Übergang von Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft (bzw. Postindustriegesellschaft,
Postfordistische Gesellschaft)
• Geistesgeschichte: Kritik an der Aufklärung (New Age, Esoterik, Mythos,...)
geistesgeschichtlich ist die Kritik an der Moderne zugleich eine Kritik an der Aufklärung, als eine
mögliche Sicht von Wirklichkeit. Das was früher zur Zeit der Aufklärung als Aberglaube bezeichnet
wurde, erfuhr mit der Postmoderne eine Auferstehung. In den 70er/80ern stiegen New Age, Esoterik,
mythischer Weltbilder, Homöopathie, traditionelle Chinesische Medizin wieder auf und erfuhren
einen Boom der bis heute anhält.
Das Problem ist, es sind Systeme die sich eigentlich gegenseitig ausschließen: Die Schulmedizin
schließt Homöopathie und traditionelle chinesische Medizin eigentlich aus - am Beispiel
Akkupunktur: laut Schulmedizin MUSS Akkupunktur unwirksam sein und kann nicht funktionieren man weiß aufgrund Erfahrungen aber, dass sie funktioniert.
Die Schlussfolgerung daraus ist, es gibt mehr als eine Wirklichkeit - mechanistisches Weltbild,
Schulmedizin und andere. Sie passen nicht zusammen, aber man muss zulassen, dass es pluralistisch
ist - alle dürfen Leben. Die Idee, das alles erkennbar ist, eine große Theorie, muss aufgegeben
werden (dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen, ist noch aktuell)
• Wirtschaft und Politik: Krise des Sozialstaates, Aufstieg des Neoliberalismus
Der Aufstieg der Postmoderne und das Ende der Moderne fällt zusammen mit der Krise des
Sozialstaates, des Wohlfahrtsstaates und dem Aufstieg des Neoliberalismus.
Architekturtheorie Heute [19 / 93]
8. Rem Koolhaas‘ „Delirious New York“ als postmoderne Utopie
Rem Koolhaas 1944 in Amsterdam geboren, in London Architektur studiert, 72 nach New York
gezogen und OMA gegründet. Er hat auch Journalismus studiert und hat eine gewisse Nähe zu Film
und Literatur. In New York setzte er sich während 3 Forschungsstipendien (u.a. unter Peter
Eisenman) mit der dem Manhattan Phänomen auseinander, über diese Arbeit erschien 1978 das
Buch 'Delirious New York', das ihn schlagartig berühmt machte. Es ist das Beste, lesenswerteste
theoretische Werk der Architektur des 20. JH
Er ist neben Jencks schriftstellerisch der begabteste Architekt seiner Generation, er ist einer der
wichtigsten Architekten und der wichtigste Theoretiker der Neoliberalen Gegenwart. Man würde
auch über ihn Sprechen, wenn er noch nie etwas gebaut hätte, allein durch sein theoretisches Werk.
8.1 Einführung
Delirious New York ist ein architekturtheoretisches Werk, einer DER zentralen Texte der letzten 40
Jahre. Der Titel soll provokant sein. Koolhaas ist eigentlich nicht postmodern. Es geht um eine Utopie
(kein Ort, nirgends, ein nicht-Ort, etwas das nicht existiert, eine Utopie zu realisieren ist nicht
möglich)
Eine postmoderne Utopie ist ein Wiederspruch in sich selbst, denn Utopien sind große Erzählungen.
und in der Postmoderne glaubt man diese Meta-Erzählungen nicht mehr. Utopien sind ein Produkt
der Moderne, ein Versprechen auf eine bessere Welt, ein Ideal, die der Geschichte widersprechen.
Der Entwurf eines Gegenbildes, ein viel Besseres sein als das was ich mir vorstelle. 'jeder Versuch den
Himmel auf Erden einzurichten, hat Schnurgerade in die Hölle geführt' (Popper).
Ein Beispiel für eine klassische Moderne Utopie ist der Nationalsozialismus. die Utopie der
menschlichen Selbstbefreiung durch die Technik hat zu Tschernobyl und Fukushima geführt. (Utopie
vs. Dystrophie (=negatives Bild) die grundlegende Utopie ist aber positiv. sie wird als Gegenbild zur
Gegenwart entworfen, und kann sie auf 2 Weisen kritisieren: positiv ( es könnte so ... so sein) oder
negativ (wenn Entwicklungen so weiter gehen landen wir in einem Überwachungsstaat)
In den 70ern verlieren Utopien als positive Zukunftsbilder an Bedeutung und verschwinden. Das
utopische Denken kommt mit der Krise des Wohlfahrtsstaates und der Fortschrittsideologie an sein
Ende. Die Postmoderne will sich mit Realität und Gegebenem Arrangieren (Learning from Las Vegas wir wollen nicht eine bessere Stadt der Zukunft schaffen sondern schauen vorhandene Schadt an und
die ist ok)
Venturi 1966 - 'A Gentle Manifesto': Komplexität und Wiederspruch in der Architektur
Hauptaussage: the mainstreet is almost alright - die Hauptstraßen sind eh fast ok (wir brauchen
nicht tabula rasa machen)
Aus der Situation des Mangels ist die Hoffnung auf eine bessere Zukunft das, was einen überleben
lässt. Neureichenphänomen der Postmoderne, sie ist noch beliebt weil das Lebensgefühl zum
Ausdruck gebracht wird. In der Nachkriegszeit ab 1945 lebten in Österreich die meisten Menschen in
Baracken oder auf der Straße - es gab nichts zu essen - miserable ökonomische Zustände. Da kam die
Moderne als architektonische Unternehmung und sagte 'wir schaffen in sehr kurzer Zeit sehr billigen
Wohnraum mit gewisser Qualität' (immerhin besser als Baracken und bekam deshalb natürlich
großen Zuspruch)
Alle waren froh in einem 30 stöckigen Hochhaus an der Peripherie eine Wohnung zu fünft mit 40 m²
und fließend Wasser zu bekommen, es stellte eine Verbesserung des damaligen Zustandes dar. In
den 60er/70ern galten diese Gebäude dann aber als soziale Problemzonen, weil sich die Gesellschaft
komplett verändert hatte. Das ist das Produkt einer gewissen Sättigung - wenn ich kein Dach habe
und dann eines bekomme, ist mir egal welche Form das Dach hat.
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Der theoretische Ansatz des Buches: er verknüpft postmoderne und spätmoderne Elemente und
schafft eine Theorie daraus. postmodern ist daran...
- die Architekturhistorische Fragestellung (Geschichte der Architektur von Manhattan vom 18. JH bis
1960er) wenn man es historisch anlegt, ist das der Inhalt des Buches
Warum schätzten die modernen Architekten Manhattan nicht SO sehr ?
- die Hinwendung zu einem Architektonischen Phänomen, das die Moderne bisher links liegen
gelassen hat - der Wolkenkratzer. gelten als wenig originell, eher vulgär, minderwertig höchstens in
bautechnischer Hinsicht bemerkenswert aber noch im Historismus des 19. JH steckengeblieben (bsp:
Cass Gilbert - Woolworth Building 1910, eine Art Neogotik) die Moderne sagt über Manhattan nichts
Gutes, bzw. so gut wie gar nichts. Die Stadt war in den Augen der Moderne "nicht so schlimm" wie
die Kitsch Architektur von Las Vegas, aber auch nicht das, was man angepriesen hat.
Koolhaas hat sich einem Thema zugewandt, das kulturhistorisch ein Rückschritt war (weil Manhattan
eben nicht zur gelobten Moderne zählt) Delirious NY und Learning from Las Vegas ähneln sich in
dieser Hinsicht sehr stark. Die Hochhäuser haben einen Neoeklektizistischen Stil, der eher
konservativ ist, deshalb kann man sich aus Moderner Sicht gar nicht damit beschäftigen.
- Auch aus urbanistischer Sicht galt Manhattan für alle modernen Architekten Europas als
abschreckendes Beispiel und nicht als Vorbild - nach Prinzipien des modernen Städtebaus wurde viel
zu dicht gebaut (nachzulesen u.a. in einem 1935 von Le Corbusier für das New York Times Magazin
verfassten Artikel - Die Häuser nehmen sich gegenseitig Luft und Licht, man sollte alles wegräumen,
durch Parklandschaft ersetzen und dann riesige Hochhäuser hineinstellen die genug Abstand
zueinander haben)
Auch postmoderne Stadttheoretiker haben Manhattan verurteilt bzw. es war nichts positives - der
New Urbanism ließ sich dort nicht umsetzen. Ihr Ideale sind Tradition, Fußgänger freundlich,
kleinräumige europäische Stadt - nicht Megastrukturen wie Wolkenkratzer die jeweils zig tausende
Menschen beherbergen und wie einzelne kleine abgeschottete Städte wirken. Im Architekturdiskurs
von Moderne und Postmoderne war Manhattan trotz touristischer Popularität ein abschreckendes
Beispiel. Späte Utopisten (68er) konnten sich schon eher für Manhattan erwärmen weil sie sich für
Weltraumstädte und Megastrukturen interessierten.
Die geniale Grundidee Koolhaas war der Generation er die Utopien in den 70ern abhanden
gekommen waren klar machen, dass Manhattan eine verwirklichte, realisierte Utopie (der
Postmoderne) ist. Eine realisierte Utopie ist ein genauso großer Widerspruch in sich selbst wie eine
postmoderne Utopie - nach Foucault wäre es eine Heterotopie (ein "anderer" Ort, abweichende,
ausgegrenzte Orte, die es in jeder Gesellschaft in Form von z.B. Friedhöfen, Gefängnissen, Schiffen
etc. gibt.). Die Absolute Künstlichkeit der Stadt fasziniert ihn, führt aber nicht dazu Manhattan als
Vorbild für Architektonische Praxis hinzustellen. Delirious NY ist KEIN learning from NY! (es liest sich
wie ein Buch eines Kulturwissenschaftlers nicht wie das eines Architekten) gegenwärtige und
zukünftige Baupraxis wird mit fast keiner Silbe erwähnt. Es ist ein Grenzfall, aber dennoch ein
Architekturtheoretisches Buch - es Behandelt zwischen den Zeilen aber auch die immer gleiche Frage
'Wie sollen wir bauen? '
Der (rätselhafte) Untertitel 'ein retro-aktives Manifest für Manhattan'
Die Zeit der Manifeste ist eigentlich vorbei, das gibt es nicht mehr, das war ein Werkzeug der
Moderne - das waren eigentlich immer Behauptungen ohne Beweise - so soll es sein, so gehört es
gemacht, das ist schlecht - und dann wurden die Behauptungen nie bewiesen. Hier ist es umgekehrt.
'Manhattan ist ein Gebirge an Beweisen ohne Manifest' er möchte im Nachhinein ein Manifest
schreiben um die Architektur und Kultur des 20. JH zu verstehen. 'Manhattan ist der Rosette-Stein
des 20. JH - Begreift man Manhattan, begreift man das 20. JH' (Rosette-Stein gefunden in Ägypten,
selber Text in 2 Sprachen und Hieroglyphen - so lernte man Hieroglyphen zu lesen, 196 v.chr.)
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Koolhaas will nicht nur kulturwissenschaftliches verstehen, er hat auch den Anspruch, dass der
Manhattismus jetzt und in Zukunft Gültigkeit behält - er sieht sich selbst als Ghostwriter und nicht als
Historiker. Er leiht seine Stimme einer vielbeschäftigten, egozentrischen Diva, damit sie ausdrücken
kann was sie denkt und fühlt, und Koolhaas kleidet dies in Worte. Manhattan zeichnet sich dadurch
aus, extrem populär und theoriefrei zu sein - deshalb wird es vom etablierten Architekturdiskurs
damals unterschätzt. Unter den Beweisen ohne Manifest verbirgt sich das Manifest für den
Urbanismus der Zukunft. (diese Aussage wird aus späteren Schriften und aus Bauprojekten von OMA
deutlich)
Zentraler Wesenszug von Manhattan ist für Koolhaas die Dichte - eine postmoderne Qualität,
(traditionelle europäische Stadt lebt von der Dichte) die so gesteigert ist in Manhattan, dass die
Postmoderne das zu Extreme aber wieder ablehnt - Manhattismus ist das Paradigma, (=
Muster/Beispiel) der Ausbeutung des Staus bzw. der Ballung, der Überbelastung. Die retroaktive
Formulierung von Manhattans Programm ist ein polemisches Unterfangen - Strategie, Durchbrüche
und Theoreme verleihen der Performanz der Stadt Logik und System, unveränderte Gültigkeit, ein
Zeichen der widerkehr des Manhattismus als Doktrin (= Grundsatz/Leitsatz) das sich von Insel der
Ursprünge lösen kann um den Platz unter zeitgenössischen Urbanismen zu beanspruchen. Am
Beispiel Manhattan entwirft dieses Buch eine Kultur des Staus (der Ballung, der Überbelastung)
Es ist KEINE Darstellung von Daten und Fakten sondern eine Strukturanalyse. Die architektonischen
Phänomene von Manhattan werden sehr überspitzt zurück geführt auf einige wenige zentrale
Prinzipien, die Koolhaas sowohl architekturtypologisch als auch psychoanalytisch erklärt
Er ist kein strenger, penibler Wissenschaftler. Bestreben in allen Dingen/Fakten die er ausbreitet um
Belege für zentrale Thesen zu finden, führt manchmal zu Übertreibungen und theoretischen
Überspitzungen die oft sehrt elegant und apodiktisch formuliert sind (keinen Widerspruch zulassen) manchmal stehen auch einfach historisch falsche Tatsachen im Buch - das macht es zu einer sehr
anregenden, interessanten Lektüre - Wie ein postmoderner Roman.
Es gibt 8 Kapitel, 1. Einleitung, 2.Vorgeschichte der Entstehung 17. JH und Entwicklung bis Mitte 19.
JH, 3. Cony Island (dem Testkapitel für Manhattan) 4. Das Doppelleben von Utopia - der
Wolkenkratzer (Trennung von Hülle und Funktion) 5. Rockefeller Center, 6. LEC und Dali in
Manhattan, 7.+ 8. als Appendix spannen den Bogen bis in die 70er
Das originale Cover, auf dem das World-Trade-Center und das Chrysler-building vom RockefellerCenter in flagranti im Bett erwischt werden und von allen Wolkenkratzern von New York beobachtet
wurden, wurden in späteren Ausgaben durch Fotos von New York ersetzt. Das nimmt dem Buch viel
von Ironie und surrealistischem Witz - macht es beinahe zu ernst.
8.2 Die Vorgeschichte, Kapitel 1
Hauptsächlich bekannte Tatsachen - ursprüngliche Gründung von Holländern als Neu Amsterdam gewohnt künstliche Landschaften zu bauen und in Städte umzuwandeln. 1811 begann der
Gründungsakt, als man die felsige langgestreckte Insel zwischen Hutsonriver und Eastriver in
gleichförmige rechteckige Parzellen unterteilt hat (ohne Rücksicht auf Hügeligkeit und
Unregelmäßigkeiten) Grid der für den gesamten amerikanischen Städtebau grundlegend ist.
13 Avenues von Nord bis Süd und 156 Straßen in Ost-West Richtung - da ergeben sich ca 2028
annähernd gleich gr0ße Blocks - stimmt aber nicht genau, Insel ist ja kein Rechteck.
'...die kühnste Prophezeiung in der Geschichte der westlichen Zivilisation: die Grundstücke
sind leer, die beschriebenen Einwohner hypothetisch, die lokalisierten Gebäude imaginär, die
umrissenen Aktivitäten nicht existent ... '
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Eine der klassischen Übertreibungen vom Koolhaas in diesem Buch (gab schon vorher angelegte
Raster Städte außerdem gab es schon rund 130.000 Menschen dort, heute rund 1,5 Mio., also 8% der
heutigen Einwohner gab es damals schon. Der Raster war völlig egalitär, weil er in Manhattan kein
Zentrum besitzt, ist indifferent gegenüber der Topografie und er behauptet 'die Überlegenheit der
geistigen Konstrukte über die Wirklichkeit'. Ausnahme vom Grid ist der Central Park - ansonsten
weder Plätze oder Freiräume eingeplant. (öffentliche Plätze sind Vergoldung von Grundstücken die
ich sonst verkaufen/vermieten kann). Der Central Park ist ein ausgestelltes Stück Restnatur. Es gibt
hier ausschließlich verschlungene Wege als absolutes Gegenteil zum strikten Grid der Stadt - quasi
eine künstlich verdichtete Natürlichkeit - der Versuch Natur zu Systematisieren, und dem
geometrischen Raster von Manhattan gegenüberzustellen.
Weltausstellung in New York von 1853 - es
Kristallpalast, dieser hier hat aber auch eine Kuppel.
gab ähnlich wie in London einen
Bei dieser Ausstellung tauchten laut
Koolhaas die beiden Grundfiguren des Manhattismus das erste Mal auf: die Nadel, ein großer
Aussichtsturm (eine Art früher Eiffelturm) und der Globus als die autonome in sich abgeschlossene
künstliche Welt (Kuppel auf dem Kristallpallast). Beides sind Extreme der Formensprache von
Manhattan, die später zusammengeführt werden obwohl sie formal komplett gegensätzlich sind und zwar im Wolkenkratzer. Er ist von seiner metrischen Dimensionen her, von seiner Proportionen
eine Nadel und von seiner inneren Struktur her ein Globus, weil er immer eine abgeschlossene Welt
in sich ist.
Das ist ein typisches Beispiel für das Strukturanalytische Denken von Koolhaas: dass er in zwei eher
peripheren zufälligen Phänomenen die Grundidee von Manhattan entdeckt.
Die Ausstellungsarchitektur des 19. JH war das Vorbild für die Architektur von Manhattan im 20. JH das liefert für Koolhaas die Begründung für das nächste Kapitel. Er sagt das es für Coney Island
Vorbild war, wo der Manhattismus das erste Mal ausprobiert wurde - Coney Island ist ein
Versuchslabor des Manhattismus.
8.3 Coney Island: Die Technologie des Phantastischen
Coney Island befindet sich an der Atlantik Küste, ein vorgelagertes Inselchen - das sich in der 2. Hälfte
des 19. JH zum Vergnügungs- und Erholungsgebiet der Massen entwickelt hat. Es hat Konzepte von
Disneyland, Las Vegas und Michael Jacksons Neverland Ranch vorweggenommen, man findet dort
ein sehr ur-amerikanisches Phänomen. Die Errichtung ein irrationalen phantastischen Gegenbilds zu
Manhattan - ein 'anti'-Manhattan - eine Flucht aus dem Alltag in eine Traumwelt (eine klassische
Heterotopie im Sinne von Foucault, eine realisierte Utopie fürs Wochenende)
Für Koolhaas ist interessant, dass das Vergnügungsproblem ebenso rein technisch gelöst wird, wie
die Bebauung Manhattans 'irrationale Ziele werden mit völlig rationalen Mitteln verfolgt' Koolhaas
folgt ein Bisschen der funktionalistischen denk- und argumentationsweise der Moderne und der
modernen Architektur (Polemik von Charles Jencks: mit Problem aufstellen, Problem lösen kann man
keine gute Architektur machen)
Es gibt es in der kapitalistischen Großstadt ein Vergnügungsproblem, die Leute arbeiten die ganze
Zeit nur und sie können sich nicht vergnügen, müssen sich aber vergnügen sonst wird Arbeit zu
anstrengend und ist dann irgendwann nicht mehr produktiv - dieses Problem wird hier durch die
Parks von Coney Island gelöst, wo man so eine Fluchtwelt (sehr irrational mit rationalen mitteln
umgesetzt) gebaut hat.
- Hotel in Form eines Elefanten von 1884, das Meer wird ab ca 1990 elektrisch mit Flutlicht
beleuchtet, man versucht dem vereinsamten Großstadtmenschen, was er zivilisationsbedingt
verloren hat, mit Hilfe von Technologie zurück zu geben. Die Metropole bewirkt ein
Wirklichkeitsdefizit.
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- Gegen Einsamkeit gibt es das 'Barrel of love' (Röhre, Männlein und Weiblein rein, Röhre dreht sich
bis alle durcheinanderpurzeln, das bricht das Eis) und im 'Tunnel of love' kann man bei einem
Spaziergang am Wasser diese Intimität fortsetzen.
- Gegen die Entfremdung von freiem, wilden leben in der Natur, gibt es eine mechanische Rennbahn
mit künstlichen Pferden (in künstlicher Prärie) auf denen man reiten kann.
- 1903 wird der erste Luna Park eröffnet. Erbaut nach Plänen von Frederic Thompson. Ist realisiertes
Science Fiction - man soll sich wie am Mond fühlen, entlastet vom Alltag (ebenso eine Heterotopie)
Geboten wird eine ästhetisch-moralische Schwerelosigkeit (auch einer der ersten Flugsimulationen
dort) Das besondere am Luna-Park: Unzahl von phantastischen Türmen in orientalischbyzantinischem Stil (erinnert zwar nicht an den Mond, macht aber nix) es kommen jedes Jahr
hunderte Türme hinzu - 1906 bereits 1221 Türme. Sie haben keine andere Funktion als Fröhlichkeit
zu verbreiten. Tagsüber sehen sie nur nach Holz und Pappe aus, nachts entfalten sie ihr gesamtes
Imaginationspotenzial (Leuchtreklame war damals noch nicht so weit verbreitet, deshalb war das ein
fantastisches Erlebnis (Stromverbrauch war gleich hoch wie von einer mittelgroßen Stadt)
Der Luna Park weckt und stillt ein unglaubliches Massenbedürfnis (1907 nach 4 Jahren 60millionste
Besucher) Der Park ist laut Koolhaas das Testgebiet der späteren Wolkenkratzer
- Der Park war so erfolgreich, bald bekam er Konkurrenz. Senator lässt neben Luna-Park einen
weiteren Vergnügungspark 'Dreamland', mit dem Motto 'unter dem Meeresspiegel' bauen - ebenso
ein utopischer Ort. Alle Gebäude werden weiß gestrichen (man hat auf formale Praktiken der
moderne vorgegriffen: ein radikaler Reinigungsvorgang, bei dem alle Konzepte die Reynolds
woanders entlehnt haben mag geläutert werden)
Es gibt ein 'Liliputia', eine Stadt im Maßstab 1:2, sie wird von 300 Liliputanern bewohnt, sie sind
lebende Ausstellungsstücke. Ihre Promiskuität (80%der Kinder unehelich zur Welt gebracht) erfüllt
die nicht eingestandenen Wunschträume der Bürger von NY.
- Auch Traumorte wie die Schweiz oder Venedig wurden nachgebaut. Um die Schweiz zu imitieren
und die eisige Schneeluft der Berge herzustellen, wird die erste großflächige Klimaanlage der Welt
installiert um einen Effekt zu erzeugen - nicht um im täglichen Leben die Hitze erträglicher zu
machen, sondern um einen fantastischen Effekt zu erzielen (der Hochhausbau hat auch
Airconditioning gebraucht dafür wurde die Anlage aber nicht entwickelt)
Dieser Effekt zieht sich durch alle Errungenschaften die man bisher in der architekturhistorischen
Literatur über den amerikanischen Wolkenkratzer angeführt hat (das waren die Voraussetzungen für
den Wolkenkratzer) sind für Koolhaas nicht rationale technische Erfindungen um ein rationales ziel den Wolkenkratzer - zu erreichen, sondern wurden erfundenen um etwas irrationales möglichst
illusionistisch und wirklichkeitsnah umsetzen zu können - und danach erst wurde es erst für den
Wolkenkratzer verwendet - seine Schlussfolgerung daraus: der Wolkenkratzer ist nichts rationales,
sondern etwas irrationales. Er stellt die gesamte Argumentation der Architekturgeschichtsschreibung
die bis zu den 70er/80er galt und teilweise noch heute gelehrt wird, auf den Kopf.
- Pompeji wurde nachgebaut in Dreamland - Ausbruch des Vulkan und Zerstörung der Stadt wurde
als Show erlebbar gemacht, Erdbeben von San Franzisco, Großfeuer das von Feuerwehrleuten
gelöscht wird, viele Gefahren die das Leben in der Großstadt produziert werden dargestellt und
zugleich wird gezeigt, wie diese technisch bewältigbar werden. Es geht um eine katharsische
Darstellung der Katastrophen (= reinigend, das miterleben einer Tragödie, mitleiden mit dem Helden
der Zugrundegeht bewirkt eine Katharsis, eine Reinigung) Eine Großstadt birgt Gefahren, man erlebt
Katastrophen als Theaterstück, die Tragödie wird in letztem Moment aber abgewendet - das bewirkt
eine Reinigung von unbewussten Ängsten die die Großstadt auslöst. Das ist es, was die Filme aus
Hollywood auch die ganze Zeit machen - im letzten Moment retten.
- Anstelle des Flugsimulator wurde dann ein echter Flug über Manhattan angeboten 'die Wirklichkeit
triumphiert über den Traum'
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Die Gegenüberstellung des Beacon towers in Dreamland mit dem Chrysler Building:
Nachts wird Coney Island von gewaltigen Scheinwerfern erhellt, die die Leuchttürme des Hafens von
Manhattan überstrahlt - Behörden müssen einschreiten, weil Schiffe falsch geleitet werden und auf
Grund laufen - das Traumland stellt das WIRKLICHE Land der unbegrenzten Möglichkeiten in den
Schatten.
Der Senator der Dreamland verantwortet hat promotet Chrysler Building, Koolhaas argumentiert,
dass die Idee die der Senator an Coney Island ausprobiert wurde dann in Manhattan ausgearbeitet
wird nun greift sie auf die Stadt über '(in Luna Park und Dreamland wird ein neuer) Urbanismus auf
Grundlage der neuen Technologien des Phantastischen erfunden und durchgesetzt'
Der Zweck der modernen Technik ist für Koolhaas etwas komplett anderes als die moderne Technik
in den großen Erzählungen von Lyotard für das Ziel gehalten hat. Dort dient die Technik dazu, den
Menschen von der Knechtschaft und den Bedingungen der Natur zu befreien und schließlich der
Natur absolut zu beherrschen.
Koolhaas: an diesem Beispiel sieht man, dass die Technik nicht zur reinen Herrschaft der Vernunft
führt, zu einer Verbannung eines mittelalterlichen vormodernen mythischen irrationalen
fantastischen Weltbildes, sondern dazu, dem fantastischen mythischen und irrationalen wieder zum
Durchbruch zu verhelfen, indem man es wirklich werden lässt - man muss nicht daran glauben, man
kann sie machen, erleben.
Koolhaas Rationalität der Technik dient der Irrationalität - es gelingt ihr am Fließband zu produzieren
und potenzieren. Im Park wurde die Realität radikaler von der Erdoberfläche abgenabelt, als es
Architektur jemals gelungen ist. Sie wurde in einen magischen Teppich verwandelt der vieles kann,
z.B. Empfindungen künstlich hervorrufen.
Am radikalsten wird diese Idee von völlig künstlichem von Samuel Friedes 'Globe tower' 1906
illustriert. Idee einer völlig abgeschlossenen Welt für sich, wo alle Verbindungen zu einer äußeren
Welt gekappt sind - Tower soll 50.000 Menschen fassen und mit 210 m das bis dahin höchste
Gebäude der Welt werden bei einer minimalen Grundfläche. Koolhaas rechnet es in der Theorie
durch, 100m² f Stützen, 500.000 m² Nutzfläche und kommt zu einem Verhältnis von Grundfläche zu
Nutzfläche von 1:5000.
Der Globe Tower kann den von ihm besetzten Teil der Welt auf das 5000fache vergrößern (sehr
schöne Koolhaas'sche Übertreibung) es gibt Dachgarten, Ballsaal, Restaurant, Zirkusarena ... der
Tower ist direkt von Manhattan an die U-Bahn angeschlossen. Es ist ein visionäres Modell, das für die
Wolkenkratzer von Manhattan Pate stand. Allerdings entpuppt er sich nach 2 Jahren als Blase die
platzte: Friede ließ die Fundamente bauen und verschwand danach auf nimmer wiedersehen mit
dem Geld der Investoren.
Koolhaas schreibt, dass den Idealen der Moderne, des gesunden Lebens, der Moral, diese
Vergnügungsparks ein Dorn im Auge gewesen waren. Die moderne wollte diese Parks wie Unkraut
vernichten, weil sie das Volk verderben, die niederen Instinkte befriedigen und Kitsch produzieren.
Koolhaas ist auf der Seite des schlechten populären Massengeschmacks - erweist sich als Kind der
Pop-Art und der Postmoderne.
Es sind nicht die Kritiker die Coney Island ein Ende bereiteten, das bereitete es sich selbst Dreamland brannte 1911 ab (wurde in Manhattan für inszeniert gehalten) 1914 brannte auch Luna
Park ab. Die Grundstücke wurden dann vom Parkdepartment übernommen und bis 1950er werden
50% der Insel in einen modernen Erholungspark verwandelt. Der moderne Urbanismus des gesunden
Lebens bekommt nun die überhand über hedonistischen Urbanismus des Vergnügens, des
Manhattismus.
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Für Koolhaas sind die Architektur der klassischen Moderne (internationale Stil, Bauhaus) und
Manhattismus absolute Gegensätze - nicht wie in klassischer Architekturgeschichtsschreibung, wo
der Wolkenkratzer wie er gegen Ende des 19 JH in USA entwickelt wurde ein wichtiger Schritt zur
modernen Architektur war.
Als Symbol des Sieges der Moderne über den Manhattismus errichtete man 1957 auf Coney Island im
Park eine weißes sauberes gepflegtes Aquarium - es ist eine von der Moderne betriebene Rache des
Bewussten am Unbewussten - seine Fische, die Bewohner der tiefe, des Unbewussten, sind
gezwungen den Rest ihres leben in einem Sanatorium zu fristen. (sanatorium ein Vorbild für
modernes, befreites wohnen - Licht, Luft, Öffnung - für moderne ein zentrales Symbol)
die Zerstörung des Traumlandes beschleunigt laut Koolhaas nur das übergreifen seines Virus auf
Manhattan (im Buch tut er so als ob der Park komplett entfernt wurde, wird aber noch heute als
Vergnügungspark genutzt - er will damit aber seine Aussage stärken)
8.4 Das Doppelleben von Utopia: Der Wolkenkratzer
Zentralstes und wichtigstes Kapitel des Buches mit dem Thema der Vorgeschichte zu Coney Island Vorbereitungen
Der Wolkenkratzer Manhattans verkörpert das Zusammentreffen von drei verschiedenen
urbanistischen Durchbrüchen
1) Die Vervielfachung der Welt
2) Die Annexion des Turmes
3) Der Block für sich
Das besondere am Wolkenkratzers ist, dass sich die Grundfläche theoretisch beliebig vervielfachen
lässt, und dass die unterschiedlichen Ebenen keinen Zusammenhang besitzen. Im Architekturdiskurs
des 19. JH findet man nichts über den Wolkenkratzer und das findet Koolhaas sehr bezeichnend. Der
Wolkenkratzer-Diskurs läuft allein in populärer Unterhaltungsindustrie und im Bereich der Karikatur.
Das Theorem des Wolkenkratzers findet Koolhaas nicht in einer Architekturzeitschrift, sondern in
einer Zeitschrift aus 1909, namens 'Life'. Es gibt ein riesiges Hochhaus, ausgebildet mit riesigen
Stahlträgern, in dessen Geschossen sich ausgedehnte Gärten mit schmucken Einfamilienhäuser mit
Gärten befinden - quasi Landhäuser, ein ländliches Hochhaus, vorstädtische Siedlungen
übereinandergestapelt. Die Stahlrahmen enthalten Aufzüge. Flugzeuge können auf den Ebenen
landen.
Es soll das fantastische und das irrationale der Wolkenkratzer karikieren, es wird dann aber im
Strukturalismus bzw. im Metabolismus in Japan durchaus gedacht und teilweise umgesetzt: Expo
Osaka 1970 Kisho Kurokawa, Takara Beautilion Eine Megastruktur - also eine Großstruktur wo
bauliche Struktur und Infrastruktur vorgegeben ist und dann flexible oder mobile
Wohneinheiten/Funktionseinheiten eingehängt, eingestöpselt, eingestellt werden. Also wie bei
Karikatur wo Stahlgerüst und Ebenen bereitgestellt worden sind und die Sekundärstruktur wo die
Häuser eingestellt werden.
Man sieht also das techno-imaginäre funktioniert, wo Science-Fiction als Inspiration und Antrieb für
die Technik fungieren. Bezeichnend ist aber, dass die Wolkenkratzer als Gartenstädte fungieren, die
populäre stadtfeindliche Utopie der angelsächsischen Welt. Das Theorem präsentiere die
Wolkenkratzer als eine utopische Formel zu unbegrenzter Schöpfung von Neuland an einem einzigen
städtischen Standort, er wird dadurch zu einem Instrument zu einem neuen Urbanismus des
unfassbaren. Nach außen wird er zwar als unvermeidlich und als pragmatische Lösung dargestellt
(weil Manhattan eine Insel ist und nur nach oben ausgedehnt werden kann) eigentlich handelt es sich
aber um ein absolut fantastisches Projekt, das mit den auf Coney Island erprobten Instrumenten der
Illusion (Elektrizität, Klimatisierung, Rohrleitungen, Telegrafen, Gleisen, Aufzüge) umgesetzt werden.
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Der Wettlauf in die Höhe beginnt mit dem Flatiron building 1902 nach Daniel Burham (bzw. seiner
Firma). Danach versucht jedes Gebäude immer mehr Luftraum zu erobern. Jedes Hochhaus bildet
eine abgeschlossene Welt für sich. Im Equitable building von 1915 von Ernest A. Graham erschienen
die leeren Stockwerke wie ein neuer Kontinent. Dieser Ehrgeiz verwandelt die Metropole in eine
Ansammlung architektonischer Stadtstaaten die sich potenziell bekriegen. die Idee des Turmes
beinhaltet den Bruch mit dem homogenen Muster der Umgebung (Türme schließen sich immer von
der Umgebung ab, um Macht zu demonstrieren und sich von den anderen abzugrenzen)
1905 erwirbt Luna Park Architekt Thompson einen Block in Manhattan und baut dort ein
Vergnügungszentrum das den Besucher auf den Mars versetzt. Der Block mutiert zum
wirklichkeitsfremden Park und theoretisch kann nun jeder Block zu einer abgeschlossenen Stadt in
der Stadt werden. Manhattan wird zu einem trockenen Archipel von Blocks; von riesigen
Monumenten die eigentlich Monumente ihrer selbst sind, von Automonumenten (allein durch ihre
schiere Größe)
Grafik von 1972, OMA, 'the city of the captive globe'
- Die Stadt der gefangenen
Erdkugel
Rechteckige Rastereinteilung von Manhattan, alle Gebäude haben identes Sockelgeschoß, oben
drauf sind alle Gebäude anders, jeder ist ein Individualist (es sind einzelne berühmte Entwürfe
dargestellt) es gibt einen ganzen Zoo an architektonischen Entwürfen die mit ihrer Umgebung nicht
mehr kommunizieren - zwar mit einer egalitär ausgerichteten Stadt, wo Jeder der gleiche Fläche hat,
in der dritten Dimension sind sie aber alle unterschiedlich. In der Mitte gibt es eine Vertiefung, in
diesem quadratischen Loch ist eine Erdkugel versenkt, die Welt die in sich gefangen ist, der
introvertierte Globus der nur noch mit sich selbst kommuniziert.
Wichtiger zentraler Aspekt:
Das symbolische und funktionale auseinanderfallen von Gebäudehülle und Gebäudekern. z.B. Cass
Gilberts Woolworth Building von 1913, verkörpert nach außen reine Spiritualität (neogotischer Stil,
oft mit himmlischem Jerusalem verglichen) im Inneren ist es aber reines Business, das 14.000
Menschen beschäftigt. Der Wolkenkratzer bricht mit einer moralischen Maxime, die im Abendland
bis dahin gegolten hatte: die Übereinstimmung von Innen und Außen, von Form und Inhalt. Nicht nur
in der Architektur sondern auch in unserem zusammenleben gibt es das moralische Grundprinzip,
dass die äußere Erscheinung (wie wir uns geben, wie wir aussehen, wie wir sprechen auch einer
inneren Überzeugung entspricht) stimmt natürlich nicht überein bei Leuten die 'lügen'. Eine integre
Person lässt ihr Äußeres (visuelles als auch Sprache) Ausdruck des Inneren sein - dann gilt man als
ehrlich, als wahrhaftig. Ein Gebäude muss also nach außen das zeigen, was es beherbergt z.B. welche
Funktion es hat.
Kritik der Moderne am Historismus war, dass man jedem Gebäude/jeder Funktion überzieht, ein
Stilkleid ohne dass das Eine mit dem Anderen etwas zu tun hat. Man hat ein hochmodernes Gebäude
(Bank, Bahnhofsgebäude) und lässt es wie ein mittelalterliche Burg oder eine gotische Kathedrale
erscheinen (= Lüge, unwahrhaftig) das ist die gängige moralische Kritik der Moderne an der
Architektur des 19. JH, am Historismus.
Koolhaas sagt, dass dieses Ideal der Übereinstimmung von innen und außen beim Wolkenkratzer
überhaupt nicht mehr funktionieren kann: 1. Die geringe Außenfläche kann nicht mehr mit den
immer größer werdenden Geschoßflächen in Übereinstimmung gebracht werden - die innere Fläche
ist zu groß, man kann es nach außen nicht zeigen. 2. Der Inhalt ist im Wolkenkratzer flexibel und
austauschbar (je Bedarf kann man Büro, Kirche, Fitnesscenter, Wohnungen, Theater, Restaurant
unterbringen) jedes Geschoß kann komplett andere Funktion beinhalten. Vollkommen unmöglich
dass die Fassade auf unterschiedliche Funktionen reagiert/zum Ausdruck bringt.
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Damit zieht er der gesamten Kritik der Moderne am Historismus den Boden weg - Woolworth
Gebäude (stand sehr stark in der Kritik der modernen Architekturkritik) ist für ihn kein
Späthistorismus oder unehrliches Gebäude sondern Manifestation des Manhattismus - weil es das
auseinanderfallen von Form und Inhalt von Hülle und Kern sehr anschaulich macht.
Damit unterscheidet sich die Kritik von Koolhaas fundamental von der Kritik der Postmoderne (z.B.
Jencks) an der Moderne. Jencks hat durch Vergleich von Civic Center und Seagram Building versucht
zu zeigen, dass die Moderne ihre eigenen Ansprüche nicht einlöst. Bürohochhaus und öffentliches
Gebäude, beide haben im Inneren etwas anderes und schauen nach außen hin ähnlich aus,
verwenden die gleiche Architektursprache. für Koolhaas ist das kein angemessener Kritikpunkt - die
Indifferenz der Hülle zum Kern ist seiner Meinung nach ein Wesenszug des Wolkenkratzers. Die
Indifferenz ist das architektonische Pendant zur Lobotomie (kommt aus Psychiatrie, durch
chirurgischen Eingriff wird Denken von Emotionen entkoppelt) Menschen wandeln emotionslos wie
Zombies durch die Gegend. Wolkenkratzer sind wie Zombies, von außen wirken sie emotionslos,
nach innen funktionieren sie aber durchaus. Diese Trennung ermöglicht laut Koolhaas ein reich
beispielloser Freiheit.
Ein frühes Beispiel der Lobotomie ist Murrays 'Roman Gardens' von 1908, ein exquisiter
Illusionsbetrieb, der in einem schmucklosen Gebäude untergebracht ist, das ursprünglich eine Schule
beherbergte. Das antike Griechenland, alte Ägypten, antike Rom werden mit verspiegelten Räumen
und verschiedenen Appartements dargestellt um sich in private Illusionswelt zurückziehen zu
können. Dabei bleibt der Straßenraster durch diese urbanistische Lobotomie unangetastet. Das ist
wichtig - um antikes Rom mitten in Manhattan wiedererstehen zu lassen werden weder Fassaden der
Hochhäuser noch der Grid angetastet - im Inneren kann sich trotzdem eine vollkommen neue
Traumwelt auftun.
1916 kommt es zur ersten Gesetzgebung bezüglich der Hochhäuser: Equitable Building aus 1915 von
Ernest A. Graham hatte so gigantische Ausmaße, dass es der Umgebung Luft und Licht wegnahm,
was die Mietpreise der umliegenden Gebäude sinken ließ. Das Gesetz (zoning law - Bauvorschrift)
besagt, dass die Gebäude ab einer gewissen Höhe um einige Meter zurückspringen müssen und das
unbegrenzte Höhenentwicklung nur für 25% des Grundstückes erlaubt ist. Das ergibt gestufte
Aufrisse die für 20er Jahre Wolkenkratzer charakteristisch sind.
Dieses Gesetz inspiriert den Architekten Hugh Ferris für seine visionären Bilder von einem
'Manhattan der Zukunft' 1929. Jedes Hochhaus wirkt wie ein Berg der in den Himmel wächst. Er
terrassiert die Gebäude nicht, sondern führt diesen Rücksprung in eine Schräge über. Es gibt keine
Ornamente mehr, nur noch nackte Volumina. Man sieht wie der Manhattismus ein nüchternes
Baurichtliniengesetz vorgibt und damit ein Utopia produziert. Die Stadt wird aber ständig
nachverdichtet, die Gebäude wachsen in den Himmel - das führt zu einem Verkehrsstau weil sich
Straßen ja nicht verbreitern lassen.
Harvey Wiley Corbett plant 1923 die Verkehrsflächen zu vergrößern, indem er sie in zwei Ebenen
legt: es gibt mehrere Phasen: 1. aktuelles, also einspurige Straßen, Gehsteig, parken - sehr voll, 2.
Plan mit dreispuriger Straße für Autos, Fußgänger wandern auf Bücken im 1.OG, 3. das EG ist verödet
weil ohnehin keine Fußgänger mehr dort sind, deshalb werden Geschäftsflächen als Parkraum
benutzt, Autos können den Platz sechsspurig für Verkehr nutzen 4. im 1. OG wo sich die Fußgänger
befinden, entwickeln sich neue Geschäftsflächen, es entsteht also mehr verkehrsfläche indem die
Gebäude von unten her ausgehöhlt werden.
Architekturtheorie Heute [28 / 93]
Das ist ein ähnlicher Vorschlag wie Le Corbusier im Plan Voisin für Paris 1925 vorgeschlagen hat bzw.
gab es von verschiedenen Seiten mehrere unabhängige Vorschläge die in diese Richtung gingen: die
Trennung einzelner Verkehrsteilnehmer, Einteilung in mehrere Etagen (nach 1945 wurden manche
Projekte umgesetzt). Symptomatisch ist an diesem Vorschlag von Corbett ist für Koolhaas, dass das
New Yorker Problem der Dichte mit größerer Verdichtung gelöst werden soll - das Problem wird nicht
gelöst, es wird poetisiert. Das wahre Anliegen, das uneingestandene oder unbewusste Problem von
Manhattan sei für die Planer und Architekten die Kultur von Stau/Überfüllung/Verstopfung. Corbetts
Lösung denkt für Koolhaas die Stadt New York wie ein gigantisches Venedig, die Straßen für die Autos
gleichen den Kanälen für die Gondeln, die Brücken den 'Funamenti' für die Fußgänger (Corbetts
Darstellung einer Vision von einem New York in 1975 produziert 1923)
8.5 Vollkommene Vollkommenheit: Die Erschaffung des Rockefeller Center
Koolhaas versucht was er systematisch aufgezeigt hat, an einem Beispiel zu zeigen.
Unter anderem ist bemerkenswert, dass es bei dem Rockefeller Center überhaupt nicht um
Wirtschaftlichkeit geht sondern um reine Repräsentation. Sowohl Planung als auch Bau des
gigantischen Projekts gehorchte dem Fordismus - Planung am Fließband wie eine große Maschine,
die Grundrisse zeigen dies. Ideenpool wurde an Zeichner übergeben, dann weiter an SpezialistenTeams etc. Es ist ein gebauter Kompromiss, ein Meisterwerk ohne Meister, ein kollektives Produkt.
Etwas das über demokratische Prozesse zustande gekommen ist.
Jencks hat genau das kritisiert - deshalb sei die Moderne in die Brüche gegangen. Weil sowohl
Architekturbüros als auch Bauprojekte zu groß sind. Das ist das Hauptübel in der modernen
Architektur, das ist der Grund des Qualitätsverlustes der vor allem nach 1945 die Moderne befallen
hat. Er hat auf Rückkehr zu einer vorindustriellen/handwerklichen Produktionsweise plädiert.
Koolhaas sieht in dieser Kollektiven Produktionsform den Manhattismus und somit die Kultur des 20.
JH. Manhattan sei ja nur das Beispiel für die gesamte Kultur des 20. JH (Rosettestein). Er sieht das in
positiver Weise ganz zu sich selbst gekommen.
Das Rockefeller Center übergreift drei Blocks, wiedersetzt sich als einziges Gebäude dem Raster und
vereinigt in sich 4 ideologisch unterschiedliche Philosophien. Das kommt daher das in den 30ern das
Konzept von Manhattan vom internationalen Stil der Moderne attackiert wird und der hedonistische
Urbanismus auf diese Attacken reagieren muss. (MOMA Museum of Modern Arts hatte schon eine
eigene Architekturabteilung - war in gewisser Weise der Brückenkopf der modernen Architektur bzw.
des internationalen Stils, dem ursprünglich europäischen Bauhausstil) Manhattan widerspricht der
Moderne in ganz zentralen Punkten und deshalb muss man in den 30er Jahren reagieren.
Koolhaas sagt, das passiert anhand von 1. Possar École des Beaux-Arts - in städtebaulicher Hinsicht
an Rom orientiert: große repräsentative Querachsen durch eine Stadt schlagen und sie an großen
Plätzen mit großen öffentlichen Bauten enden lassen. Es wird bei Rockefeller Center unterirdisch
realisiert, weil mit egalitärem Raster nicht vereinbar. 2. Es wird riesiges Vergnügungscenter geplant,
es wird aber nur die Radio City Music Hall realisiert - beherbergt also die elektronischen
Traumfabriken der Zukunft. 3. Es vollzieht sich eine 10 fache Aufstockung mit öffentlichen
Einrichtungen. 4. Der jungfräuliche paradiesische Naturzustand wird wieder hergestellt. Die Kritik an
der viel zu dichten Stadt des 19. JH der Ruf der Natur, lockern wir die Städte auf, begrünen wir sie,
entdichten wir sie - deshalb gibt es hängende Gärten und im Erdgeschoss ein Park 'gardencity in
luftiger Höhe'. Koolhaas nennt es eine Rück-und Vorausblende, eine Meisterleistung des
architektonischen Kannibalismus.
'...elektronische Zukunft und rekonstruierte Vergangenheit ... so schön wie möglich bei
gleichzeitiger Realisierung des theoretischen Maximalgewinns...'
Architekturtheorie Heute [29 / 93]
8.6 Europäer: Attention! Dalí und Le Corbusier erobern New York
Letztes Hauptkapitel - es widmet sich dem Titel des Buches - das verrückte das irre New York. Hier
verlässt Koolhaas den Boden der Analyse und schwingt sich zu kühnen Hypothese auf, es ist zwar
überdreht und verrückt aber auch das polemischte witzigste und genialste Kapitel. Die Verrücktheit
von New York wird gezeigt anhand von 2 Europäern der 30er Jahre die die Stadt besuchen. Sie
könnten gegensätzlicher nicht sein und verachten sich gegenseitig. Surrealistischer spanischer Maler
Salvador Dalí vs. Le Corbusier, Architekt aus der französischen Schweiz
Surrealismus spielt im Buch eine Rolle aufgrund der Illustrationen. Der Surrealismus entstand in Paris
aus Dadaismus - bedeutet Überrealismus, Künstler im Exil kreierten neue Kunstrichtung die mit
bisherigem gebrochen hat - der Nonsens, das Sinnlose wurde zum neuen Sinn erklärt. Surrealismus
versucht freizusetzen was die Konstruktivisten unterdrücken - irrationales, unbewusstes - Freuds
Traumtheorie interpretiert von Breton - eigentlich sei es Aufgabe der Kunst das Unbewusste
darzustellen indem man die rationale Kontrolle bei der Produktion ausschaltet. Salvador Dalís
Arbeiten haben auch etwas mit dem Traum zu tun - dort gibt es reale Räume, Personen, Handlungen
aber mit absurder Zusammenstellung - was sie sagen was sie tun passt nicht mit der eigentlichen
Realität zusammen.
'Die Beständigkeit der Erinnerung' 1931 hyperrealistisches fotografisch exaktes Bild von Traumszene
- die Uhren zerfließen und hängen ganz schlaff in einer kahlen verödeten Landschaft. Dali möchte
sich nicht passiv wie die übrigen Surrealisten dem Automatismus hingeben sondern durch
Gemütszustand permanenter Verwirrtheit quasi künstlich in eine Geisteskrankheit versetzen.
Er hat für sich eine eigene Kunstfigur entworfen (haben auch viele Personen in der Populär Kultur
übernommen, die Person wird in der Öffentlichkeit total konsequent gespielt) Er war sehr beliebter
Gast in Talk-Shows, er hat mit absurden Antworten und dem Größenwahn für Begeisterungsstürme
gesorgt. Er hat sich selbst als verrückter Künstler-Genie stilisiert - sich künstlich in eine
Geisteskrankheit versetzt, er bezeichnet das die paranoisch-kritische Methode (Paranoia =
chronische Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Größenwahn, Verfolgungswahn) das wird in
irrationales Weltbild eingebaut.
Verschwörungstheoretiker sind das beste Beispiel - wenn man so jemandem die Gegenargumente
vorlegt und aufzeigt wie die Realität ausschaut ist das für ihn der größte Beweis, dass man auch
selbst ein 'abgeordneter der außerirdischen' ist. Dali hat sein Leben als selbst Inszenierung, als
paranoiden größenwahnsinnigen Maler-Fürsten gelebt, sein Motto seiner paranoisch-kritische
Methode lautete die Eroberung des Irrationalen.
Koolhaas kommt auf seine These zurück, dass die Wirklichkeit im 20. JH zu Rasch Konsummiert und
schließlich aufgebraucht worden war. Und sie sei völlig bekannt und Katalogisiert worden wäre.
'Abgenutzte verbrauchte Inhalte der Welt' durch 'Interpretationen können neue falsche Fakten und
künstlich fabrizierte Fakten' geschaffen werden - andere Worte dafür: der Traum der Vernunft
gebiert die Paranoia
Koolhaas zu Dali und New York
Gesamte Entdeckung und Eroberung Amerikas ist eine paranoisch-kritische Aktivität: schon die
Entdeckung durch Kolumbus sei paranoid gewesen. Kolumbus glaubte Indien entdeckt zu haben und
sah diese Annahme als bewiesen an. Die amerikanischen Ureinwohner - als Indianer bezeichnet mussten später als peinlicher Beweis ausgerottet werden als man den Irrtum erkannte. Eine
Kolonisierung zählt als paranoisch-kritischer Vorgang - eine Transplantierung einer bestimmten
Kultur an einen bestimmten Ort.
Als Europäer in Amerika landen, gründen sie permanent Klone der alten verlassenen Heimat - sie
transplantieren Europa nach Amerika - New Orleans, New Brunswick, New Amsterdam (Vorläufer
von New York) also ist ganz Amerika ein einziger Akt paranoischer Übertragung abendländischer
Kultur.
Architekturtheorie Heute [30 / 93]
Der zweite Besucher New Yorks, Le Corbusier der Purist, der Rationalist, ist NICHT der große
Gegenspieler des Dali. Dali ist für Koolhaas der gespielte Verrückte, Le Corbusier aber der echte
Verrückte, der echte Paranoiker.
Le Corbusier wollte der Welt moderne Bauwerke aufdrücken, um die die Welt nie gebeten hatte.
Vorher waren diese Gebäude nur als Waage Ideen in den Köpfen der Architekten. Architektur ist
zwangsläufig eine paranoisch-kritische Aktivität. alles in der Welt spricht gegen die moderne
Architektur aber in ihrem paranoidem Sendungsbewusstsein beharren die Architekten darauf, dass
sie die einzigen sind, dass sie im Recht sind (wie ein Geisterfahrer der sich darüber aufregt, dass ihm
ständig Geisterfahrer entgegen kommen,
'... Wie ein einsamer Schauspieler, der ein völlig anderes Stück aufführt als die übrigen
Schauspieler, die mit ihm auf der Bühne stehen, will die moderne Architektur etwas aufführen,
ohne ein Teil der geplanten Inszenierung zu sein: Selbst bei ihren aggressivsten
Realisierungskampagnen beharrt sie auf ihrer Überweltlichkeit.'
Koolhaas sagt sogar, dass Le Corbusiers Lieblingsmaterial Stahlbeton mit Salvador Dalís
Schematischer Darstellung der paranoisch-kritischen Methode vergleichbar ist.
'...Beton ist eine weiche, eine phallische Masse, wie ein zu erschlaffen drohendes Männliches
Glied das von einer Gabelung gestützt werden muss, damit es nicht zu Boden sackt. Die Krücke
hält die Wahnidee aufrecht...'
Laut Koolhaas gleicht diese Visualisierung dem Stahlbeton. Ein irreales Formloses, das plötzlich
künstlich erigiert und harte Realität wird.
'...eine mausgraue Flüssigkeit, in ihrer Konsistenz Erbrochenem nicht unähnlich, gestützt von
Stahlarmierungen, die streng nach den Regeln der Newtonschen Physik berechnet werden;
zunächst unbegrenzt formbar, aber plötzlich hart wie Stein...'
Le Corbusier wollte die Stadt der Zukunft erfinden. Sein Pech war laut Koolhaas, dass diese Stadt
schon existierte (Manhattan) LEC musste also alles tun, um die Stadt runter zu machen - nannte sie
unreif, unmodern, barbarisch - um seine Vision einer modernen Großstadt durchzusetzen. Seine
Hochhäuser sind anti-Wolkenkratzer und seine Ville-Radieuse ein anti-Manhattan. (Plan Voisin: dort
gibt es laut LEC horizontale Wolkenkratzer - hauptsächlich deshalb, um sie von den simpel vertikalen
Wolkenkratzern von Manhattan abzugrenzen. Die durchsichtigen Glaskristalle bringen Transparenz
und Ehrlichkeit in die Architektur, die die Steinverkleideten Hochhäuser mit ihrer Lobotomie, ihren
versteckten Innenwänden, vermissen lassen. Propaganda der amerikanischen Architekten wird von
ihm wörtlich genommen. Nachdem alles bloß rational und effizient sein soll, schließt er irrationales
und emotionales aus. LEC rückt die Hochhäuser 400m auseinander und trennt die Verkehrswege
voneinander. Damit wird das Problem der Kultur des Staus gelöst - aber auch getötet. In der VilleRadieuse gibt es natürlich keinen Stau und keine Dichte mehr.
Koolhaas:
'...LEC schafft jenes urbane nicht-Ereignis, das NY eigene Planer trotz ihrer
Lippenbekenntnisse dazu stets vermieden haben: entstauten Stau...' LEC blitzte bei allen
Stadtverwaltungen bei denen er die Ideen vorschlägt ab, das bestärkt ihn in seiner Paranoia.
Koolhaas zitiert LECs Tagebucheintrag: '...ich werde rausgeworfen, Türen schlagen hinter mir zu,
doch tief im Inneren weiß ich: ich habe Recht, ich habe Recht, ich habe Recht.'
Als Dali 1935 nach NY unterwegs ist, will er ein 15m langes Baguette backen, um die Amis zu
beeindrucken. der Schiffskoch schafft aber nur 2,5 m langes Baguette, das innen mit Holzlatten
verstärkt werden muss. Mit dem Brot unter dem Arm, gibt er die ersten Interviews in der neuen Welt
und wundert sich, dass ihn keiner der Journalisten auf das Baguette anspricht. Koolhaas dazu
'Dalis erste Erkenntnis: Surrealismus ist in Manhattan unsichtbar. Sein verstärkter Teig ist nur
EIN falsches Faktum unter UNZÄHLIGEN andern'
Architekturtheorie Heute [31 / 93]
Will heißen: Manhattan ist so verrückt, dass Dali mit seiner Verrücktheit überhaupt nicht auffällt.
Er kann NY nicht schockieren. Dafür kann NY Dali schockieren: Manhattan war nach europäischen
Maßstäben überhaupt nicht modern: Die Arbeiter haben die Gebäude mit einer dunklen Patina
angestrichen, damit sie alt/pariserisch aussehen. LEC und Co haben derweilen über ein sauberglänzendes glitzerndes Material nachgedacht, um das saubere moderne Gefunkel von NY zu
imitieren.
Dali sah im Aufzug eines Wolkenkratzers die Kopie eines Gemäldes von 'el Greco' und morgens wird
er von Löwengebrüll des Zoos geweckt. Er erkennt dieses NY möchte gar nicht modern sein, sondern
die gesamte Geschichte zugleich zelebrieren. Das ist ein sehr postmoderner Zug in der Interpretation
von Koolhaas. Die Gleichzeitigkeit der Geschichte, die nicht aus historischen Monumenten/
Dokumenten besteht und produziert wird, also gefaket ist - das ist ja eine Idee der Postmoderne.
Dalis NY ist in seinem paranoisch-kritischen Neu-Entwurf Ägypten und Babylon zugleich. er vergleicht
die Wolkenkratzer mit Orgelpfeifen aus rotem Elfenbein. Er antwortet auf LECs Aussage in einem
Aufsatz 'als die Kathedralen weiß waren' mit der Aussage NY ist leuchtend rot (er imaginiert auch
Hochhäuser in ein Bild von Miller ('Angelus'), wo zwei Arbeiter zum Gebet gerufen werden. Ein
berühmtes Gemälde, das den kurz bevorstehenden Geschlechtsakt der beiden ankündigt. Er ersetzt
sie durch Wolkenkratzer. Daraus wird auch die Inspiration gezogen, am Cover die Wolkenkratzer als
Personen darzustellen, die dort im Bett in flagranti erwischt werden.
Laut Koolhaas erkennt Dali das wesentliche von NY, versteht NY in seiner Paranoia, feiert es ganz
enthusiastisch und ist derjenige der NY auch adäquat begegnet. Während andererseits der echte
Paranoide, LEC, NY zerstören möchte.
Als dieser berühmte Meisterarchitekt 1935 in NY ankommt, erklärt er den Journalisten, dass die
Hochhäuser in NY zu klein seien, und das sie zu dicht aneinander stehen würden. Koolhaas vergleicht
ihn mit Kolumbus '...Manhattans Wolkenkratzer sind LECs Indianer...' LEC kündigt an, dass die
nordamerikanische Barbarei einmal mehr der europäischen Kultiviertheit zu weichen habe. Laut
Koolhaas hat LEC also gemerkt, dass seine Ville-Radieuse (die strahlende Stadt) nur der siamesische
Zwilling von Manhattan ist und deshalb muss er nun den erstgeborenen Zwillingsbruder töten.
LECs radikaler Vorschlag: ganz Manhattan abreißen und durch einen riesigen Park ersetzt werden, in
dem 100 riesige Wolkenkratzer mit großem Abstand gestellt werden, die dann insgesamt 6 Millionen
Menschen aufnehmen. Auf erhöhten Trassen sollen Autobahnen von Wolkenkratzer zu
Wolkenkratzer führen. Koolhaas Kommentar dazu: LECs Lösung amputiert Manhattans Lebensnerv,
die Verdichtung, den Stau.
MOMA macht permanent Werbung für die urbanistischen Ideen der Moderne, sodass 1946 als das
UN-Hauptgebäude in NY gebaut werden soll, LEC als Berater hinzugezogen wird. Koolhaas schildert
LECs Entwurf als einen Beutegriff des Adlers, der damit ein Stück Manhattan herausreißen will und in
langweiligen Urbanismus aus sauber geputzten weiten Flächen und reinen Glaskörper verwandeln
will - eine Art Initialzündung um sich später auch den Rest unter den Nagel reißen zu können. Der
Entwurf wird aber reduziert und dem Raster von Manhattan angepasst, woraufhin LEC enttäuscht
abreist. Das schmutzige, das surrealistische, das irrationale das verrückte dolierende NY hat dem
modernen rationalistischen Reinigungswahn wiederstanden.
Koolhaas resümiert: der Manhattismus hat sich an Le Corbusier verschluckt, doch dann hat er ihn
verdaut
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8.7 Zusammenfassung von Koolhaas' Methode
1) Manifest für etwas bereits Gebautes (retroaktiv)
Das Buch ist ein Manifest, verkörpert also eigentlich eine moderne literarische Gattung, die für alle
Avantgarden von der Politik her kommend für die Architektur sehr wichtig war, die mit dem Beginn
der Postmoderne mehr oder weniger verschwindet.
Koolhaas sagt sein Buch ist ein Manifest, das besondere dran ist, dass es sich um etwas schon
gebautes handelt.
2) Argumentation mit historischen Bilddokumenten (Imagination, pictorial turn)
Ausschließlich historische Bilddokumente - die aus der Vorlesung relativ neuen Fotos gibt es im Buch
nicht. Nur historische Fotos, Pläne und Postkartenmaterial. Architektur ist ein Fall der Imagination für das Bild das man sich davon macht (bei aktuellen Fotos sehen wir nicht das Foto als solches,
sondern das was auf dem Foto drauf ist und verwechseln es mit Wirklichkeit. Koolhaas verwendet
nur historische Fotos, deshalb wird zuerst das Bild an sich sichtbar und dann erst das was am Foto
drauf ist.
Koolhaas argumentiert in erster Linie mit Imaginationen, nicht so sehr mit Argumentationen
3) Affirmation des Bestehenden
Er, als Kind der postmoderne, ein Kind seiner Zeit, geht konform mit dem ideologischen Ansatz von
Venturi/Scott Brown/Izenour, dass das Bestehen so wie es ist anerkannt und sogar bestärkt wird. Die
Grundhaltung der Modernen Architekturtheorie ist, dass alles veraltet, schlecht, mangelhaft, nicht
zweckmäßig, unhygienisch ist, und die Architekten bringen die Lösung indem man das
dementsprechend neu macht. Die Postmoderne wird sich von diesem Paradigma verabschieden
und sagen, eigentlich passt das alles mehr oder weniger - hier ein Bissl und da ein Bissl verbessern,
wir kritisieren die Moderne, aber der Rest ist einigermaßen ok - das ist logischerweise auch die
Haltung von Koolhaas gegenüber Manhattan. Es ist, so wie es ist, richtig.
Manhattan ist die Verkörperung der Kultur des 20 JH also der Moderne.
Obwohl die Moderne Manhattan abgelehnt und kritisiert hat, ist Manhattan
die eigentliche Moderne, oder zumindest das positive an der Moderne.
9. Dirty Realism
Alternativ-Begriff zur Postmodernen Architektur, geprägt Ende der 80er. Beschreibt ein Phänomen in
der Architektur (unter anderem auch OMA)
9.1 Dirty Realism (Liane Lefaivre)
Die Theorie des Dirty Realism geprägt von Liane Lefaivre (Kanadierin, an TU Delft und Wien gelehrt)
Veröffentlichte 2 Texte, einer im 'Design Book Review' 1989, einer in der Zeitschrift 'Archithese' 1990
Texte auf Deutsch: 'dreckige Realität in der europäischen Architektur heute'
Es geht um eine neue Generation von Kontextualisten, die mit dem nüchternen Blick auf die Realität
der Industrial City den modernistischen Ansatz der Nachkriegsarchitektur kritisch in Frage stellen und
diesem eine neue Lebendigkeit entgegensetzten.
Der Bezug auf den existierenden Kontext, der als Verfall, Hässlich, als Wüste beschrieben, soll nicht
beseitigt werden um eine schöne neue Welt zu errichten, sondern er soll beachtet werden um
Brutalität, Rauheit die die moderne Großstadt mit sich bringt als etwas positives betrachten,
verstärken und damit arbeiten.
Architekturtheorie Heute [33 / 93]
Die Neuen Kontextualisten würden vor allem in den Industriebrachen, den Speckgürteln, den von
Urbanisten vergessenen Zonen des Verkehrs, des Handels der Verwaltung und der Industrie bauen.
In den trostlosen Zonen die sowohl von den Stadtplanern der Moderne als auch der Postmoderne
oder des New Urbanism vergessen wurden oder wo sie gescheitert sind. Dort scheint es aussichtslos
eine Identität eine Qualität zu schaffen.
Lefaivre schreibt in Archplus 1998 'In solcher Umgebung war alles negativ: die Starrheit des
Materials, rohe und hässliche Strukturen und Formen, das Grau-in-Grau der Industrie, die
Fragmentierung des Raums. Realistische Architekten formten eine Welt, indem sie die negativen
schmutzigen’ Eigenschaften solcher Viertel aufgriffen. Sie betonten sie sogar...' der Titel des Textes:
'Architektur seit 1968'
Dafür ein Beispiel von Lefaivre: Jean Nouvels Sozialer Wohnbau Némausus in Nimes (Frankreich)
von 1987: Gebäudekomplex erinnert ein bisschen an Schiff - aufgeständert, lange Balkonbänder,
Verkleidung außen aus Metall - erinnert zusammen mit Fensterbändern an Schiff (was immer das
große Vorbild für LEC war - wenn man darüber spricht woran sich moderne Architekten zu
orientieren haben) Das ist ein sehr modernistisches Gebäude, es versucht diese Schiffs- oder
Industrie-Ästhetik nicht in eine gereinigte, geglättete, geschönte, moderne Ästhetik zu übersetzen,
sondern sie zu stärken, zu schärfen, noch brutaler zu machen.
Die Tore die als Balkontüren dienen, sind Garagentore, die technoide Härte von Stahl/Glas/Beton von grobem Funktionalismus wie für Nutzbauten üblich - wird nochmal übertrumpft um hässliches,
hartes, abweisendes als spezifische städtische Qualität darzustellen.
Lefaivre nennt als Vorläufer den Pop-Realismus von Venturi und Scott-Brown, und den
Kontextbezogenen 'ad-hoc-ismus' von Charles Jencks der an das recyceln von Abfällen erinnert aber
auch an die brutalistische Architektur der 50er Jahre.
Ein weiteres Beispiel ist ein nicht realisierter Entwurf von Hans Kollhoff für das Völkerkundemuseum
Frankfurt (wo sich eine Reihe von Villen aus dem 19. JH abwechseln, also Moderne und Postmoderne
Gebäude) ein Wettbewerbsprojekt von 1982: ein riesiges Gebäude, ein horizontaler Wolkenkratzer,
der wie eine Mischung aus Ambos und Schiff wirkt, moderne Metaphorik aber auch Anlehnung an
Brutalismus. Architektur malt hier ein Bild - was in Postmoderne manchmal der Fall ist - aber hier ist
es kein schönes Bild, das an eine bessere Vergangenheit, Konsum oder Freizeit erinnert, sondern ein
hartes, brutales Bild.
Der Begriff Dirty Realism stammt wie der Begriff Postmoderne ursprünglich nicht aus der Architektur
sondern aus der Literatur. So hat sich 1983 der amerikanische Schriftsteller und Journalist Bill
Buford in einer Nummer in der Zeitschrift 'Granta' 1983, im Artikel 'Dirty Realism. Writings from New
America' dem von ihm so benannten Phänomen des Dirty Realism zugewandt.
Er beschreibt das Werk von Kollegen, die mit der Postmodernen Literatur unzufrieden waren und
nun versuchten einen kritischen Blick auf die vom Konsum zerstörte Welt zu werfen und sich dabei
eines sehr ätzenden Ironie eines lakonischen Stils bedient haben, die an einen Neorealismus der 50er
Jahre erinnert (lakonischen = knapp aber treffend, trocken, schmucklos).
Die Übertragung dieses Begriffes aus der Literatur in die Architektur hat eine Bedeutungsverschiebung bedingt. (Man kann keinen Begriff von einem Medium in ein anderes übertragen ohne
eine Bedeutungsänderung.) Es ist schwierig für Architektur kritisch zu sein - ein Text kann leicht
etwas/jemanden kritisieren, ein Bauwerk kann das nicht so einfach.
Lefaivre spricht davon, dass die Dirty Realists den Schmutz, das Hässliche das Gesichtslose der
modernen Großstadt als eine spezifische Qualität entdeckt haben und den Schmutz rehabilitieren
wollen (ähnlich, wie Venturi/Scott Brown/Izenour von Las Vegas den Kitsch rehabilitiert haben)
Architekturtheorie Heute [34 / 93]
Sie versucht den Dirty Realism in der Architektur eine kunsthistorische Genealogie zu verpassen wenn man an die Faszination für das Rohe, das Schroffe, das Unfertige in Renaissance erinnert wird,
oder die Ruinenromantik des 18 JH in den Landschaftsparks (wird erst interessant wenns zerfällt,
wenn Gebäude sich auflöst - es wurden sogar künstliche Ruinen gebaut) Diese Ruinenromantik
verlagert sich im 19 JH weg von den Parks hinein in die Großstädte, welche nun auch als etwas
vergängliches, zerfallendes, verfaulendes wahrgenommen werden - was genau ihre Qualität ist.
John Ruskin beschreibt in seinen '7 Leuchten der Architektur' (die da wären Opfer, Wahrheit, Macht,
Schönheit, Leben, Erinnerung und Gehorsam) dass es wichtig sei, auch in unseren Städten Ruinen zu
haben, die uns Aufschluss über das vergehen, das verrinnen der Zeit geben. Eine Stadt darf nicht
immer nur neu aussehen, es soll nicht alles schön und restauriert sein (und damit wieder neu
aussehend) Sie soll auch Vergänglichkeit, zeigen, die Spur des Vergangenen und des 'sich wieder
Auflösens' in der Stadt zu lesen sein.
Die Großstadt in ihrer Hässlichkeit als eine durchaus poetische Landschaft ist eine Idee die bereits
im 19 JH realisiert wird. Lefaivre rezensiert ein Gedichts eines der Begründer der modernen Lyrik,
Arthur Rimbaud, mit dem Titel 'Was man dem Dichtern zum Thema Blumen sagt' von 1871 '...Das
also ist das teuflische Zeitalter! Und Telegraphenmasten – Lyra der eisernen Lieder – Werden die
Herrlichkeit deiner Schultern schmücken...'
Dirty Realism bedeutet also, die negativen Bedingungen des 'teuflischen' Zeitalters - der Moderne,
der industriellen Revolution (der Maschinen-Moderne) nicht nur anzuerkennen, sondern ins positive
zu wenden. Die Telegrafenmasten die im 19. JH für scheußlich, hässlich gehalten wurden, werden bei
Rimbaud poetisiert und zur Lyra der eisernen Lieder der Moderne.
Lefaivre bringt auch andere Interpretationen
Man kann '...die Betonung der 'schmutzig realen' Eigenschaften dieser neuen Bauwerke auch anders
verstehen, auch an dieser Architektur lässt sich die Technik der Verfremdung erkennen'
(Verfremdung ist ein wichtiges Stilmittel in der Moderne gewesen) Damit etwas Fremd wird, wird
etwas ursprünglich vertrautes in einen anderen Kontext gestellt. Wenn der vertraute Zusammenhang
wegfällt dann erkenne ich es auf eine ganz neue Art wieder - ich verstehe es erst dann richtig.
'... Die Realisten verfremden die Eigenschaften eines Viertels, indem sie diese auf ein Gebäude
übertragen und sie wie durch Spiegelung verstärken. Sie errichten einen Zerrspiegel, der die
Realität eher zuspitzt als einfängt, sie 'machen', um mit einem Ausdruck zu sprechen, den
Schklowskij auf Tolstoi münzte, 'den Stein steinig' ...'
Wir sind gewohnt, dass Steine steinig sind, das fällt uns nicht weiter auf - begegnet uns ein Stein in
einem ganz anderen Zusammenhang, werden wir uns der Steinigkeit des Steins erst bewusst.
'... Worauf realistische Architektur also eingeht, ist die Forderung, 'zeitgemäß' zu sein, nach
Bauen in der eigenen Zeit. Das verlangt nicht notwendiger Weise den ausschließlichen
Gebrauch industrieller Produkte, der Farben, Materialien und Bilder von industriell
produzierter Zerstörung. Die Widersprüche unserer Zeit reichen tiefer. Auf der Ebene von
Erkenntnis und Moral erfasst dieses im tieferen Sinn 'realistische' Porträt der Welt, was
geschieht, wenn Vorstellungen von der 'richtigen Form' und der 'Weltschöpfung' nicht zu einer
einzigen, sondern zu einer Vielzahl von möglichen Welten führen, und versucht, dies zur
Darstellung zu bringen... '
schreibt Lefaivre in Archplus gemeinsam mit Alexander Tzonis 1998 'Architektur seit 1968'
Architekturtheorie Heute [35 / 93]
9.2 Dirty Realism und die Architektur der Gegenwart (2000er)
Dirty Realism beschreibt nicht nur bestimmte Phänomene in der Architektur der 1980er sehr gut,
sondern wird bis heute verwendet wird und bringt außerdem aktuelle Phänomene in der Architektur
sehr gut in den Blick.
- Man kann 'Dirty Realism' auch sehr gut auf informelle Architektur anwenden, also eigentlich Illegal
errichtete Architektur, wie es oft in Asien und am Balkan vorkommt z.B. Prishtina (Kosovo) auf
Wohnkomplex wurde Einfamilienhaus drauf gesetzt. Der Aspekt des 'trash', des Abfalls wird
integriert - man arbeitet mit Materiealien die man gerade zur Verfügung hat, es wird gebaut wie es
gerade möglich ist. Das kann man ganz schlecht finden (Zerstörung geplanter Architektur) oder man
kann es als Selbstermächtigung der Benutzer sehen, die das nehmen was sie brauchen und sich der
Ästhetik bedienen, die im Dirty Realism beschrieben wird.
- Es gibt auch Projekte, die sich mit ihrer architektonischer Seite als etwas geplantes, bewusst
beabsichtigtes, dieser trash-, Speckgürtelästhetik, des Industriellen, des Harten, des Rauen
absichtlich bedienen. Ein Bekanntes Beispiel dafür ist das Palais de Tokyo in Paris, errichtet 1937 von
Dondel für die berüchtigte Weltausstellung. Am 'Vorabend' des 2. Weltkrieges standen sich bei einer
internationalen Veranstaltung die zwei ideologischen Blöcke Nazideutschland und die stalinistische
Sowjetunion gegenüber - auch durch gegenüberliegende Gebäude repräsentiert (die
Architektursprachen sind einander sehr ähnlich) zwischendrin vermittelt die französische Architektur
mit Neoklassizismus.
Musées d‘Art Moderne ist ein doppelflügeliges Gebäude, wo moderne Kunst ausgestellt wurde,
verbunden durch eine Säulenhalle mit massiven dorischen Säulen (die noch etwas modernistisch
geglättet wurden) aber ganz zweifelsohne ein neoklassizistischer Bauwerk. Mit der Errichtung und
Eröffnung des Centre Pompidou verlor das Palais de Tokyo seine Funktion (Moderne Sammlungen
wurden ins Centre Pompidou überführt) Palais de Tokyo stand lange leer und war im inneren in
einem halb 'ruinösen' Zustand.
In den 90ern wollte man ein Kunsthalle errichten, die temporäre Ausstellungen beherbergt. Dafür
war aber kein Budget vorhanden, Lacaton/Vassal bauten 2002 das Palais de Tokyo um, man
beschränkte sich auf funktionale Eingriffe. Sie wollten es nur so weit herrichten, dass Belichtung,
Klima etc. alles funktioniert, dass es bespielbar ist. Man hat ästhetisch kaum etwas investiert (Wände
wurden nicht verputzen Versorgungsleitungen wurden nicht unter einer vorgehängten Decke
versteckt...) Es entstand ein rauer Baustellencharakter, eine Mischung von Rohbau und Ruine. So
wurde die Kunsthalle auch belassen - das Offene wurde zu einem ästhetischen Merkmal gemacht
(aus der Not wurde eine Tugend) Kein White-Cube wo alles immer sauber ausschaut. Die
Ausstellungen haben von 12-00 Uhr geöffnet, Ausstellung Auf- und Abbau werden sichtbar
durchgeführt (Trakte werden nicht abgesperrt wenn Ausstellung aufgebaut wird, Baustellen sollen
sichtbar sein, 'das Machen/das im Werden Befinden' ist ein wichtiger Aspekt)
Dirty Realism als Charakterzug der zeitgenössischen Kunst, der sich hier auch mit bestimmter
Ästhetik trifft. Sie ist ebenso im Gebäude selbst realisiert worden und steht in einer merkwürdigen
Spannung zu dieser glatten und geschlossenen Ästhetik der Neoklassizistischen Hülle. Das Projekt
wurde sehr erfolgreich, Lacaton/Vassal wurden dadurch sehr berühmt
Architekturtheorie Heute [36 / 93]
Ein anderes zwiespältigeres Projekt, das zum Schlagwort Dirty Realism einordnen kann ist das Dirty
House, es wurde von David Adjaye in London 2002 erbaut. Vorgestellt wurde es in einer
Ausstellung im Carnegie Museum 2007 mit dem Titel 'gritty brits' (was übersetzt so viel bedeutet wie
sandig, kiesig, mutig, forsche Briten) es wurde außerdem als Buch herausgebracht. Gritty geht in eine
ähnliche Richtung wie 'dirty' - soll die neue britische Architektur (der ersten 10 Jahre des neuen
Jahrtausends) mit derber, gewalttätiger 'Sprache' präsentieren. Diese Sprache und der Look der in
Arbeiterbezirken vorkommt wird aufgenommen und soll inspirierend wirken.
Das Dirty House hat, ähnlich wie Palais de Tokyo mit zeitgenössischer Kunst zu tun. Es ist ein Atelier
und Wohnhaus für ein Künstlerpaar - für Tim Noble und Sue Webster, die Ende 90er bekannt
wurden durch Skulpturen und Installationen, die wie große Müllhaufen aussehen (wirkt völlig
planlos) ergeben durch eine spezielle Beleuchtung aus dem richtigen winkel ganz konkrete
Schattenbilder an der Wand. z.B. 'Dirty White Trash' oder 'Real Life Is Rubbish' (Es geht um die
Umwandlung von formlosem, bedeutungslosem in etwas geformtes, etwas bedeutungsvolles, ein
menschliches Portrait, ein Selbstbildnis. Die Künstler zeigen sich aus Abfällen zusammengesetzt, die
Dialektik von dirtyness und Abfällen - es sind nicht mehr zufälliger Müllhaufen sondern sehr
kalkulierte Anordnung)
Ursprünglich war das Gebäude eine Schreinerei im Londoner East-End. Ein für London typischer
Ziegelbau - EG verputzt, OG rohe Ziegelwand. Was David Adjaye machte: Gebäude komplett
entkernt; hat ein 2. OG bekommen, von der Straße ist nur das Dach ist sichtbar - es ergibt eine Art
Panthouse-Situation mit Dachterrasse. Was überrascht und die Bezeichnung Dirty Realism
rechtfertigt ist, dass das gesamte Bestandsgebäude mit schwarzer Farbe bemalt wurde - zuerst
wurde es nicht verputzt etc. die Farbe wurde direkt auf den Bestand aufgetragen und alle
Unebenheiten wurden mit übermalt. ( Die Spezialfarbe wurde mittlerweile verboten - sie wurde
entwickelt für Altstadtfassaden um diese vor Graffiti zu schützen - die spezielle Zusammensetzung
macht, dass der Spray von Farbdosen einfach abperlt. Aber der Anstrich ist hochgiftig - Gift das man
wählt um Schädlinge abzuhalten ist oft schädlicher als die Schädlinge selbst). Die dirtyness des Dirty
House soll schön sauber bleiben.
Fenster des EG sind in 2 Wege Spiegelglas ausgeführt, das man nicht rein schauen kann, sondern sich
die gegenüberliegende Häuserfront darin spiegelt. Im Inneren ist das Haus völlig entkernt (2
Geschoße werden zu Atelier und Ausstellungsraum zusammengefasst. Innen völliger whitecube - den
die Künstler brauchen um trash-Ästhetik abheben zu lassen - Projekte sollen nicht in Schmutzigkeit
von der Umgebung verschwinden.
Die Aufstockung oben drauf (2.og) ist die Wohnung. Kunststoffboden in Schiffslattenoptik (dirtyness
und schicker Habitus) shabby-shick auch in er Mode weit verbreitet - Ruinenästhetik; man schmückt
sich mit Bildern oder Anmutung einer bestimmten Klasse die im Verschwinden begriffen ist - die
Arbeiterklasse.
10. Koolhaas: S,M,L,XL (Bigness und The Generic City)
Koolhaas hat nicht nur mit 'Delirious NY' voll eingeschlagen, sondern nochmal in den 90er Jahren als
er bereits als Kultfigur zu einer ganzen Architekten-Generation geworden war. Er machte nochmal
mit einem umfangreichen Werk von sich reden, das fundamentale Texte der Architekturtheorie
enthält.
In den 90ern war er ungefähr ein Jahrzehnt lang eine Kultfigur und hat sich in den 'Nullerjahren' zum
Hausarchitekten von Prada und div. Wüsten-Scheichs zu entwickelt. Koolhaas-bashing war angesagt.
Ein Preisgekrönter Film wurde auf der Biennale in Venedig 2008 gezeigt, der sich über seine
Preisgekrönte Villa in Bordeaux lustig macht. Das zählt zum Tiefpunkt seines Rufes. Der
Fernsehgesellschafts-Tower in Peking machte das nicht besser, mittlerweile ist er ein alter Mann und
hat die Biennale in Venedig kuratiert. Jetzt hat er die Stufe der positiven Kultfigur, der verhassten
Figur überschritten und ist im Olymp der Architekturgeschichte angelangt - all das perlt an ihm ab, er
ist bereits zu einer historischen Figur geworden, (die noch immer aktiv ist)
Architekturtheorie Heute [37 / 93]
Das Buch
1995 in Kooperation mit Bruce Mau entstanden, hat einen Umfang von 1376 Seiten und knapp 3 Kilo.
Es ist eine Art Werkkatalog, der alle Projekte von OMA von 1975 bis 1995 enthält - 20 Jahre
Architekturproduktion. Es ist keine Monografie, muss auch nicht von vorne bis hinten gelesen
werden, ist zum Blättern. Projekte sind nach Größe geordnet, dazu kommen Essays,
Tagebucheinträge, Fotos, Skizzen ... eine riesige Collage.
Alles Denken und Planen in einen riesigen globalen Kontext/Zusammenhang gestellt. Nicht als
Katalog, es wurde versucht, das eigene Werk zu interpretieren. Es nimmt in gewisser Weise den
Informationsoverkill der Blogger-Generation von Facebook und Co. vorweg. Ein Buch, über die
Bändigung der Architektur, das den zerstörerischen Einfluss der Politik, des Kontexts, der Wirtschaft,
der Globalisierung, der Welt behandelt. (wovon handelt dieses Buch eigentlich nicht?)
Koolhaas schwärmt für japanische Metaboliten (hat später auch zur Wiederentdeckung des
Metabolismus beigetragen) die Megastrukturen und ihre gewaltige Größe wird in S,M,L,XL gefeiert,
wodurch sein persönlicher Ansatz sehr deutlich wird. Beispiel: Golden Miles Complex, Singapur, 1973
- eine Megastruktur mit Kino Parkgarage für 500 Autos, 200 Geschäfte, 16 Stockwerke Bürokomplex
und 68 Sozialwohnungen enthält.
10.1. Bigness - der am häufigsten zitierter Text aus S,M,L,XL
Rem Koolhaas, 'Bigness, or The Problem of Large' 1996 - es war schwierig den Titel auf Deutsch zu
übersetzen, deshalb lautet die Übersetzung 'Bigness oder das Problem der Größe' Das Essay
formuliert das als Manifest, was in analytischer Form bereits in 'Delirious NY' grundgelegt ist Bigness ist quasi das pro-aktive Manifest des Manhattismus ('Delirious NY' wird ja als retro-aktives
Manifest bezeichnet). Bigness wirkt ebenso durch die theorielose Kraft des faktischen wie
Manhattans Wolkenkratzer. Koolhaas spricht ihr die Eigenschaft zu, den traditionellen
Architekturbegriff abzulösen. Bigness ist in gewisser Weise an-architektonisch
'...Jenseits einer bestimmten Größe entwickelt Architektur die Eigenschaft von Bigness. Der beste
Grund, sich mit Bigness zu befassen, ist der gleiche, den Bergsteiger nennen, wenn man sie fragt,
warum sie den Mount Everest besteigen: ‚Weil es ihn gibt!’ Bigness ist der Gipfel der Architektur. Es
scheint unglaublich, dass allein schon die Größe eines Gebäudes ein ideologisches Programm
konstituiert, unabhängig von der Absicht seiner Architekten. Unter allen vorstellbaren Kategorien
schient einzig Bigness eines Manifestes unwürdig zu sein. Als intellektuelles Programm abqualifiziert,
ist Bigness ganz offensichtlich am Aussterben, dem Dinosaurier vergleichbar: zu massig, zu langsam,
zu starr und zu anfällig. Doch in Wirklichkeit ist allein Bigness der Bahnbrecher für ein Regime der
Komplexität, das die geballte Intelligenz der Architektur und der ihr verwandten Disziplinen zu
mobilisieren vermag...'
Ermöglicht wurde diese Bigness laut Koolhaas durch die Erfindungen Ende des 19. JH, die den
Wolkenkratzer ermöglicht haben - diese Revolution sei fast ein Jahrhundert lang ohne Theoretiker
geblieben. In 'Delirious NY' habe es zwischen den Zeilen bereits eine Bigness-Theorie gegeben, die
auf 5 Grundannahmen beruht.
5 Grundannahmen:
1.Ab einer gewissen Größe gibt es keine einzelne Handschrift des Architekten mehr. Die einzelnen
Teile werden mehr oder weniger autonom.
Das ist, was die Postmoderne Theorie, als den Tod des Autors bezeichnet hat (wenn auch aus
anderen Gründen) Das findet hier aufgrund der Größe der Projekte statt (Analyse des Rockefeller
Center, wo er gesagt hat 'ein Meisterwerk ohne Meister'. Es gibt keinen Autor mehr der seine
Handschrift hinterlässt, weil nur noch große Teams an solchen Projekten arbeiten.
Architekturtheorie Heute [38 / 93]
2. Die traditionelle Architektursprache, Dimensionierung, Proportionierung, Komposition ist
bedeutungslos! Die Architektur als Kunst ist zu Ende.
'... Bigness hat für die 'Kunst' der Architektur keinerlei Verwendung...' das zeigt wieder die 20er-30er
Jahre, als die Architektur-Avantgarde damit angetreten ist, den Kunstbegriff aus der Architektur zu
verabschieden.
3. Aufhebung des analogen Verhältnisses von Hülle und Kern - die Hülle kann den zu großen Kern
nicht mehr nach außen hin symbolisieren
Kommt auch in 'Delirious NY' schon vor, mit dem Fachbegriff der Lobotomie. Hülle ist zu klein, Inhalte
wechseln, Hülle ist nicht mehr in der Lage das zum Ausdruck zu bringen, was drinnen stattfindet. Das
Dogma der Ehrlichkeit (Funktionen müssen nach außen gezeigt werden) das die Moderne aufgestellt
hat wird hinfällig. Innen und Außen entsprechen sich nicht mehr.
'... der humanistische Anspruch auf Ehrlichkeit ist praktisch tot. vielmehr herrscht Desinformation Architektur legt offen. Bigness verwirrt. Bigness verwandelt die Stadt, indem es aus einer Summe von
Gewissheiten eine Anhäufung von Rätseln macht. Was man sieht, ist nicht mehr das was man
bekommt...'
4. '... allein aufgrund ihrer Größe gelangen solche Gebäude in die Sphäre des amoralischen - jenseits
von gut oder schlecht. Ihre Wirkung hängt nicht von ihrer Qualität ab...'
Auch der Begriff der architektonischen Qualität wird damit verabschiedet - egal wie gut oder schlecht
man als Entwerfer ist, wenn man einen riesengroße Kasten hinstellt, wird der nicht übersehen. Er hat
eine gewisse Kraft und Mächtigkeit, die sich um so spießige Kategorien wie architektonische Qualität,
Kontext, Anpassung an die Umgebung nicht mehr zu kümmern braucht.
5. All das zusammen ergibt einen radikalen Bruch mit der gesamten Tradition und dem urbanen
Kontext '...Bigness ist nicht mehr Teil eines wie auch immer definierten urbanen Zusammenhangs. Sie
existiert - bestenfalls koexistiert sie. Ihr Sub-Text lautet "scheiß auf den Kontext!" ...'
1995 veröffentlicht. Die Postmoderne ist als Architekturstil zwar eigentlich schon tot, aber eine
wichtiges theoretisches Erbe der Postmoderne ist die Forderung, dass jedes Gebäude das neu in
städtischen Zusammenhang hineingestellt wird den Kontext zu beachten hat (vor allem durch den
'New Urbanism' in den USA große Bedeutung erlangt, spielt in gewissen ideologischen ArchitekturStrömungen bis heute eine große Rolle).
Es muss an einem Gebäude erkennbar/ablesbar sein, dass es einen Dialog mit seiner Umgebung
aufbaut und sich mit seiner Umgebung auseinandersetzt. Es muss am lokalen Bild vom jeweiligen
städtebaulichen Kontext aufgenommen werden. Koolhaas sagt 'vergesst den Kontext - wenn ich eine
große Kiste hinstelle, steht die für sich, dann erzeugt sie ihren eigenen Kontext und was rundherum
ist, ist egal. Der Kontext war die 'heilige Kuh' der Architektur und wurde wie von allen politisch
korrekten das Binnen-I oder der Gendergap (bsp. Schüler_innen) gepflegt.
Modernisierung
Koolhaas umreißt eine Geschichte der Bigness in Europa, die bis 1978 (als 'Delirious NY' veröffentlicht
wurde) ein rein amerikanisches Phänomen war, um in den 80ern auf Europa überzuspringen.
Allerdings gab es schon vorher in Europa die Theorie der Megastruktur, die aber reine Theorie blieb.
Danach kamen die 68er (seine eigene Generation) die zwei Strategien verfolgten: das Demontieren
oder das Verschwinden.
Demontierer sind Dekonstruktivisten, sie verwenden die Bigness in Pseudo-Unordnung und PseudoExessivität voller Pedanterie und Formalismen. Verschwinder sind Cybermystiker, SimulationsTheoretiker und Vitualitäts-Apostel, die predigen dass Architektur in Medienarchitektur bzw. in Luft
auflösen werden. Die beiden Strategien bezeichnet Koolhaas als Irrwege.
Architekturtheorie Heute [39 / 93]
In den 90er war es wirklich so, dass sich mit dem Durchbruch des Computers, der digitalen Welt und
des Internets, die Spitze der Architekten einer Idee verschrieben hat. Und zwar, dass sich die
Architektur vom drei-dimensionalen analogen hin zum digitalen bewegen wird. Das wir nur noch in
virtuellen Welten planen und bauen werden und das Analoge Schritt für Schritt komplett an
Bedeutung verlieren wird. In gewisser Weise war das ja auch nicht ganz falsch - im Bereich der
Architektur stimmt es aber nicht - die Architektur hat sich nicht in Luft aufgelöst und
Medienarchitektur spielt zwar eine wichtige Rolle aber nicht in der Archietektur. Sowohl
Dekonstruktivisten, als auch Cybermystiker und Vitualitäts-Apostel werden hier abgeohrfeigt,
Koolhaas hält sie für Irrwege.
Anfang
Bigness als eine neue Chance, das unberechenbare und unplanbare von Städten zu meistern. Das ist
die Kategorie des 'Dirty Realism' (Koolhaas gebraucht diesen Begriff nicht, spielt aber darauf an):
'... Nur Bigness ist in der Lage – und zwar eher durch Kontaminierung und Quantität als durch
Reinheit und Qualität –, genuin neue Beziehungen zwischen funktionalen Größen zu fördern,
die ihre jeweilige Identität eher ausweiten als einschränken. Die Künstlichkeit und
Komplexität von Bigness befreien die Funktion von ihrem defensiven Schutzpanzer, um eine
Art Verflüssigung zu gewähren (...) – Bigness beruft sich auf ein Modell programmatischer
Alchemie...'
Im 'Dirty Realism' gehts vor allem um das provisorische, das dicht übereinander gelagerte, das ein
verflüssigen von Funktionen ermöglicht. Bigness ist nicht nur der Motor von Intensität, sondern
gewährt sowas wie leere und Langweile.
'... Ihre schier unüberschaubare Größe lässt das zwanghafte Bedürfnis der Architektur nach
Entscheidung und Bestimmung ins Leere laufen. Manche Zonen werden frei bleiben, frei von
Architektur...'
Das ist ein ganz wesentliches Charakteristikum von der Peripherie von Speckgürteln, dass sie dieses
unbestimmte undefinierte, die Stätten, beinhalten. Wo nichts oder kaum etwas ist aber noch etwas
werden kann. Bigness ist außerdem unpersönlich, also eine Architektur ohne Autor nur im Team
realisierbar - Rockefeller-Center - man muss als Architekt auch vor den Technologien kapitulieren
'... die Bigness verheißt der Architektur so etwas wie einen postheroischen Status, eine
Rückbesinnung auf Neutralität...'
was im Hinblick auf das bis heute funktionierende Stararchitektentum falsch ist - Koolhaas selber ist
das beste Beispiel dafür, dass sein Name mit OMA oder AMO mit vielen hundert Mitarbeitern bei
weitem überstrahlt.
Es ist zwar seit 20 Jahren üblich, dass Namen von Architekturbüros üblich, nichts mit Architektur zu
tun haben, das sie aus nichtssagenden Abkürzungen bestehen, und deshalb auch der Name des
Meisters damit unterdrückt wird, aber der Meistername ist dennoch sehr wichtig und wird
transportiert (den Prizkapreis kriegt dann eine Einzelperson und nicht ein ganzes Büro)
Bastion
geht auf die urbanistische Qualitäten von Bigness ein - wie der Wolkenkratzer ist Bigness eine Entität
(eine Stadt in der Stadt) die den städtischen Raum nicht mehr braucht. In der Grafik der 'gefangenen
Welt' hat man das auch gut gesehen - die Welt ist in diesen Gebäuden in sich gefangen.
Das folgende Zitat kann man bei realisierten Megastrukturen umgesetzt finden
'... Bigness ist nicht fähig, Beziehungen zur klassischen Stadt herzustellen – bestenfalls
koexistiert sie –, doch angesichts der Menge und Vielfalt der Einrichtungen, die sie birgt, hat
sie von sich aus urbane Qualität. Bigness ist nicht mehr auf die Stadt angewiesen: Sie
konkurriert mit der Stadt; sie vertritt die Stadt; sie belegt die Stadt mit Beschlag; oder, noch
treffender, sie ist die Stadt. Wenn der Urbanismus Möglichkeiten bereitstellt und die
Architektur diese nutzt, dann mobilisiert Bigness die Großzügigkeit des Urbanismus gegen die
Knauserigkeit der Architektur. Bigness = Urbanismus versus Architektur...'
Architekturtheorie Heute [40 / 93]
Je komplexer Megastrukturen in sich sind, desto mehr schotten sie sich von der Stadt ab und tragen
zum städtischen leben nichts mehr bei - weil sie sich selbst genug sind. Das gilt eigentlich für jede
banale Wohnhausanlage - die Wohnhausanlage ist der Tod der Stadt.
Bigness ist also nicht nur der Gegenbegriff zur Architektur, sondern auf dialektische Art und Weise
auch die Zukunft der Architektur. in den Schlusssätzen wird Koolhaas apokalyptisch und hymnisch
wenn er schreibt.
‘Bigness ist die letzte Bastion der Architektur – eine Zusammenballung (congestion), eine
Hyperarchitektur. Die Fassaden von Bigness werden die Orientierungspunkte in einer postarchitektonischen Landschaft sein – einer Welt, von deren Angesicht alle Architektur
weggekratzt sein wird, in der Art, wie die Farben von Richters Gemälden gekratzt sind:
unverrückbar, unveränderlich, endgültig, für alle Ewigkeit da, Resultat einer
übermenschlichen Anstrengung. Bigness bereitet der Nach-Architektur (postarchitecture) das
Feld. ‘
Die Illustration von Gerhard Richter, auf die Koolhaas sich bezieht ist nicht ganz zutreffend. Richter
trägt mit einer Latte Farbe auf eine Leinwand und kratzt hin und her und wiederholt das mit
mehreren Farben - Farbe wird herunter geschoben und wieder drauf geschoben und vermischt sich
dabei. Man kann also eigentlich nicht sagen, dass er die Architektur wegkratzt - wenn man sie mit
Architektur vergleicht, sind seine Gemälde viel architektur-freundlicher als in Koolhaas Vergleich.
Es wird versucht an den heroischen Ton der klassischen Moderne mit ihren Manifesten
anzuschließen und der Text hat auch der ganzen Debatte um städtische Verdichtung Megastrukturen
und Hochhäusern wieder neuen Auftrieb gegeben. Die Megastrukturen waren zu Beginn der 70er
(Beginn Postmoderne, 'New Urbanism') komplett aus Architekturdebatte und Baupraxis
verschwunden, um Ende 90er wieder aufzutauchen. Dabei spielte Koolhaas mit diesem Text eine
große Rolle. Ausreden kam die Debatte um die städtische Nachverdichtung auf.
Man spürt darin auch das kommerzielle Interesse von OMA, das sich seit Jahrzehnten an Ostasien
orientiert, wo Städte in gigantischem Maßstäben aus dem Boden gestampft werden und wo die
feinen, manchmal allzu kleinkarierten Instrumente europäischer Stadtplanung, überhaupt keine
Chance mehr haben.
10.2 Die Stadt ohne Eigenschaften
Das bedeutet die Stadt der Zukunft (vorwiegend die asiatische Stadt ohne gewachsene Identität,
ohne Eigenschaften) Das ist der zweite maßgebende und fast noch provokantere neomodernen Text
des Buches. (englisch: the generic city, veröffentlicht 1996)
In der Einleitung beschreibt Koolhaas den Identitätsverlust der modernen Stadt der von Mitscherlich
angefangen in den 60ern als DAS große Verbrechen genannt wurde, und die Stadtplanung, als etwas
positives und befreiendes darstellte.
Koolhaas hat in 'Bigness' die erste heilige Kuh der postmoderne geschlachtet:
den Kontext und mit 'Die Stadt ohne Eigenschaften' wird auch der
Identitätsverlust zu Grabe getragen.
Das postmoderne 'sich an Identität klammern' (historisches, Altstädte, Neustädte die als etwas
historisches erscheinen) braucht die Geschichte auf, und wird von Touristenströmen geradezu
zermahlen. Geschichte wird für alles Mögliche missbraucht. Die Erdbevölkerung wachst ständig,
deshalb ist viel zu wenig Geschichte für alle da.
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'...Identität ist wie eine Mausefalle, in der sich immer mehr Mäuse um den ursprünglichen
Köder balgen und die, bei näherer Betrachtung, vielleicht schon seit Jahrhunderten leer ist. Je
stärker die Identität, um so mehr schnürt sie ein, umso heftiger stemmt sie sich gegen
Erweiterung, Interpretation, Erneuerung oder Widerspruch. In ihrer Unbeweglichkeit und
einseitigen Festlegung gleicht Identität immer mehr einem Leuchtturm – der seine Position
oder das von ihm ausgestrahlte Signal nur zu dem Preis einer instabilen Navigation verändern
kann. (Paris kann nur noch ‚pariserischer’ werden – es ist bereits auf dem Weg zu einem
Hyper-Paris, einer auf Hochglanz polierten Karikatur. Es gibt Ausnahmen: London – dessen
einzige Identität im Fehlen einer klaren Identität liegt – wird immer weniger London und dafür
immer offener und dynamischer.)...'
Identität bevorzuge außerdem immer das gepflegte und gehätschelte bis zum Tode gestreichelte
Zentrum und vernachlässige und verachte die Peripherie. Die Zentren müssen paradoxerweise immer
alt und zugleich modern sein, sich dem Neuen anpassen ohne dass man es merkt (Barocke Fassaden
werden so restauriert, dass man im Inneren Shoppingmalls unterbringen kann) das Alte muss alt
aussehen, aber den neuen funktionalen und ästhetischen Anforderungen entsprechen
Studie von Judith Feldkeller über die Geschichte der Restaurierung: sie stellt fest, dass die Abstände
zwischen den Restaurierungen der Kirchen im Laufe der Jahrhunderte immer kürzer werden - das
Argument der höheren Luftverschmutzung kann nicht eingebracht werden, da man vor der
Elektrifizierung innerhalb von Kirchen viel mit Kerzen hantiert hat und alles schnell verrußt war - die
wirkliche Erklärung ist die Vorstellung, dass das alte immer möglich frisch und neu aussehen muss
(besonders Altstädte in den Zentren)
Wenn man ein Gebäude das WIRKLICH alt ist, das auch die Spuren der Zeit aufweist sehen möchte,
muss man an die Peripherie fahren.
Die Altstädte führen ständig Nutzraum in sogenannten öffentlichen Raum über - meist
Fußgängerzonen (Koolhaas lieblingsfeind) die mit Bänken, Lampen, Springbrunnen, Kunstwerken
möbliert werden, und wo nichts mehr erlaubt ist - alles authentische wird gnadenlos evakuiert.
Gegen den Bedeutungs- und Identitätskitsch der zu Tode restaurierten und revitalisierten Zentren
stellt Koolhaas die zwanglose Leidenschaftslosigkeit und Vitalität der Peripherie - die Stadt als ein
Gebrauchs und Konsumgut: Peter Cook - die abgepackte Tiefkühlmahlzeit ist wichtiger als Palladio
(wenn das ein Engländer sagt, ist er besonders hart, weil Palladio in 'deren Welt' als die Gottheit der
Architekturgeschichte gilt. Der Satz wurde in den späten 60ern geäußert, das spricht Bände
Koolhaas:
'...Die eigenschaftslose Stadt ist die Stadt, die dem Würgegriff des Zentrums, der Zwangsjacke
der Identität, entkommen ist. (...) Sie ist nichts als eine Widerspiegelung gegenwärtiger
Bedürfnisse und Fähigkeiten. Es handelt sich um die Stadt ohne Geschichte. Sie bietet jedem
genügend Platz. Sie ist unkompliziert. Sie bedarf keiner Instandhaltung. Wird sie zu klein, dann
expandiert sie einfach. Wird sie zu alt, dann zerstört sie sich, um wieder bei Null anzufangen.
Sie ist überall gleich aufregend – oder gleich langweilig. Sie ist ‚oberflächlich’ – sie kann jeden
Montagmorgen eine neue Identität produzieren, wie ein Filmstudio in Hollywood....'
Das ist erst der Anfang des Textes - für Anhänger des 'New Urbanism' kommt es später noch
schlimmer. Was Koolhaas damit macht, ist im Grunde die Fortsetzung einer postmodernen Haltung er steht einerseits mit beiden Beinen in der Postmoderne obwohl er sie andererseits kritisiert.
Er beschreibt das was ist und zugleich bestärkt er das Gute affirmativ. nicht: die Architekten sind
einer verständnislosen schlechten Welt ausgesetzt und sie müssen diese verbessern - sondern: so
wie das Bauwesen funktioniert, wie Städte gebaut werden in all ihrer Hässlichkeit in ihrer
Identitätslosigkeit in ihrer Bedeutungslosigkeit - das ist ok - die Architekten müssen sich von dem
Zwang befreien etwas reparieren, verbessern zu wollen.
Architekturtheorie Heute [42 / 93]
Koolhaas beschreibt was der Fall ist, vor dem die Meisten die Augen verschließen, oder was, wenn
man hinblickt, Anlass zur Kritik gibt - das wird von ihm als ein positiver Wert anerkannt.
Die eigenschaftslose Stadt kennt nur nützliches. Alles was nicht praktisch ist, verschwindet. Sie hat
weder historisches noch ästhetisches empfinden. Es gibt keinen öffentlichen Raum der alles
zusammenhält, keine
Fußgängerzonen, Kunst im öffentlichen Raum, die Straße als Lebensraum ist tot, existiert nicht mehr.
Der wichtigste Bautyps der eigenschaftslosen Stadt ist natürlich der Wolkenkratzer. Die
Wohnungsfrage wird entweder durch den Wolkenkratzer gelöst oder dem Zufall überlassen - durch
Slums. Die Ästhetik lässt sich als Freistil beschreiben - sie bestehen aus Straßen Gebäuden und Natur,
man schert sich nicht um angebliche Fehler modernistischen Stadtplanung sondern wiederholt sie
genüsslich:
'...Während charakteristische Städte noch immer allen Ernstes über die Fehler von Architekten
debattieren – etwa über die Vorschläge zur Schaffung eines Netzes von erhöhten
Fußgängerwegen mit Verzweigungen, die von einem Häuserblock zum nächsten führen, um so
dem Verkehrsgewimmel der Innenstädte auszuweichen –, gibt sich die eigenschaftslose Stadt
einfach dem Genuss solcher architektonischer Neuerungen hin: Decks, Brücken, Tunnel,
Autobahnen – eine wahre Explosion von Verbindungsmöglichkeiten (...) Die Straßen sind nur
für Autos da. Menschen (Fußgänger) werden (wie in einem Vergnügungspark) auf
ausgeschilderte Touren geschickt, auf ‚Promenaden’, die sie vom Erdboden emporheben, um
sie dann einem ganzen Katalog übertriebener Bedingungen auszusetzen – Wind, Hitze,
Steilheit, Kälte, Innen, Außen, Gerüche, Dämpfe –, in einer Abfolge, die ein groteskes Zerrbild
des Lebens in der historischen Stadt ist...'
Wie bereits im Bigness-Text angeschnitten markiert 'Die eigenschaftslose Stadt' auch das Ende
jeglicher Stadtplanung.
'... die 'Die eigenschaftslose Stadt' markiert den endgültigen Tot jeder Planung. Wieso? Nicht
weil sie nicht geplant wäre, doch ihre gefährlichste und zugleich erheiterndste Entdeckung ist
die, dass Planung völlig irrelevant ist...'
Die Städte wachsen, sie schrumpfen, sie verrotten und gehen ein oder sie explodieren - ohne das
man das voraussagen kann - sie funktionieren einfach nur irgendwie.
Wie ist es um die Architektur dieser Städte bestimmt? Vorliebe Koolhaas für Ironie und Surrealismus
durch: beschreiben, wie die Städte (vor allem in den ostasiatischen Staaten) von Millionen
Architekturbüros entworfen werden, die versuchen möglichst originell zu sein und keine langweiligen
Kisten hin zu bauen (wie sie der späte Mies v.d. Rohe mögen würde) Sie versuchen mit Hilfe der
Fassadenindustrie ständig neues zu erfinden. Das wichtigste Baumaterial ist hier Silikon:
'...Die Verwendung von Silikon (...) hat alle Fassaden eingeebnet und, der Hemmungslosigkeit
des Raumzeitalters entsprechend, Glas an Stein an Stahl an Beton geklebt. Diese Verbindungen
erwecken den Eindruck intellektueller Strenge durch die großzügige Anwendung einer
transparenten, spermatösen Substanz, die alles eher durch Intention zusammenhält als durch
Planung – ein Triumph des Klebstoffs über die Integrität der Materialien...'
Die ganze Mittelmäßigkeit der eigenschaftslosen Stadt wird auf höheres Niveau gehoben - die ganze
Stadt wirkt ein bisschen wie der Merzbau von Kurt Schwitters (Dada-Künstler, der sich über viele
Jahre 1920er bis 1933 ein proto-dekonstruktivistisches Innengebäude gebaut hat)
'...Der Winkel der Fassaden ist der einzig zuverlässige Indikator architektonischen Genies: 3
Punkte für nach hinten geneigt, 12 Punkte für nach vorne geneigt, 2 Strafpunkt für
Rücksprünge (da zu nostalgisch) (...) Der auserwählte Stil ist postmodern und das wird er
auch immer bleiben. (...) Die Postmoderne ist keine Doktrin, die auf einem gewissenhaften
Studium der Architekturgeschichte beruht, sondern eine Methode, eine neue Spielart
professioneller Architektur, die schnell genug Resultate hervorbringen kann, um mit dem
Architekturtheorie Heute [43 / 93]
Entwicklungstempo der eigenschaftslosen Stadt Schritt zu halten. Statt, wie ihre
ursprünglichen Erfinder eigentlich gehofft haben, Bewusstheit zu schaffen, produziert sie ein
neues Unbewusstes. Sie ist der subalterne Assistent der Modernisierung. Das schafft jeder –
einen Wolkenkratzer, der auf einer chinesischen Pagode und/oder einer toskanischen
Hügelstadt basiert...'
Die abwechslungsreiche Langweile die Maxim Gorki bei seinem Besuch auf Coney Island konstatierte,
trifft die '...grenzenlose Vielfalt der eigenschafslosen Stadt, die es beinahe schafft eine Abwechslung
zu etwas völlig normalem zu schaffen. Ins Banale gezogen, in einer Umkehrung von Spannung, ist es
nun die Wiederholung die ungewöhnlich und daher aufregend und begeisternd ist - zumindest
potenziell. Aber das gehört bereits zum 21 JH...'
Zusammenfassend kann man also sagen, dass der Vergnügungspark von Coney Island wo ständig
etwas neues erfunden wird und der eine Abwechslung zu etwas normalem macht, nicht
nur das
Testgelände von Manhattan und dem Manhattismus darstellt, sondern auch für
die Stadt des 21 JH, des asiatischen Jahrhunderts.
11. Die Wiederentdeckung des Ortes
Das Gegenteil von dem was Koolhaas vertritt: Ein Phänomen der Architekturtheoretischen Debatte,
die weit über die Architektur hinaus geht, bezeichnet als die Wiederkehr des Ortes.
- Der Begriff 'Ort' ist der qualitative Gegenbegriff des Begriffs 'Raum'. Raum ist hauptsächlich eine
rein physikalische Kategorie, ein Lieblingsbegriff der Moderne. Er verkörpert in gewisser Weise das
eigenschaftslose des Dreidimensionalen - der Containerraum der aus den Achsen x, y, z besteht jeder Punkt in diesem Raum kann mathematisch genau definiert werden. Dieser Raum-Begriff ist
etwas völlig anderes als der des Ortes, der nicht nur eine ganz konkrete Stelle innerhalb des
dreidimensionalen Raumes meint, sondern eine ganz spezifische Qualität. Raum ist ein quantitativer
und Ort ein qualitativer Begriff.
- Es gibt bestimmte Orte die wir persönlich mit bestimmten Erfahrungen verbinden, die uns wichtig
sind - der Ort von dem wir kommen - die Heimat, emotional hoch aufgeladenes. Auch Orte die wir
nur ein einziges Mal im Leben besucht haben, die bei uns eine starke Wirkung hinterlassen haben,
die besondere Kraftorte sind (wo man etwas spürt, wo etwas ganz besonderes anwesend ist) da wird
der Ort schon zu einem beinahe religiösen Begriff. In religiöser Raumvorstellung gibt es einen klaren
Unterschied zwischen profanem (weltlichem) und heiligen Raum: heiliger, sakraler Raum, ist eine
Stelle in einem Raum die eine Verbindung zum göttlichen herstellt - die eine transzendierende
Vertikale besitzt.
Die norwegische Architekturtheoretiker Christian Norberg-Schulz, hat in den 70ern mit einer Reihe
von Büchern auf den Begriff des 'Ortes' aufmerksam gemacht, und ihn wieder in die
Architekturdebatte eingeführt, vor allem durch sein Werk 'genius loci' aus 1979 wo dieser Geist, der
Genius des Ortes, in einer Reihe von sowohl systematisch-philosophischen, als auch historischen
Analysen untersucht wird. Ist eine naturwissenschaftlich nicht fassbare Größe - was ist der Geist
eines Ortes? Kann man das fassen?
Die verschiedenen Cover der Ausgaben sind immer historische Orte, meistens wurden Sakralgebäude
abgebildet. Mit Kraftorte sind Orte gemeint, die in einem religiösen Zusammenhang stehen und eine
lange religiöse Identität haben. ( Die also genau das verkörpern, von dem Koolhaas dann sagt, es sei
das zehren an Geschichte, wohin alle Touristen pilgern. Was laut Koolhaas nicht funktionieren kann
weil es immer mehr Menschen und immer weniger Geschichte gibt. Laut Koolhaas solle man nicht
die Zentren hätscheln sondern sich mehr in der Peripherie bewegen. )
Architekturtheorie Heute [44 / 93]
Mit der Wiederentdeckung des Ortes als eine theoretische Kategorie in der Architekturtheorie in den
70er und 80ern, geht ein Begriff überein: Kritischer Regionalismus
11.1 Kritischer Regionalismus
Mit der Entdeckung des Ortes als eine zentrale Kategorie des architektonischen Diskurs ist auch die
Wiederentdeckung des regionalen als eine spezifische Qualität verbunden.
Der kritische Regionalismus versucht, die Qualität von Ort und Region zu
erhalten und sich gleichzeitig von der Postmoderne zu distanzieren. Man
könnte also sagen, der kritische Regionalismus ist eine Art dritter Weg.
Zwischen Moderne und Postmoderne.
Der Begriff wurde von insgesamt 3 Architekturtheoretikern eingeführt:
Alexander Tzonis und Liane Lefaivre erläutert 1981 den Begriff in einem Artikel in einer Zeitschrift in
Griechenland.
Frampton veröffentlicht 2 Jahre später in einem Aufsatz - auch der Titel greift diesen Begriff auf:
'Towards a Critical Regionalism: Six Points for an Architecture of Resistance.' Der prominentere
Publikationsort und auch die Bekanntheit Framptons ließ ihn seine Definition durchsetzen. Auf
Deutsch lesbar als 'Kritischer Regionalismus: moderne Architektur und kulturelle Identität' und zwar
in 'Architektur der Moderne. Eine kritische Baugeschichte' allerdings erst in der 7. Auflage aus
Stuttgart, veröffentlicht 2001
Der Text von Tzonis/Lefaivre ist aber in einer griechischen Architekturzeitschrift erschienen, die
außerhalb von Griechenland niemand liest - deshalb haben Texte und Definition von Frampton
eigentlich 'den Sieg' davon getragen. Wenn man sich heute mit dem Terminus 'kritischer
Regionalismus' beschäftigt, bezieht man sich auf Frampton und nicht auf Tzonis/Lefaivre.
Was die kritische Regionalismus von Postmoderne unterscheidet:
Die Moderne war in der Theorie teilweise so definiert, dass sie ein internationaler Stil war. Das heißt,
dass was in Frankreich funktioniert, musste in Brasilien und Norwegen auch funktionieren. Eine
internationale Architektursprache die den ganzen Globus überzieht und die vielen lokalen und
regionalen Stile überzieht und ablöst - das war das 'Versprechen', die Vision der Moderne.
Die Postmoderne hat in ihrer Kritik an der Moderne genau da angesetzt. Sie sagt, der internationale
Stil sei eine Fiktion, wir müssen uns beim Bauen mit der konkreten Sachlage, der Bautradition der
Geschichte des Ortes auseinandersetzten und sie thematisieren.
Beim kritischen Regionalismus geht es im Grunde um einen dritten Weg, zwischen oder abseits von
Moderne und Postmoderne.
Zu Beginn der 80er versuchen viele Architekten die mit dem sehr populären bis populistischen,
ikonografischen grafischen Stil der Postmoderne unzufrieden sind einen Ausweg zu finden. Das sind
keine Architekten die wieder dort anknüpfen wollen wo die Moderne in den 60ern stehen blieb,
sonder die die berechtigte Kritik an der Moderne wie sie von den Vertretern der Postmoderne
geäußert wurde teilen. Sie akzeptieren aber die Lösungen der Postmoderne nicht. Deshalb ein dritter
Weg namens kritischer Regionalismus.
Kritisch zu sein war die große Errungenschaft der Moderne, im Begriff Kritik ist ein zentrales Vokabel
der modernen Weltanschauung enthalten - was auf die Aufklärung zurück geht. Kant sagt: 'habe Mut
sich deines eigenen Verstandes zu bedienen, sei kritisch allem gegenüber was dir begegnet'. Das ist
eigentlich eine moderne Eigenschaft, die mit dem eingehen auf das regionale auf das traditionelle
verbunden wird und sich von der Postmoderne abheben soll.
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Man übernimmt nicht alles kritiklos was die Vorväter, die Vorbilder, die Patriarchen vorsetzen,
sondern man zieht Alles und Jedes was einem vorgesetzt, vorgelebt wird einer fundamentalen Kritik.
Diese Kritik macht auch vor einem selbst nicht halt - Kritik und Selbstkritik sind wesentliche
Grundmotive der moderne und damit eines wissenschaftlichen Weltbildes (Wissenschaft ohne
Weltbild ist nicht denkbar)
Regionalismus. Im ersten Moment könnte das nach Beschränkung, Heimattum, Provinzialismus
riechen (dabei war die Moderne international, hat versucht mit konservativen Traditionalismus zu
brechen und dorthin will man wieder zurück - man möchte aber durch eine kritische Haltung das
regionale wieder beachten und ihm wieder zu seinem Recht verhelfen)... Kritischer Regionalismus
kritisiert also unter anderem diesen internationalistischen Anspruch der Moderne, der davon
ausgeht, dass eine Lösung die in Frankreich funktioniert, auch in Norwegen und in Rio de Janeiro
funktioniert. Die Moderne - die den Begriff ja immer abgelehnt hatte - die zu einem internationalen
Stil geworden war, deren Architektur soll global gleich funktionieren, nach den gleichen Grundsätzen
arbeiten und auch ähnlich aussehen - das war das Programm.
11.2 Definition Alexander Tzonis und Liane Lefaivre
Sie veröffentlichten 1981 einen monografischen Artikel in einer griechischen Zeitschrift über zwei
griechische Architekten: 'Dimitris and Suzana Antonakakis' unter dem Titel 'The Grid and the
Pathway' (dt: Der Raster und der Weg)
Er handelt davon, dass es in der Nachkriegsarchitektur, also den 50er Jahren Strömungen gibt, die
das Vokabular der Moderne verwenden, dieses aber anpassen an lokale Gegebenheiten - hier
verwenden sie den Betriff kritischer Regionalismus, um ihn abzugrenzen von unkritischem
Regionalismus, also einer konservativen traditionellen Bauweise.
11.3 Die Thesen von Kenneth Frampton
im 5. Kapitel von 'Kritischer Regionalismus: moderne Architektur und kulturelle Identität' erst ab der
7. Auflage aus Stuttgart, erschienen 2001, S. 263–273
1) Kritik an der Modernisierung, aber pro Moderne
Der Spagat von Frampton: eine Kritik an der Modernisierung - aber pro Moderne: '... der kritische
Regionalismus steht zwar dem Prozess der Modernisierung kritisch gegenüber, verzichtet aber nicht
auf die emanzipatorischen und progressiven Aspekte des Modernen architektonischen Erbes...' man
möchte sich also nicht in einer konservativen Ecke wiederfinden, aber vieles was im Prozess der
Modernisierung ausgelöst wurde, sieht man kritisch. Was ist damit gemeint?
'... sein fragmentarischer und marginaler Charakter [ER ist der kritische Regionalismus] hält ihn von
normativer Optimierung ebenso fern, wie vom naiven Utopismus der frühen Moderne. Im Gegensatz
zu der Linie die von Osmann bis zu Le Corbusier führt, zieht er den kleinen Plan dem großen Plan
vor...' Also das, was ein massiver Kritikpunkt der Architektur und der Philosophie an der Moderne
war, Stichwort große Erzählungen (die Heilsversprechen, wenn sie erfüllt sind hört die Geschichte
auf, dann haben wir idealen Zustand) werden in den 60ern/70ern massiv kritisiert, weil man feststellt
dass diese Utopien zu furchtbaren Umweltkatastrophen und Zerstörung unserer Umwelt führen Erzählung der Technik: Atomkraft, globale Erwärmung oder führt zu großen menschheitsverbrechen Stalinismus. Der kleine Plan wird dem Großen vorgezogen - die Abkehr von den großen Tabula-rasaEntwürfen
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2) Betonung des Ortes
Wendet sich gegen die Moderne. Es geht nicht um die Abstraktion des Raumes die für die Moderne
so zentral war, sondern den Begriff des Ortes, wo das Gebäude nicht als freistehendes Objekt betont
wird (in den Entwürfen der Moderne immer eine skulpturale Gebäudeform in einem weißen Nirwana
ohne konkrete Verortung) Für den kritischen Regionalismus geht es um die Errichtung des Bauwerkes
an einem ganz konkreten Platz, wo schon etwas anderes steht und das Bauwerk muss dann damit
kommunizieren.
3) Tektonik versus Szenografie
Wendet sich gegen die Postmoderne. Der kritische Regionalismus fasst das bauen als tektonisches
Faktum auf und nicht als Reduzierung der gebauten Umgebung auf eine Reihe schlecht
zusammenpassender szenografischer Episoden: Architektur soll keine Bühnenbildner liefern.
Die Reduktion von Architektur auf ein Bild, auf das ikonografische - was von der Postmoderne
wiederentdeckt wurde - lehnt er ab und führt den eigentlich modernen Begriff der Tektonik ein. Die
meisten Begriffe die wir in der Architektur verwenden stammen aus anderen Gebieten. Eine dieser
Ausnahmen ist die Tektonik, den die Architekturtheoretiker erfunden haben - beschreibt das bauen
das übereinander lagern, das Fügen von Massen. Das szenografische kommt zum Beispiel vom
Theater, das hat mit Bild zu tun.
4) Topographie und Klima
Bezieht sich auf Details innerhalb kritischen Regionalismus. Topographie und Klima haben mit der
Beobachtung des jeweiligen Ortes zu tun - sind Dinge die man beachten muss - können nicht als
bloße Äußerlichkeiten betrachtet werden - sind fundamental für architektonischen Entwurf (kann
keinen abstrakten Entwurf machen und kurz vor Fertigstellung überlege ich wie ich es Topografie und
Klima anpassen kann, das muss am Beginn passieren
'... kritische Regionalismus ist regional in dem Sinne, dass er für das Grundstück spezifische
Faktoren berücksichtigt. Von der Topografischem bis hin zum Wechselspiel des Lichtes am
Ort. Damit ist zwangsläufig ein Miteinbeziehen der klimatischen Verhältnisse verbunden.
Deshalb wendet sich der kritische Regionalismus gegen die Tendenz der universalen
Zivilisation, die Verwendung von Klimaanlagen usw. an allen Orten zu propagieren...'
zu Beginn der 80er war diese Ansicht schon sehr weitsichtig und progressiv - heute ist es ja schon
common sense, dass eine Klimaanlage nicht der Weisheit letzter Schluss ist, sondern dass man mit
architektonischen Mitteln ein angenehmes Raumklima herstellen soll und das nicht auf die
Haustechnik delegieren soll.
5) Taktilität so wichtig wie Visualität
Kritischer Regionalismus legt auf Taktilität, also auf berühren, haptisches, fühlen ebenso viel Wert
wie auf Visualität, weil man davon ausgehen kann, dass sich die Umgebung nicht nur optisch
erfahren lässt. Hinzu kommen Wahrnehmungen wie unterschiedliche Lichtverhältnisse, wechselnde
Empfindungen von Wärme, Kälte, Feuchtigkeit und Luftbewegung. Gerüche und Geräusche die je
nach Materialien und Volumen variieren und unwillkürliche Veränderungen der Körperhaltung beim
Wechsel von Bodenbelag. In einer Zeit die von Medien beherrscht wird, wendet sich kritische
Regionalismus dagegen, dass Information durch Erfahrung ersetzt wird.
Es geht also um etwas für Architektur spezifisches - Architektur wird mit allen Sinnen real im
dreidimensionalen Raum erlebt wird. Dafür wird nicht nur der Sehsinn, sondern auch alle anderen
eingesetzt - obwohl wir eine sehr optisch gesteuerte Kultur entwickelt haben: Beschäftigung mit
Architektur läuft über das Foto und nicht über das wirkliche Erleben im dreidimensionalen Raum.
Das Problem der Renderings und die Beurteilung von Architektur bevor sie überhaupt gebaut wird
ist, dass das optische das Einzige ist, was von einem Gebäude übrig bleibt. Das 'zum Bild werden' der
Architektur kommt einer Verarmung gleich.
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Architektur ist AUCH ein Bild - wichtige entscheidende Erkenntnis der Postmoderne - aber
Architektur ist NUR MEHR ein Bild, nur noch für Schauwerte zuständig - das ist eine grobe
Verkürzung.
Eigentlich kann man ein Gebäude nur wirklich beurteilen und bewerten, wenn man selbst dort war
und es erlebt hat - mit allen Sinnen wahrgenommen hat. In der Branche ist es aber sehr üblich, dass
man Gebäude bewertet die man nie Live gesehen hat. Obwohl wenn man ein Gebäude besucht das
man vorher über Bilder gesehen hat und sich davon eine Vorstellung ausgemalt hat, meistens ein
AHA-Erlebnis bewirkt.
6) Neuinterpretation des Regionalen
Was ist das Regionale des kritischen Regionalismus '... kritischer Regionalismus steht zwar der
sentimentalen Simulation einer lokalen Formensprache ablehnend gegenüber, verwendet aber
gelegentlich neuinterpretierte regionale Elemente als isolierte Episoden innerhalb des Ganzen.
Manchmal leitet er solche Elemente auch von Quellen anderer Länder her. Er will also mit anderen
Worten eine zeitgenössische, am Ort orientierte Kultur pflegen ohne hermetisch zu werden, weder
auf formaler noch auf technologischer Ebene. Insofern tendiert er zum Paradoxon einer regional
begründeten Weltkultur, als sei dies eine Voraussetzung um relevante Formen für eine heutige Praxis
zu finden...' es geht nicht ausschließlich darum regionales zu kultivieren (Trachten, Brauchtums
pflege) es kann durchaus Importe geben wie es sie immer in der Architektur gegeben hat. Aber dies
sind Formen/Vorgangsweisen/Episoden die etwas spezifisches haben. 'einen gewissen Stallgeruch'
haben, und nicht als abstrakte, überkulturelle, transkulturelle Phänomene zu verstehen sind. Soll sich
klar abgrenzen von einer Pflege des bodenständigen (z.B. Heimatschutz wie es dann zur Nazizeit
üblich war)
7) Gegen kulturelle Zentren
Geht aus punkt 6 logisch hervor: kritische Regionalismus richtet sich gegen kulturelle Zentren. Der
sogenannte internationale Stil der Moderne ist ja nicht international in dem Sinne von 'über allen
Nationen' sondern etwas sehr rationales (LEC und Umkreis plus Bauhaus) das dann ausgegeben
worden ist, als etwas weltumspannendes, etwas sehr kolonialistisches das man als international
verkaufen wollte. Kann in der Kultur überall beobachtet werden: z.B. zwischen Hochsprache und
Dialekt - die Hochsprache ist der Dialekt des politischen Zentrums, also der Leute die vorgeben die
Macht zu haben, oder die wirklich die Macht haben - spanisch war eigentlich auch nur ein Dialekt von
Kastilien. Frampton schreibt
'... der kritische Regionalismus floriert vor allem in jenen kulturellen Zwischenräumen, die
sich in irgendeiner Weise dem Drang nach universaler Zivilisation zu entziehen vermögen. Die
Existenz des Regionalismus macht deutlich, dass der Begriff eines dominanten kulturellen
Zentrums von abhängigen untergeordneten Satelliten umgeben, letztlich kein adäquates
Modell mehr darstellt an dem sich der gegenwärtige Stand der modernen Architektur
einschätzen ließe...'
also Abkehr der kolonialistischen Modell das einige Zentren wie Paris, NY, die eine global-Kultur
vorgeben.
gebaute Beispiele für kritischen Regionalismus
A) Beispiele die Frampton nennt:
- Josè Antonio Coderch, ISM Apartments, Barcelona, 1955
Grundstruktur des Wohn-, Geschäftshaus entspricht den Prinzipien der Moderne: EG aufgeständert,
STB, großflächig verglast, OG Wohnen, auch mit raumhoher Verglasung. Das ist im Mittelmeerraum
problematisch, deshalb als Teil des Entwurfs raumhohe Jalousien um erhitzen im Rahmen zu halten Jalousien sind ein lokales traditionelles Element, bestimmen dort das Stadt- und Fassadenbild. So
knüpft Coderch formal und stilistisch an die an Tradition an, ohne ein traditionistisches Gebäude zu
entwerfen. Grundriss: Abweichung von rechtem Winkel - leichter Zick-Zack Kurs - viele stumpfe und
spitze Winkel - dadurch Abweichung von Moderne und ihrer Box
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- Dimitris Pikionis, Pflasterung im Park auf dem Philopappos, Athen, 1957
Es geht um haptischen, taktilen Wert von Architektur - nicht nur optische Werte sondern auch für
den Tastsinn. Eigentlich eine simple nicht besonders anspruchsvolle architektonische Aufgabe: einen
Weg im Park zu pflastern - wird oft auf Landschaftsplaner abgeschoben. Befindet sich in
unmittelbarer Nachbarschaft der Akropolis. Pikionis versucht etwas zu schaffen das es mit der
Archaik und Geschichtsträchtigkeit des Ortes aufnehmen kann und nicht versucht modern zu sein
und etwas zu schaffen was man auf der ganzen Welt finden kann. Etwas was spezifisch auf diesen Ort
eingeht.
Ein Weg der nicht nur von A nach B führen soll, sondern eine sehr hohe Aufenthaltsqualität bietet sozusagen ein Platz der eine Wegform hat. Pflasterung mit Naturstein aus der Gegend aber genauso
asphaltierte und betonierte Flächen, die ein sehr spannungsreiches Muster ergeben - es ist klar, dass
es etwas Neues ist, aber es ist nicht einfach eine glatte, reibungslose Oberfläche. Ein Weg den man
als Tourist nicht als Architektur wahrnimmt, sondern als Weg
B) Beispiele die Wagner nennt:
- Architektur der Schule von Tessin, ital. Schweiz, Bellinzona, Speckgürtelsiedlung, altes gewachsenes
Ortsbild durchzogen mit Industriebauten, ca. 2400 Einwohner
Stadtplanung von Luigi Snozzi ab 1978 Auftrag als eine Art Stadt-Reparatur. Er hat historisches
Kirchengebäude und Kloster, das als Schule und Ortszentrum dient, definiert und in seiner Funktion
gestärkt. Gestaltung des Zentrums und der Plätze rundherum im Fokus. Pflasterung des Platzes mit
Brunnen - Traditionelles Motiv modern gelöst - wichtige Funktion für Zentrum. Gebäude der
Stadtverwaltung ist keine traditionelle Architektur oder Gebäude das sich an lokale Traditionen
anpassen möchte, sondern durchwegs modernes Gebäude in Richtung des Brutalismus, mit einigen
entscheidenden Modifikationen: ein Gebäude das den Kontext respektiert. Zum Beispiel Volumen,
Traufenhöhe - fügt sich in historischen Bestand ein und das macht teilweise mit Materialien stahlbeton und traditionelles Graphit.
Schließt an historischen Kirchturm an, ohne sich an traditionelles anbiedern zu wollen. Das schafft
einen hohen taktilen Wert: Eine Steinfassade mit 'echten' Steine, keine polierten - hat einen höheren
sinnlichen Wert als eine verkleidete Fassade. Rationalität bzw. Einfügung in regionalen Kontext ohne
traditionalistisch zu sein.
Einfamilienhäuser von Snozzi sehen von außen wie Schweizer Kiste im Bauhausstil aus - in der
Kubatur, der Größe, der Körnung und der differenzierten Höhenabstufung fügen sie sich aber in die
bestehende Kubatur und die Form der bestandsgebäude wunderbar ein - lokale Elemente der Region
kombiniert mit Stahlbeton und Fensterbändern
- Franz Riepl, Lippizanergestüt Piber, Weststeiermark, 1987–1990
Bauen am Land lässt sehr zu wünschen übrig: 50% der Menschen leben in der Stadt bedeutet, dass
50% der Menschen am Land wohnen - dort wird meist sogar mehr gebaut wie in der Stadt, darüber
wird so gut wie kein Wort verloren.
Pferdeställe, ein sehr ländliches Thema, die er bewusst an ländliche Siedlungsform anknüpft - sehr
langgestreckte Gebäude mit Satteldach - zeilenartige Struktur - in Weststeiermark üblich, hat das
ländliche Bauen geprägt.
Die Großform schließt hier an das Traditionelle an - fällt zunächst gar nicht als ein modernes Bauwerk
auf. Die traditionelle Hausform - langgestreckt mit Satteldach - wird purifiziert und auf seine Essenz
gebracht - Stahlbeton Stützen tragen I-Träger und ganz schmal und reduziert tragen sie ein
Satteldach - minimalste Form, so schlank wie möglich - durch Reduktion entsteht Eleganz die mit
dem traditionellen Gebäuden die über Jahrhunderte der Bautechnik entstandenen Gebäude in einen
Dialog tritt - die Kirche dahinter wird nicht zum Fremdkörper, der Stall ist auch kein Fremdkörper.
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Kritischer Regionalismus - nicht unbedingt ein Stil oder eine Epoche sondern eher eine gewisse
Grundhaltung, die sich von den 50ern als Variante/Alternative zu Moderne und Postmoderne bis zur
Gegenwart verfolgen lässt.
12. Dekonstruktivistische Architektur
Ein weiterer wichtiger Begriff, der in den 80ern geprägt wurde und den Architektur Diskurs der 90er
geprägt hat. Ein Stilbegriff der heute nur noch eine sehr untergeordnete Rolle spielt - obwohl die
Protagonisten die unter diesem Begriff eingeordnet wurden immer noch wichtig und aktiv sind.
Im Sommer 1988 fand im MOMA eine wichtige und heftig umstrittene Architekturausstellung statt
mit dem Titel 'Dekonstruktivistische Architektur' Die Ausstellung hatte zwei Kuratoren:
- Philip Johnson (1906–2005) (berühmter Architekt, Wegbereiter für Mies v.d. Rohe, der
bahnbrechend für die Moderne in USA war, der dann einen Schwenk zur Postmoderne und später
zum Minimalismus machte. Ein Architektur-Chamäleon, das wusste wann er wo auf welcher Seite
sein muss. Er hatte schon 56 Jahre vorher die berühmte Ausstellung 'International Style' kuratiert, die
der Moderne in den USA zum Durchbruch verhalt.
- Mark Wigley (*1956) 50 Jahre jünger, als Jungkurator hinzugezogen.
Gezeigt wurden in dieser Ausstellung Arbeiten von 7 Architekten: den Amerikanern Frank Gehry,
Daniel Libeskind und Peter Eisenman, der aus dem Irak stammende Britin Zaha Hadid, dem Franzosen
und Schweizer Bernard Tschumi, dem Holländer Rem Koolhaas, und dem Österreichischen Duo Coop
Himmelblau (Wolf D. Prix, Helmut Swiczinsky)
Seit der Ausstellung ist Dekonstruktivismus ein fixer Stilbegriff im Architekturdiskurs - obwohl die
Kuratoren im Ausstellungskatalog beteuern, dass sie mit dem Wort Dekonstruktivismus keinen neuen
Stilbegriff schaffen wollten. Es half auch nichts, dass sich alle Architekten von diesem Stilbegriff
lautstark distanzierten. (Opportunismus ist eine Tugend die bei Architekten öfter anzutreffen ist)
In den späten 80ern und frühen 90ern galt Dekonstruktivismus als die neue Mode, die die aus der
Mode gekommene Postmoderne ablösen sollte. Sie hat sich aber ebenso schnell oder sogar noch
schneller abgenützt. Oft ist es so, dass ein Name oder ein Label lähmt und tötet, weil er Macht
verleiht und sich unterwirft. Darum wird innerhalb der Architektur seither peinlichst vermieden
irgendwelche Stilbegriffe zu verwenden. Im 20 JH waren Stilbegriffe wie Kampfbegriffe, mit denen
man eine bestimmte Richtung, etwas Neues, am Architekturmarkt durchgesetzt hat. Seither ist es
aber so, dass man die Schubladisierung als eine Beengung sieht und man vorsichtig ist mit
Stilbegriffen - man arbeitet nach wie vor auf der Ebene der Stile, man spricht aber nicht mehr
darüber. Kein minimalistischer Architekt würde sagen 'ich bin Minimalist'.
Woher kommt der Begriff Dekonstruktivismus?
Dekonstruktion kommt aus der Philosophie, geprägt von Jacques Derrida (ein Poststrukturalistischer
Philosoph) Ende der 1960er. Er verbindet Konstruktion mit Destruktion - Etwas, das was Aufbaut, was
zugleich etwas zerstört - das schließt sich eigentlich aus. Derrida ist Sprachwissenschaftler oder
Sprachanalytiker, er verwendet den Begriff, um seine spezifische Form der Textinterpretation zu
definieren. Er versteht einen Text nicht nur als schriftliche Aufzeichnung, sondern versteht jede Form
der Zeichensysteme als Text - auch gesprochene Sprache, Mode, Architektur, Bilder, Gesten, jeder
Form menschlicher Verhaltensweisen, Umgangsformen ist ein Text - auch eine Stadt ist ein Text.
Was ist das neue an der Dekonstruktivistische Interpretationsweise von Derrida?
Die traditionelle/übliche Interpretationsweise wäre, ein Gedicht/Kapitel lesen, ein Bild anschauen
und dann die Frage stellen 'Was wollte uns der Autor damit sagen?' und diese Frage dann zu
beantworten.
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Kann als die hermeneutische Methode bezeichnet werden, eine geleitete, geführte Methode um die
in einem 'Text' versteckten verborgenen Botschaften zu entschlüsseln. Man geht davon aus, dass ein
Künstler/Schriftsteller etwas mitteilen möchte und das in seine Werke kleidet. Ich muss als Interpret
die Botschaft knacken. Hermeneutische Interpretation versucht den zentralen Sinn eines Textes zu
entschlüsseln
Was versucht nun die Dekonstruktivistische Interpretation eines Textes?
Sie zielt darauf ab, was der Autor NICHT sagen wollte. Ist eigentlich eine sinnlose Fragestellung - es
geht aber nicht darum, alles aufzuzählen was er nicht sagen wollte, sondern etwas das Teil der
Botschaft ist, was der Autor aber verschwiegen hat (absichtlich oder unabsichtlich) was unterdrückt
wurde, was in den Hintergrund gedrängt wurde, was aber (unabsichtlich) doch zwischen den Zeilen
hervor blitzt. Die Aussage nicht eins zu eins übernehmen sondern das raus zu filtern was der Autor
aussagen möchte. Der Autor ist jemand, der uns die Wahrheit verheimlicht, der lügt. auf die
verborgenen Bedeutungsschichten kommt es an
Derrida vergleicht dieses Verfahren mit dem psychoanalytischen Verfahren: Patient frei assoziierend
auf der Couch, ohne die Absicht dem Arzt sein Problem zu erzählen - der Psychoanalytiker muss
zwischen den Zeilen, den gesprochenen Worten lesend herausfinden, was dem Patienten fehlt. Er
legt das, was dem Autor selbst unbewusst ist frei und hebt es ins Bewusstsein.
Christopher Norris beschreibt in seinem Aufsatz 'Dekonstruktion, Postmoderne und die bildenden
Künste' von 1988 '...Einen Text ‚dekonstruieren’ bedeutet, die in ihm enthaltenen, im Widerstreit
zwischen Inhalt und Folgerung stehenden logischen Zusammenhänge herauszuheben, um
aufzuzeigen, dass der Text nie exakt das meint, was er besagt oder was er bedeutet...' Bedeutung in
dem Sinne von was will uns der Autor sagen. Der Text wird gegen den Strich gebürstet, er wird
dekonstruiert - es wird gegen ihn gearbeitet. Er wird einer 'Ideologiekritik' unterzogen
Die marxistische Methode der Ideologiekritik versucht Ideologie als eines weltanschaulichen
Verblendungszusammenhanges in allen möglichen Äußerungen auch in nicht ideologisch oder
politisch wirkenden Äußerungen freizulegen und darauf aufmerksam zu machen. Die Methode der
Dekonstruktion wurde von Ideologiekritischen Oppositionsbewegungen aufgegriffen wie z.B.
Feminismus, Multikulturalismus oder dem Postkolonialismus.
Das war die Definition in der Philosophie (bzw. der Textinterpretation)
Wie kann man das auf die Architektur übertragen? Architektur ist die Interpretation von etwas was
schon da ist? Man kann diese Definition also nicht mit die für einen Text gültigen vergleichen (ein
Text der einen bereits vorhandenen Text interpretiert) außer man behauptet, dass jedes Haus die
Neuinterpretation des Thema Haus ist. Bernard Tschumi und Peter Eisenman beziehen sich als
einzige von den sogenannten dekonstruktivistischen Architekten auf Derrida.
Kurioser Weise hat auch Mark Wigley in seinem Katalogbeitrag jeden Zusammenhang zwischen
dekonstruktivistischer Architektur und dekonstruktivistischer Philosophie bestritten. Was Wigley als
Dekonstruktivismus versteht, ist eine in höchstem Maße traditionelle Definition. Er geht das Ganze
kunsthistorisch an.
Er sagt, er sieht die dekonstruktivistischen Architektur in der Tradition der russischen Avantgarde der
1920er, also dem russischen Konstruktivismus von Malerei und Bühnenbild.
Die Raumgebilde/Architekturen/Bühnenbilder experimentieren mit kubistischen Geometrien, dort ist
die euklidische Theorie aufgehoben - es geht um räumliche Formen, die Räumlichkeit suggerieren,
die ähnlich der kubistischen Malerei aber in einem dreidimensionalen Raum nicht vorstellbar sind.
Es geht um eine Räumlichkeit im zweidimensionalen - das dreidimensionale wird nur angerissen.
Man könnte solche Entwürfe nicht bauen - Wladimir Krinski, Entwurf für ein kommunales
Wohnbauprojekt, 1920 - funktioniert nur als Bild obwohl es Räumlichkeit hat. Die meisten Entwürfe
hatten nicht die Absicht gebaut zu werden - die Modelle/Entwürfe waren dazu gedacht, das
Bewusstsein zu erweitern. Der utopische, irreale Charakter ist für diese Entwürfe entscheidend.
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deshalb wurden diese Entwürfe von den Realpolitikern rasch abgedreht und durch einen
sozialistischen Realismus ersetzt. Laut Wigley knüpfen die Dekonstruktivisten da an, wo die
russischen Konstruktivisten 1925 aufgehört haben.
Parallele zu Derrida kann man anhand der Aussage von Wigley ziehen, dass das an einem Text was
ihn nicht interessiert, die Reinheit, Harmonie und Stabilität einer geometrischen Form ist.
Zitat aus dem Ausstellungskatalog:
'...Ein dekonstruktivistischer Architekt ist (...) jemand, der den Gebäuden inhärente
Widersprüche lokalisiert. Der Dekonstruktivistische Architekt legt die reinen Formen der
architektonischen Tradition auf die Couch und identifiziert die Symptome einer unterdrückten
Unreinheit. Die Unreinheit wird durch eine Kombination aus sanfter Überredung und brutaler
Folter an die Oberfläche gezerrt: die Form wird verhört....'
Illustriert wird das unter anderem durch zwei Bilder, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu
tun haben, sie sollen die Reinheit der Moderne und die Unreinheit des Dekonstruktivismus
demonstrieren:
- Eine objektivierende Darstellung eines Pendelkugellager aus 1929 - die neue Sachlichkeit
darstellend. Das einzelne Objekt in seiner Plastizität in der skulpturalen Aura wird in den Mittelpunkt
gestellt - glänzende glatte Oberfläche. Das Ideal der modernen Form.
- Foto von Michael Heizer 'Spring house' (gebaut 1860 Foto von 19. JH), eine Quelle die man schützen
möchte damit sie nicht zugeschüttet würde. Ein Bauwerk das allen formalen Prinzipien von
Schönheit, Stil, Proportion widerspricht und nur mit dem Notwendigsten eine Funktion erfüllt. Ein
dekonstruktivistischer Architekt sagt, dass Verfallende, das Schmuddelige, das Raue, das in sich
zusammenfallende - DAS interessiert ihn, davon lässt er sich inspirieren
Zunächst besitzen die Arbeiten der ausgestellten Architekten formale Ähnlichkeiten - Abkehr vom
rechten Winkel, verschiedene architektonische Körper, Elemente die sich wechselweise durchstoßen
durchdringen, Architektur die aussieht als wäre sie halbfertig, oder halb zerstört.
Diese formalen Punkte sind bei den ausgestellten dekonstruktivistischen Architekten ähnlich - eine
Ausnahme: Koolhaas, der am wenigsten in die Gruppe hineinpasst - heute ist es kaum noch
verständlich, dass er dort eingereiht wurde. Er wird nicht mehr als dekonstruktivistischer Architekt
gesehen.
Das Vorherrschen expressiver Formen und räumlicher Durchdringungen oder der Versuch, dass
Architektur das statische, beständige, ruhige hinter sich lässt und als etwas begriffen wird, das in
Bewegung ist, das sich auflöst, in die Luft fliegt - das sind die groben stilistischen
Gemeinsamkeiten.
Bei näherer Betrachtung herrschen aber bei allen unter Dekonstruktivismus gezeichneten
Architekten sehr große Unterschiede. Aufgezeigt an zwei Beispielen:
- Coop Himmelblau (lokaler Bezug)
- Peter Eisenman (einflussreichster Theoretiker dieser Gruppe)
12.1 Coop Himmelblau
Wolf D. Prix, Helmut Swiczinsky - gegründet 1968, kommt aus den Utopien die in Wien und in Graz
den Architekturbetrieb aufgemischt haben. Die Coops haben Raumanzüge, Wohnballons, WolkenKuckuckheime, utopische Flugstädte etc. entworfen. Die Raumfahrt als das neue Paradigma - bzw.
auch die Kritik an der traditionellen Architektur (die die von der späten Moderne an div.
Architekturhochschulen gelehrt wurde - eine gewisse Verlängerung des Bauhauses) Die Ödens der
späten Moderne soll durch ein neues Architekturverständnis abgelöst werden. Architektur als dritte
Haut, als Bewegliches, als Wettwerfprodukt als Vehikel und nicht als etwas fest Gefügtes.
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Das zweite Feindbild war der postmoderne Weg - eine Angepasstheit an einen breiteren
Publikumsgeschmack - auch damit konnten die Coops nichts anfangen. Diese wurde von ihnen als
biedermeierliche Anpassungs- und Heinzelmännchen-Architektur verhöhnt.
Ähnlich wie von den späteren Dirty Realists wird von den Coops die raue, harte, gesichtslose
Wirklichkeit der Großstadt als ästhetisches Konzept entdeckt. In den 70ern nähern sie sich also
bereits einer Haltung, die in den 90ern von Liane Lefaivre als Dirty Realism bezeichnet wird.
1979 veröffentlichen die Coops ihr Manifest: Die Zukunft der herrlichen Trostlosigkeit. Rein aus der
Tatsache heraus, das sie ein eigentlich schon lange aus der Mode gekommenes Manifest
veröffentlichen, merkt man den Gestus der späten Avantgarde. Sie schreiben:
'... die Architekturen der Zukunft sind schon gebaut. Es sind die verödeten Plätze, die
verwahrlosten Straßen, die devastierten Gebäude die die Stadt heute prägen und auch die
Stadt der Zukunft prägen werden. Die heile Welt der Architektur gibt es nicht mehr...'
Eine Art moderne Ruinenästhetik: verwahrlostes, verslumtes, schmutziges, chaotisches als neuer
Erlebniswert - Städte wie Kairo, Bombay, Mexiko City werden zu Vorbildern.
Es geht den Coops bei Architektur nicht um Verschönerung, sondern Konfrontation:
'...Architektur ist nicht Behübschung sondern der Knochen am Fleisch der Stadt...' '...alles was
gefällt, ist schlecht, alles was funktioniert, ist schlecht - gut ist, was akzeptiert werden muss...'
Dieser provokante Ansatz mischt sich in einem für Österreich sehr typischem, in einem sehr Körperund Effektbezogenem Expressionismus - quasi einer Architektur aus dem Bauch heraus, wie es aus
dem Coopschen Manifest ' Architektur muss brennen' hervor geht.
Es wurde anlässlich einer Aktion im Innenhof der alten Technik 1980 verkündet. (Damals gab es die
Überbauung des Innenhofes noch nicht. Da wo jetzt der HS2 ist wurde ein Kran aufgestellt) Ein
dreidimensionales figurenähnliches Drahtgestänge wurde aufgehängt und dann abgefackelt. Das war
im ersten Jahr des Günther Domenig an der TU Graz, welcher mit der Einladung von Coop
Himmelblau Action und neuen Wind an der Hochschule verbreiten wollte.
Die Installation trug den Namen 'Flammenflügel', das zugehörige Manifest lautet:
'...Wir wollen Architektur, die mehr hat. Architektur, die blutet, die erschöpft, die dreht und
meinetwegen bricht. Architektur, die leuchtet, die sticht, die fetzt und unter Dehnung reißt.
Architektur muss schluchtig, feurig, glatt, hart, eckig, brutal, rund, zärtlich, farbig, obszön, geil,
träumend, vernahend, verfernend, nass, trocken und herzschlagend sein. Lebend oder tot.
Wenn sie kalt ist, dann kalt wie ein Eisblock. Wenn sie heiß ist, dann so heiß wie
Flammenflügel. Architektur muss brennen.'
Ein Text der stark an die maskuline Gewalttätigkeit erinnert, die man aus dem Expressionismus des
frühen 20. JH kennt. An dieses für Österreich wichtige Paradigma des Expressionismus schließen die
Coops an - Domenig war auch ein Expressionist, der dem Dekonstruktivismus nahe stand, wie man an
seinen bauten unschwer erkennen kann.
Diese maskuline gewalttätige auf Sinnlichkeit und Konfrontation ausseiende Haltung, die ein sehr
charakteristisches Element für die Grazer Schule ist, ist darauf aus etwas anderes zu sein/zu sagen.
Wiederstand zu leisten, mit einer großen Sinnlichkeit dagegen zu sein und deshalb auch sehr auffällig
zu sein. Architektur die sich immer in den Vordergrund spielt, auch wenn es nur ein Bushäuschen ist,
es muss 'mordsdramatisch' etwas passieren. (man erkennt ein Gebäude der Grazer Schule - egal
welcher Richtung davon es angehört - allein daran, dass es sich nicht versucht in seiner Umgebung zu
integrieren, sondern der Stachel im Fleisch zu sein).
Die Metapher des Flammenflügels ist auch sehr gut in dem Wohnhaus Projekt 'Hot Flat' von 1978
sichtbar, indem man variable, Loft-artige Hallen übereinander gestapelt hat. Auf der Höhe von zwei
Geschossen wird das Gebäude von einem riesigen Stahlträger durchstoßen - sehr martialische,
sexuelle Metaphorik - ist unübersehbar. D
Architekturtheorie Heute [53 / 93]
er Stahlträger ist etwas das das Gebäude penetriert, defloriert, seiner reinen Unschuld beraubt, es
wie eine Rakete durchbohrt. Oben dann noch ein flammenförmiges Glasdach, das die Wohnungen in
den oberen Stockwerken durchstößt. In der Poesie der Trostlosigkeit schreiben die Coops:
'... und so müssen die Gebäude dastehen - unangepasst, rau, durchstoßen. Wie gebaute
Todesengel...'
Formale Vorbilder für die Coops liegen im italienischen Futurismus und im russischen
Konstruktivismus z.B. Melnikow, Arbeiterklubhaus Rusakow in Moskau von 1920er - die dynamischen
und konstruktiven Elemente werden gegen das Gebäude selbst gekehrt damit es wirklich zu einer
Dekonstruktion kommt (Merz-Schule von Coop Himmelblau für Stuttgart, 1981)
Auch für Zaha Hadid gilt, dass die russischen Konstruktivisten eine Vorbild Funktion haben.
Kasimir Malewitsch, Planit, 1924 im Vergleich mit einem Bild von Zaha Hadid 1977 namens
'Malewitschs Tektonik'
Eine Arbeit, die sich auch ganz explizit auf Malewitsch bezieht. Man könnte nicht sagen, welches Bild
von einem Architekten und welches von einem Maler hergestellt wurde. Eigentlich wirkt Malewitschs
sogar architektonischer obwohl er nie etwas gebaut hat. Der formale/utopische Ansatz, dass diese
Gebäude irgendwo im Weltall zu schweben scheinen, ist bei den Beiden Arbeiten ähnlich ABER bei
Zaha Hadid gibt es keine sozialistische Utopie, einen neuen Menschen zu kreieren - die formale Geste
verselbständigt sich.
12.2 Peter Eisenman
Er ist nicht nur ein Architekt, sondern auch ein wichtiger Theoretiker. Bei den Coops gibt es eine sehr
expressive Architektursprache - immer irgendwelche Bauteile die andere durchstoßen aufreißen
aufschlitzen - man könnte das durchaus als sexuelle Metaphorik verstehen - etwas ganz anderes ist
der Spalt zwischen den Betten des Ehepaares im Schlafzimmer, im Frank House von Peter Eisenman
von 1973 in Connecticut.
Ursprünglich war es so geplant, dass in diesem Schlafzimmer für ein Ehepaar nicht nur diese Beiden
Betten ein bisschen auseinandergerückt sind, sondern dass es zwischen den Betten einen Spalt gibt,
der sich von der Decke über die Wand bis zum Fussboden zieht (aus Verletzungsgründen wurde er
durch eine Glasplatte verschlossen) Es geht nicht um eine sexuell expressive Aufladung der
Architektur durch Raumdurchdringungen und Durchschneidungen, sondern eher das Gegenteil Coitus Interruptus für Großstadtneurotiker oder eine Abhandlung der Schwierigkeiten oder
Unmöglichkeit der Zweisamkeit.
Das Gebäude arbeitet in viel stärkerem Maße mit der Formensprache des internationalen Stils, des
Funktionalismus als bei anderen Dekonstruktivisten. Nicht nur eine Funktionalismus-kritische,
sondern gar eine asoziale Unverständlichkeit (ein Schlafzimmer planen, durch das ein Spalt geht,
damit die betten auseinander geschoben werden müssen und wenn in der Früh jemand auf der
falschen Seite raus steigt, bricht er sich das Bein) Heiß ist hier nur die mühsame Angestrengtheit des
Entwurfes - was es nicht gibt: Expressives Katastrophen-Pathos wie bei den Coops
Wie ist so etwas absurdes funktionsfeindliches zu verstehen?
Eisenmans Grundüberzeugung hat die jeweils gültige Kosmologie darzustellen.
- Mittelalter: Gott im Zentrum - theozentrisches Weltbild, deshalb auch Architektur theozentrisch Gott wird verherrlicht, nicht der Mensch
- Renaissance: Mensch im Zentrum - anthropozentrisch - nicht mehr das Übersteigen aller möglichen
Grenzen, nicht mehr vertikaler Zug den es in der gotischen Kathedrale gibt, sondern Zentralbau, wo
der Mensch im Mittelpunkt steht. Wo es nicht mehr darum geht den Raum auszuweiten, zu
transzendieren, sondern darum den Mensch in den Mittelpunkt des Raumes zu stellen.
Architekturtheorie Heute [54 / 93]
- Moderne: Mensch aus diesem Zentrum vertrieben. Im wesentlichen durch die drei narzisstische
Kränkungen die Freud in seinem Aufsatz 'Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse' 1917 formuliert hat.
Er schreibt, dass es drei narzisstische Kränkungen gibt, durch die Eigenliebe des Menschen zu tiefst
gekränkt wurde.
• Die Erste war, als Kopernikus in der Renaissance feststellte, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des
Kosmos ist, sondern die Sonne. Die Menschen sind also nicht mehr Mittelpunkt sondern an der
Peripherie.
• Die Zweite war 1856, als Charles Darwin, mit 'Die Entstehung der Arten' die These aufstellt, dass
sich der Mensch aus dem Tierreich entwickelt hat, das der Affe sein nächster verwandter ist, das der
Mensch kein Ebenbild Gottes ist sondern dem Tierreich angehört - er ist nur ein höheres Säugetier.
• Die dritte Kränkung entstand laut Freud durch ihn selbst - durch 'Die Traumdeutung' erschienen im
Jahr 1900. Dort stellt Freud die These auf, dass sich unsere Handlungen/Begehren/Strukturen als
leidende und fühlende, wollende und begehrende Menschen nicht durch unsere Ratio (die Vernunft)
entschieden werden, sondern durch unsere unbewussten Triebe. Das was den Mensch antreibt ist
nicht das Tagesbewusstsein, sondern das 'Es', etwas das viel weiter unter der Schwelle des
Bewusstseins angesiedelt ist. Wir sind also der Macht des Unbewussten Triebe und Wünsche - der
Mensch ist kein mächtiges rationales Wesen, das im Mittelpunkt seiner physischen Welt steht.
Indem Eisenman auf diese drei narzisstischen Kränkungen Bezug nimmt, knüpft er auch auf die Kritik
an Humanismus von Friedrich Nietzsche und Michael Foucault an - seit Köpenicks hat Nietzsche
schon gesagt, rollt der Mensch aus dem Zentrum ins x.
Eisenman:
Der modernen Architektur sei es bisher nicht gelungen, diese neue posthumanistische Kosmologie
der Moderne angemessen zu repräsentieren. Ganz im Gegenteil - selbst in der Moderne tun die
Architekten so, als würden wir in der Renaissance leben - als wäre die Welt der Mittelpunkt des
Kosmos, als wären wir vernunftbegabte Wesen, Gottes Ebenbilder. Wir bauen in der Moderne immer
noch anthropozentrische humanistische Architektur.
Peter Eisenman zu seinem House X von 1975-78: '...Meine Häuser sind ideologisch in dem Sinn, dass
sie die Anthropozentrik des Menschen leugnen (...) Meine Häuser geben einen Kommentar ab zum
Verlust des Zentrums. (...) Die Weltanschauung ist nicht mehr anthropozentrisch so wie sie nicht
mehr theozentrisch ist...'
Der Mensch in der Moderne ist demnach in seiner Welt nicht mehr zu Hause, fühlt Unsicherheit,
fühlt existenzielle Ängste und eine zeitgenössische Architektur habe diesen Ängsten nicht entgegen
zu wirken und eine falsche Sicherheit vorzuspielen, sondern diese Unsicherheit und die Instabilität
widerzuspiegeln. Die Architektur darf keine bruchlose Stabilität und Sicherheit vorgaukeln.
In sich gesehen, ist dies eine konsequente Überlegung, die an der Vorstellung, krankt, dass die
Menschen sich auch in früheren JH sicher bzw. geschützt vor Wetter/Tieren gefühlt haben. Die
Schutzfunktion von Architektur ist eine ganz alte, fundamentale, und diese nun aus den Angeln
hebeln zu wollen, so, dass der Mensch seit der Moderne sich in einer existenziell unsicheren
Situation befindet/ausgesetzt ist, ist eine etwas fragwürdige Position
In Anlehnung an Derrida versteht Eisenmann Architektur als einen Text, dem kein Sinn voraus liegt
den man frei legen müsste, sondern ein Netz der Bezüge - und somit ist er endlich. Der
Entwurfsprozess ist nicht zielgerichtet und deshalb braucht ein Gebäude nicht mehr schön sein,
sondern soll die Erfahrung des Schrecklichen, des Hässlichen des Erhabenen ermöglichen.
Eisenman ist neben Koolhaas der profilierteste Theorieproduzierende Architekt der Gegenwart gewissermaßen sein Antipode. Seine gesamten Schriften sind sehr leicht auf Deutsch zugänglich im
Sammelband 'Aura und Exzess. Zur Überwindung der Metaphysik in der Architektur' seit 1995
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Biografie Eisenman: 1932 in New Jersey geboren. Studiert in NY Architektur, geht dann nach England
und promoviert dort. Danach lehrt er in NY. 1967 gründet er ein Institut für Architektur und urbane
Forschung in NY und leitet dieses. ( Es ist in den 70ern DER Brennpunkt für Theorieproduktion in den
USA, auch Koolhaas hat dort gearbeitet) Eisenman gibt auch die Zeitschrift Oppositions heraus - es
geht um fundamental-Opposition gegenüber Allem und Jedem im etablierten Architekturbetrieb vor allem gegen die Postmoderne, die ihm zu angepasst und zu populistisch erscheint.
Gebaut wird nur wenig von ihm, nur 5 private Wohnhäuser, die ihn aber rasch berühmt machen. Erst
1980 gründet er mit 48 Jahren sein eigenes Architekturbüro, dann folgen größere Aufträge u.a. Mitte
der 80er das 'Wexner Center for the Visual Arts' und 2003 das 'Denkmal für die ermordeten Juden
Europas' in Berlin
12.3 Exkurs: Critical Architecture
Das Phänomen, dass ein Architekt in erster Linie Theorie betreibt, ein privat geführtes Theorieinstitut
betreibt und kaum etwas baut ist vor allem für die 60er, 70er und 80er Jahren in den USA typisch.
Auch bekannte Dekonstruktivistische Architekten wie Daniel Libeskind und Bernard Tschumi haben
anfangs nur Theorie betrieben, ähnlich Koolhaas u.a.
Sie alle haben gemeinsam, dass sie versuchten Theorien und Konzepte aus Neomarxismus,
Psychoanalyse, Linguistik, Poststrukturalismus, Dekonstruktivismus auf Architektur anzuwenden.
Die praktisch kaum existierende Bauproduktion wurde von den genannten nicht als Mangel, sondern
als Freiheit von technischen ökonomischen und politischen Zwecken verstanden, in der es erlaubt
wird eine kritische Beobachter-Funktion sowohl zum Baubetrieb als auch zur Gesellschaft als Ganzes
einzunehmen.
In der Praxis ist diese Position natürlich nur dadurch ermöglicht worden, dass sie eine Anstellung an
einer Universität hatten (ist auch heute noch so, dass in vielen amerikanischen Architekturschulen
die Lehrenden Personen keine eigene Architektur produzieren - man widmet sich 100% der Lehre
oder ist 100% in der Praxis. Die Verbindung der Beiden Bereiche die in Europa typisch ist, ist in USA
nicht üblich) Das hat vor und Nachteile: Der Effekt für die Theorie ist, dass die in den USA lehrenden
Architekten einen wesentlich höheren Publikations- und Forschungsoutput haben, als in Europa.
Darum ist die Amerikanische Architekturtheorie auch Ende des 20 JH führend gewesen.
Die Grenze zwischen Architektur und reiner Theorie, aber auch zwischen Architektur und bildender
Kunst ist kaum mehr auszumachen - eine berühmte Aussage von Daniel Liebeskind ist, dass die
Zeichnung ist das Endprodukt, nicht ein Hilfsmittel um das zu planende Gebäude zu visualisieren
ist. Die Zeichnung ist also nicht nur der Beginn einer entwerfenden Tätigkeit.
Darüber hinaus gilt für viele dieser Architekten, dass sie Architektur nicht als einen
affirmativer/zustimmender/bestärkender Akt verstanden wird. Das gilt besonders für Eisenman. Sie
nehmen Architektur nicht als das wahr, was sie schon immer getan hat: pures erfüllen einer Aufgabe,
eines Raumprogramme
Wenn man gar nicht in die Verlegenheit kommt sich mit Investoren/Auftraggebern herumzuschlagen,
hat man die Möglichkeit, sich kritisch zum Baubetrieb und der Architekturszene zu äußern und auch
Kritik, Wiederstand gegenüber den Verhältnissen zum Ausdruck zu bringen.
In der Frühphase, bevor er schick wurde, waren Dekonstruktivismus und Kritik sehr eng miteinander
verbunden. Zum Beispiel beim 'Frank house' hier wird, wenn schon gebaut werden muss, eben
dysfunktional gebaut. Auch im klassischen Rollenverständnis ‘Architekten als Erfüllungsgehilfe der
jeweils herrschenden Ordnung‘ am Beginn des Dekonstruktivismus, wurde in die Baupraxis eine
kritisches Moment eingebaut.
Architekturtheorie Heute [56 / 93]
Der amerikanische Architekturkritiker K. Michael Hays hat für die Gruppe theoretisierender und
oppositioneller Architekten 1984 den Begriff 'critical architecture' geprägt. Wesentlich für die
Entstehung von critical architecture ist der historische Kontext:
In den späten 70ern frühen 80ern findet der Beginn des Neoliberalismus statt. Einer
wirtschaftspolitischen und gesellschaftspolitischen Richtung, die zu Beginn der 80er die Oberhand
gewinnt - hauptsächlich durch die Premierministerin Margaret Thatcher in GB und durch USPräsidenten Ronald Reagan in den USA.
Neoliberalismus versteht sich also als eine Vermarktlichung aller Lebensbereiche - nicht nur freie
Marktwirtschaft wird entfesselt, sondern auch das Konzept des Marktes als naturwüchsige kraft
der Wirtschaft und des sozialen Zusammenlebens wird durchgehend als herrschendes Prinzip
verstanden und angewendet.
Die Zeit des boomen und des Börsenmarktes, der Neokonservativen Wende der Postmoderne in
allen Bereichen der Kultur - eine Zeit in der das Scheitern der sozialistischen Utopien der 68er
Generation und der Sieg des Kapitalismus unübersehbar geworden waren. 1989 als der Ostblock, die
Sowjetunion auseinanderbrechen, der eiserne Vorhang fällt, wird der scheinbare Sieg des
Kapitalismus für alle augenfällig.
Die Kunstszene der USA und später auch die in Europa reagiert auf diesen Rechtsruck im Sinne einer
Neoliberalisierung mit einer re-Politisierung. Zunächst ausgelöst durch die Untätigkeit der Regierung
gegenüber der Aids-Krise Mitte der 80er Jahre und dem rapiden Anstieg der Obdachlosigkeit durch
die neoliberale Politik und den sich daran anschließenden von den Neokonservativen angezettelten
culture wars.
Das Spektrum reicht dabei von einem sehr konkreten, handfesten politischem Aktivismus bis hin zu
einem sehr hochkomplexen, stark mit poststrukturalistischer feministischer Theorie aufgeladener
Kunst, die oft nur noch einer kleinen Fachkollegenschaft verständlich bleibt.
Beispiel: Martha Rosler, eine politisch aktivistische, amerikanische Künstlerin aus 1980, Billboard am
Times Square gemietet und drauf geschrieben 'Housing Is a Human Right' (Wohnen ist ein
Menschenrecht) Sie wollte auf die explodierenden Obdachlosen Zahlen in NY aufmerksam machen.
Weiters ein Projekt von ihr aus dem Jahr 1989 'If You Lived Here...' wo sie mit Stadtteilarbeitern und
Sozialarbeitern auf diese Obdachlosenproblematik aufmerksam machen will.
Diese Richtung heißt Neokonzeptualismus.
In ähnlicher Weise könnte man die kritische Architektur als Konzeptarchitektur bezeichnen, als ein
entwerferisches Verfahren das versucht hat, meist aus Frankreich stammende, philosophische
Konzepte architektonisch umzusetzen. In Diller & Scofidios 'Fourth Window' von 1996 und in Dan
Grahams 'Cinema' von 1981 geht es um dieses Phänomen der Transparenz - das hier politisch und
architektonisch verstanden wird: als ein Versprechen der Moderne, dass man die HinterzimmerPolitik verlässt. Also eine offene transparente Gesellschaft, auch in den Entscheidungsstrukturen (die
seit Michael Foucault in die andere Richtung losgegangen ist - transparente Architektur ist eine
Überwachungsarchitkeur die die gegenseitige Überwachung ermöglicht)
Der Künstler Dan Grahams wollte in 'Cinema' die Transparenz auf ein konkretes Bauwerk anwenden,
man kann von draußen den Film sehen, und von innen nach draußen schauen - die Idee des Kinos mit
der schwarzen Hülle wo ich vom absorbierten Licht vollkommen eingeschlossen werde, aufgegeben
ist.
Man sieht wie bildende Kunst und Architektur sich überlagert und überlappt haben. Das passiert bis
heute noch in Ausstellungen - Biennale in Venedig: viele Pavillons sind Architekturausstellungen mit
Fotos und Modellen, in manchen interessanten findet man auch Installationen, raumbezogene
Arbeiten die eigentlich wie bildende Kunst aussehen.
Architekturtheorie Heute [57 / 93]
Architektur und Kunst unterscheiden sich dort nicht mehr wirklich - weder in Darstellung noch durch
Zugänge, Methode, Mitteln - es gibt keine großen Unterschiede.
Als weitere Gemeinsamkeit von Neokonzeptueller Kunst und Konzeptarchitektur, lässt sich eine
wiederständige Grundhaltung ausmachen: das man versucht sich der kapitalistischen
Verwertungslogik zu entziehen - versucht sperrige schwer lesbare antiikonische bis hin zu
verstörende oder dysfunktionale Projekte zu entwerfen - also Sand in das Getriebe der neoliberalen
Globalisierungs-Maschine streut.
Im Grunde wird in der Neokonzeptuellen Kunst nur die Möglichkeiten der Kunst wie sie seit der
Moderne bestehen konsequent weitergedacht - denn seit Beginn der Moderne (spätes 18 JH)
kämpfen Künstler darum autonom zu sein - sich selbst das Gesetz zu geben. Das Gesetz waren im
Bereich der Kunst über viele Jahrhunderte, als die Kunst Auftragskunst war, Könige, Kaiser, weltliche
Herrscher oder kirchliche Auftraggeber denen man als Künstler dienstbar sein musste. Mit Ende 18
JH, französische Revolution und Aufklärung emanzipieren sich die Künstler von den Auftraggebern
und werden ihre eigenen Auftraggeber (überlegen sich selber welche Kunstwerte sie erschaffen
könnten) Diese Autonomie ermöglicht es ihnen, später gesellschaftskritische Kunst hervorzubringen.
Wer keinem Auftraggeber huldigen muss, kann auch ein Kunstwerk schaffen, das die Politik kritisch
betrachtet.
Autonome Kunst - der Künstler der ein bisschen am Rand oder sogar außerhalb der Gesellschaft
steht, und aus dieser Position in der Lage ist, die Gesellschaft zu kritisieren oder der Gesellschaft
voran zu gehen. In der Moderne wird der Künstler aktiv - er setzt sich an die Spitze der
gesellschaftlichen Entwicklung und sagt wo es lang geht - die Gesellschaft ist noch weiter hinten,
versteht noch gar nicht, welche Idee der Künstler hat. Erst nach einer Zeit wenn die Gesellschaft so
weit ist und nach vielleicht einem Jahrzehnt draufkommt was der Künstler gemacht hat, sind sie in
der Lage, das, was vom Künstler hervor gebracht wurde zu schätzen.
Künstler der Moderne wurden meist erst nach dem Tod geschätzt z.B. Van Gogh (das hätte es in der
Vormodernen Zeit nicht gegeben - die Kunst hat da eine andere Rolle) In der Moderne begreift sich
der Künstler als Avantgarde. Der Begriff kommt aus dem militärischen und bedeutet Vorhut: beim
Einmarsch werden einige wenige schnelle wendige mit Pferden zum Auskundschaften vor geschickt,
diese Vorhut weiß und sieht mehr als der Rest des Heeres. In dieser Position der Vorhut versteht sich
in der Moderne der Künstler.
Wenn der Künstler keinen Auftraggeber mehr hat, produziert er nur für sich wenn er ein Erbe ist,
eine staatliche Anstellung als Professor hat oder er muss für den Markt produzieren. Dieser Markt
wird in der Moderne sehr wichtig. Der Künstler produziert etwas, die Bürger schauen sich das dann
an und kaufen es sich - in diesem System versteckt sich ein Problem: wenn die Künstler Avantgarde
sind und die potenziellen Käufer zum Rest des Heeres gehören, verstehen sie die Produkte der
Avantgarde nicht und die Produkte bleiben liegen - es wird nur das gekauft, was allgemein
verständlich ist, was nicht modern ist.
Das führt zu dem Problem, das 1812 von Thomas Rowlandson in der Karikatur 'The Chamber of
Genius' auf den Punkt gebracht wird. Der Hungerkünstler, der genial ist, alles seiner Autonomie
opfert, Bilder produziert die keiner haben will, unter schrecklichen Umständen im Chaos lebt, aber
treu der Mission folgt. Weil ihm Freiheit und Autonomie wichtiger sind als die wohlgestaltete
geordnete, bürgerliche Existenz.
Der Verlust der Auftraggeber lässt die Künstler sofort in die neue Abhängigkeit des Marktes und
eines ganz und gar avantgardistischen Publikumsgeschmackes geraten. Das ist das Problem bzw. der
Wiederspruch, der seit der Moderne existiert. Wenn sich die Konzeptkunst dem Markt verweigert,
setzt sie eigentlich die Autonomie fort.
Architekturtheorie Heute [58 / 93]
Und wenn die critical architecture für die Architekten den selben Autonomiestatus anstrebt, hat man
etwas gemacht was in der bildenden Kunst in den letzten 200 Jahren schon passiert ist (gelingt
natürlich nicht immer)
Es gibt aber doch Unterschiede zwischen Architektur und bildender Kunst. Der Unterschied berührt
genau dieses Problem, das Architektur als gebaute realisierte Architektur immer heteronom,
fremdbestimmt ist.
Architekten lieben den Begriff der 'Autonomie der Architektur' weil er ihnen einen etwas besseren
Status verleiht - jeder will autonom sein, klingt besser als heteronom/fremdbestimmt/abhängig zu
sein. Das ist ein Grundbedürfnis des Menschen seit der Aufklärung. Aber zu behaupten Architektur
sei autonom, hat entweder einen schiefen Architektur Begriff oder einen schiefen Autonomie Begriff.
Beides geht nicht zusammen, es ist nicht möglich, wenn ich die Beiden ernst nehme.
Es gibt das Bild, das uns vor Augen führen soll, dass Architektur gerne so tut als wäre sie autonom
(vor allem populäre Architektur - wo die Massen hin pilgern, die in aller Munde ist) das geht vor
allem gut, bei Projekten/Bauaufgaben, wo dem Architekten größtmögliche Freiheit geboten wird. Zur
Zeit oft in der Museumsarchitektur der Fall - die ja vom Programm her eine Affinität zur bildenden
Kunst hat.
Museumsarchitektur tut oft so, als sei es eine begehbare Skulptur. Es muss zwar auch irgendwie
funktionieren (rein gehen, nicht rein regnen, Garderoben/Büros/Klos, ausstellen soll man auch was
können) das, was uns diese Bauwerke aber vermitteln sollen ist, dass sie mehr sind als bloße
Architektur. Das sie dreidimensionale plastische Skulpturen oder Kunstwerte sind, und auch die
Architekten Künstlerarchitekten sind. Beispiel: Jüdisches Museum Berlin von Daniel Libeskind um
2000 oder das Guggenheim Museum Bilbao der 90ern.
Wir wissen natürlich, dass jede Realisierung auch eine Vielzahl von organisatorischen, juristischen,
technischen, ökonomischen, politischen, Zwängen ausgesetzt ist und jedes Gebäude einen konkreten
praktischen Zweck erfüllen muss, den ein Werk der bildenden Kunst nicht erfüllen muss.
Möglicherweise hatte Koolhaas das im Sinn, als er auf einer Konferenz in Montreal 1994 meinte, dass
in den tiefsten Motivationen der Architektur etwas verborgen liegt, das nicht kritisch sein kann. Das
heißt, Architektur ist immer heteronom und affirmativ.
Damit hat Koolhaas eine Debatte um die Kritik an der criticality ausgelöst, die vor allem am Beginn
der 2000er Jahre sehr massiv geführt wurde. Und dann wurde sie von einer neuen Generation
formuliert, die sich als postkritisch, projektiv, performativ, und pragmatisch bezeichnet hat. Eine
Reihe dieser Kritiken an der criticality wurde von Saunders im Harvard-Reader zu 'architectural
pragmatism' zusammengefasst und herausgegeben.
Am zentralsten scheint die Kritik an der widersprüchlichen Verwendung des Begriffs criticality - 2005
wurde in einem Aufsatz von Reinhold Martin unter dem Titel 'critical of what' dargelegt, dass unter
dem Label critical architecture ganz unterschiedliche Dinge vermischt und vereint worden sind.
Einerseits politische Kritik - also linke neomarxistische Kritik - und andererseits eine
formalästhetische Kritik eines Peter Eisenmann. Wobei in der Außenwirkung der Kritikbegriff von
Eisenmann maßgeblich geblieben ist.
12.4 Peter Eisenmans Autonomieästhetik
Man hört oft die Begriffe Modern/modernistisch - postmodern/postmodernistisch. Hier passiert ein
Übersetzungsfehler: englisch ‘modern‘ bedeutet neuzeitlich - auch der Barock gehört zur Moderne
im englischen Sinn. Wenn ich ‘modern‘ von ‘der Moderne‘ unterscheiden will, muss sich im
englischen von ‘modern‘ und ’modernism‘ sprechen - dann ist 1900 bis in die 60er gemeint, danach
kommt ‘postmodernism‘.
Architekturtheorie Heute [59 / 93]
Wenn man das wörtlich rückübersetzt hat man im Deutschen den Modernismus und etwas
Modernistisches. In der Praxis kann man aber beobachten, dass Modern verwendet wird, wenn man
etwas gut findet - wenn etwas positiv hervorgehoben werden soll, Modernistisch ist immer etwas,
das man schlecht findet, was man kritisch sieht.
Das ist eigentlich problematisch – im Deutschen gibt es eigentlich die Moderne, die ihre guten und
schlechten Seiten hat. Es ist nicht so, dass es eine Spezialabteilung/ Entartung gäbe, die
Modernistisch ist, die schlechter ist und mit dem ‚Guten‘ nichts zu tun hat. Darum versuchen wir den
Begriff modernistisch so gut es geht zu vermeiden.
Eisenman ist ein Vertreter der Autonomieästhetik in der Architektur. Wenn er von Kritik spricht,
meint er das nicht in einem poltischen oder gesellschaftspolitischen Sinn wie die Marxisten oder
neomarxisten, sondern in einem modernen Sinn. Er hängt einem Kritikbegriff an, wie man ihn aus der
formalistischen Ästhetik der 50er/60er Jahre kennt. Bestes Beispiel dafür, ist sein Aufsatz ‘Aspekte
der Moderne: Die Maison Dom-ino und das selbstreferentielle Zeichen‘ erschienen 1979 in seiner
Zeitschrift.
Im Aufsatz geht es um dieses berühmte Maison Dom-ino von Le Corbusier. Der hatte das am
Vorabend des WWI skizziert – er hatte eine Ikone des neuen, modernen Bauens geschaffen, ein
revolutionäres Bild. Eine Skelettbauweise, die nur noch aus Geschossplatten und etwas nach innen
versetzten Stützten besteht, wo eine freie Fassadengestaltung mit Vorhangfassade, Fensterbändern
und freie Grundriss Gestaltung möglich ist.
Darauf, dass dies eine so folgenreiche Erfindung von LEC war, geht Eisenman in diesem Text
überhaupt nicht ein. Was ihn viel mehr interessiert ist das Proportionsverhältnis der Platten und der
Stützen und deren Stellung zueinander. Also wirklich ein formalistisches lesen/interpretieren dieses
Entwurfs.
- Eisenman geht experimentell darauf zu und überlegt sich, warum ist das Maison Dom-ino so ist, wie
es ist. Wären nicht auch andere Dinge möglich? Warum ist es zum Beispiel eine rechteckige und
keine quadratische Platte - warum haben alle Platten den gleichen Abstand? Warum sind sie genau
übereinander und nicht versetzt? Diese logischen grundlegenden Überlegungen bringen ihn zu sehr
weitreichenden Schlüssen
- In einer zweiten Überlegung sieht er sich an, warum man es mit 6 und nicht mit 4 stützen zu tun hat
und wie diese stützen positioniert sind – sie sind recht knapp an den schmalseitigen Enden der
Geschossplatten angebracht und zu den Längsseiten besteht ein größerer Abstand - er überlegt, ob
da eine Absicht, ein Konzept dahinter steckt, ob es ein Zeichenfehler oder Zufall war. Eisenman stellt
eine Absicht fest: die Maison Dom-ino soll in der Länge erweiterbar sein – in die Breite nicht, da
gehört die Fassade hin. Die Position der stützen ist also entscheidend.
- Die Position der Treppen wird auch von Eisenman analysiert. Ohne den Text von ihm, würde sie gar
nicht so richtig beachtet - sie wäre da, sie würde wahrgenommen aber fiele nicht weiter auf. Die
Treppe ist aber nicht einfach an die drei Platten dran gestückelt, sondern wurde ausgeschnitten um
dann ein Treppenpodest zu formulieren - an der Ecke gibt es noch ein ausgeschnittenes Stück.
Eisenman spielt verschiedene Varianten der Positionierung der Treppen durch. Er zeigt, dass die
Treppe ein additives Element ist, aber andererseits aber in das Gebäude integriert ist. Sie befindet
sich am Übergang angefügt zu ausgeschnitten.
Dieses ‘close reading‘ der formalen Struktur bringt Eisenman zu dem Schluss, dass das Maison
Dom-ino ein selbstreferenzielles Zeichen sei, das sich nur auf sich selbst beziehe - sie ist Architektur
über Architektur.
Das was ein Haus im modernen Sinne ist - also ein Skelettbau - wird also durch diesen Entwurf von
LEC analysiert und bis ins letzte auf den Punkt gebracht.
Architekturtheorie Heute [60 / 93]
Man muss dazu wissen, dass in den 70ern die Semiotik (Zeichentheorie) im Trend war, ein Gebäude
verweist also immer auf etwas (auch für die Postmoderne war die Semiotik wichtig - man hat die
Architektur damals auch als Text oder als Zeichen gesehen)
Eisenman sagt nun, dass die traditionelle Architektur immer auf etwas außerhalb von sich selbst
verweist. Sie ist also ein klassisches Zeichen ist immer ein Referent für etwas. Die moderne
Architektur ist laut Eisenman zwar auch ein Zeichen, verweist aber nicht auf etwas außerhalb von
sich, sondern nur noch auf sich selbst - ist also ein selbstreferenzielles Zeichen. Damit ist sie
autonom.
Laut Wagner ist diese Theorie abwegig und falsch. Man kann auch ältere Gebäude die von vor der
Moderne stammen auf ähnliche Weise analysieren. Auch in der traditionellen Architektur verweisen
Bauelemente auf ihre Funktion und damit auf sich selbst. (Eine Säule verweist auf ihre Funktion
tragend zu sein und eine Last abstützen zu müssen und nicht auf einen anderen außerarchitektonischen Zusammenhang). Damit will er Eisenman nicht nachweisen, dass er sich getäuscht
hat sondern zu verstehen was die Absicht die hinter der Analyse von Eisenman ist
Warum stellt Eisenman die These auf, Moderne Architektur sei ‘selbstreferenziell und autonom‘?
Denn er behauptet doch, dass die moderne Architektur nicht das einzige Zeichensystem ist, dass in
der Moderne autonom und selbstreferenziell wird, sondern auch die Zeichen in der Musik, Literatur
und bildenden Kunst der Moderne werden selbstreferenziell. Also eigentlich, dass die Zeichen, die
Kunst abstrakt wird.
Ein abstraktes Gemälde stellt nicht mehr ein historisches, religiöses, mythologisches Ereignis dar und
verweist damit auf etwas außerhalb von sich selbst, sondern verweist nur mehr auf sich - das heißt
auf die Tatsache, dass ich es nur noch mit einem Bild zu tun habe, wo Farben und Linien in einer
bestimmten Ordnung drauf sind. Diese stellen nichts mehr dar, repräsentieren nichts mehr sondern
sind eben gegenstandslos.
Das Selbe müsse laut Eisenman daher auch in der Architektur passiert sein - wenn die bildende Kunst
zu Beginn des 20 JH abstrakt geworden ist, muss dieser Schritt auch in der Architektur vollzogen
worden sein. Was er übersieht ist, ist, dass Architektur als angewandte Kunst nie so autonom sein
kann, wie bildende Kunst und die Musik - Eisenman begreift Architektur hier rein künstlerisch. Er
macht zwischen bildenden Künsten und Architektur keinen Unterschied, was in Wagners Augen ein
schwerer Denkfehler ist.
Eisenman schreibt
‘…Seit die Werke der Musik, der Prosa, der Malerei und der Bildhauerei nicht mehr nur eine
erzählerische oder abbildende Darstellung der Bedingungen des menschlichen Lebens sind,
beschäftigen sie sich eingehender mit ihrem eigenen Objektstatus, mit einer Existenz
unabhängig von ihrer unvermeidlichen Hervorbringung durch den Menschen oder dessen
traditioneller Darstellung…‘
Man sieht in dieser Aufzählung, dass es am besten im Bereich der bildenden Kunst funktioniert, die
wirklich am Beginn des 20 JH gegenstandslos geworden war (zwar nicht lange geblieben ist, aber
einige Zeit lang war und sogar sehr führend und wichtig war. Zumindest in Malerei und Bildhauerei.
In der Musik ist es nicht so, dass sie bis 1900 etwas dargestellt hatte – sie war immer schon
abstrakter und selbstbezüglicher. Auch in der Literatur ist es zwiespältig. Richtig funktioniert das
Argument nur im Bereich der Malerei und Bildhauerei)
Wenn man den Ansatz von Eisenman mit einer ähnlichen ästhetischen Haltung vergleicht, wie sie im
Kunstkritik/Kunsttheorie existiert. Man findet Kritik als rein formale formalistische Beschäftigung mit
den eigenen künstlerischen Mitteln wie es die abstrakte Kunst getan hat. Eisenman macht zwar
etwas ganz ähnliches, das wurde aber schon in den 50ern von dem amerikanischen Kunstkritiker, und
einflussreiche Apologet des abstrakten Expressionismus (Verteidiger einer bestimmten Philosophie)
Clement Greenberg formuliert.
Architekturtheorie Heute [61 / 93]
Für Greenberg kulminierte die Geschichte der Malerei mit der Gegenstandslosigkeit, weil erst in ihr
Emmanuel Kants Konzept von Kritik als kritische Selbstreflexion voll zum Tragen gekommen sei. Im
Falle der Malerei sei dies die Selbstreflexion der künstlerischen Mittel – nämlich Zweidimensionalität
und flächiger Farbauftrag. In seinem Text ‘Modernistische Malerei‘ der 1960 erschienen ist, schreibt
Greenberg:
‘…Modernismus [in der klassischen Übersetzung, also Moderne] nenne ich die Steigerung, ja
die radikale Zuspitzung dieser selbstkritischen Tendenz, die mit dem Philosophen Kant ihren
Anfang nahm. Kant hat als erster das Instrumentarium der Kritik selbst einer Kritik
unterzogen, und daher halte ich ihn für den ersten wirklichen Modernisten. Das Wesen des
Modernismus, wie ich ihn verstehe, liegt darin, dass die spezifischen Methoden einer
Disziplin zur Kritik dieser Disziplin verwendet werden - und zwar nicht, um sie aus den Angeln
zu heben, sondern um sie in ihrem Zuständigkeitsbereich noch sicherer zu verankern…‘
Kant hat ja bekanntlich mit seiner Kritik der reinen Vernunft versucht das Instrumentarium des
Denkens - also das, was die Menschen überhaupt erkennen können - mit Hilfe dieses
Instrumentariums zu untersuchen und deshalb auch die Grenzen des Denkens und des Erkennens
abzustecken. Er hat also das Instrumentarium der Kritik selbst einer Kritik unterzogen: das Denken.
Greenberg:
‘… Wie sich sehr bald erweisen sollte, war der eigentümliche, angemessene
Zuständigkeitsbereich jeder Einzelkunst identisch mit allem, was die Eigentümlichkeit ihres
Mediums ausmachte. [Hier kommt er von Kant wieder zur bildenden Kunst] Die Selbstkritik
erhielt nun die Aufgabe, unter den Wirkungen einer bestimmten Kunst all diejenigen
auszuschließen, die womöglich dem Medium einer anderen geschuldet waren. Damit sollte
Kunst sich ‚rein‘ halten und auf diese ‚Reinheit‘ die Kriterien ihrer Qualität und
Unabhängigkeit gründen…‘
Das was Greenberg erzählt, ist eine bestimmte zielgerichtete Interpretation der modernen Kunst,
deren Ziel es schon im 19. JH gewesen ist, sich zu reinigen. Das heißt mit dem jeweils eigenen
künstlerischen Mittel zu thematisieren; es in den Vordergrund zu stellen und all das auszuschließen
und wegzulassen was allen anderen Medien geschuldet ist.
In der Malerei zum Beispiel der Raum. Das ist etwas, was Architektur oder Bildhauerei angeht aber
nicht die Malerei. Die Malerei ist das Auftragen von Farbe auf eine Fläche - das ist das spezifische.
Deshalb ist es laut Greenberg richtig, dass die Malerei erkennt, dass sie eine Flächenkunst ist. Das sie
auf einem falschen Weg war, als sie versucht hat mit Zentralperspektiven u.Ä. einen
tiefenräumlichen Illusionismus herzustellen. Die Aufgabe wäre gewesen, flächig zu sein.
Wenn man die Geschichte der modernen Malerei anschaut sieht man das: plötzlich, zu
Mitte des 19 JH tritt zum Beispiel Edouard Manet auf (Gründervater der modernen Malerei) der
unverschämt flache Bilder malt - so flach wie eine Spielkarte, kein Hintergrund. ‘Der Pfeifer‘, 1866 ein Knabe einer Militärmusikkapelle steht in einem leeren Raum - auch sein Kostüm ist so gemalt als
wäre er kein Mensch sondern ein flächiges Wesen. Das war der erste revolutionäre Schritt hin zur
Flächigkeit in der Malerei.
Dann kommen Impressionisten in den 1870ern. Claude Monets berühmte Bild gab der Strömung
den Namen: ‘Impression. Sonnenaufgang‘. Zeitgenossen verstanden es erst nicht - es sei nichts mehr
dargestellt, man sähe nur noch Pinselstriche, sie konnten diese Form der repräsentativen also
darstellenden Kunst nicht mehr lesen - oder noch nicht. Sie haben nicht den Sonnenaufgang, die
Schiffe, das Wasser, den Himmel gesehen, sondern Farbkleckse und Pinselstriche. Greenberg sagt,
das ist gut so, denn das was Monet zeigt, ist das eigentliche künstlerische Medium der Malerei, der
Pinselstrich. Und dann sieht man erst, was der Pinselstrich darstellt.
Architekturtheorie Heute [62 / 93]
Wenn man noch radikaler werden will, kommt man in das Reich der gegenstandslosen und wirklich
rein modernen Kunst. Beispiel: ‘1. abstraktes Aquarell‘ von Wassily Kandinsky um 1910 wo man nur
noch mit Farbflecken mit Strichen, Kringel, Klecksen zu tun hat, die nichts mehr darstellen. Man kann
vielleicht etwas hinein fantasieren aber der Bereich der gegenstandslosen Kunst ist erreicht, die nun
nur noch die eigenen künstlerischen Mittel reflektiert und zur Darstellung bringt. Man könnte
behaupten, es gibt im Gemälde einen Schwerpunkt in der Mitte, es gibt einen Rand, alles strebt ins
Zentrum, es gibt Bewegung, es gibt noch etwas Außermalerisches. Also Erzählerisches und Raum sind
eliminiert, aber die Bewegung ist noch da.
Der letzte Schritt wäre dann der von Kasimir Malewitsch der 1915 das ‘Schwarzes Quadrat auf
weißem Grund‘ nennt, Flächigkeit Bewegungslosigkeit und die bloße Ruhe – wo nur noch der reine
Farbauftrag, schwarze Farbe auf weißem Grund, zu sehen ist – wo die Malerei als Medium ganz zu
sich gekommen ist. Alle anderen Eigenschaften die sie anderen Kunstrichtungen verdankt, wie
Literatur, Architektur, Bildhauerei, Musik, Tanz wurden eliminiert es ist nur noch reine Malerei.
Eisenman will dieses Gedankenmodell von Greenberg veranschaulichen. Greenberg hatte nicht
definiert was danach kommt. Wenn Malerei ihre eigenen Mittel so reflektiert dargestellt hat wie von
Malewitsch, was kann Malerei dann überhaupt noch tun? Es gab in den 50ern die Colorfield-Malerei
für die Greenberg geschwärmt hat, danach kam plötzlich die Popart – die alles was ausgeschieden
wurde, wieder herein gebracht hat. Und dann die ganze ordinäre und geschmacklose Populärkultur,
was Greenberg überhaupt nicht verstanden hat und als eine Art Abkehr vom rechten Weg empfindet.
Wenn man zu Eisenman zurück geht, hat er (ähnlich Greenberg) aus der Architektur alles
ausgeschieden was scheinbar nicht unmittelbar architektonisch ist. Er hat auch das ausgeschieden,
was den politischen Kontext betrifft. Es gibt ein Buch von ihm, über die Casa del Fascio von Giuseppe
Terragni. Das Gebäude ist die Parteizentrale der faschistischen Partei in Como. Terragni hat versucht
den Faschismus, so wie er ihn verstanden hat, in diesem Gebäude zum Ausdruck zu bringen – er ist
nicht unabsichtlich dahingehend interpretiert worden o.ä. weil er ein modernes Gebäude hin gestellt
hat, Terragni war aber selbst ein Faschist. Er hat in dieser sehr modernen Architektur versucht
Faschismus eine Sprache zu geben und in Architektur zu übersetzen. Es ist ein historisches Faktum,
dass moderne Architekten teilweise rechtsradikal waren, es ist nicht zu leugnen, dass aus ihrer Feder
dennoch gute Architektur entstanden ist. (nach dem Motto Steine, Beton, Glas haben keine
politische Meinung)
Eisenman hat im Buch den politischen Inhalt in Luft aufgelöst. Danach bleibt die Casa del Fascio als
ein rein modernes Formproblem übrig, Politik hat mit Architektur nichts zu tun. Der Frage eines
möglichen Zusammenhanges von Geometrie und Totalitarismus oder von Moderne und Faschismus,
hat er sich in der Analyse nicht gestellt.
Auch wenn man feststellen muss, das Eisenmans Formalismus dazu geführt hat, dass ihm (und mit
ihm der gesamten critical architecture seitens ihren natürlichen Bündnispartners, der Kunst) die kalte
Schulter gezeigt wurde so sollte man laut Wagner nicht in das allgemeine Eisenman-bashing
einsteigen.
Wagner: Zu Eisenmans Verteidigung kann man seinen Versuch, durch einer der Kunst entlehnten,
autonomen Haltung, Widerstand zu zeigen, nicht ganz so einfach vom Tisch wischen.
Dazu kann man keine seht aktuelle wichtige aus den späten 60ern Position heran ziehen: Theodor W.
Adornos Versuch, sich sowohl von der bürgerlichen unpolitischen Immanenz-Ästhetik des Westens
als auch vom sozialistischen Realismus des Ostens abzugrenzen.
Adorno ist einer der bedeutendsten Vertreter der Frankfurter Schule - einer linken neomarxistischen
Richtung innerhalb der deutschen Philosophie - ein Ästhet höchsten grades. Sein letztes Werk
‘Ästhetische Theorie‘ ist eine Reihe von Vorlesungen, es ist 1970 posthum erschienen.
Architekturtheorie Heute [63 / 93]
Er steht als linker Philosoph in den 60ern im Dilemma, dass er die (abstrakte gegenstandslose) Kunst
des kapitalistischen Westens aus ästhetischen Gründen schätzt, aber aus politischen Gründen kritisch
gegenüber steht - andererseits die offizielle Kunst des Ostens die ihm aus ideologischen Gründen
näher sein müsste, er aus ästhetischen Gründen ablehnt – das ist für ihn Kitsch.
- Westlich kapitalistische abstrakte Kunst, vertreten durch Jackson Pollock mit seinen drip-paintings.
Das freie Individuum wird gefeiert, um 1948. CIA unterstützte ihn ohne dass er es wusste, weil man
damit die Massage des freien Individuums, des Liberalismus sehr gut veranschaulichen konnte.
- Im Osten galt seit Stalin die Doktrin des sozialistischen Realismus, der gar kein Realismus im Sinne
von Wiederspiegelung der Zustände war, sondern ein Idealismus. Hier wurde dargestellt wie es sein
könnte, wie es sich die Parteiführer vorgestellt haben, also klassischer Kitsch.
Als Beispiel die ‘U-Bahn-Arbeiterin‘ von Alexandr Samochwalow von 1937 mit dem auf das riesige
Bauprojekt der Moskauer U-Bahn angespielt wird. Eigentlich wurde es von vielen Zwangsarbeitern
gebaut, die dabei elendig zu Grunde gegangen sind - dargestellt wird eine herkulische Arbeiterin, auf
die Gleichberechtigung der Geschlechter abzielend die in der Sowjetunion zu einem sehr hohen
Maße erreicht worden war. Eine kraftstrotzende Arbeiterin mit einem Presslufthammer in der Hand mit Faltenwurf wie eine Göttin dargestellt, den Blick in die Zukunft gerichtet. Eine hemmungslose, die
Grenze zum Kitsch übersteigende Ideologisierung, eines in Wirklichkeit ganz anders realisierten
Projektes. Adorno lehnt das ab - mit dem kann er als Ästhet nichts anfangen.
- Der Osten, die offizielle marxistische Kunstpolitik hat dem Westen und Pollock vorgeworfen, es sei
nur Formalismus. Das sei bürgerliche ästhetisierende formalistische Kunst die keine Aussage habe,
während der Osten sich mit Arbeiterschaft beschäftige, mit den Problemen der Menschen und diese
Kunst von den breiten Massen verstanden würde. Diese Argumente hört man immer wieder, derzeit
von der FPÖ die genau diese Argumente der Stalinisten wiederholt.
- Die Kunst muss den breiten Massen verständlich sein, nur dann kann sie gut sein, nur dann kann sie
politisch wirksam sein. Das Problem, das Adorno als ein marxistischer Philosoph hat ist, wie eine
gesellschaftspolitisch aktive linke Kunst aussehen kann, die nicht den Weg des sozialistischen
Realismus geht, und die aber ästhetisch ungefähr dort angesiedelt ist, wo Pollock ist (dem von
systemtreuen sowjetischen Kritikern vorgeworfen wird, er wäre nur ein Formalist)?
Gegenmodell des sozialistischen Realismus ist laut Adorno zweckgerichtet, also nicht autonom Autonomie ist für ihn ein unabdingbarer Bestandteil der Kunst. Das, was Samochwalow macht, hat
mit autonomer Kunst, und damit mit Kunst nichts mehr zu tun.
Kunst begreift Adorno sowohl als autonom, als auch gesellschaftspolitisch bestimmt. Er versucht
einen interessanten Spagat. Das gilt für Adorno für die abstrakte Kunst: ‘Die Grundschichten der
Erfahrung, welche die Kunst motivieren, sind der gegenständlichen Welt, vor der sie zurückzucken,
verwandt. Die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die
immanenten Probleme ihrer Form. Das, nicht der Einschuß gegenständlicher Momente, definiert das
Verhältnis der Kunst zur Gesellschaft.‘ (aus Ästhetische Theorie)
Also Formprobleme erscheinen bei Adorno als quasi sublimierte gesellschaftliche Probleme. Man
kann sich fragen, kann solche Kunst die gesellschaftliche Probleme in eine abstrakte Sprache kleidet,
wie es Pollock angeblich gemacht hat, überhaupt noch gesellschaftlich wirksam sein? Wenn man
nicht mehr versteht was eigentlich gesagt werden will, erreicht einen die Botschaft ja nicht. Worin
liegt die gesellschaftspolitische Sprengkraft eines von Pollock gemalten Bildes?
Adorno Antwort aus Ästhetische Theorie:
‘…Gesellschaftlich ist die Kunst (...) durch ihre Gegenposition zur Gesellschaft, und jene
Position bezieht sie erst als autonome. Indem sie sich als Eigenes in sich kristalliert, anstatt
bestehenden gesellschaftlichen Normen zu willfahren und als ‘gesellschaftlich nützlich’ sich zu
qualifizieren, kritisiert sie die Gesellschaft, durch ihr bloßes Dasein (...) Das Asoziale der Kunst
ist bestimmte Negation der bestimmten Gesellschaft (...) Soweit von Kunstwerken eine
gesellschaftliche Funktion sich prädizieren lässt, ist es ihre Funktionslosigkeit…‘
Im Hinblick auf Eisenman könnte man in diesen Text anstatt Kunst immer Architektur einsetzten.
Architekturtheorie Heute [64 / 93]
Das ist der Stachel im Fleisch der Gesellschaft. Wenn der Spießbürger ins Museum geht und dort ein
Kunstwert sieht, das er nicht versteht, dann ist das etwas was ihn beunruhigt, was ihn in seiner
gesicherten Position hinterfragt und untergräbt und insofern gesellschaftspolitisch wirksam ist - das
Zweckfreie das Asoziale der abstrakten Kunst ist ein höchst politische Sache.
Wenn sich die Kunst aber direkt politisch engagiert, also Helden der Arbeit portraitiert, betreibt sie
Sozialreportage und verliert laut Adorno zugleich mit der Autonomie ihren Kunststatus. Sie büßt auch
ihre gesellschaftliche Wirkung und analytischer Potenz ein - nur formal anspruchsvoller Kunstwert
kann die Komplexität der gesellschaftspolitischen Zustände richtig erfassen.
Im Prinzip hat Eisenman versucht, ein paralleles Konzept wie das von Adorno in die Architektur zu
übertragen. Das diese Unverständlichkeit, das Asoziale, das Dysfunktionale zum Beispiel dieses
Spaltes im Schlafzimmer des ‘Frank house‘ etwas ist, was im höchsten Maße politisch verstanden
werden kann, und nicht nur als formalistisch. Man beschäftigt sich mit den eigenen Bedingungen –
was ist die Architektur, welche Sprache, Grenzen, Möglichkeiten hat sie. Sondern etwas, was er
selber formuliert hat: dass die Architektur die jeweilige Kosmologie darzustellen habe. Das kann man
auf die gegenwertigen gesellschaftlichen Zustände herunter brechen.
13. „Green Architecture“
Dieses Thema prägt den Architektur Diskurs der letzten 10-15 Jahre tiefgreifend und wird ihn auch
weiterhin prägen. Die Grüne Architektur inklusive der Themen Nachhaltigkeit Ökologie etc.
Zu diesem Thema die Empfehlung zweier Texte:
- Anselm Wagner ‘Inside the Green Room: The Ideology of Nature in Contemporary Architecture‘
(Im Grünen Zimmer. Die Ideologie der Natur in der zeitgenössischen Architektur) Es geht um die
Hypernatürlichkeit der Natur, Tiere und Pflanzen werden selbst Kunstwerke - sind künstlich und die
natürlich miteinander verbunden? Aktuelle Diskurse der "Natur" und des "Natürlichen":
Nachhaltigkeit wird aus kritischen Perspektiven betrachtet, die die Bioethik, die
Pflanzenphänomenologie und die globale Erwärmung einbeziehen. Traditionelle Genres die Natur in
der Kunst darstellen (Landschaftsbilder, Erdarbeiten und Ökokunstprojekte) werden bis heute
fortgesetzt. Die gegenwärtige Praxis bringt unerwartete Materialien, hoch technologische
Instrumentierung und Kooperationen zwischen Künstlern, Designern und Wissenschaftlern mit sich.
Polemisch, kritische Perspektive auf Ökoplanung von Erik Swyngedouw, ‘Öko-Planung? Ökologie –
das neue Opium für das Volk‘
Der Untertitel ‘Ökologie - das neue Opium für das Volk‘ ist ein Zitat nach einer Aussage des
neomarxistischen Philosophen Alain Badiou aus einem Interview in Paris von 2007
‘…Beginnen wir mit der Behauptung, dass nach ‚den Menschenrechten‘ nun die ‚Rechte der
Natur‘ eine Art modernes Opium für das Volk darstellen. Es ist eine nur schwach getarnte
Religion ... Eine gigantische Operation zur Entpolitisierung bestimmter Themen…‘
Der Begriff ’Opium für das Volk‘ stammt aus der marxistischen Theorie, zuerst von Marx dann von
Lenin aufgegriffen, kommt er aus der marxistischen Religionskritik. Ursprünglich heißt es ‘Religion ist
das Opium des Volkes‘. Der Hintergrund ist es eine Revolution zu verhindern: Menschen die in
schlechten Lebensbedingungen leben und unterdrückt werden von Menschen die alles an sich reißen
sollen keine Revolution anzetteln; nicht auf größere Gerechtigkeit pochen. Sie werden vertröstet auf
ein besseres Jenseits, auf ein Leben nach dem Tod aufgrund der Religion hoffen. Menschen werden
eingelullt, akzeptieren ihre Position und versuchen ihr Leben nicht schon vor den tot zu verändern.
Badiou überträgt das auf den Ökologiediskurs von heute.
Architekturtheorie Heute [65 / 93]
Tatsächlich ist es zunächst so, dass der Ökologiediskurs der herrschende Diskurs überhaupt ist – er
erfasst alle Lebensbereiche und beherrscht sie. Es ist beinahe unmöglich ihm auszuweichen oder ihn
kritisch zu sehen – etwas gegen Naturschutz/Nachhaltigkeit/Ökologie, also für Ressourcenverbrauch
zu sagen. Beinahe so unmöglich, wie zum Beispiel im Mittelalter zu sagen, dass es keinen Gott gibt,
dass die christliche Religion ein Irrweg ist.
Der Ökologiediskurs ist ein herrschender Diskurs, der nicht hinterfragt oder von außen kritisch
betrachtet werden kann – niemand kann etwas gegen Nachhaltigkeit haben oder sagen - man kann
dagegen handeln (im Christentum kann man ja auch sündigen) aber in der Theorie bzw. im Diskurs
muss an dieser Wahrheit festgehalten werden. Dieser Aspekt an der Aussage ist also richtig.
So wie in der Moderne alles hygienisch und im Mittelalter alles religiös war,
so muss jetzt alles ökologisch oder nachhaltig sein.
Es ist also in höchstem Maße normativer und moralischer Diskurs, der von bestimmten Begriffen
beherrscht wird, die positiv besetzt sind und ebenfalls nicht hinterfragt werden dürfen und können
(weil sie emotional enorm aufgeladen sind - das was in der religiösen Gesellschaft der Begriff Gott ist,
ist heute der Begriff Natur).
Erik Swyngedouw verweist in seinem Text auf ein sehr provokantes und interessantes Buch von
Timothy Morton ‘Ecology without Nature: Rethinking Environmental Aesthetics‘ das 2007
erschienen ist. Morton stellt die These auf, dass der eigentliche Hinderungsgrund dafür, dass
Industriestaaten ökologisch handeln der Naturbegriff ist. Er greift philosophisch weit zurück in
Renaissance und die Romantik wo der Naturbegriff das erste Mal als der höchste Begriff überhaupt
definiert wird (Slogan ‘zurück zur Natur‘, Natur mutiert zu absolutem Maßstab) die Frage ist, was sich
hinter dem Begriff Natur verbirgt.
Morton beschreibt, drei Bedeutungen, die der Begriff Natur annehmen kann:
1. Funktion des Begriffes: das es sich um eine leere Metapher handelt, die alles benennen kann. Zum
Beispiel Mineralwasser, Olivenbaum, die Alpen, Liebe, Aidsvirus, Märkte, Geld - alles kann unter dem
Begriff Natur/natürlich summiert werden. Absolut gegensätzliche Dinge. Natur ist das was man gerne
hat, alles das was man nicht so gerne hat ist nicht Natur.
2. Natur bekommt die Kraft des Gesetzes, sie wird zu einer Norm von der es keine Abweichung geben
darf. Hier bekommt die Natur das, was früher als ‘Gottes Wille‘ bezeichnet wurde: die absolute nicht
hinterfragbare Norm. Man kann Gottes Wille nicht hinterfragen, das ist einfach so und das kann man
als Mensch nicht hinterfragen - auch wenn man es nicht versteht. Das kann sowohl für ökologische
Ziele aber auch für kulturelle, politische und ökonomische Praktiken eingesetzt werden.
Wenn es also z.B. um einen Identitätsdiskurs und die Homosexualität geht: Sie war bis in die 70er
auch bei uns per Gesetz verboten, weil es als unnatürlich abqualifiziert wurde. Wenn man
unnatürlich handelt, wird man auch bestraft - das Kennzeichen einer Minderheit gilt als unnatürlich
und ist strafbar weil Homosexualität von der herrschenden Mehrheit als etwas unnatürliches
gesehen wird. Natur wird hier also gleichgesetzt mit der Norm die ich nicht weiter hinterfragen muss.
Alles was der Norm nicht entspricht, wird sanktioniert und kann verfolgt werden.
3. Natur als das ideale Andere – also eine Projektion aller unserer libidinösen Wünsche und Ängste.
Natur ist die einsame Insel, der wildromantische Wildbach, die Alpen eine Art paradiesischer
natürlicher Urzustand. In dieser Hinsicht hat Natur in der europäischen Geistesgeschichte eine lange
folgenreiche Tradition.
Wenn man alles zusammennimmt sagt Morton, tendiert der Unterbegriff dazu ein Werkzeug zu sein,
um sich im eigenen Handeln und Denken gegen Kritik von außen zu immunisieren und damit die
hegemoniale (vorherrschende) Diskurse dementsprechend abzusichern und die Debatten zu
beenden.
Architekturtheorie Heute [66 / 93]
Über das was natürlich ist, was für die Natur notwendig und gut ist, kann man nicht diskutieren –
auch über Nachhaltigkeit nicht. Darüber wie man den Zustand der Nachhaltigkeit erreicht - was ein
besserer oder schlechterer Weg dahin ist schon, aber das Prinzip als solches steht nicht zur Debatte.
Man kann sagen, dass die Natur eine Kraft ist, die uns zwingt Dieses zu tun und Jenes zu lassen. Oder
eben wie Alain Badiou sagt
‘… die Rechte der Natur sind eine schwach getarnte Religion, eine gigantische Operation zur
Entpolitisierung bestimmter Themen…‘
Er meint damit, dass seitens herrschendender politischer Kräfte eine bestimmte Politik vertreten
wird, die immunisiert wird indem sie mit den Rechten der Natur und dem, was Natürlich, Notwendig
und Nachhaltig ist übereinstimmt. Sie kann nicht mehr kritisiert werden.
Man muss/kann also von einem Evangelium der Natur oder einem Evangelium der Nachhaltigkeit
sprechen. Ein Evangelium an das mittlerweile Alle glauben, auch die Architekten wurden zu 100%
dazu bekehrt. Wir haben gelernt, dass Gebäude 40% des CO2 Ausstoßes produzieren, 50% des
globalen Energiekonsums und 60% des ganzen Abfalls der Welt. Deshalb wird in der Architektur der
Moderne Slogan ‘form follows function‘ ersetzt durch ‘form follows energy‘. Low energy, plus
Energie, null Energie und passiv Häuser, dominieren den populären architektonischen Diskurs.
In der Architekturtheorie der letzten 10 Jahre werden soziale, politische, symbolische, spirituelle
Bedeutungen von Architektur durch quantifizierbare Begriffe wie Energiebilanz, LifeCycle Analysis
etc. völlig an den Rand gedrängt. Die Qualität, die Bedeutung eines Gebäudes wird ausschließlich
über diese quantifizierbaren Kennwerte und Messwerte definiert, und alles andere erscheint
nebensächlich.
Ein gutes und deprimierendes Beispiel bietet die Anthologie ‚architectural theory II‘ von Harry
Francis Mallgrave aus dem Jahr 2005. Im letzten Kapitel ‘beyond the new millennium‘ behandelt er
die Zeit von 2000-2005, und die 11 Texte behandeln alle ökologische Themen - Architektur wird
darauf reduziert
An unserer Universität gibt es die ‘fields of expertise‘ eines davon ist sustainable systems.
Logischerweise ist die Architekturfakultät bei diesem Feld dabei - wir werden nicht gezwungen dabei
zu sein, sind aber dazu angehalten, unsere Forschungen in diese Richtung zu leiten. Wenn ich in
diese Richtung forsche wird es von der Universität finanziert, sonst muss ich selbst schauen wie ich
zu meinem Geld komme.
Zum Begriff der Nachhaltigkeit: Die Bedeutung ist interessant, weil Nachhaltigkeit eigentlich
ein Problem zu lösen versucht, dass rein technisch eigentlich nicht lösbar ist.
Der zeitgenössische Gründiskurs/ Ökologiediskurs beginnt in den frühen 70ern als 1972 der ‘Club of
Rome‘ den berühmten Bericht ‘die Grenzen des Wachstums‘ (the limits of growth) veröffentlicht hat.
Darin wurde festgehalten und durch Modellanalysen untermauert, dass wenn wir mit unserem
Ressourcenverbrauch so weiter machen, spätestens im Jahr 2050 die Grenzen des Wachstums
erreicht sind. Das war ein unglaublicher Schock, der Bericht kam zufällig zur selben Zeit der
Energiekrise heraus. Die führenden Ölförderer haben den Erdölfluss zugedreht und die Ölpreise
explodierten. Bis dahin ging man davon aus, dass das Wirtschaftswachstum unendlich sei.
Der Kapitalismus beruht auf dem Diktat, dass die Wirtschaft wächst. Es ist nicht vorgesehen, dass die
Wirtschaft gleich bleibt/stagniert - sie kann aber schrumpfen, dann landet man bei
Massenarbeitslosigkeit und großem Elend. Um das zu verhindern muss die Wirtschaft wachsen, was
mit sich bringt, dass der Ressourcenverbrauch steigt. Ich muss jedes Jahr mehr Erdöl fördern und
verbrauchen damit die Wirtschaft wächst.
Architekturtheorie Heute [67 / 93]
Wenn man nun feststellt - was logisch ist aber verdrängt wurde - dass die Ressourcen auf einem
begrenzten Planeten auch begrenzt sind, muss irgendwann der Plafond (die Obergrenze) erreicht
sein. Das Konzept des Kapitalismus verträgt sich nicht mit der irdischen Bedingung, dass wir auf
einem begrenzten Planeten wohnen. Die Lösungen könnten zweierlei sein:
- Ich brauche alternatives Konzept zum Kapitalismus - ein Wirtschaftskonzept, das nicht auf
permanenten Wachstum und steigenden Ressourcenverbrauch beruht. Aus naheliegenden
politischen Gründen will man diesem Konzept/erfolgreichen System festhalten. Vor allem seit 89 als
der Kapitalismus nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion weltweit triumphierte und man
gesehen hat, dass er eigentlich gut funktioniert. Es wird immer wieder bestätigt, dass der
Kommunismus NICHT funktioniert aber im Großen und Ganzen schon funktioniert. Er entwickelt eine
Dynamik, die Erfolgsgeschichte des Westens der letzten 200 Jahre ist ohne Kapitalismus ja gar nicht
erklärbar.
- Diesen Wiederspruch zu klären - dass man nicht ständig wachsen kann wenn wir nur begrenzte
Ressourcen zur Verfügung haben - das ist das Konzept der Nachhaltigkeit.
Dieses Konzept beinhaltet vereinfacht, dass ich mit bestimmten technischen Verbesserungen, die
immer wieder angepasst werden müssen, ein Wirtschaftswachstum fortsetzten kann und zugleich
den Ressourcenverbrauch vermindere – ein Nullsummenspiel muss herauskommen, ein NullRessourcenverbrauch.
Zum Beispiel in der Forstwirtschaft wo es naheliegend ist: Ich kann als vorausblickender Forstwirt nur
so viel Holz abholzen wie auch nachwächst – wenn ich den gesamten Wald rode, hab ich kurz ein
gutes Geschäft aber danach nichts mehr. Übertragen auf globale Verhältnisse bedeutet das, dass
jede Generation nur so viele Ressourcen verbrauchen darf, dass die nachfolgenden Generationen
nicht weniger Ressourcen vorfindet als wir selbst.
Weil aber der Ressourcenverbrauch durch das Wirtschaftswachstum mit steigt, müssen wir uns
technologisch ständig anpassen. Wir müssen aus weniger Energie immer mehr Effekt und erbringen.
- Ein anderes System als den Kapitalismus zu erfinden, wäre eine politische Entscheidung. Diese
Entscheidung wird aber nicht getroffen. Die Rettung der Menschheit wird anders delegiert, an die
Techniker - die werden das schon schaffen, dass wir wachsen können und dabei weniger Ressourcen
verbrauchen.
Das wird von linker Seite kritisiert (Badiou = neomarxistischer Philosoph). Ökologie- und
Nachhaltigkeitsdiskurs verhindern das darüber diskutiert wird, dass an unserem System etwas faul
ist. Die Augen und Ohren werden verschlossen, weil uns eingetrichtert wird, dass wenn wir
Nullenergiebilanz und Passivhäuser und Joghurt selbst produzieren und Energie mit Solarpaneelen
dann geht das schon weiter so wie wir es bis jetzt gewohnt sind, wir müssen nicht verzichten oder
teilen. Das ist die Fundamentalkritik von marxistischer Seite am Nachhaltigkeitsbegriff. Opium für das
Volk, damit man nichts verändern muss.
Wagner dazu:
In dem Zusammenhang ist sehr interessant, dass der hochidealistische, schwammige Naturbegriff
heute in der Architektur aufgegriffen wird als etwas unglaublich positives, damit man damit die
eigenen Ideen sehr gut vermarkten kann.
Man kann in der gegenwärtigen Architektur ganz gegensätzliche Strömungen vorfinden, die von
ihrem architektonischen Ansatz überhaupt nichts miteinander zu tun haben, die aber alle in den
Naturbegriff hineinmünden. Alle sind irgendwie natürlich oder zumindest grün.
Architekturtheorie Heute [68 / 93]
Ein extremes Beispiel von Mitchell Joachim der am MIT lehrt: Er hat 2008 dieses ‘Fab Tree Hab‘ im
MOMA gezeigt (wenn etwas im MOMA gezeigt wird, gibt es meistens einen Trend vor) Es soll den
Slogan ‘Don‘t build your home, grow it‘ illustrieren. Er schlägt vor, dass man die formale Zurichtung
von Pflanzen für Architektur einsetzen könnte. Einem jungen Baum/Strauch wird durch ein Korsett
eine Richtung vorgegeben, wenn das Korsett dann weg kommt, bleibt Baum so. Man könnte auch
Bäume dementsprechend konditionieren, dass sie ein Haus ergeben. Mitchell Joachim hat auch
vorgeschlagen, dass man menschliche Zellen, die Funktionen in einem Gebäude übernehmen
(Sehnen oder ein Schließmuskel als Schließmechanismen im Haus eingesetzt). Ein durch und durch
biologisches Gebäude, das wächst (bzw. im Labor gezüchtet wird) und wenn die Lebenszeit
abgelaufen ist, löst es sich rückstandsfrei wieder auf: Solarheizung, Regenwasser … hochkomplex und
durchaus einleuchtend.
Der Gedanke der dahinter steckt ist eine alte romantische Idee der Urhütte die schon bei Vitruv
gefunden werden kann. Interessant ist bei den futuristischen Ideen, dass sie sich an Jahrtausende
altes halten. Vitruv erzählt den Mythos von Entstehung der Architektur. Die Urmenschen haben aus
Bäumen/Baumstämmen und Zweigen die erste Urhütte gebaut. Sie haben in der Illustration des
Filarete aus dem 15 JH die Stämme abgesägt und woanders eingeschlagen, und aus Holz ein
künstliches Gebilde geschaffen.
300 Jahre später in einer Illustration von Charles Eisen wird anders dargestellt: vier Stämme die die
Ecken der Hütte bilden, sind gewachsene Bäume die die Natur bereitstellt. Auch das Dach wird von
der Baumkrone gebildet - ein Eingriff durch den Menschen - ein Querbalken wird dargestellt.
Der Menschheit, durch einen Knaben verkörpert, wird von der Natur gezeigt wie es funktioniert. Die
Natur sagt ‘schau, so macht mans‘ die Natur selbst hat dieses Gebäude errichtet. Das Ganze dient bei
Laugier als Fundamentalkritik der Architektur des Barock, sie solle wieder auf die Architektur der
klassischen Antike zurück greifen, sie sei die natürlichste. Die Architektur die im Wesentlichen aus
Säulen und Gebälk besteht, die einer Holzkonstruktion und nicht einer Steinkonstruktion ähnelt.
In diesem Beispiel sieht man, dass zur Legitimierung eines neuen Stils (in dem fall Klassizismus) die
Natur als das schlagende Argument herangezogen wird. Um einen Stil durchzusetzen sagt man, er sei
natürlich. Dasselbe passiert auch in der Architektur der heutigen Zeit.
Kritik am Naturbegriff.
Manchmal nehmen Naturmetaphern inflationäre, absurde Auswüchse in allen möglichen Bereichen
der Kultur an. Großer Streit in der österreichischen Sportwelt, weil die Skirennläuferin Anna
Fenninger für Mercedes Werbung macht. Der Konkurrent von Mercedes (Audi) ist einer der
Hauptsponsoren des Skiverbandes.
Das Werbeplakat zu dieser besagten Werbung ist sehr bemerkenswert: Anna Fenninger frontal als
black beauty – daneben mit einem Schnitt quer durchs Bild das neue Auto, dass auf einer Landstraße
im unterwegs ist. Es gibt zwei Teile, ein Model das den Betrachter anblickt der und ein Teil, der in die
Tiefe des Raumes geht - ein in die Gegenrichtung fahrendes Auto, man sitzt quasi schon drinnen. Die
Verbindung der Beiden vollkommen verschiedenen Bilder könnte man ohne den Text nicht
herstellen, sie wird über den Text hergestellt.
‘Atemberaubend in der Stadt, Raubtier in freier Wildbahn – [Auto-Name] erobert jedes Revier mit
einzigartiger Kraft, modernem Design und purem Instinkt‘
Was man noch nicht verstanden hat, ist was als dritte Komponente unsichtbar am Plakat anwesend
ist, das Raubtier. Fenninger engagiert sich für bedrohte Wildkatzen, das soll die Verbindung
herstellen – der normale Konsument versteht das Plakat aber nicht in diese Richtung, sondern sieht
den Sexappeal der attraktiven Skirennläuferin. Der wird übertragen auf das Auto übertragen, das
durch die ‘freie Wildbahn‘ fährt. Raubkatze ist eine alte sexistische Bezeichnung für eine
dunkelhaarige frau und das wird nun auf das Vehikel übertragen.. Das Auto ist so schnell wie ein
Raubtier, oder wie Fenninger am Berg. Das ergibt den Moment der Identifikation, der sich an den
männlichen Betrachter wendet.
Architekturtheorie Heute [69 / 93]
Es zeigt an einem durchschnittlichen Werbeplakat, dass sich Maschinen - egal wie umweltfeindlich mit solchen Unterbegriffen aufgeladen und dadurch attraktiv und sexy gemacht werden. Einer
Maschine wird etwas zugeschrieben, was eigentlich das Gegenteil von ihr bedeutet. Aspekte wie
Geschwindigkeit und Kraft lassen die Assoziation zu Wildtieren und Stromlinienförmige Eleganz zu
Frauenkörpern zu.
Was dahinter steckt, hat Roland Barthes schon vor 50 Jahren mit seinem Essay ‚Mythen des Alltags‘
beschrieben. Er beschreibt ein Zeichensystem, das darauf ausgerichtet ist gesellschaftliche
Widersprüche, Konflikte und Lügen die in einer Gesellschaft existieren, zuzudecken und sogar
plausibel erscheinen zu lassen. Solche Mythen finden vor allem in den Medien und der Politik statt.
Diese Widersprüchlichkeit - Naturnähe & Maschine - wird überdeckt durch Schnelligkeit und Wildheit
der Skirennläuferin und des Autos und der Raubtiere in freier Wildbahn. Das romantische Bild der
freien Wildbahn ist der Mythos, der in Städtern Sehnsucht auslöst. Nach Ursprünglichem,
Unverfälschtem, dem Freien, dem Wilden. Das Auto gibt uns große Freiheit, es wird hier als
natürliche Freiheit gesehen obwohl es alles andere als natürlich ist.
Amokfahrt in Graz
Ein Auto das zum Raubtier wird. Wahrscheinlich wäre es nicht möglich gewesen so einen Schaden
mit einem normalen PKW zu erzielen. Dieses Auto ist ein SUV, ein Fahrzeug das für Menschen
gemacht wurde, die in der Natur zu tun haben. Ein geländegängiges, robustes Fahrzeug mit AllradAntrieb, sehr stark, kleinere Wiederstände können ohne größere Beschädigung überwunden werden.
Ideal für Förster, Jäger, Wildhüter etc. Menschen, die in freier Wildbahn unterwegs sind.
In einem Interview in einer Zeitung zum Thema SUV hat ein Autodesigner gesagt, dass sich das Auto
selbst nicht so sehr dafür aber die Zielgruppe verändert hat. Früher war es etwas für Menschen am
Land, dann für das urbanisierte Bürgertum, mittlerweile ist es etwas für die breite Masse - weil das
Konzept es ermöglicht, zumindest in Gedanken dem Alltag zu entfliehen. Das SUV ist das Fahrzeug
des Eskapismus.
Die Kompakt-SUV haben einen höheren CO2 Ausstoß als div. Kleinwagen. Die höhere sitzposition
erschwert das Handling, und es lässt einen die Geschwindigkeit unterschätzen. SUV-Fahrer neigen
dazu, riskanter zu fahren weil sie das Gefühl haben in einer sicheren Burg zu sitzen.
Amokfahrten treten in den letzten Jahren häufiger auf in Europa (in Amerika eher mit Waffen. 1.
Weniger Fußgängerzonen in Amerika, 2. Zugänglichkeit zu Waffen). Ein SUV ist eine Waffe, die das
Gefühl des ‚Körperpanzer‘ erzeugt, zum Beispiel für Männer mit Identitätsproblem - wenn der Kern
weich und schwach ist, muss die Schale/der Panzer umso harter sein.
Beispiele, die nicht so offensichtlich das Naturargument in der
zeitgenössischen Architektur verwenden, wo es aber wenn man genauer
hinsieht vorhanden ist:
Schaulager von Herzog & De Meuron in Basel, erstellt 2003, Mischung aus Privatsammlung von
zeitgenössischer Kunst und Museum. Das Bauwerk ist ein geschlossener Baukörper mit einer
Schauseite, die sich bühnenartig, perspektivisch zur Straße hin öffnet - dort ist der Haupteingang.
Dort befindet sich ein kleines Häuschen mit einem verzogenem Satteldach. Es ist, wie der Verputz der
übrigen Seiten, direkt aus dem Lehm der ausgehobenen Baugrube erbaut worden – als wäre es direkt
aus dem Boden gewachsen. Das merkwürdige Häuschen ist sozusagen ‘gerahmt‘ wie ein Kunstwert,
das in seiner Einfachheit, Schlichtheit - aus dem Boden stammend - eine Variante der Urhütte sein
könnte; zugleich ist es ein ironischer Kommentar auf die Einfamilienhäuser die in der Umgebung
stehen. Das Häuschen wird natürlich und einfach dargestellt, durch den Rahmen aber ironisiert.
Architekturtheorie Heute [70 / 93]
Ähnlich ambivalent, aber weniger subtil, sind die Mountain Dwellings von BIG (Bjarke Ingels et al.) in
Kopenhagen die 2005-2009 erbaut wurden. Vororte bestehen meistens aus Einfamilienhäusern oder
Reihenhäusern - das sind eigentlich auch Einfamilienhäuser. Hier sind die Einfamilienhäuser aber
übereinander gestapelt. Es gibt einen Supermarkt und ein Parkhaus, wie es in Wohnsiedlungen üblich
ist. Das Parkhaus ist der Überlandstraße zugewandt und ist mit einem Abbild des Mount Everest
bedruckt. In Dänemark gibt es kaum Berge, den Mount Everest nach Kopenhagen zu bringen ist also
eine Art Scherz. Das ‘Berg‘-Thema wird hier auch vom Bauwerk übernommen, das die Terrassenform
hat. Das wird noch überhöht und ironisiert, indem man es in eine Beziehung zum Mount Everest
setzt, obwohl diese wilde Natur nichts anders ist als die Hülle für die Fahrzeuge die sich dahinter
stapeln.
Das Gebäude als Berg, wird metaphorisch und ironisch, in dem Projekt ‘Zira (Zero) Island‘ in
Azerbaijan von BIG von 2009 dargestellt. Ein Projekt für das Kaspische Meer, nicht verwirklicht
wurde. Auf einer Insel sollte eine Nullenergiestadt durch Solar und Wind entstehen. Die einzelnen
Gebäude und Gebäudekomplexe sehen aus wie Berge - eine eigene Landschaft wird hingestellt.
Aufgrund des ökologischen Anspruchs den die Gebäude haben wäre das gar nicht nötig für die
Visualisierung, die Symbolik ist es von großer Bedeutung: Nicht nur, dass es der Natur nicht schadet
und ihr nichts weg nimmt, es sieht auch noch so aus wie Natur.
Tatsächlich kann man auf den Dächern die wie Berge übereinander geschichtet sind herumwandern.
Wenn man genau hinschaut, sind das keine parametrischen Entwürfe, sondern bestehen aus
einzelnen, nach der euklidischen Geometrie zusammengesetzten Kuben und erzeugen erst in der
Gesamtheit diese natürlichen Formationen.
Das parametrische Entwerfen fühlt sich wirklich nahe am Puls der Ruhe der Natur. Eine Form wird
durch bestimmte Regeln oder aufgrund eines Algorithmus automatisch digital generiert, produziert.
Was ist daran das natürliche?
Parametriker verweisen auf das Buch eines Biologen/Morphologen von 1917: W. Thompsons ‘On
Growth and Form‘. Er versucht verschiedene Formen innerhalb einer Klasse von Tieren oder Pflanzen
plausibel zu machen; raus zu finden, wie diese Formen entstanden sind. Zum Beispiel Rückenschilde
verschiedener Krabben nebeneinander gelegt, sehen sie alle anders aus - eines oval, eines länglich.
Wenn man auf die Idealform von der er ausgeht ein Gitternetz legt und dieses Gitternetz morpht,
staucht und streckt, kommen verschiedenste Formen dabei heraus, die es in der Natur gibt. Die
Natur morpht - versucht mit bestimmten Parametern die einwirken zu einer Variation von Formen zu
kommen – die verschiedenen Formen haben ganz klare Formgesetze.
Später, in der digitalen Animationskunst spielt das eine große Rolle: organische Körper werden in ein
Gitternetz übersetzt. Wenn man das Netz versteht und die Daten verarbeiten kann, kann eine
Bewegung im Raum oder organische Veränderungen an den Körpern vorgenommen werden.
Greg Lynn, der als einer der Pioniere des parametrischen Entwerfen gilt, bringt das in seinem Buch
‘Animate Form‘ von 1999 so auf den Punkt: ‘animation implies the evolution of a form and ist
shaping forces‘ also die Animation impliziert die Evolution, die Entwicklung einer Form. Ein
organisches denken, das sich an natürliche Form so weit als möglich anlehnen möchte.
Greg Lynns Entwürfe ‘Embriological Housing‘ von 1997–2001 zeigen das auch: man kann nicht sagen
ob die Entwürfe es Naturform, Stein, Muschel, primitives Lebewesen oder etwas künstlich Erzeugtes
ist.
Die Ästhetik ist der Natur nahe - der Architekt entwirft ähnlich wie die Natur. Das wird von den
parametrischen Entwerfern als ein zentrales Argument der Rechtfertigung verwendet. Der Verweis
auf die Urhütte als Vorbild; der Bauplan der Natur.
Architekturtheorie Heute [71 / 93]
Ähnlich hier: Patrik Schumacher definiert in seinem Aufsatz ‘Parametricism – A New Global Style for
Architecture and Urban Design‘ von 2009
‘Aesthetically it is the elegance of ordered complexity and the sense of seamless fluidity, akin
to natural systems, that is the hallmark of parametricism‘
Also diese nahtlose Flüssigkeit - darum geht es. Darunter versteht man etwas natürliches, dadurch
kann man was Natürliches hineinlesen.
Die These von Schumacher (dem Chefideologen von Zaha Hadid) lautet, dass der von ihm verkündete
Parametrismus der neue Stil der Architektur und des städtischen Entwurfs des 21 JH wird. Er
behauptet, dass nach Gotik, Barock und Renaissance jetzt der Parametrismus kommt. Postmoderne
und Dekonstruktivismus waren laut ihm nicht nachhaltig. Ein Gedanke der sehr gewagt ist und den
außer ihm kaum jemand vertritt (nicht mal die Parametriker) Schuhmacher legt immer wieder ein
Schäufelchen nach, er hat 2010 folgendes geschrieben:
‘The cities of the future only can be sustainable if they become truly parametric.‘
Ein neuer Schritt, sich formal der Natur anzunähern und zu sagen, dass diese Architektur die er
entwirft ist eigentlich natürlich, so macht es auch die Natur. Er nimmt die nächste Stufe der
Argumentation und sagt, dass diese Art eigentlich die einzige nachhaltige ist. Damit schwingt er die
große Rechtfertigungskeule. Wenn man nachhaltig sein will, muss man parametrisch entwerfen.
Er versucht die Entwurfspraxis des eigenen Büros nicht nur mit der Vorbildlichkeit der Natur zu
rechtfertigen, sondern stellt auch einen hegemonialen Anspruch (einen Herrschaftsanspruch), dass
es eben nur so gehen kann.
Das totalitäre sieht man dem folgenden städtebaulichen Entwurf auch an: Zaha Hadid & Patrik
Schumacher haben 2006 einen Masterplan für eine Stadt in Istanbul entworfen. Die Ironie dabei
ist, dass das was wir normalerweise mit natürlichen Systemen verbinden, das Wachstum und das
Schrumpfen, die ständige Veränderung, bei einem solchen Entwurf unmöglich ist. Er suggeriert zwar
große Beweglichkeit, Fluidität, aber defakto kann man überhaupt nichts mehr daran ändern wenn die
Stadt so gebaut wurde. Jede Veränderung würde eine Störung des Flusses bedeuten – vor allem
wenn jemand auf die Idee käme, in einem anderen Stil weiter zu bauen - man kann nicht erweitern
oder dran bauen. Es ist wie eine große Skulptur die bereits fertig ist - man kann nichts dazu und
nichts weg tun. Das ist ein Problem parametrischer, organischer Architektur: die wesentliche
Eigenschaft die ein Organismus hat, nämlich wachsen, hat sie nicht. Bsp: Erweiterung Kunsthaus Graz
- daran würde man sich die Zähne ausbeißen.
Ein anderes Beispiel: SOMAs Entwurf für das Taichun Cultural Center in Taiwan mit dem Titel
‚Evolving Symbiosis‘ von 2013. Hier sieht man wie biologische Formen, Prozesse und an biologisches
erinnernde Phrasen alle Formen der sozialen Interaktion, Geschichte und Politik ersetzten. Ein
Kulturzentrum, das versucht in der paradiesischen Landschaft (Rendering mit Schmetterlinge - Kitsch)
die Sehnsucht nach dem Naturgarten, die Rückkehr in den Garten Eden zu verkörpern.
Die Projektbeschreibung ist sehr aufschlussreich, hat den erlöserhaften Ton der aktuellen
Architekturprosa:
‘The concept of symbiosis – which means the living together of unlike organisms – is a
pladoyer for cultural diversity and richness in a synergetic relationship with nature.
Symbiogenesis is the merging of organisms into a new species. Besides the idea of emergence
this provides not only an alternative view onto the past (evolution) but creates a new spirit for
the future – progress or evolution is not based on competition for resources but on networking
and cooperation. ‘
Also alle sind lieb; sie bilden Netzwerke, sie kooperieren; alles ist wunderschön, es kommt nicht vor
dass einer den anderen frisst. Die Natur ist also ein, an Kitsch nicht zu überbietendes, Paradies der
Wohlgefälligkeit, des Networkings, kein Wettbewerb, keine Ressourcenknappheit, kein ‘survival oft
he fitest‘ - ein rein friedliches Miteinander.
Architekturtheorie Heute [72 / 93]
Andere Naturbilder, Naturideen in der zeitgenössischen Architektur, positive
Beispiele wie man mit der Natur in Architektur umgehen kann.
Ein Projekt von R&Sie (Francois Roche), ‘(un)plug‘ ein Entwurf von 2001 für, das
Wolkenkratzerviertel am Stadtrand von Paris ‘la Defense‘. Ein Wolkenkratzer als aufgeständertes
normales Gebäude, aus dem nach und nach Warzen, Mitesser herauswachsen, um zusätzlichen
Büroraum zu schaffen. Die Erweiterung die für das organische bauen immer so ein Problem ist, wird
hier als Wucherung oder Krankheit in der Gebäudehülle definiert. Ein utopisches Projekt, das die
Ambivalenz des natürlichen beleuchtet - nicht nur das Schöne ist natürlich, auch das Ungute
hässliche, kranke – auch das, was totbringend ist.
Ein anderes Projekt von R&Sie: ‘I‘m Lost in Paris‘ an einem Hinterhof-Gebäude, 2008 umgesetzt.
Vollkommen zugewachsene Betonkonstruktion mit einer grünen Haut - wird oft als Stadtvision
genutzt. Wenn alle Gebäude so eine grüne Hülle hätten, wäre die Energiebilanz und das Klima in
Großstädten ganz eine andere - so einfach/naiv ist es nicht. Die Pflanzen hängen an einzelnen
Bewässerungssäcken, wo nicht nur Wasser, sondern auch Bakterien drinnen sind, die sukzessive dazu
führen, dass diese Pflanzen sterben. Bakterien sind auch ein Teil des Lebens, der Natur. Aus unserer
Perspektive mögen sie negativ sein, für die Natur sind sie nicht negativ. Auch eine Naturkatastrophe
ist für die Natur nicht negativ, sondern eine Umgruppierung der Spieler im Spiel. Darauf weist
Francois Roche mit seinen Projekten hin.
Projekt von Jean Nouvel: eine demonstrative, sehr schön anzuschauende, populäre Fassade am
Musée du quai Branly in Paris von, 2006. Das Verwaltungsgebäude des Museums hat eine grüne
Fassade bekommen (mit einem Maßstabssprung in den Fenstern – ein Fenster für zwei Geschoße
anstatt für eines). Der energetische aufwand der für so eine Fassade betrieben werden muss ist
ungleich höher als für eine konventionelle Fassade - die Energiebilanz ist dadurch fragwürdig. Sie ist
aber ein Symbol nach außen.
Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der österreichische Pavillon auf der Expo in
Mailand 2015, ‘Breathe Austria‘, der von der Gruppe ‘terrain: landscape urbanism‘ gewonnen wurde
(u.a. Loenhard)
Viele parametrische Entwürfe, die die Naturwüchsigkeit, das naturnahe parametrische Entwerfen als
architektonisches Ereignis inszenierten wurden eingereicht, die Jury wählte dennoch die Schlichte
natürliche Version. Architektur als Rahmen für Pflanzen – weg von gemorphter Naturform. Ein
aufgeständertes Gebäude mit geraden Flächen, das architektonisch eigentlich unspektakulär ist
Es geht um den Hintergrund: Ohne große maschinelle Eingriffe die Temperatur in diesem Pavillon um
ca. 5 Grad senken zu können - aufgrund der Bäume und Pflanzen (und durch den Sprühregen der
dort installiert wurde). Eine schwebende Box. Kein Natur-Nachahmendes architektonisches
Konstrukt.
Darum müsste es eigentlich gehen, wenn man sich mit Landschaft, mit Natur ökologischem Bauen
beschäftigt. Nicht auf symbolische Ebene die neue Urhütte entwerfen und so tun als wäre
Architektur etwas naturwüchsiges, sondern die eigentlichen Fragen die es angesichts einer nahenden
ökologischen Katastrophe zu beantworten gilt lösen.
Architekturtheorie Heute [73 / 93]
14. Architektur(theorie) im Zeitalter des Neoliberalismus
Gibt es einen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Theorien und Phänomenen? Also der
Postmoderne, dem Ende der Utopien, dem Dekonstruktivismus, dem Parametrismus, der ‘Bigness‘,
der ‘Generic City‘…? Handelt es sich dabei nur um unterschiedliche, teilweise antagonistische
(gegensätzliche) Phänomene, oder gibt es eine Gemeinsamkeit, ein gemeinsames ideologisches
Fundament auf dem alle Theorien fußen?
Dieses Fundament gibt es laut Wagner - um diese Theorien und die architektonische Praxis der
letzten 40 Jahre besser zu verstehen, sollte man diesem Fundament nachgehen.
Bei diesem Fundament handelt es sich um den Neoliberalismus. Eine Ideologie, die seit den 70ern im
Westen und seit 89 global vorherrscht. Sie hat alle Bereiche des Lebens komplett durchdrungen,
sodass wir es gar nicht mehr merken. Es wird immer wieder das Ende des Neoliberalismus
ausgerufen: kürzlich, als der Internationale Währungsfond (der als mächtigste Speerspitze des
Neoliberalismus gegolten hat) verkündete, dass er die Finanzpolitik der letzten Jahrzehnte ändern
will.
Sie bestand daraus, die Länder/die Regierungen dazu zu zwingen, die Investitionen zurückschrauben
und auf Privatisierung zu setzen. Die Finanzpolitik die betrieben wurde war verfehlt, die große
Wirtschaftskriese von 2008 wurde dadurch nicht bekämpft sondern verschlimmert. (an Griechenland
ist das gut sichtbar)
Man kann das Ende des Neoliberalismus aber nicht vorschnell ausrufen, denn er ist nicht nur eine
bestimmte Form von Wirtschaftspolitik, sondern die grundlegende Ideologie der heutigen Zeit.
Neoliberalismus geht also viel weiter als nur in den wirtschaftlichen Bereich.
Das macht es so schwierig - Neoliberalismus ist für uns was für die Fische das Wasser ist: Fische
haben keinen Begriff von Wasser, weil sie immer im Wasser leben, und wenn sie raus kommen, leben
sie nicht mehr allzu lang. Wir können uns unter einem Begriff nur etwas vorstellen, wenn wir eine
gewisse Distanz dazu haben, es von außen betrachten können. In der Wissenschaft ist das auch so:
Wenn man mittendrin ist, ist es umso schwieriger es zu erkennen - deshalb ist die Selbsterkenntnis
das schwerste überhaupt. Die Gesellschaft (Liebesbeziehungen, Kultur) ist nicht wirklich von außen
betrachtbar, deshalb erkennen wir vielleicht nur mangelhaft was das wesentliche unserer heutigen
Kultur, unserer Ideologie ist.
Ist es überhaupt sinnvoll oder erlaubt Architektur in einem Zusammenhang mit Ideologien oder
Politik zu sehen?
Eine umstrittene Frage. Es gibt viele ernstzunehmende, namhafte Theoretiker die der Ansicht sind,
dass Architektur mit Politik überhaupt nichts zu tun hat - Steine/Beton haben keine Ideologie (sie
können aber einer Ideologie dienen) Architektur per se ist dennoch etwas Unpolitisches.
Wenn man sich mit dem Verhältnis Neoliberalismus (als grundlegende politische Theorie) zu
Architektur beschäftigt, muss man deshalb zuerst die Frage beantworten, wie das Verhältnis von
Architektur und Politik ausschaut. Sollte sich die genannte These bewahrheiten, dass die Beiden
nichts miteinander zu tun haben, könnte man sich die Überlegungen zu Neoliberalismus und
Architektur gleich sparen.
Ein Beispiel das mit dem Neoliberalismus überhaupt nicht zu tun hat, aber das Verhältnis Architektur
und Politik sehr schön zeigt: Bei der Architektur-Biennale in Venedig vor 2 Jahren wurden im
österreichischen Pavillon kleine Modelle von allen Parlamenten/Abgeordnetenhäusern der Welt
gezeigt. Damit wurde sichtbar gemacht, dass dort abgelesen werden kann, wie in einem Land Politik
betrieben wird. Das wird in architektonische Formen gebracht. Es zeigt auch, wie sich die
Gesellschaften insgesamt durch die Politiker repräsentieren (Parlamente sind Repräsentantenhäuser,
repräsentieren das Volk, Entscheidungen sollen Volkswillen entsprechen)
Architekturtheorie Heute [74 / 93]
Beispiel: House of Commons in London im Palace of Westminster wo die Abgeordneten der
Regierungspartei und der Opposition einander gegenüber sitzen (das ist das Unterhaus, wo die
eigentliche politische Macht sitzt - das Oberhaus, das ‘House of Lords‘ verfügt über sehr geringen
Einfluss, Politik wird im Unterhaus gemacht)
Das ‘House of Commons‘, das in 1840ern erbaut wurde, ist im neogotischen Stil gebaut, es wurde
1941 von deutschen Bomben zerstört. Man hat sich Gedanken über einen Wiederaufbau gemacht –
denn 95% der Parlamente sehen anders aus, sie sind halbkreisförmig organisiert (auch der Plenarsaal
des österreichischen Nationalrates des Parlaments in Wien, der 1956 erbaut wurde) Im Sinne des
antiken Theaters haben die Abgeordneten gute Sicht aufeinander, ein Auditorium wo man auf den
jeweiligen Redner und auf die Leute auf der Regierungsbank guten Einblick hat.
Winston Churchill hat sich aber erfolgreich für den originalgetreuen Wiederaufbau des neogotischen
‘House of Commons‘ mit den gegenüberliegenden Sitzreihen eingesetzt. Er sagt, dass das britische
politische System mit einem sehr schroffem Gegenüber von Regierungspartei und Opposition einen
kongenialen Ausdruck in dieser räumlichen Organisation gefunden hat - die beiden Parteien sitzen
einander wirklich gegenüber und nicht vereint in einem halbrunden Parlament. Churchill war der
Meinung, dass die Sitzordnung und architektonische Konstruktion so bleiben muss.
Wenn man die Architektur, die räumliche Organisation ändern würde, hätte es Folgen für das
politische System. Er sagte in einer Rede 1943 ‘First we shape our buildings, then they shape us‘
(zuerst formen wir unsere Gebäude und dann formen sie uns)
Damit wird auf die simpelste mögliche weise das Verhältnis von Architektur und Gesellschaft auf
den Punkt gebracht. Architektur ist der Ausdruck einer Gesellschaft. Architektur formt die
Gesellschaft mit, sie ist Ausdruck der Gesellschaft.
Interessanter Weise, hat man in den letzten Jahren/Jahrzehnten mit dieser Frage überhaupt nicht
befasst. Es gibt aber eine Fülle an Literatur über Einfluss und Auswirkung von Neoliberalismus auf
Stadt, Siedlungskonzepte, auch auf städtische Ökonomie und soziale Prozesse innerhalb von Städten,
zum Beispiel Gentrifizierung, oder ‘gated communities‘, also Segregation (Reichere ziehen sich in
eigene Quartiere zurück, um geschützt das eigene Leben leben zu können ohne durch niedrigere
Gesellschaftsschichten, deren Nöte oder kriminelle Energien gestört zu werden) Das sind bekannte
Phänomene, die etwas mit dieser Neoliberalisierung zu tun haben und deshalb mit der Kritik daran
sehr oft angesprochen werden.
Die wichtigsten Impulse für eine Kritik der neoliberalen Stadt stammen vom Humangeografen David
Harvey, der sich aus einem neomarxistischen Standpunkt heraus mit kapitalistischer Geopolitik
beschäftigt hat. Hier ist zu nennen: ‘Kleine Geschichte des Neoliberalismus‘ von 2005 und später,
spezifischer ‘Räume der Neoliberalisierung. Theorie der ungleichen Entwicklung‘ von 2007
Das sind Texte, die sich aus einer geografischen oder soziologischen Sicht mit der Thematik befassen,
aber nicht aus einer Architekturtheoretischen.
Das haben Ana Jeinic/Anselm Wagner 2013 in Form eines Sammelbandes versucht, der aus einem
Symposium hervorgegangen ist. ‘Is there (Anti-)Neoliberal Architecture?‘
Das ist keine systematische Aufarbeitung der Thematik, sondern enthält Beiträge von 11 Autoren die
schlaglichtartig bestimmte Aspekte beleuchten. Wagner hat selbst in einem Essay die Frage
bearbeitet ‘Kann Architektur neoliberal sein?‘
Während die neoliberale Stadt als Phänomen klar erkennbar umrissen ist, scheint die neoliberale
Architektur weitgehend inexistent zu sein. Das ist interessant, weil sie bei älteren ArchitekturStrömungen mit dem jeweils herrschenden politischen System in Zusammenhang gebracht wird.
Architekturtheorie Heute [75 / 93]
Man spricht von Architektur des Absolutismus, Architektur des Feudalismus, sozialistischer
Architektur - beim eigenen politischen System fällt das aber anscheinend umso schwerer (es dürfte
damit zu tun haben dass der Fisch das Wasser nicht merkt in dem er schwimmt)
Es gilt, die grundsätzliche Frage genauer anzuschauen:
Wie einfach, wie schwer ist es, Architektur mit einer Ideologie gemeinsam in ursächlichen
Zusammenhang zu bringen?
Wenn man Architektur des Nationalsozialismus anschaut zum Beispiel. Das erste große öffentliche
Bauvorhaben von Nazideutschland 1933-37 in München ‘Haus der Deutschen Kunst‘ von Ludwig
Paul Troost - da war das der Wunsch von Hitler und Troost, dass der Neoklassizismus den man sich
ausgesucht hat, ein kongenialer Ausdruck der nationalsozialistischen Ideologie ist.
Eine Art Klassizismus, der sich an griechische Antike orientiert, aber nicht verwechselbar mit
Klassizismus des 18/19. JH ist - ist wesentlich härter, monumentaler, ernster, martialischer,
kriegerischer, wuchtiger als der ältere Klassizismus gewesen ist.
Das sieht man gut an den Säulenreihen, die keine Säulenreihen sondern eher Pfeiler auf einem
quadratischen GR sind. Das Kantige, Schwere wird viel stärker betont als im Klassizismus, wo runde
Säulen gewählt wurden. Das Ganze ist nur Kulisse, im Inneren ist es ein hochmoderner
Stahlbetonbau - alles ist mit Steinquadern verkleidet.
Es wäre aber falsch zu behaupten, das der Neoklassizismus ursprünglich etwas faschistisches ist,
denn er war in den 30ern in ganz Europa der Stil für offizielle Bauvorhaben - die internationale
Moderne die man generell im Sinn hat wenn man von der Zwischenkriegszeit spricht, war nur eine
Angelegenheit der Avantgarde. Der Neoklassizismus war aber, was die Quantität und die
Bedeutsamkeit der Bauwerke angeht, wesentlich wichtiger.
Weiteres Beispiel: Palais des Musées d’Art Moderne in Paris, 2 Jahre nach dem ‘Haus der Deutschen
Kunst‘, 1935 gebaut, auch hier hat man sich des Neoklassizismus bedient. Auch hier wurden die
Säulen in einem modernen Sinn purifiziert. Sie sind nicht mehr antik sind kreisrunde Schäfte die in die
Länge gezogen werden, ohne Kapitell o.ä.
Die Vereinfachung, die Reinigung der geometrischen Form, die ein generelles Zeichen der Architektur
des 20 JH ist. Sowohl für Nationalsozialistische Bauwerke, als auch für dieses Museum einer
französischen Demokratie. Neoklassizismus ist nicht gleich faschistoid oder totalitär, England und
USA haben auch in diesem Stil gebaut.
Umgekehrt gilt das auch nicht für die Moderne, auch darauf hat man einen zu idealistischen Blick.
Man glaubt vielleicht, sie war immer links, immer progressiv, auf der richtigen politischen Seite wenn man sich den ‘Pavillon des Deutschen Reiches‘ (Barcelona-Pavillon) von Mies v.d. Rohe
ansieht, der in Barcelona 1929 die Weimarer Republik repräsentiert hat, war das sicher das
modernste Gebäude seiner Zeit. Es sollte dementsprechend ein Bild für die Modernität,
Aufgeschlossenheit und Fortschrittlichkeit Deutschlands abgeben. Die Weltausstellung hat in einer
faschistischen Diktatur stattgefunden (Spanien war eine Militärdiktatur) Die Bauwerke die das
Regime errichtet hat, waren alle konservativ und reaktionär weshalb dieses Bauwerk ganz besonders
herausstach. Diese These bestätigt, dass ein Architekturstil mit der jeweiligen Ideologie nichts zu
tun hat.
Kurz darauf baut Giuseppe Terragni die ‘Casa del Fascio‘ in Como 1932. Das faschistische
Parteigebäude in Como, ein unzweifelhaft sehr modernes Gebäude (internationaler Stil,
durchgezogenes Rastersystem, Stahlbeton) Terragni war ein überzeugter Faschist und Anhänger von
Mussolini. Er hat das Gebäude als genuinen Ausdruck, als Materialisierung des Ausdrucks Mussolini
empfunden, der gesagt hatte der Faschismus sei ein Haus aus Glas.
Architekturtheorie Heute [76 / 93]
Bei den Beispielen gibt es eine ähnliche moderne Architektursprache, die in einem Fall Ausdruck
des Faschismus ist, im Anderen der Ausdruck eines modernen, liberalen, unhierarchischen
Gesellschaftsystems, der Weimarer Republik.
Beim neoklassizistischen Paar: einmal gewollt, bewusst gewählter Ausdruck des
Nationalsozialismus und einmal als Ausdruck einer demokratisch-republikanischen Verfassung wie
es Frankreich in den 30ern war.
Das könnte nun die anfängliche Skepsis bestätigen, die überlegt ob es einen Zusammenhang von
Architektur und Politik gibt, ist die Architektonische Form nicht austauschbar? Kann sich jede
Ideologie jeder architektonischen Sprache bedienen?
Wagner ist nicht der Meinung, dass eine Austauschbarkeit besteht - eben weil die jeweiligen
Protagonisten sich sehr bewusst für die jeweilige Architektur Sprache entschieden haben. Das heißt,
dass wir keine einfache Gleichung machen können wie ‘dieser Architektur Stil bedeutet/ist Ausdruck
für die Ideologie …‘ Es ist aber umgekehrt auch nicht so, dass eine architektonische Sprache/ein
architektonischer Stil politischen, gesellschaftlichen Phänomenen völlig äußerlich wäre.
Wir wissen, dass in Graz das liberale Großbürgertum die Zinshäuser in den Gründerzeitvierteln sehr
gerne im Stil der Neorenaissance bzw. des Neobarock erbauen ließ (Neobarock erinnert an
Oberitalien - Florenz, Pisa, Venedig, wo Bürgertum eine wichtige Rolle spielte). Andererseits wissen
wir auch, dass sich das deutsch-nationale Bürgertum bei der Errichtung solcher Häuser für die
Neugotik also den alt-deutschen Stil entschieden hat. Das Bekenntnis zum Deutschtum war sehr
wichtig. Es war eine klare Entscheidung, aufgrund von politischen Überzeugungen diese Sprache zu
wählen.
Der Umkehrschluss, Neorenaissance ist liberal und Neugotik/Alt-deutsch ist deutschnational
funktioniert nicht. Weil Architektursprache sich nicht so festlegen lässt und auch andere Deutungen
und andere kommunikationsformen zulässt. Das muss man sich im Einzelnen anschauen, (beinahe
bei jedem Bauwerk aufs Neue) ob und wie eine bestimmte politische Konzeption zum Ausdruck
kommt.
Neoliberalismus im Allgemeinen und sein Verhältnis zur Architektur und Architekturtheorie: Es gibt
keine neoliberale Architektur - erkennt man nicht an bestimmtem Stil, oder bestimmten Formen,
aber es gibt neoliberale Architekturen.
14.1 Zur Definition und Geschichte des Neoliberalismus
Zuerst eine Definition von Neoliberalismus, danach neoliberale Architektur.
Der Begriff bereitet Schwierigkeiten - wird in der Regel nur von den Gegnern der Neoliberalisten
verwendet. Wenn jemand Neoliberalismus sagt, meint er das so gut wie immer abwertend. Jemand
der selbst neoliberal ist, sagt das nicht von sich selbst. Neoliberalismus ist ein negativer Kampfbegriff
- manche Neoliberale streiten auch ab, dass sie neoliberal sind.
Es gibt das Hayek Institut, das in Österreich eine wichtige Institution der neoliberalen Ideologie ist,
und die Agentur Agenda Austria von Herrn Schellhorn - eine Institution die den Neoliberalismus hoch
hält, obwohl keiner den Begriff in den Mund nimmt. Sehr gern wird von Kapitalismus ganz allgemein
oder Neokapitalismus oder Marktkapitalismus gesprochen - Begriffe die herum wabern und etwas
Ähnliches meinen.
Die beiden folgenden Bücher, die dem Neoliberalismus kritisch gegenüberstehen, verwenden den
Begriff durch nichtsprechen:
Richard Sennet spricht von der ‘Kultur des neuen Kapitalismus‘
Boltanski und Chiapello sprechen auch lieber vom ‘Neue Geist des Kapitalismus‘.
Architekturtheorie Heute [77 / 93]
Neoliberalismus ist im amerikanischen nicht gebräuchlich, ist eher ein europäischer Begriff. Gerade in
den USA spricht man lieber von Kapitalismus. In den USA ist Liberalismus etwa gleichbedeutend mit
Sozialismus - Gegner von Obama werfen ihm immer vor, dass er zu liberal ist. Gesellschaftspolitisch
gesehen heißt liberal z.B. gegen das Tragen von Waffen, für die schwulen Rechte.
14.1.1 Was ist mit dem Neoliberalismus oder neuen Kapitalismus überhaupt
gemeint?
Es ist Nicht bloß die freie Marktwirtschaft gemeint, oder dass man in wirtschaftspolitischem Sinn
gegen Behinderung und Eindämmung des Marktes durch staatliche Regeln und für freie Märkte ist.
Das ist sicher der Kern jedes kapitalistischen Systems, aber beim Neoliberalismus geht es um
bedeutend mehr.
Es bedeutet, dass der freie Markt, als etwas Naturgegebenes begriffen wird, der sich selbst reguliert,
wo keiner künstlich von außen eingreift. Nach einem Gesetz der Balance von Angebot und Nachfrage
reguliert er sich selbst - natürlich.
Diese Vorstellung, die zunächst ausschließlich auf den Bereich der Wirtschaft beschränkt war, wird
auf alle anderen Lebensbereiche, also auch auf zwischenmenschliche Beziehungen oder allgemeine
kulturelle Bereiche übertragen, wenn man davon ausgeht, dass diese Marktgesetze gültig sind.
Man könnte von einer Art Theorie-Hegemonie (Vorherrschaft) sprechen. Das eine Theorie die
ursprünglich nur in einem bestimmten Gebiet entwickelt wurde (zum Beispiel in der Ökonomie, der
Wirtschaftswissenschaft) nun übertragen wird auf alle anderen Bereiche, auf alle anderen Felder.
Erklärung anhand einiger Beispiele die auch von Boltanski/Chiapello und Sennet verwendet werden:
Der klassische Kapitalismus ist der Kapitalismus mit fordistischer Prägung, das heißt die Gesellschaft
funktioniert im Grunde wie eine große Fabrik. Es gibt den Firmeninhaber ganz oben, der unter sich
Abteilungsleiter hat und darunter mehr Abteilungen und dann die Arbeiter. Wenn der Boss etwas
entscheidet wird das in dieser Pyramide nach unten weitergegeben.
Das ist eine Form des Wirtschaftens, die der gesellschaftlichen Pyramide in vordemokratischen
Gesellschaften entspricht - sie hat nichts demokratisches, ist in höchstem Maße autoritär. Auch die
scheinbar demokratischen Länder des Westens haben im frühen 20 JH im Bereich der Wirtschaft
undemokratische Strukturen gehabt.
- Das wurde in den 60ern (der 68erbewegung) massivst kritisiert. Die Gesellschaft muss sich
demokratisieren - es genügt nicht, dass wir alle 4-5 Jahre Politiker wählen und der Rest der
Gesellschaft wird autoritär weiter geführt wie es in einer Diktatur oder einer Monarchie üblich war.
Es muss auch in Betrieben, Wirtschaft, Schule Familien, an Universitäten demokratischer zugehen,
die gesamte Gesellschaft muss demokratisiert werden.
- Der zweite Punkt den man kritisiert hat, dass das System der Pyramide wo einer ganz oben
anschafft auch nicht Motivations-, Innovationsfördernd ist. Der Sohn des Firmengründers der an der
Firmenspitze sitzt hat nicht zwangsläufig die besten Ideen, - viele gute Ideen entstehen auf der
mittleren oder unteren Ebene. Also wenn die Leute in ihrer Kreativität mehr gefördert werden und
das umsetzen können ist das ein positiver Effekt für die Firma weil alle lieber arbeiten. Die
bürokratische Pyramide wurde massiv abgelehnt, sowohl im industriellen als auch im staatlichen
Bereich.
Selbstverwirklichung statt blindem Gehorsam, Kreativität statt Pflichterfüllung, Flexibilität statt
institutionelle Verkrustung, herrschaftsfreie Räume, flache statt steile Hierarchien - ‘bottom up statt
top down‘. Das war die Kritik von neomarxistischer Seite, Popkultur und künstlerische Seite. Der
Freiheits- und Emanzipationsdiskurs der in den 60ern durch alle Institutionen der Gesellschaft
gegangen ist, worauf ist die neoliberale Ideologie entstand. Das war etwas ganz neues, im
Zusammenhang mit der linken Kritik am konservativen Staat und konservativen Wirtschaften hat sich
Neoliberalismus geformt.
Architekturtheorie Heute [78 / 93]
Bei den Unternehmen ist die Kritik der jungen Revoluzzer angekommen. Man hat Werte
großgeschrieben und sich selbst einverleibt, die sonst eher von einer studentischen, hippen
Generation vertreten worden sind – Kreativität, Spontanität, Wandlungsfähigkeit. Auch Firmen
sollten diesen Sexappeal von Künstlern verströmen und nicht mehr wie autoritäre Apparate daher
kommen.
Das wird von Boltanski/Chiapello sehr detailliert beschrieben - wie der Kapitalismus diese
Künstlerkritik an der fordistischen Arbeitsdisziplin erfolgreich in kooperiert.
Richard Sennet sagt, dass die Unternehmen unter einen gewaltigen Druck gerieten, in den Augen der
vorbeischlendernden Betrachter schön auszusehen. Als schön galt eine Institution, wenn sie nach
außen zeigen konnte, dass sie im Inneren wandlungsfähig und flexibel war und sich als dynamisches
Unternehmen präsentierte - auch wenn das einstmals stabile Unternehmen bestens funktioniert
hatte.
Stabilität erschien als Zeichen von Schwäche, und zeigte dem Markt, dass die Firma nicht in der Lage
war innovativ auf Veränderungen zu reagieren, neue Betätigungsfelder zu finden oder in anderer
Weise mit dem Wandel umzugehen.
Boltanski/Chiapello weisen auch anhand ihrer Analyse von Managementliteratur sehr genau nach,
wie sich der ehemals hierarchische Führungsstil von den 60er zu den 90ern in flache Netzwerke
verwandelt hatte.
Firmen lösten sich zunehmend in Projekte auf, die dann ausgelagert wurden – Outsourcing. Sodass
man sich teure Angestellte sparen konnte. Die Firmenorganisation gleicht nun nicht mehr einer
Pyramide, sondern wie Sennet schreibt ‘einer Reihe von Inseln, die einem Festland vorgelagert sind,
auf denen Menschen verschiedene Aufgaben in Bezug auf das Festland erfüllen‘
Zwei weitere Theoretiker die sich mit dem Neoliberalismus beschäftigt haben sind Michel Foucault
(französischer Philosoph) und der deutsche (Soziologe) Ulrich Bröckling
Foucault hat sich schon in den 70ern, als der Neoliberalismus erst im Entstehen begriffen war, damit
in einer Reihe von Vorlesungen beschäftigt, die 2004 auf Deutsch herausgekommen sind. Unter dem
Titel: ‘Geschichte der Gouvernmentalität II: Die Geburt der Biopolitik, Vorlesung am College de
France 1978-79‘ Foucault stellt darin fest, dass der Neoliberalismus im wesentlichen eine Utopie
darstellt, einen allg. Stil des Denkens, der Analyse und der Einbildungskraft dessen kulturellen
Einfluss man deshalb nicht hoch genug einschätzen kann.
Als anthropologisches Leitmotiv gilt das unternehmerische handeln. Also der ‘Homo-Ökonomikus‘
der ökonomische Mensch soll in allen Bereichen seines Lebens auf Gewinnmaximierung
programmiert werden. Er muss sich immer dementsprechend entscheiden, muss ständig
Entscheidungen treffen.
Zum Beispiel wird man von Amazon mit einem speziell ausgewählten Produkt kontaktiert - ‘das was
du vor 6 Tagen angeschaut hast, gibt es heute besonders günstig‘. Man wird ständig von
Kaufanreizen von so vielen Angeboten bombardiert und muss sich entscheiden. Das wir uns
entscheiden müssen suggeriert uns, dass wir im Prinzip mächtig und selbstentscheidend sind, auch
eine gewisse Autonomie. Der absolut heteronome Mensch, der Sklave kann sich nie entscheiden. Er
muss das tun, was ihm aufgetragen wird, hat keine Entscheidungsfreiheit. Uns allen wird permanent
durch die Wahlmöglichkeit, das Marktangebot eine enorme Freiheit bzw. Entscheidungsfreiheit
suggeriert.
In Wahrheit ist es aber so, dass laut diesen ökonomischen Theorien die ökonomische Maxime
feststeht. Das heißt, dass die Gewinnoptimierung, die das Ziel des unternehmerischen Handelns
darstellt - bestes und billigstes auswählen, wo stimmt Preis Leistungsverhältnis - uns auch in allen
anderen Entscheidungen, allen anderen Lebensbereichen beeinflusst es geht letztendlich nur um
eine ökonomische Frage (z.B. in der Partnerwahl). Weil diese Maxime feststeht und wir letzten Endes
gar nicht so frei sind, ist unser Handeln in höchstem Maße vorhersehbar und somit auch steuerbar.
Architekturtheorie Heute [79 / 93]
Der Homo-Ökonomikus ist also, wie Ulrich Bröckling in seinem Buch ‘Das unternehmerische Selbst‘
schreibt
'…in immanenter Weise regierbar. Die neoliberale Regierung des Selbst wirkt indirekt über
Anreiz-Strukturen auf das Verhalten ein. Statt vorzuschreiben, was die einzelnen zu tun oder
zu lassen haben [das macht der autoritäre Staat, das bekommt der Sklave vorgeschrieben]
schafft sie [die neoliberale Regierung des Selbst] einen Rahmen, der bestimmte
Verhaltensweisen wahrscheinlicher macht als andere und hält die Individuen dazu an, sich
aktiv, eigenverantwortlich und flexibel selbst zu führen (…) beim unternehmerischen selbst,
diesem Leitbild der Gegenwart, handelt es sich um eine Realfiktion, ein höchst wirkmächtiges
'als ob', das einem Prozess kontinuierlicher Modifikation und Selbstmodifikation in Gang setzt,
und in Gang hält. Ein unternehmerisches Selbst ist man nicht, man soll es werden.
Dementsprechend zukunftsmotiviert und Appellativ wirken die neoliberalen Schlüsselbegriffe,
die durch Managementseminare Ratgeberliteratur und die Medien geistern, die eben Selfempowermant, Kreativität, Innovation, Flexibilität, heißen. Und ganz offensichtlich orientiert
sich dieses neoliberale Menschenbild am romantisch individualistischen Ideal des genialen sich
täglich neu erschaffenden Künstlers…‘
Also das, was die Künstlergeneration in den 68ern an starren, autoritären Betrieben und der starren
autoritären Gesellschaft der Nachkriegszeit kritisiert hat, hat dieser neue Kapitalismus, der
Neoliberalismus in sich aufgenommen. Das Idealbild des Neoliberalismus ist heute dieser flexible,
kreative, ständig an sich arbeitende, sich ständig verbessernde, ständig nach Innovationen strebende
Künstler.
Das macht es auch so schwierig den Neoliberalismus aus einer kulturellen Perspektive zu kritisieren:
weil er es verstanden hat, die Kritik die von Menschen aus dem Kulturbetrieb ihm gegenüber
geäußert wurden, voll aufzunehmen und eben voll inhaltlich umzusetzen.
Foucault ist auch deshalb wichtig, weil er schon früher den Begriff der Biopolitik geprägt hat, als ein
wesentliches Herrschaftsinstrument – der Gouvernementalität. In vormodernen Gesellschaften
‘zwingt‘ die staatliche Macht von außen den Menschen zu etwas. In der Moderne bringt man die
Menschen dazu, dass sie sich selbst regieren, sich selbst ‘unterwerfen‘. Sodass sie die herrschenden
Regeln verinnerlichen und gar nicht merken, dass sie von außen gelenkt werden. Man fühlt sich frei,
man fühlt sich autonom, obwohl man sehr vorherbestimmt und vorhersehbar agiert.
Er zeigt an der Biopolitik also der Lebenspolitik, dass sich die Regierungen in der moderne immer
mehr um das gute Leben der Untertanen kümmern, nicht weil sie es aus altruistischen (selbstlosen)
oder humanistischen Motiven tun, sondern weil die Regierungen bemerkt haben, dass eine gesunde
Bevölkerung eine produktive und militärisch starke Bevölkerung ist. Deshalb ist es machtpolitisch und
ökonomisch sinnvoll, in die Gesundheit der Bevölkerung zu investieren, das funktioniert am besten,
wenn es über Selbstregulierungsprozesse geht.
Erklärung des Begriffs Biopolitik. Aus einem Selbstregulierungsprinzips mit dem Ziel das Leben des
Individuums zu verbessern, mit dem Zweck, dass die Gesellschaft insgesamt leistungsfähiger,
gesünder, mächtiger aber auch regierbarer wird.
Das Rauchen als Beispiel: Das, was immer als Inbegriff der Freiheit vermittelt wurde, der
Marlboroman, der Cowboy der der untergehenden Sonne entgegen reitet, vor sich die weite der
Prärie, das ist der Raucher auch, er vermittelte das Gefühl der Freiheit. Das schlägt jetzt aber um. Der
Raucher ist mittlerweile der Ausgestoßene, der sich nicht beherrschen kann, der seine Umwelt
verpestet und sein eigenes Leben verkürzt, der insgesamt am Staat, an der Gesellschaft etwas
Negatives tut. Es ist aber nicht so sehr, dass der Staat von oben diesen Gedankengang verordnet - in
der Gesellschaft insgesamt wird gewünscht und gefördert, dass man das Rauchen eindämmt und
eines Tages komplett verbietet. Unsere sinnliche Wahrnehmung ist mittlerweile eine andere wie vor
20 Jahren, das Körperbewusstsein hat sich verändert.
Architekturtheorie Heute [80 / 93]
Im Raucherlokal Mittagessen, auf der Straße hinter einem Rauchenden nach gehen, in verrauchter
Bar sitzen hat einen früher weniger gestört oder man hat es gar nicht bemerkt, mittlerweile kann und
will man es aber nicht mehr ertragen, weil wir umerzogen werden durch den anti-rauch Diskurs.
Neoliberalismus ist also eine Ökonomisierung des sozialen und aller Lebensbereiche, auch
traditionell eher wirtschaftsferner Institutionen wie Universitäten: unternehmerische Universität, sie
sollen sich ein bisschen wie Wirtschaftsbetriebe verhalten. Rein rechtlich wurden Universitäten
bereits 2002 unter der schwarzblauen Regierung Schüssel ökonomisiert. Das heißt einem
Aufsichtsrat/Unirat unterstellt, sie sind autonom, unterstehen nicht mehr direkt dem Ministerium.
Mit einem monokratischen Management: das Rektorat mit Abteilungsleitern. Früher gab es die
demokratische Verfassung, die Studierenden, der Mittelbau und die Professoren hatten gleich viele
Rechte, die Unipolitik war drittelparitätisch aufgebaut (wurde 1975 von der sozialistischen Regierung
Kreisky eingeführt). Das wurde abgeschafft und ersetzt durch das Modell einer unternehmerischen
Universität, die ähnlich einer Firma funktioniert.
Neoliberalismus bedeutet also, dass alles auf die Frage nach einem ökonomischen Nutzen nach der
Gewinnmaximierung abgeklopft wird. Selbst Freundschaften und Partnerschaften werden einem
gewissen Kosten-Nutzen Check unterzogen.
Wenn eine Beziehung in die Brüche geht, hört man manchmal, ‘ich hab so viel in diese Beziehung
investiert‘ womit nicht gemeint ist, dass Geld im Spiel war. Zeit, Emotionen, Herzblut wurde
gegeben, geopfert, investiert [‘geopfert‘ wäre religiös, hätte man früher verwendet, ‘investiert‘ ist
die wirtschaftliche Version davon]. Wenn man investiert erwartet man eine Rendite. Man möchte
dass die Investition sich rechnet, dass etwas zurück kommt.
die kleinen Redewendungen verraten sehr viel über den Zustand unserer Gesellschaft und wie sie
tickt. Das sind nicht nur Wörter, sie sagen auch etwas aus über den Charakter unserer
zwischenmenschlichen Beziehungen aus - wie wir Beziehungen verstehen und leben.
14.1.2 Zur Geschichte des Neoliberalismus
Neoliberalismus geht zurück auf den Liberalismus des 18. 19. JH, wo die Freiheit des Individuums als
höchstes Gut galt, wo der Staat dazu aufgerufen war, diese Freiheit zu schützen. Die Speerspitze
gegen Feudalismus und Absolutismus.
Was der Neoliberalismus mit dem klassischen alten Liberalismus gemein hat, ist auf jeden Fall der
Freiheitsbegriff. Auch für den Neoliberalismus eine große Bedeutung, der gegen alle anderen Werte
gestellt wird und über diese herrschen soll.
Eine wichtige Schlüsselfigur ist der Österreicher Friedrich August von Hayek der 1931 an die ‘London
school of economics‘ berufen wurde Er wurde zum Gegenspieler von John Maynard Keyne der die
wirtschaftspolitische Gegenseite vertreten hat: seine These war, dass der Staat in
konjunkturschwachen Perioden die Wirtschaft durch große staatliche Investitionen wieder ankurbeln
muss, wenn es der Wirtschaft besser geht, kann sich der Staat zurück ziehen und durch
Steuereinnahmen mehr Reserve anhäufen (damit dann wieder Budget zum investieren da ist)
Hayek war der Auffassung, dass jeglicher Eingriff des Staates zu vermeiden ist, denn dadurch der
natürliche Prozess des Marktes und der Schwankungen der Konjunktur gestört wird und Unfreiheit
bedeutet. 1947 rief er die ‘Mont Perlerin Gesellschaft‘ ins leben, den Club der Liberalen (gibt es bis
heute).
Die Thesen von Hayek: staatliche Interventionen sind abzulehnen, auch große Interventionen wie
1929 in der Weltwirtschaftskrise, sie hätten die Inflation nur verstärkt. Alles was in Richtung nach
Sozialismus geht lehnt er ab.
Architekturtheorie Heute [81 / 93]
Sein erfolgreichstes Werk ist ‘The Road to Serfdom‘ (der Weg zur Knechtshaft) 1944 erschienen. wo
er staatliche Eingriffe aller Art als weg zu Sozialismus Kommunismus und Sklaverei ablehnt. Selbst das
Wort sozial hält er für fragwürdig. So heißt es in einem Aufsatz
‘… wir verdanken den Amerikanern eine große Bereicherung der Sprache durch den
bezeichnenden Ausdruck des ‘wieselword‘. So wie das kleine Raubtier, das wir auch Wiesel
nennen, angeblich aus einem Ei allen Inhalt heraussaugen kann, ohne dass man dies nachher
der leeren Schale anmerkt, so sind die Wieselwörter die, wenn man sie einem Wort hinzufügt,
dieses Wort jeden Inhalts und jeder Bedeutung beraubt. Ich glaube, das Wieselword par
excellence ist das Wort ‘sozial‘.
Was es eigentlich heißt weiß niemand. Wahr ist nur, dass eine soziale Marktwirtschaft, keine
Marktwirtschaft, ein sozialer Rechtsstaat kein Rechtsstaat, ein soziales Gewissen kein Gewissen,
soziale Gerechtigkeit keine Gerechtigkeit und ich fürchte auch Sozialdemokratie keine Demokratie
ist…‘ Diesen Aufsatz über Wissenschaft und Sozialismus hat Hayek geschrieben als er
Wirtschaftsberater der britischen Premierministerin Margareth Thatcher war.
Die sogenannte ‘Chicago school of economics‘ umfasst 4 Generationen und 24 Wirtschaftswissenschafts-Nobelpreisträger, wie zum Beispiel Theodore W. Schultz, Milton Friedman und Gary
Becker. Gemeinsames Merkmal der Chicagoer School mit der freien Marktwirtschaft ist, dass sie in
freien Märkten das effizienteste Mittel zur Allokation von Ressourcen sehen und sich der Staat von
wirtschaftlichen Aktivitäten so weit als möglich heraus halten soll. Außerdem ganz wichtig: dass
zwischen Mikro- und Makroökonomie kein Unterschied gemacht wird.
Darum ist der Neoliberalismus so populär, weil er jedem Otto-Normalverbraucher einleuchtet: wenn
man ein riesen Loch am Konto hat, muss man sparen und verzichten, dann wird das Loch
verschwinden. Das was im makroökonomischen funktioniert, könnte im makroökonomischen
schwierig werden. Eine ganze Gesellschaft ist verschuldet, alle fangen zu sparen an und kaufen nur
noch das Nötigste, dann geht die Wirtschaft schnell den Bach hinunter. Die Händler haben keine
Einnahmen und können nicht investieren, Lieferanten haben Engpässe eine Wirtschaftskrise
entsteht. Man kann Mikro- und Makroökonomie also nicht so einfach vergleichen. Der
Neoliberalismus geht davon aus, das Mikro und Makro ident sind.
Die Sparpolitik die man verschiedenen Ländern im Zuge der Wirtschaftskrise 2008 verordnet hat
(Griechenland) wurde verordnet, weil wenn Griechenland spart, kann die Wirtschaft gesunden. Der
Staat ist so hoch verschuldet, das es schon höchst gefährlich ist.
Die gesellschaftliche Dimension: Theodore W. Schultz war der erste, der die Preistheorie (Preise als
Ergebnis von Angebot und Nachfrage) auf nicht ökonomische Bereiche angewandt hat und sich mit
der Theorie des Humankapitals beschäftigt hat. Auch Arbeit wird als Kapital betrachtet. [anders als
bei Karl Marx, der hat Arbeit als Ware betrachtet, die der Arbeiter am Markt verkauft, der
Unternehmer streift den Mehrwert ein]
Bei Schulz ist Kapital alles, was einem ein künftiges Einkommen bringt. Das kann also Geld auf der
Bank sein das Zinsen bringt, das können genauso Fähigkeiten wie Wissen oder Können sein, die es
mir erlauben einen Job anzunehmen, der mir dann später ein Einkommen bringt. Wenn man studiert
ist es also eine Investition ins Humankapital. Man tut das, weil man später einen hochqualifizierten
Job und höheren gesellschaftlichen Status zu bekommen, sich selbst verwirklichen, das ist dann auch
das kulturelle Kapital laut Bourdieu.
Um dieses Einkommen zu erhöhen muss ich in mich selbst investieren. Bildung ist eine Investition in
mein Humankapital. Deshalb auch die Folgerung dass Entwicklungsländer in die Bildung investieren
müssen um wirtschaftlich erfolgreich zu sein.
Architekturtheorie Heute [82 / 93]
Eine Folge dieser Theorie war ein Austausch mit Chile, 100erte chilenische Wissenschaftler wurden
gemäß der Theorien der Chicagoer School ausgebildet, nach der Machtergreifung des Diktators im
Jahr 1973 wurden die ‘Chicago-Boys‘ beauftragt, die wirtschaftliche Reform des Landes in einem anti
sozialistischen Sinn zu übernehmen. Linke Kritiker der Reform haben sie dann als neoliberal
bezeichnet - seither ist es eher abwertend und als Schimpfwort gebräuchlich.
Milton Friedman, ein Schüler von Schulz, ein Mitbegründer der ‘Mont Perlerin Gesellschaft‘, und
die bekannteste und populärste Figur der Chicagoer School.
Er hat vor allem in seinem Werk ‘Capitalism and Freedom‘ (Kapitalismus und Freiheit) von 1962 die
neoliberale Ideologie in eine allgemein verständliche Sprache übersetzt. Er hat sich öffentlich zu Wort
gemeldet und war politisch aktiv. Er war in sehr enger Beziehung zu Diktator pinochet und wurde
dafür heftig kritisiert.
Gary Beckers Hauptwerk ‘Human Capital‘ von 1964 versucht den Begriff des Humankapitals auf die
Erziehung und später auf das Strafrecht anzuwenden. Er ist eine wichtige Schlüsselfigur für die
Ökonomisierung des Sozialen, die ja für den Neoliberalismus typisch ist. Er beschreibt Mutterliebe als
ein Investment in das Kind, weil man erkannt hat, dass Kindern die von Müttern besonders viel
Zuwendung bekommen, später im Vorteil sind (lernen leichter, tun sich in Beziehungen leichter und
sind im Berufsleben erfolgreicher). Mutterliebe ist also ein vernünftiges Investment in ein Kind.
Zum politischen Mainstream wurde der Neoliberalismus ab 1979/1981 unter Margareth Thatcher in
GB und Ronald Reagan in den USA.
Hayek hat Thatcher beraten, Friedman hat Reagan beraten. Dieser hat mit dem Slogan gewonnen
‘Gouvernement is not the Solution to our Problem, Gouvernement is the Problem‘ (Die Theorie des
schwachen Staates, der sich aus der Wirtschaft zurückziehen muss, wurde von einem Vertreter des
Staates für sich in Anspruch genommen - er hat damit den Nerv der Zeit getroffen)
Thatcher wollte aus den Briten ein Volk der Aktionäre machen - Begriffe wie Gemeinwohl,
Gesellschaft, Wohlfahrtsstaat wurden genussvoll zu Grabe getragen. Berühmt-berüchtigt ist ihre
Aussage, die wahrscheinlich von Hayek inspiriert war ‘there is no Society, there are just People‘ (es
gibt keine Gesellschaft, nur Leute). Einzelpersonen, kleine egoistische Monaden die in einem
neodarwinistischen Konkurrenzkampf Alle gegen Alle nur auf ihren persönlichen Vorteil schauen.
ABER nach der Theorie des Neoliberalismus geht es insgesamt der Gesellschaft gut wenn alle auf
ihren persönlichen Vorteil schauen. Die unsichtbare Hand des Marktes, eine Art göttliche Institution,
garantiert das Streben nach persönlichem Vorteil, dass letzten Endes allen nützt. Insofern ist
Altruismus also Uneigennützigkeit etwas Schädliches.
Das war in den 70/80ern unglaublich populär, einer der wichtigsten Stichwortgeber aus der
biologischen Ecke war Richard Dawkins der mit seinem Bestseller ‘das egoistische Gen‘ versucht hat,
die darwinistischen Prinzipien der Biologie auf die Gesellschaft zu übertragen. Eine neue
Wissenschaft ist entstanden, die Soziobiologie. Seine These sagt, man muss um die Gesellschaft zu
verstehen kein Soziologe sein, man muss nur schauen aus was die Gesellschaft besteht. Aus
Menschen, sie kommen aus der Natur, die wird durch die Darwinschen Gesetze bestimmt. Wenn
man die Darwinschen Gesetze auf die Soziologie anwende versteht man folglich auch die Soziologie.
Das ist ein klassischer Reduktionismus, dass man nicht wahrhaben will, das es in höheren
Organisationsformen andere Gesetzmäßigkeiten gibt als in Niedrigeren, sondern das man von ganz
unten ausgehen will und das was ganz oben passiert damit erklären will. Die Ausweitung einer
Theorie auf alle Wissensbereiche
Das ist auch das, was beim Neoliberalismus in der Soziobiologie passiert ist: biologische Parameter
werden auf die Gesellschaft übertragen. Gemeinsam ist dem Neoliberalismus und der Soziobiologie,
dass man eine sozialdarwinistische Vorstellung einer naturwüchsigen Gesellschaft hat.
Architekturtheorie Heute [83 / 93]
Beim ‘Egoistischen Gen‘ ist es so, dass auch der Altruismus, die scheinbar uneigennützige
Nächstenliebe die aber nichts anderes ist, als ein getarnter Egoismus. Dawkins weist nach, dass auch
altruistisches Handeln für den eigenen Genpool vorteilhaft ist.
Biologische Metaphern wie das Spiel der freien Kräfte, ‘survival of the fittest‘ sind oft anzutreffen,
genauso wie die Metaphorik des Flusses, des freien, ungehemmten, nicht eingeschränkten Fließens,
eine wilde, nicht kultivierte Naturkraft wird beschwört. Man kann es an Vorstellungen vom genialen
Künstlertum, von Freiheit und Kreativität die scheinbar auch so etwas Naturwüchsiges, Natürliches
besitzen würden, anbinden. Diese Vorstellung, der Künstler ist der der sich durchsetzt, im Sinne des
‘survival of the fittest‘ seine Nische findet, ähnlich wie ein Lebewesen seine biologische Nische
entdeckt.
14.2 Neoliberalismus und Postmoderne
Neoliberalismus kommt hier nicht vor, weil es rein um Wirtschaft geht, sondern als Vorbereitung für
das Verhältnis von Neoliberalismus und Architektur
Rein historisch betrachtet fand die Entstehung des Neoliberalismus US-amerikanischer Prägung in
den 60ern statt, die Theorie wird gebildet. Und in den späten 70ern, als die Theorie in der
Öffentlichkeit und auch in diversen Regierungsbüros Nachhall und Wiederhall findet.
Wenn man überlegt was war zu der Zeit in der Architektur los war, stellt man fest, dass die
Entwicklung des Neoliberalismus und die Entwicklung der Postmoderne parallele Phänomene
waren.
Wenn wir die Architektur und die Theorie der Postmoderne betrachten, können wir feststellen, dass
kollektivistische Planung (Jencks, Hollein) abgelehnt worden ist, und Individualismus wertgeschätzt
wurde. Die individuelle Handschrift des später als Star-Architekt benannten Autors von Gebäuden.
Das geht mit der Wirtschaftstheorie des Neoliberalismus überein: die Wertschätzung des
Individuums, das als die kleinste und wichtigste Einheit gilt und die Ablehnung von Kollektiven aller
Art. Siehe Zitat Thatcher, ‘There is no Society there is just People‘, von denen jeder versucht nach
dem individuellen Vorteil zu streben wodurch es allen im Gesamten besser geht.
Was man in Postmoderner Architektur beobachten kann ist, dass kommerzielle Architektur sehr hoch
geschätzt wird - Disneyworld, Las Vegas die bis dahin im traditionellen Architektur Diskurs nicht mal
negiert worden sind, werden jetzt als Vorbilder dargestellt.
Das Kommerzielle als Positives, an dem man sich orientieren soll, das ist eine bekannte und zentrale
Denkfigur des Neoliberalismus, die nicht nur Wirtschaftstheorie ist. Sie besteht in erster Linie darin,
eine bestimmte Wirtschaftstheorie auf alle Bereiche des Wissens und des Lebens auszudehnen.
Das was in Postmoderne entsteht - Iconic Buildings, Shopping Malls, das aufpeppen von historischen
Zentren für Touristen, Entstehung von ‘gated communities‘, - all diese Dinge fügen sich sehr gut in
die Ideologie des Neoliberalismus zusammen.
Fischer fasst das folgendermaßen zusammen: ‘Alle diese Merkmale folgen der Logik der
Differenzierung, Privatisierung, Individualisierung, Anpassung und Kommodifizierung [Umwandelung
von Geld in Wirtschaftsgüter]. Oder kurz - der Marktlogik‘
Diese Parallelen sind zu groß und zahlreich, als dass man den Zusammenhang von Neoliberalismus
und Postmoderne in Zweifel ziehen könnte. Auch wenn man einen kausalen Zusammenhang schwer
nachweisen kann, unterliegt das dem Selben Denkstil. Oder zumindest bilden Wirtschaftstheorie,
eine davon abgeleitete Anthropologie und die Architektur einen gemeinsamen Diskurs. Zwar ist die
Postmoderne in Mittel- und Westeuropa heute weitgehend verschwunden, sie erfreut sich aber in
den Boom-towns des nahen Ostens und den Tiger-Staaten des Fernen Ostens (die meist wie Chile
Architekturtheorie Heute [84 / 93]
freie Marktwirtschaft mit Diktatur verbinden) nach wie vor großer Beliebtheit. Koohlhaas
bezeichnete die Postmoderne als die logischerweise bevorzuge Bauweise der Generic city, der Stadt
ohne Eigenschaften, mit denen er unmissverständlich die asiatischen Megastädte meint.
Es ist aber nicht so, dass der Neoliberalismus zugleich mit der Postmoderne im Westen
verschwunden wäre - auch sein Einfluss auf die Architektur ist nicht verschwunden. Das wesentliche
Element, ist die Kommerzialisierung der Architektur, die in Phänomenen wie Star-Architecture,
Bilbao-Effekt, oder Signature-Buildings fassbar wird. Das ist das neoliberale Erbe der Postmoderne,
das die Postmoderne als großen Stil überlebt. Es beherrscht und bis heute den Mainstream des
Architekturbetriebes.
Der Stararchitekt ‘Starchitect‘ und die von ihm als Raumstrukturen kreierten Gebäude schaffen es,
eine hässliche Industriestadt in einen Touristenmagneten zu verwandeln.
Zum Beispiel Frank Gehrys ‘Guggenheim Museum‘ in Bilbao (1989-1997). Solche Gebäude stehen als
Prototyp für das erfolgreiche, sogenannte unternehmerisches Selbst, dessen Humankapital zu barer
Münze wird. [das Architektur immer ein kollektives Produkt ist und Stararchitekten viele Mitarbeiter
beschäftigen müssen, tut diesem ‘Starchitektentum‘ überhaupt keinen Abbruch]. Gebäude wie das
Guggenheim Museum tragen ihre individualistische Kreativität als Eigenwert plakativ zur Schau, ohne
dass diese einen erkennbaren funktionalen Nutzen hätte.
Wozu all diese sehr aufwendig gekrümmten Flächen gut sein sollen, ist die falsche Frage. Der Nutzen
liegt auf einer ganz anderen Ebene, auf der Ökonomie der Aufmerksamkeit. Dieses Gebäude ist
weltweit bekannt, weitaus mehr Menschen als es jemals sehen werden kennen es. Es erweckt in
allen den Wunsch, es irgendwann einmal zu sehen. Das heißt, Gebäude müssen dieser Logik nach so
gemacht sein, dass sie allein schon als Bild das Begehren erwecken, es anzuschauen.
Ähnlich wie Produktdesign darauf abzielt, durch Oberflächenwirkung etwas so verführerisches zu
besitzen, dass man das haben möchte. Es muss dann aber auch funktionieren - gutes Design ist nur
dann gut, wenn es sich in der Nutzung bewehrt.
Das präsentieren von Kunstwerten, das Ausstellen, die eigentliche Funktion eines Museums
funktioniert in Bilbao eher durchschnittlich bis schlecht - das kümmert aber niemand, weil es viele
andere Funktionen gibt. Weil so viele Schauwerte, Erlebniswerte in diesem Gebäude gibt, dass die
eigentliche Funktion um die es geht, Kunstwerke ausstellen und sie sehen, hat nur eine nachrangige
Bedeutung [Zum Beispiel bei einem Iphone funktioniert alles, außer telefonieren alles andere geht
wunderbar. Auch da kümmert es niemand, dass man nicht gut telefonieren kann, ewig braucht bis
man zu einer Nummer kommt, weil viele andere Funktionen da sind]
Gebäude werden also in gewisser Weise zu Waren, nicht das man sie kaufen kann, aber sie wecken
wie eine speziell designte Ware ein bestimmtes Begehren - hinfahren und anschauen zum Beispiel.
Sie präsentieren sich dabei als verführerischer glänzender Fetisch, in das erfolgreiches Design jede
Ware verwandeln kann.
Das ist eine sehr interessante Wandlung, die die Architektur in den letzten 40 Jahren durchgemacht
hat. Wenn man sich die Architektur der 50er bis 70er anschaut, begegnen einem äußerst
qualitätvolle Bauwerke, die einfach nicht fotografierbar sind. Sie geben am Foto überhaupt nichts
her. Sie haben keine richtige Fassade, man weiß nicht wo vorne und hinten ist, wo man hinein geht sie verschwinden in ihrer Umgebung. Sie haben ihr Understatement und das Aufgehen in ihrer
Funktionen bis ins letzte konsequent durchexerziert. Wenn es sich um gute Gebäude handelt,
offenbaren sie ihre eigentliche Qualität in der Benutzung, wenn man drinnen ist, wenn man etwas
tut, macht, erlebt.
Eine solche Architektur hat in der Ökonomie der Aufmerksamkeit [in dem neoliberalen Paradigma,
welches man mit schicken Fotos als Museum verkaufen muss] überhaupt keine Möglichkeit
wahrgenommen zu werden.
Architekturtheorie Heute [85 / 93]
Man kann mittlerweile Werbeeinschaltungen oft nicht mehr von einem Artikel über ein Bauwerk
unterscheiden. Sieht man sich Architekturmagazine aus den 60/70ern im Vergleich an, bemerkt man,
die Kommerzialisierung betrifft nicht nur das Verbreiten und Kommunizieren von Architektur,
sondern auch das Entwerfen selbst. Das erzeugen eines interessanten, verführerischen Bildes wird
immer mehr zur Hauptaufgabe der Architektur. Manchmal wird nur noch dazu eingeladen, eine geile
Fassade zu entwickeln, das Innere macht jemand Anderes.
Guggenheim: möglich wird sowas durch die Herstellung der individuell geformten und nicht
standardisiert seriellen Hülle, durch digitale Werkzeuge.
Fischer führt das weiter aus: Eine Verflüssigung und Entmaterialisierung des Raumes, die zudem auch
dem grenzenlosen Fluss von Kapital, Waren und Arbeitskräften der neoliberalen Globalisierung eine
visuelle Entsprechung bieten.
Wagner ist nicht von vorn herein gegen bildhafte Architektur oder Architektur die als rein visuelles
eine bedeutsame Funktion hat. Es geht um Kritik an Reduktion des gesamten Entwurfs auf die
Erzeugung von Schauwerten. Die ist durch Computerisierung/Digitalisierung des Entwerfens
verselbstständigt. Man könnte sich die Frage stellen, was das digitale entwerfen mit Neoliberalismus
zu tun hat - welchen Mehrwert haben ungewöhnliche Non-Standard Strukturen in die sehr viel Geld
und Zeit investiert werden, für den architektonischen Entwurf - was ist das Ziel einer neuen
ungeahnten bis dahin unbekannten Form - wozu brauche ich die? Damit sind wir bereits mitten in
der Gegenwart
14.3 Neoliberalismus und Architektur heute
Inwiefern kann Architektur heute ein Teil des Neoliberalistischen Diskurs sein? Gelingt es, die Nutzer
dieser Architektur in diese Richtung zu formen? Einige Beispiele der letzten 10 Jahre:
Das erste Beispiel in vielerlei Hinsicht ein Nachfahre von Bilbao. Es ist der vom Wiener
Architekturbüro SPAN & Zeytinoglu entworfene, österreichische Pavillon, für die Weltausstellung
Expo Shanghai 2010, erbaut 2008-09. Es ist ein organisch geformtes Gebäude, das mit 10 Millionen
roten und weißen Porzellanfliesen verkleidet ist. Seine komplex gekrümmte Oberfläche ist erstmals
mit einer speziellen Software errechnet worden.
Solche Länderpavillons per se sind immanent-politische Gebäude. Sie vermitteln immer, ob man es
will oder nicht, eine Art Utopie oder zumindest ein Idealbild, des betreffendes Staates. Immer wenn
man sieht woher das Gebäude stammt, stellt man sich das Gebäude im Verhältnis zu dem Land vor:
Was sagt das Gebäude über dieses Land als gesamtes aus?
Solche Pavillons sind immer stark semantisch aufgeladen, bei Weltausstellungen dienen sie auch
handfesten wirtschaftlichen Interessen (hier hauptsächlich darum, den asiatischen Markt für den
Österreich-Tourismus und die österreichische Industrie weiter zu erschließen)
Österreich ist kein neoliberales Land, sondern immer noch ein Wohlfahrtsstaat in dem zum Beispiel
über die Priorität der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit allgemeiner Konsens herrscht. Andererseits
blieb Österreich von der neoliberalen Ideologie keineswegs unberührt. Besonders die Mitte rechts
Regierung unter Bundeskanzler Schüssel die 2000-2007 im Amt war, setzte unter dem Slogan ‘Mehr
Privat weniger Staat‘ ein großangelegtes Privatisierungsprogramm um, um im Zuge dessen auch
wirtschaftsferne Institutionen wie Universitäten nach dem Vorbild von privatwirtschaftlichen
Unternehmen umzugestalten. Das privatwirtschaftliche Denken spielt eine größere Rolle. Das
einwerben von Drittmitteln, Auftragsforschung und Sponsorengeldern steht im Mittelpunkt, etwas
das im Sinne des marktwirtschaftlichen Denkens Einzug gehalten hat.
Architekturtheorie Heute [86 / 93]
[Seit dem UG von 2002 gibt es auch an Universitäten eine Struktur, die der von großen Firmen
ähnelt: Universitätsrat/Aufsichtsrat und eine monografische Struktur vom Management (Rektorat)
abwärts über Institutsleiter bis hin zu einzelnen Mitarbeitern.
Seit dem UG von 1975 unter Kreisky war davor unter sozialistischer Rigide eine andere Idee ‘im Amt‘:
Die Universität als demokratischer Raum, Mitbestimmung der drei wesentlichen Spieler
Professoren/Mittelbau/Studenten, die jeweils gleich viele Rechte innerhalb Universität hatten.]
Das wesentliche am Neoliberalismus ist, dass wir alle zu Neoliberalen geworden sind - durch viele
Einflüsse, durch den gesellschaftlichen Diskurs der letzten Jahre können wir gar nicht anders, als in
diese Richtung zu denken, handeln und fühlen.
Im Fall des Pavillons in Shanghai sind die Intensionen von Auftraggebern und Entwerfern ausführlich
dokumentiert. Zitat aus offiziellem Pressetext der Bundesregierung:
‘Ein biomorpher Baukörper, von schimmernder Porzellanhaut überzogen: So präsentiert sich
der österreichische Pavillon auf der Weltausstellung 2010. ‘Die Architektur des Projekts
basiert auf Ideen zu Kontinuität, nahtlosen Oberflächen und graduellen Verbindungen
zwischen den Räumen - ein Konzept, das geeignet ist, einen kontinuierlichen Fluss innerhalb
des Pavillons zu entwickeln und auf subtile Art und Weise innen und außen zu verknüpfen‘,
so Matias del Campo vom Architekturbüro SPAN. (…) Der zentrale Raum wölbt sich von innen
nach außen. Die geschwungene Raumsequenz unterstützt das Fließen des Besucherstroms
vom Eingangsbereich durch das Ausstellungsareal hin zum Ausgang.
Dank der nahtlosen Übergänge können sich die Visuals frei und ungehindert im Raum
entfalten. Panoramen und Bildwelten werden raumfüllend an Wände, Boden und Decke
projiziert. (…) Was organisch anmutet, geht auf minuziös berechnete mathematische
Strukturen zurück. Nur scheinbar ein Gegensatz, denn Mathematik wird begriffen als „die
universelle Sprache, die alles zu beschreiben vermag: ob das ein Muster in einem Musikstück
ist oder die Geometrie einer Austernschale“, so Sandra Manninger vom Architekturbüro
SPAN. „Die in der Natur vorhandenen geometrischen und mathematischen Systeme wurden
direkt in den Entwurf eingebunden, um die Effizienz der Form zu steigern. ‘
Eine längeres Zitat, weil aus der Verwendung der Vokabeln auch der Wiederholung verschiedener
Begriffe wie ‘Nahtlosigkeit, freier Fluss, freie und ungehinderte Entfaltung, universelle Sprache und
Effizienz‘ eine gewisse ideologische Handschrift hervorgeht. Es wird ein Raumerlebnis der absoluten
Reibungslosigkeit und Widerstandslosigkeit imaginiert.
- Alles ist möglich, alles ist verfügbar, alle Bilder sind da. Es gibt keine Grenzen, nicht mal Nahtstellen,
da Innen und Außen ineinander übergehen. Die grundlegende Definition, eine Wand aufzustellen um
innen und außen zu unterscheiden, was traditionell das ist was ein Gebäude ausmacht, wird negiert
bzw. aufgehoben. Wiedersprüche, Wiederstände und Differenzen sind eliminiert. Man geht nicht in
dieses Gebäude, man gleitet oder surft hinein.
Diese Imagination war in der räumlichen Realisierung nicht so wie es beschrieben wurde, weil Worte
leichter sind der Realisierung voraus galoppieren.
Diese Imagination entspricht noch viel mehr dem neoliberalen Paradigma der Aufhebung aller
Einschränkungen und Grenzen, dem freien Fluss von Waren, Geld und Arbeitskräften als Frank
Gehrys Guggenheim Museum. Besuchern, die sich als ‘aktive Kreatoren‘ und nicht bloß als
Betrachter erleben, soll die Illusion vermittelt werden, dass ihnen ganz Österreich von der
verschneiten Bergwelt bis zur Wiener Innenstadt sofort und jederzeit, als zu konsumierendes Produkt
zur Verfügung stünde. Projektleiterin Birgit Murr:
‘Fast jede Fläche im Pavillon animiert mit spielerischen und witzigen Angeboten zum
Interagieren. Die Besucher werden so zu aktiven Rezipienten und verankern im aktiven Tun
weit nachhaltiger neue Bilder zu Österreich‘
Architekturtheorie Heute [87 / 93]
Interessant ist das Vorbild der Natur - organisch wie eine Austernschale, konstruiert in der zeitlosen
universellen Sprache der Mathematik. Diese Naturalisierung hebt dieses Stück Architektur über die
Kultur hinaus. Es wird immer wieder betont, dass das was man in der Gestaltung und der
Verbalisierung macht, Naturprozessen sehr ähnlich ist und überhaupt nichts mit einer bestimmten
kulturellen Leistung zu tun hat.
Diese Naturalisierung von Architektur hebt sie nicht nur über die Kultur hinaus, sondern verleiht ihr
Unangreifbarkeit und Legitimität. Es geht also auch um einen Legitimierungsdiskurs. Hier steht kein
willkürliches Konstrukt vor uns, kein Zeit- und Kontextabhängiges Produkt eines Architekten-Teams,
sondern die zeitlose Geometrie einer Austernschale. Das ist nichts Neues - die Verlandschaftlichung
der Architektur kann man schon in 60er/70ern beobachten, teilweise unter ganz anderen politischen
Rahmenbedingungen.
Deshalb muss man vorsichtig sein, gewisse architektonische Formen mit politischen Inhalten
kurzzuschließen. Man kann das nur bei einem konkreten Bauwerk tun: hier dient diese Form, diese
Gestaltung einer ganz bestimmten ideologischen, politischen, weltanschaulichen Aussage - man kann
das nicht verallgemeinern. Formen können wenn sie woanders angewendet werden etwas anderes
bedeuten.
[Beispiel: Deutschnationale haben bei Gründerzeitfassaden im 19.JH in Graz den altdeutschen Stil
(Spätgotik) und die Renaissance bevorzugt, während Liberale eher die Neoreinessance verbauten.
Das bedeutet nicht, das Neoreinessance liberal und Gotik oder altdeutscher Stil deutschnational
heißt]
Ein Beispiel wo die Verlandschaftlichung des architektonischen Raumes einsetzt: – ein Sitzungssaal
im UG der ‘Zentrale der Kommunistischen Partei Frankreichs‘ von Oscar Niemeyer in Paris. Der
Spannteppich zieht sich plötzlich auch an einer Wand hoch, wie Hügel, bewachse Landschaft. Die
landschaftlichen Metaphern des Flusses, des ineinandergreifen von Raumkompartimenten sieht man
auch in der Dachlandschaft.
Hier in einem politischen Kontext, der dem des Neoliberalismus diametral entgegen gesetzt ist. Erst
in der Kombination mit der jeweiligen Funktion, dem raum-zeitlichen Kontext und der begleitenden
Rhetorik können architektonische Elemente Teil eines bestimmten Diskurses und dann wirksam
werden.
Das Vokabular, das den österreichischen Pavillon in Shanghai begleitet hat, ist relativ typisch für die
postkritische affirmative und pragmatische Haltung der heutigen jüngeren Architektengeneration. Zu
den prominentesten postkritischen Büros zählt ‘Foreign Office Architects‘ FOA. Sie entwarfen den
‘Bundle Tower‘, der als Entwurf für die Nachnutzung des WTC in NY 2002 entstanden ist. Dieses
Projekt ist nicht beim ausgelobten Wettbewerb eingereicht worden, sondern bei der Ideensammlung
- es gab keine Vorgaben, es waren freie Entwürfe. Das ist interessant, weil es die Architektur in seiner
Autonomie darstellt, jeder kann hin fantasieren was er will, es geht nicht drum das es realisierbar ist.
Beim Bündelturm wird explizit eine Symbolisierung kapitalistischer Werte versucht. Dieses Projekt
besteht aus 8 S-förmig, im Winde verwehten Wolkenkratzern, die gemäß dem Motto ‘united we
stand‘ ein in den quasi organischen naturwüchsig-flexiblen Kapitalismus übersetztes, faschistisches
Rutenbündel darstellen. Begleittext des Architektenbüros:
‘Im Kapitalismus geht es nicht um Erinnerung und Nostalgie, sondern um eine Art von
systematischer, operativer Versöhnlichkeit, die an Schizophrenie grenzt. Konsequenterweise
wurde der Bündelturm ohne Wunsch auf Erinnerung geboren, [Erinnerung an den
Terroranschlag] aber mit dem Ziel, eine provisorische, architektonische Performanz und
einen Ausdruck des sich stets verändernden, sich stets ausdehnenden kapitalistischen
Raumes zu geben‘
Architekturtheorie Heute [88 / 93]
Das Programm gibt sich anti-postmodern, antihistorisch, anti kulturell. Diese Betonung bei so einem
Erinnerungsbauwerk, wo die Geschichte eine gewisse Rolle spielen könnte ist sehr auffällig. Man
setzt stattdessen auf eine Quasinatürlichkeit, die die Natur als wichtigste Eigenschaft besitzt: sie
verändert sich ständig. Es geht nicht um die Natur der Natur willen, sondern darum zu zeigen, dass
der Kapitalismus auch eine ganz natürliche Sache ist. Damit wird auch nicht nur das Bauwerk,
sondern der Kapitalismus auf den man sich bezieht als etwas Natürliches legitimiert.
Das ‘Rolex learning center‘ der ETH Lausanne von SANAA zählt zu den wichtigsten, bedeutendsten
Bauten des 21 JH. SANAA ist eines der weltweit führendsten Büros, wurde 2010 kurz nachdem das
Learning-Center eröffnet wurde mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet [was als Nobelpreis innerhalb
der Architektur gilt]
Monografie von Anselm Wagner in Form eines Aufsatzes: ‘Das Rolex Learning Center von SANAA im
Kontext neoliberaler Wissensökonomie‘, für die Zeitschrift ‘Grundlagenforschung für eine linke Praxis
in den Geisteswissenschaften‘
- Das Gebäude ist auf dem Campus wie eine Landschaft entworfen worden. Es bezieht sich nicht nur
auf die Umgebung, sondern ist selbst eine Landschaft. Es kommt ohne jene Elemente aus, die
Architektur in traditionell ausmachen: massive Wände, übereinandergestapelte Geschoße, und
Treppen als Verbindung zwischen ihnen. Man hat es als flaches Sandwich mit gläserner Füllung
bezeichnen.
- Es besteht aus zwei Platten, die Zwischenbereiche sind mit Glaswänden gefüllt. Die Platten wölben
sich manchmal hoch, damit man unten durch gehen kann, im Inneren entsteht dadurch ein
Obergeschoss, außerdem bilden sich große Löcher, Innenhöfe die für die Belichtung sorgen.
Was wie zwei übereinandergestellte Betonplatten aussieht, ist technisch gesehen äußerst
kompliziert. Die Bodenplatte besteht aus einem System von Brücken die unterirdisch mit Stahlkabeln
verbunden und gehalten werden, das Dach ist ein Holzdach auf einem sehr leichten Stahlgerüst, es
wird von dünnen Stützen getragen. Das Gebäude bedeckt 2 Hektar und ist nach einem
Hauptsponsor, Rolex benannt.
Im Inneren hat das Gebäude einen landschaftlichen Charakter, ohne Trennwände. Man kann sich wie
auf einer Hügellandschaft auf Teppichboden bewegen, sitzen, schlafen. Die raum hohe Verglasung
erlaubt direkten Landschafts-, Außenbezug während das Gebäude selbst zur Landschaft wird.
Teilweise erinnern Wege an Alpenwanderwege, für weniger geübte Wandrer mit Treppen und
Geländer. Die Funktion des Gebäudes ist eine Bibliothek und ein Lernzentrum, in dem die
Studierenden viel Zeit verbringen sollen um sich Wissen anzueignen. Das was bei Bibliotheken
normal Programm ist, Bücher, sieht man überhaupt nicht. Man bekommt eher das Gefühl, es sei ein
Freizeitcenter, man wird dazu animiert seine Freizeit dort zu verbringen. Das ist etwas, was für die
neoliberale Verflüssigung der Zeit paradigmatisch ist - die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit
aufheben.
Das verdanken wir dem digitalen Zeitalter: Laptop/Smartphone erlauben es, dass wir berufliche
Tätigkeiten rund um die Uhr erledigen können - in der Nacht Mails checken, überall erreichbar sein
und arbeiten können. Die Arbeitswelt gleicht sich umgekehrt aber immer mehr der Freizeit an: Man
kennt das von Kreativ-Konzernen die dazu übergegangen sind nicht mehr konventionelle Büros
einzurichten, sondern Lounges wo man sich trifft, Kaffee trinkt, lümmelt und Musik hört und dadurch
Ideen hat, die für den Betrieb von Nutzen sind. Oder man arbeitet zu Hause und findet das toll, dass
man nirgends hin gehen muss – man bemerkt gar nicht, dass man dadurch länger und intensiver
arbeitet, als wenn man eine konventionelle 40 Stunden Woche in einem Büro-Job hätte.
Das Studentenleben war schon immer so, dass es keine genaue Abgrenzung der Arbeit und Freizeit
gegeben hat, aber hier ist es das erste Mal in Architektur fassbar. Das macht diesen Bau so
interessant und paradigmatisch, man hat ein Erholungs- und Freizeitszenario vor sich, man geht in
eine gebaute Landschaft, in der man sich erholen kann - die aber eigentlich ein Arbeitsplatz ist.
Architekturtheorie Heute [89 / 93]
Die restlichen Hochschulgebäude der ETH die in den 60/70ern gebaut wurden schauen aus wie
Fabrikgebäude, sie haben einen sehr technischen Charakter. Der Student (Arbeiter) der hinein geht
seine Fließbandarbeit verrichtet und am Abend wieder nach Hause geht. Hier aber habe ich ein
Freizeit-Lernzentrum, das die Grenzen wunderbar verfließen lässt, die Architektur verwischt sie.
SANAA erzeugt nicht nur einen fließenden grenzenlosen Raum, sie unterstützen zugleich auch die
Auflösung der zeitlichen Grenze zwischen Arbeit und Freizeit womit der Postfordismus mit seinen
Teleworkern, Gleitzeitarbeitern und ‘rund um die Uhr Verfügbarkeit‘ die traditionelle Zeiteinteilung
der industriellen Arbeit abgelöst hat.
Soziale Kontrolle wird großgeschrieben, jede Widerständigkeit rutscht an der glatten Fassade ab Plakate für Studentenfutter wären z.B. undenkbar. Die Arbeitsplätze sind so verteilt, dass man das
Gefühl hat, man ist in einem offenen Raum, ein Kieselstein in einem Bach - in einem Korridorraum, in
einem Bewegungsraum - man sucht sich ein Plätzchen am Rand und hofft von der nächsten Welle
nicht weggespült zu werden. Man wird eingeübt auf eine prekäre Existenz, statt dem Arbeitsplatz
von 25 bis 65 Jahren. Man muss innovativ, flexibel, am Sprung sein reagieren können - deshalb kann
man nie einen festen, gesicherten, dauerhaften Platz haben. Das ist ein gesellschaftliches Modell, das
hier in eine Raumgestaltung übergegangen ist, das als ganz normal und ästhetisch ansprechend
wahrgenommen wird.
Das übersetzen eines Arbeitsraumes in etwas flexibles, fließendes, landschaftliches ist nicht erst im
Rolex Lernzentrum das erste Mal umgesetzt worden, das gibt’s schon seit den späten 50ern. Zum
Beispel unter Andreas Rumpfhuber: Die Bürolandschaft für ein Versandhaus, in einem riesigen
Geschoß eines containerartigen Gebäudes werden die einzelnen Abteilungen eines Büros nach dem
kybernetischen System angeordnet.
So wie die einzelnen Abteilungen miteinander arbeiten und so wie sie miteinander kommunizieren
werden sie in eine quasi-organische Anordnung übersetzt und mit Pflanzen ausstaffiert, damit es
gemütlich ist. Es sieht am Plan wie eine willkürliche, chaotische Anordnung aus und nicht wie man es
kennt, dass Tische und Stühle in Reih und Glied stehen.
Auch in den späten 60ern haben verschiedene Architekten/Architekturgruppen wie Archizoom
Associati auf dieses Prinzip des verschmelzen von Arbeit und Freizeit reagiert. Landschaften die ins
Innere geholt werden… Sie haben kritisch darauf Bezug genommen. Paradigmenwechsel innerhalb
der Gesellschaft und deren Verhalten zu Raum und Zeit. Beispiel No-Stop City von 1969
14.4 Anti-Neoliberalismus in der Architektur
Kritische Positionen also Anti-Neoliberalismus in der Architektur in der Theorie zu finden ist
schwierig. Architekturtheorie hat sich in den letzten Jahren immer mehr in Stadttheorie aufgelöst.
Rein Architekturtheoretische Werke die sich nicht mit Stadt oder dem Urbanen sondern mit
Architektur beschäftigen sind selten geworden. Darauf folgt, dass alle kritischen Beschäftigungen mit
dem Neoliberalismus im Bereich der Urbanistik und Stadtplanung stattfinden.
Um der Frage nachzugehen ob es antineoliberale Architektur gibt, hat es 2013 einen Kongress
gegeben ‘Is there (Anti-)Neoliberal Architecture?‘
Ein Beispiel: Pier Vittorio Aureli machte zwei provokante Publikationen, er nimmt eine sehr explizite
Position in der Debatte ein. Ein Werk von 2008 ‘The project of autonomy - politics and architecture
within and against capitalism‘ versucht die alte, bereits tot geglaubte Theorie aus der Moderne
wiederzubeleben - Architektur als etwas autonomes. Das war ursprünglich eine Idee der modernen
Architekten (vor allem LEC)
Architekturtheorie Heute [90 / 93]
Architektur kann als eine von vielen Bedingungen abhängende Kunst heteronom (fremdbestimmt)
und niemals autonom sein. Die Autonomie war die große zentrale Erfindung der Moderne - vorher
waren auch bildende Künstler immer auftragsabhängig erst in der Moderne wird er unabhängig,
autonom und folgt seinem eigenen Gesetzt
Was kann eine Architektur sein, die diesem Anspruch der Autonomie für sich stellen möchte? Es ist
Architektur die auf dem Papier bleibt, die Projekt/Utopie bleibt, sich bestimmten Bedingungen gar
nicht stellen muss. Das leuchtet irgendwie ein, das kann autonom sein, ist der bildenden Kunst sehr
ähnlich - wenn Architektur aber realisiert wird, verliert sie Autonomie.
Warum interessiert sich Aureli für eine Autonomie der Architektur? Das hat mit der
politischen Funktion von Architektur zu tun die ihm ein Anliegen ist. Die Autonomie ist die
Eigenschaft die ein selbständiges politisches Wesen besitzen muss, um in einer politischen
Demokratie handeln zu können. Eine Meinung in einem demokratischen Prozess kann nur dann
etwas wert sein, wenn sie unbeeinflusst (autonom) ist und nicht in Abhängigkeiten verstrickt ist - das
was ausgesagt wird also gar nicht der Meinung entspricht.
Das heißt: für eine politische Position die sich gegen eine herrschende Gesellschaftsordnung oder
Mehrheitsmeinung artikulieren möchte, muss eine autonome Position vorausgesetzt werden.
Interessant ist, auf welche Beispiele sich Aureli bezieht
Er verweist vor allem auf Aldo Rossi (bedeutender ital. Architekt der Nachkriegszeit dessen Bauwerke
nicht Papier blieben sondern umgesetzt worden sind) Seine Gebäude verkörpern laut Aureli die
autonome Idee von Architektur - bis zu einem gewissen Grad durch Schroffheit und Absolutheit der
geometrischen Form. Die reine architektonische Form, die meistens eher eine reine geometrische
Form ist, interessiert ihn nicht so.
Vielmehr die gewisse Störung, die durch solche Bauwerke innerhalb eines städtischen Gefüges
bewirkt werden, die sonst nur auf Effizienz und funktionieren ausgerichtet sind.
Zum Beispiel beim Friedhof von San Cataldo von Aldo Rossi in Modena - der wurde 1978–84
ungefähr zur Hälfte umgesetzt. Beinhaus, Mauer in der Mitte und 3 Flügel wurden gebaut, der
hintere Teil ist nicht realisiert. Eine unglaublich geschlossene, abweisende, traurige Architektur - was
für einen Friedhof in gewisser Weise angemessen ist.
Mittlerweile dient das Beinhaus als Urnengrabstätte, und zwar nur noch das Skelet des Bauwerks. Es
hat kein Dach und keine Fenster mehr, nur noch Löcher, es ist auf seine letzte Typologie, auf reine
Form reduziert. Die Wandelhalle, die auch durch Monotonie und durch Abstoßung dessen, wovon
man sich angenommen oder heimisch fühlen könnte, eine spezielle Wirkung erzielt. Friedhof - Thema
Trauer - Rossi hat das bis ins letzte Detail umgesetzt.
Das ist nicht, warum sich Aureli dafür interessiert. Er hat das auch bei Bauaufgaben durchgesetzt die
ganz entgegengesetzt sind.
Grundschule nähe Varese. Eine Innenhofsituation mit Bibliotheksturm wie ein Gefängnisturm der
nur von oben belichtet wird. Der Charakter des Strengen, des Abweisenden, des Grenzen setzen - im
Gegensatz zum Neoliberalismus, der verführerisch ist, alles soll sich bewegen, alles fließt.
Man fragt sich, wie man für Kinder ein so abweisendes Gebäude bauen kann. Man kann es mit der
Interpretation von Aureli lesen, dass es ein ähnlicher Versuch wie in der Gegenüberstellung von
Autonomie-Ästhetik von Eisenmann und Adorno ist. Für Adorno war das Unverständliche, das
Abweisende, das keiner bestimmten Funktion folgende, ein Zeichen von Wiederstand gegen die
Gesellschaft.
Aureli empfindet die Möglichkeit einen solchen Widerstand auszuüben, indem mit solchen
Grenzen/Mauern eine monumentale Schweigsamkeit errichtet wird. Sie wartet darauf, das sich die
Gesellschaft doch eines Tages wandelt und sich doch vom Kapitalismus abwendet.
Architekturtheorie Heute [91 / 93]
Die zweite Publikation von Pier Vittorio Aureli ‘The possibility of an absolute architecture‘ von 2011
setzt nochmal nach: Er führt nach dem Begriff der Autonomie den Begriff des Absoluten ein. Er
definiert den Begriff des folgendermaßen
‘Ich verwende ‘absolut‘ nicht im herkömmlichen Sinne von ‘Reinheit‘, sondern in der
ursprünglichen Bedeutung als etwas, das nach dem Sein entschieden ist, nachdem es von
seinem anderen ‘getrennt‘ ist. In der Jagd der Möglichkeit einer absoluten Architektur, der
anders ist als der Raum der Stadt, ihre umfangreiche Organisation und ihre Regierung.‘
Hier wird im Gegensatz zu 99,9% der Architekturtheorie, Architektur als etwas von der Stadt
getrenntes beschrieben. Das ist sehr radikal, das findet man sonst nirgends Er sagt nicht nur, dass es
Architektur auch noch gibt, sondern dass sie erst durch die Unterscheidung von der Stadt entsteht
und auch durch gewisse Weise das Andere der Stadt ist
„Wenn Politik durch Trennung und Konfrontation zu Agonismus [Streit] wird, so liegt gerade
in der Trennung, die der architektonischen Gestaltung innewohnt, die politische Architektur
und damit die Möglichkeit, das agonistische Verhältnis von Architektur und Kontext zu
verstehen.“
Das sich absetzen, aufrichten von Mauern, das wodurch Architektur eigentlich beginnt, mit der
Definition innen und außen, das interpretiert Aureli weiter. Das ziehen von Grenzen definiert nicht
bloß innen und außen, sondern in einem politischen Wettkampf der Meinungen und der
unterschiedlichen Positionen, werden bestimmte Grenzen zwischen Meinungen, Koalitionen etc.
gezogen - das macht das Wesen des politischen in einem demokratischen Verständnis aus.
Wenn einem totalitären System gibt es diese Grenzen nicht, dann da ist klar was getan werden muss,
das geht von oben nach unten. Wenn ich ein demokratisches Gemeinwesen als Bild habe, gibt es
diese unterschiedlichen Interessen, die gegeneinander in einen Wiederstreit treten. Damit sagt Aureli
dadurch, dass die Architektur solche Grenzen setzt, ist sie politisch.
Das ist laut Wagner aber ein klassischer Kurzschluss. Er fügt zwei Dinge zusammen die ähnlich klingen
aber niemals das Gleiche sein können. Nur, wenn jemand eine Mauer errichtet und Grenzen in
architektonischen Sinne definiert, ist noch lange nicht gesagt, dass das politische Folgen haben
könnte. Genauso wie umgekehrt das Auflösen von solchen Grenzen noch keine politischen
Implikationen hat.
Die kann es bekommen (Pavillon, Lernzentrum) aber es ist nicht so, dass es immer so sein muss, rein
durch die architektonische Form - für Aureli ist aber schon mit der Form als Solche die politische
Haltung inhärent [anhaftend].
‘Der Zustand der architektonischen Form ist zu trennen und getrennt zu werden. Durch ihren
Trennungsakt und das getrennt sein verrät die Architektur das Wesen der Stadt und das
Wesen von sich selbst als politische Form: die Stadt als Komposition von (getrennten) Teilen.‘
Aureli wird massiv rezipiert vor allem von den Linken, weil er wirklich eine herausragende Position
einnimmt, ein Alleinstellungsmerkmal hat: Die Haltung, ist laut Wagner aber höchst problematisch.
15. Zur Theorie des architektonischen Werkzeugs
Ein anderer Theoretiker und sein Buch, das für viel Aufmerksamkeit gesorgt hat. Es beschäftigt sich
weniger mit den politischen Implikationen der Architektur sondern mit dem Werkzeug der
Digitalisierung. Es kann große Auswirkungen darauf haben, wie Architektur in einem
gesellschaftlichen und politischen Zusammenhang wirkt.
Mario Carpo hat 2011 sein Buch ‘The alphabet and the algorithm‘ raus gebracht. Er teilt die
Geschichte der Architektur in drei große Phasen ein, indem danach betrachtet, welche Medien die
Architekten für die Herstellung von Architektur verwenden
Architekturtheorie Heute [92 / 93]
- Erste Phase, Antike/Mittelalter. Zwischen planen und ausführen eines Gebäude gibt es keinen
wirklichen Unterschied. Es gibt nur selten Baupläne, wenn werden sie vor Ort gemacht, oder am
Boden 1 zu 1. Der Architekt ist in früheren Zeit im Handwerksverband als Baumeister als Steinmetz
o.ä. mit tätig. Es gibt die Unterscheidung zwischen Planer als reinen Theoretiker und ausführendem
Handwerker erst später. Das bedeutet, dass jedes Gebäude ein Original ist. Ähnlich wie ein Bild, eine
Skulptur, das von einem Künstler hergestellt wird - es ist ein Original, weil es diesen direkten Konnex
gibt, weil es nicht sowas wie einen Plan von einer Skulptur gibt sondern die wird vom Künstler selbst
geschnitzt.
- Zweite Phase, beginnt in der Renaissance. Es gibt laut Nelson Goodman (seit seiner Definition 1968)
einen Unterschied zwischen autographischen (Malerei, Bildhauerei ,...) und allographischen Künsten
(Musik, Architektur,...). Autographische Kunst bedeutet, der Künstler stellt das Kunstwert selbst her der Begriff des Originals ist wichtig. Das Andere ist nur eine Kopie, eine mechanische Reproduktion
davon. Allographische Kunst ist zum Beispiel Musik und Architektur.
Es ist es nicht mehr unbedingt sinnvoll von einem Original zu sprechen, weil das Original der Plan
oder die Partitur ist, ein Musikstück das dann von Musikern interpretiert und aufgeführt wird. In der
Architektur genauso. ‘In Alberti‘s theory, the design of a building is the original, and the building is its
copy.‘ In dem Augenblick wo der Plan entsteht, wird das danach gebaute Gebäude zur Kopie. Ich
könnte von einem Plan hunderte Gebäude errichten, keines ist originaler als das andere - wie in der
Aufführung, eines Musikstücks. Die Interpretation des Gebäudes wird sozusagen zur Interpretation
des Planes.
Das hängt mit einer Erfindung zusammen, dem Buchdruck. Dadurch wird es ermöglicht, dass
Ansichten, Schnitte, Grundrisse von Gebäuden multipliziert und verbreitet werden. So wurde die
Renaissance zu einem neuem Baustil, der sich in ganz Europa verbreiten konnte Es kommt zu
medialer Revolution und Gutenberg hatte massiven Einfluss auf die Architektur.
- Dritte Phase: Heute. Wieder ausgelöst durch eine technologische Erfindung, die Digitalisierung. Wir
befinden uns durch den Computer in einer neuen Situation. Es ist nun möglich, dass nicht nur eine
sondern mehrere Personen an einem Plan arbeiten. Das wesentliche: der große kategoriale
Unterschied zwischen dem Plan - dem Original - und der Kopie also dem Bauwerk löst sich wieder
auf. Man hat also wieder eine Situation, die wieder ein bisschen einer Situation im Mittelalter gleicht.
Direkt von der Planung im Computer kann ein Roboter gesteuert werden, der zum Beispiel eine
Ziegelwand aufstellt. Planen und Ausführen erfolgt also digital. Der große Unterschied zum
Mittelalter ist, dass man theoretisch hunderte idente Ziegelwände aufstellen könnte.
Das Original des Bauwerks, im Sinne der autografischen Kunst, gibt es nicht mehr. Die Differenz
zwischen Plan/Partitur/Konzept einerseits und der Ausführung/der Interpretation andererseits auch
nicht mehr - wie man weiß, ein Roboter interpretiert nicht.
Texte lesen, Delirious NY lesen
Architekturtheorie Heute [93 / 93]
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