Das Theater der Wiederholung HUFS Seoul 12.09.15 Einleitung Der

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Das Theater der Wiederholung
HUFS Seoul 12.09.15
Einleitung
Der Titel meines Vortrags geht auf ein gleichnamiges Forschungsprojekt der
Deutschen Forschungsgemeinschaft zurück, das ich in Leipzig seit zwei
Jahren leite. Das Projekt befasst sich mit der auffallenden Wiederkehr von
Geschichte in den zeitgenössischen Künsten in Deutschland, Europa und
den USA. Ein signifikantes Beispiel dafür ist die Performancekunst. Wurde
diese noch vor 20 Jahren als ein unwiederholbares Ereignis vollkommener
Präsenz verstanden und praktiziert, so veranstalten die Performerinnen
und
Performer
heute
allerorten
künstlerische
Reenactments:
Sie
wiederholen frühere Performances wie Maria Abramovic in „Seven Easy
Pieces“, ausgerechnet in einem Museum, dem Guggenheim in New York
2005.
Oder
sie
wiederholen
historische
Ereignisse
wie
den
Bergarbeiterstreik in England 1984/85 oder die Montagsdemonstrationen
in Leipzig während der Friedlichen Revolution in der DDR 1989.
Die Wende der Performancekunst zum Reenactment, der künstlerischen
Wiederholung von Vergangenem, ist nur ein ein Feld, auf dem die
Wiederholung von Geschichte in den Künsten zu beobachten ist. Auch das
zeitgenössische Drama und Theater arbeiten in unübersehbarer Weise mit
Praktiken und Figuren der Wiederholung von Geschichte. Heiner Müller
war – in der Nachfolge von Brecht – der erste, der in seinen Stücken die
gespenstische Wiederkehr der Vergangenheit in der Gegenwart offenlegte.
„Germania 3. Gespenster am Toten Mann“, sein letztes Stück, macht das
schon im Titel deutlich. Wie kaum ein anderer Dramatiker vor ihm hat
1
Müller auf das Phänomen der Wiederholung aufmerksam gemacht und es
dramaturgisch genützt. In seinem Stück „Germania Tod in Berlin“, das die
deutsche Geschichte von der Novemberrevolution bis in die fünfziger Jahre
der DDR durchmisst, wiederholt Müller, um ein Beispiel zu nennen, die
Geschichte der feindlichen Brüder zur Zeit der alten Germanen und in
der Gefängniszelle nach dem niedergeschlagenen Arbeiteraufstand in der
DDR 1953. Er wiederholt das Motiv der feindlichen Brüder nicht, um das
Immergleiche von Geschichte zu zeigen, sondern das Wiederkehrende, sich
hartnäckig
am
Leben
Erhaltende
und
die
jeweiligen
Unterschiede
zwischen einst und jetzt.
Auch die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek sucht in ihren Texten nach
Vorgängen der Wiederholung von Geschichte und nützt sie für eine
besondere Technik des wiederholenden Schreibens. Ihr letztes Stück, „Die
Schutzbefohlenen“
das
auf
die
Flüchtlingsströme
reagiert
und
den
Skandal, wie Europa damit umgeht, versteht sich bewusst als eine
umschreibende Wiederholung der „Schutzflehenden“ des Aischylos. In
„Ulrike Maria Stuart“ sieht sie, wie es schon im Titel angedeutet ist, die
beiden prominenten Frauen der bundesrepublikanischen Terroristenszene,
Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin, aus der Perspektive der beiden
Königinnen Maria Stuart und Elisabeth I. in Schillers Trauerspiel „Maria
Stuart“.
In
Ermordung
ihrem
von
Stück
jüdischen
„Rechnitz
(Der
Würgeengel)“
Zwangsarbeitern
am
lässt
Kriegsende
sie
die
in
den
Berichten von Boten wiederkehren. Sie verbinden in ihrem Geplapper und
Gequassel die Banalität ihres heutigen Alltags nahezu bruchlos mit dem
Schrecken der Ereignisse von einst. Die Verbindung zwischen beiden erfolgt
in Jelineks Schreiben über den Wortwitz. Von einer Doppeldeutigkeit, von
2
einem Wortspiel aus gelangt ihr Text vom Trivialen zum Schrecklichen
und zurück.
Nicht nur die Dramatiker, auch die Regisseure des Gegenwartstheaters wie
Frank Castorf, Jossi Wieler und Laurent Chétouane verwenden die Figur
der
Wiederholung
als
strukturierendes
Element
ihrer
Theaterinszenierungen. Von einer Arbeit des Regissuers Jossi Wieler wird
später noch die Rede sein.
Woher stammt der Begriff der Wiederholung? Der erste Denker, der der
Wiederholung in der Neuzeit einen prominenten Platz zuweist, ist Sören
Kierkegaard. In seinem Essay „Die Wiederholung“ aus dem Jahr 1843
prognostiziert er, dass das Phänomen der Wiederholung künftig eine sehr
wichtige Rolle in der Philosophie spielen wird: „Die Wiederholung ist die
neue Kategorie, welche entdeckt werden soll.“ 1968 erscheint in Paris
Gilles
Deleuze’
Hauptwerk
„Differenz
und
Wiederholung“,
das
die
Wiederholung als Grundfigur des Handelns untersucht. Aus beiden Werken
können wir wertvolle Einsichten für die Analyse der Wiederkehr der
Geschichte in der Gegenwartskunst gewinnen.
Ich möchte Ihnen im Folgenden einen Einblick in diese Arbeit geben. Dazu
stelle ich Ihnen in einem ersten Teil meines Vortrags zunächst das Theater
des Historismus vor. Es ist das Gegenmodell zum Theater der Wiederholung
und entfaltet vom 19. Jahrhundert eine bis in die Gegenwart anhaltende
Wirkung. Jeder, der sich heute mit der Wiederkehr und Aneignung von
Geschichte in der Gegenwart beschäftigt, muss sich daher mit dem
Historismus auseinandersetzen. Ich möchte Ihnen das an einem Beispiel
3
zeigen,
das
selbst
historisch
ist:
Am
bewegten
Bühnenbild
der
französischen Grand Opéra „La Juive“ aus dem 19. Jahrhundert, einem
zentralen Ort des Historismus.
In den folgenden Abschnitten meines Vortrags werde ich dann die
Grundzüge des Theaters der Wiederholung erläutern, das wir gegenwärtig
untersuchen. In drei Schritten werde ich dazu jeweils eine theoretische
und praktische Figur vostellen. Zunächst die Überschreitung der Gegenwart
in der Wiederholung von Geschichte.
Dann die Verdichtung der Zeiten
und ihre Verräumlichung in der Konstruktion einer virtuellen RaumZeit.
Und schließlich möchte ich zeigen, dass die Wiederholung selbst immer
schon Theater ist, Verkleidung und Maskerade. Diese drei Theoreme sollen
hier nicht abstrakt abgehandelt werden, sondern an drei künstlerischen
Beispielen vorgestellt werden: An einem zeitgenössischen Theaterstück,
einem literarisch-philosophischen Essay und – den Bogen schließend - an
einer aktuellen Inszenierung der eben genannten Oper La Juive.
I Das Theater des Historismus
Der Kaiser kommt zuletzt. Er bildet den krönenden Abschluss einer nicht
enden
wollenden
Prozession
von
Hunderten
von
Soldaten,
Rittern,
Bischöfen und Kardinälen auf dem Konstanzer Konzil vor genau 600
Jahren. Wir wissen nicht, ob es diese Prozession je gegeben hat. Wenn ja,
dann sicher nicht so eindrucksvoll, wie im 19. Jahrhundert auf einer
Opernbühne in Paris. Dort bildet sie das hinreissende Finale des 1. Aktes
von Fromental Halévys Grand Opéra La Juive. Von der Pracht dieses Zuges
in
der
Uraufführung
von
1835
geben
zeitgenössische
Berichte
beeindruckend Auskunft: „Die Spitze der Wirkung war es“, heißt es da,
4
„als … unter dem Geläute der Glocken und Lobgesang in den Kirchen der
Einzug des Kaisers erfolgte, und sich die Masse aus der Tiefe der gewaltigen
Szene durch die Straße herauf, und dann wieder gegen den Vordergrund
herabbewegte. Man glaubt kaum, wie eine solche ansteigende, fallende und
dann wieder sich biegende Bewegung eines Zuges das Malerische desselben
erhebt!“
Eine Farblithographie zeigt uns diese „Wiederauferstehung des Mittelalters“
auf der Bühne. ( Abb. 1) Zwischen dem christlichen Dom und dem Haus
des jüdischen Goldschmieds, dessen Tochter die Protagonistin des Stücks ist,
sehen wir die Prozession. Im Zug der Massen, die sich auf die Zuschauer
zu bewegen, scheint die Vergangenheit lebendig zu werden und in die
Gegenwart einzutreten. Sie scheint es. Denn tatsächlich verläuft die
Bewegung umgekehrt. Das bewegte Bild mittelalterlicher Pracht und
Herrlichkeit
ist
nichts
als
eine
Projektion
der
Gegenwart
auf
die
Vergangenheit. Der Einzug des Kaisers ist eine Rückprojektion des 19.
Jahrhunderts. Er projiziert die Sehnsucht nach kaiserlicher Grandeur –
nach dem Ende Napoleopns – auf das Mittelalter. Kaum 15 Jahre später
hat sich die rückwärts gewandte Sehnsucht in der Herrschaft Napoleons III.
erfüllt.
Die
Rückprojektion
Grundoperation
des
der
Gegenwart
ästhetischen
auf
die
Historismus.
Vergangenheit
Nicht
nur
ist
die
das
19.
Jahrhundert, der sie entstammt, auch unsere Zeit, in Deutschland und
Europa, ist voll von diesen historistischen Geschichtsbildern. Wir erleben
seit 10 Jahren einen regelrechten Geschichtsboom. Fernsehfilme wie
„Dresden“, „Unsere Mütter, unsere Väter“ oder „Das Wunder von Bern“, in
5
denen
die
Geschichte
Bundesrepublik
mittels
des
Nationalsozialismus
heute
erlebbarer
und
Liebesintrigen
der
mit
jungen
heutigen
Gefühlen von heutigen Filmstars angeblich nahegebracht werden, sind ein
Renner. Massen von Publikum drängen sich neuerdings zu populären
Reenactments vergangener Schlachten, wie vor 2 Jahren anlässlich der
220. Wiederkehr der Völkerschlacht von Leipzig. Und gut besucht sind die
Living History Camps, in denen man angeblich erleben kann, wie man im
Mittelalter oder zur Zeit der alten Römer gelebt hat. Aber das Vergangene
ist tot. Der Glaube, man könne das Tote wiederbeleben, ist nichts als – ein
Glaube. Es ist letztendlich, ein neoreligiöses Verständnis von Geschichte.
Woher kommt dieses neoreligiöse Bedürfnis nach Geschichte in unserer
Zeit? Immer wird dabei gesagt, es ginge darum, Geschichte hautnah zu
erleben. Das nahezu libidinöse Bedürfnis nach Geschichte wird getrieben
von einem starken Erlebnishunger. Wenn mein Alltag erlebnisarm und
flach ist, soll das Erleben von Geschichte im historischen Kostüm und in
historischer Dekoration, durch die Einfügung meiner Person in ein
Geschichtsbild mich heraustragen aus diesem Alltag, soll mich erheben
und
mir
eine
gesteigerte
Selbsterfahrung,
gesteigerten
Selbstgenuss
verschaffen. Diese Selbstüberhöhung durch ‚Geschichte’ hat nichts mit
historischer Erfahrung zu tun. Aber sie ist ein Symptom, ein Anzeichen
dafür, wie Menschen in Krisenzeiten versuchen, sich zu stabilisieren und
sich Identität zu verschaffen Das mag aus ihrer Sicht verständlich sein, ist
aber rückwärtsgewand, sentimental und nostalgisch. „Der Historismus stellt
das ewige Bild der Vergangenheit dar“, hat Walter Benjamin in seinen
geschichtsphilosophischen Thesen konstatiert.
6
II Wiederholung und Überschreitung
„Und dann“ ist der Titel eines Stücks von Wolfram Höll, das 2014
mehrfach
ausgezeichnet
wurde.
Der
Autor,
in
Leipzig
im
Osten
Deutschlands geboren und aufgewachsen – der Stadt, in der ich seit
einigen Jahren unterrichte und lebe -
erzählt darin die Geschichte von
vier Verlierern der Wende und Wiedervereinigung in Ostdeutschland. Ein
Vater und drei Kinder, vier „Verlierlinge“, wie sie ein Neologismus auf
„Verlierer“ im Text nennt, leben in einem alten Plattenbau aus DDRZeiten nun in der wiedervereinigten Bundesrepublik und sind doch in der
Gegenwart nicht angekommen. Auch sie leben von einer Projektion. Das ist
ganz wörtlich gemeint. Jeden Abend nämlich schaltet der Vater einen
Filmprojektor ein und wirft damit das bewegte Bild der Mutter, die der
Familie abhanden gekommen ist, auf die Wände der umliegenden Häuser.
Das ist ein wunderbar-wörtliches Bild für die Nostalgie, die viele
Menschen nicht nur in Ostdeutschland umtreibt. Dieser Nostagie erliegt der
Text von Höll aber selbst nicht. Es ist ein Text ohne Figurenrede, der sich
durch viele Wiederholungen vorantastet
Und dann
sehen wir es
Da erscheint
sie
erscheint
sie
erscheint
sie
erscheint
gross
ganz gross
riesig auf der Fassade auf dem
Plattenbauhaus gegenüber
7
Die
Wiederholungen
bis
in
die
sprachlichen
Minstrukturen
hinein
produzieren ein Vor und Zurück, sie bewirken, dass der Text insgesamt
zwischen Vergangenheit und Gegenwart changiert, oszilliert. So öffnet sich
ein Erfahrungsraum der Vergangenheit in der Gegenwart, der nicht mit
ihrer Verlebendigung zu verwechseln ist. Sondern der die Spuren der
Erinnerung und die Modi des Erinnerns erfahrbar macht. Zugleich zeigt
sich in diesem Erfahrungsraum die Gegenwart durchsetzt von solchen
Wiederholungen
unberührt,
des
sondern
Vergangenen.
Sie
lassen
überschreiten
sie.
Die
die
Gegenwart
Wiederholung
nicht
kann
die
Vergangenheit nicht reanimieren, aber was und wie wiederholt wird,
verändert unser Denken und Fühlen, es bricht den allgegenwärtigen Alltag
auf und überschreitet ihn auf Zukunft hin.
Damit ist ein wesentliches Kennzeichen des Theaters der Wiederholung
benannt. Das Aktuelle der Wiederholung liegt, darauf haben Kierkegaard
und
Deleuze
Misslingen:
eindringlich
dem
hingewiesen,
Verfehlen
des
paradoxerweise
ursprünglichen
in
ihrem
Ereignisses.
Die
Wiederholung kehrt nicht zurück zu dem, wie es gewesen ist. Die Bewegung
zurück, die das Einstige erinnernd restaurieren und bewahren will, wird
durch das Scheitern der Restaurationsbewegung in die Gegenwart und über
sie hinaus getrieben. Der Wiederholung des Vergangenen ist daher die
Überschreitung
des
Gegenwärtigen
inhärent.
Die
Wiederholung,
so
Kierkegaard, ist ein Erinnern „nach vorwärts“, auf Zukünftiges hin. Die
Orientierung auf Zukunft hin ist ein wichtiges Kriterium, das die
Wiederholung
von
der
Praxis
des
Historismus
und
des
kollektiven
Gedächtnisses unterscheidet.
8
II Wiederholung und Raumzeit
Um zu erfahren, „ob eine Wiederholung möglich ist“1, reist Constantin
Constantius, der Erzähler in Sören Kierkegaards Essay „Die Wiederholung“
von 1843 nach Berlin, der Stadt, in der er früher schon einmal gewesen
ist.
Gleich
nach
seiner
Ankunft
dort
sucht
er
die
Wohnung
am
Gendarmenmarkt auf, in der bei seinem vorigen Aufenthalt gewählt hatte
und beschreibt, was er hier vorfindet:
„(Z)wei Zimmer, von ganz gleicher Gestalt, übereinstimmend möbliert,
wie man in einem Spiegel ein Zimmer doppelt sieht. Das hintere Zimmer
ist geschmackvoll erleuchtet. Ein Armleuchter steht auf einem Arbeitstisch,
ein leicht geschwungener Lehnstuhl, bezogen mit rotem Samt, steht vor
diesem. Das vordere Zimmer ist nicht erleuchtet. Hier mischt sich des
Mondes
bleiches
Licht
mit
der
stärkeren
Beleuchtung
des
hinteren
Zimmers. Man setzt sich auf einen Stuhl am Fenster, man betrachtet den
großen Platz, man sieht die Schatten der Vorbeigehenden über die Mauern
huschen, alles verwandelt sich zu einer szenischen Dekoration. Eine
Traumwirklichkeit dämmert im Hintergrund der Szene. Man fühlt eine
Lust,
den
Mantel
umzuwerfen
und
sich
leise
die
Mauer
entlangzuschleichen, mit spähenden Blicken, aufmerksam auf jeden Laut.
Man tut dies nicht, man sieht bloß sich selbst verjüngt dies tun. (...)Man
löscht die Lichter, man zündet ein kleines Nachtlicht an. Das Mondlicht
ist jetzt alleiniger Sieger. Ein einzelner Schatten zeigt sich noch dunkler,
ein einzelner Fußtritt braucht lange Zeit, sich zu verlieren. Des Himmels
1
Sören Kierkegaard: Die Wiederholung, in: S.K. Werke II, Reinbek 1961, S. 5-83, hier
S. 7.
9
wolkenlose Wölbung sieht so wehmütig und gedankenvoll träumend aus,
als wäre der Weltuntergang schon vorüber und der Himmel ungestört mit
sich selbst beschäftigt.“2
Das also ist die Szene, die sich Constantin Constantius bei seinem
wiederholten Besuch in der Berliner Wohnung darbietet, denkt der Leser.
„Aber ach, hier war keine Wiederholung möglich“3, schreibt Constantius
wenige Zeilen später, weil der Zimmerwirt sich inzwischen verheiratet hat
und den Großteil der Wohnung selbst nutzt. Wann und wo aber dann ist
die Szene angesiedelt, die wir gerade noch für die des wiederholten
Besuchs
in
Berlin
hielten?
Weder
in
der
Gegenwart
noch
in
der
Vergangenheit und ganz und gar nicht in der aktuellen Wirklichkeit.
Obgleich die Beschreibung eine Menge Realien aufgreift, nehmen diese in
der Beschreibung als „szenische(.) Dekoration“4nicht geheuren Charakter
an. Das Clair-obscure, in das die Szene getaucht ist, das gespiegelte
Zimmer, das daraus entwichene Leben und das Eigenleben der Dinge,
Schatten und Gesten, das alles offenbart die gespenstische Existenz der
Szenerie. Ihre Zeit ist die Schnittstelle von retrospektiven und prospektiven
Text-Zügen. Unterschiedliche Zeitschichten, unterschiedliche zeitliche
Ereignisse sind hier übereinander gelagert. Zeit hat sich hier verräumlicht.
Sie ist zur Raumzeit geworden. Der Ort dieser RaumZeit ist im Hier und
Jetzt. Aber ihre Form ist nicht die Aktualität, sondern die Virtualität.
Virtuelle Räume sind Möglichkeitsräume. Voll mit Figuren, Überresten,
Erinnerungssplitter aller Zeiten, die untereinander korrespondieren und
Konstellationen bilden.
2
A.a.O., S. 25.
3
Ebd.
4
Ebd.
10
III Wiederholung und Theater
Lassen Sie mich noch einmal auf die Oper La Juive zurückkommen. 2008
wird sie in der Stuttgarter Staatsoper in einer Inszenierung von Jossi
Wieler und Sergio Morabito erneut aufgeführt. Wenn der Vorhang aufgeht,
glaubt man sich wieder in die Vergangenheit versetzt. (Abb. 2) Die Bühne
von Bert Neumann greift auf das Bühnenbild der Uraufführung zurück:
links der Dom, rechts das Haus des jüdischen Goldschmieds,
herausgeschnitten aus dem schwarzen Bühnenhintergrund und hell
angestrahlt – etwas puppenstubenhaft, unwirklich und nicht geheuer. Auf
der Bühne der Stuttgarter Staatsoper wiederholt sich Geschichte. Nicht als
lebendiggewordene Vergangenheit des Mittelalters, sondern als
Wiederholung von dessen erster Wiederholung 1835. Auch das
mittelalterliche Konstanz von 1415 auf der Bühne der Grand Opéra war
bereits Theater: Dekoration, Kostüme, Komparserie. Ursprünglich in der
Wiederholung, so Deleuze, ist die Verkleidung. „Tatsächlich ist die
Wiederholung das, was sich verkleidet (...). Sie liegt nicht unter den
Masken, sondern bildet sich von einer Maske zur anderen (...) Die Masken
verdecken nichts, nur andere Masken. Es gibt keinen ersten Term der
wiederholt würde.“ Wiederholung und Theater sind nicht zu trennen.
Wieler und Morabito exponieren das Theaterhafte der Wiederholung. Wenn
die Bühne sich zum ersten Mal dreht, sieht man die Rückseite von Dom
und Goldschmiedehaus: nichts als Kulissen, die Fassaden getragen und
gestützt von einem dreigeschossigen Holzgerüst, die einzelnen Ebenen durch
Treppen verbunden. (Abb. 3).
11
Die Ausstellung des Theaters der Wiederholung hat eine ausgesprochen
politische
Wirkung.
Thema
von
La
Juive
ist
der
mörderische
Antisemitismus. 5 Akte hindurch geht es durch alle Verwicklungen der
Handlung hindurch immer nur um das Eine: Dass die Juden Fremdkörper
in der christlichen Gemeinschaft sind, die wahlweise in den See geworfen,
verbrannt gehören oder, wie es am Ende geschieht, in einen Kessel mit
kochendem Wasser geworfen werden. Der antisemitische Hass wird von
Stereotypen des Eigenen und des Fremden genährt. Die Inszenierung
unterläuft die tödlichen Stereotypen durch die gezielte Offenlegung von
Verkleidung und Maskerade. Sie greift dabei auf eine Maskerade zurück,
die in der Realität der Judenverfolgung tatsächlich stattgefunden hat.
1938 haben ganz in der Nähe der Stadt Konstanz in einem Fastnachtszug
Schüler und Lehrer einer Schule die Deportation jüdischen Bürger
verhöhnend wiederholt haben. (Abb. 4)Sie haben sich der Hasskarikatur
des Juden entsprechend verkleidet und sind durch die Straßen der Stadt
gezogen. Die Regisseure Wieler und Morabito bauen dieses Ereignis in ihre
Inszenierung ein. Zu Beginn des 5. Akts, als die Christen triumphieren,
dass die Juden nun getötet werden, kleidet sich der Chor der Konstanzer
Bürger in stereotype Judenmasken des 20. Jahrhunderts, um darin in
diebischer Freude Gold und Perlen an sich zu bringen und Schuldscheine
zu zerreißen – durchweg mit karikierenden jüdischen Gebärden. Der
Effekt ist, dass man als Zuschauer nicht mehr weiß, wer wen spielt und
wer wer ist: Handelt es sich hier um jüdische Stereotypen oder um Christen
bei der Arisierung? Verwirrender noch wird es, wenn im anschließenden
Trauermarsch der zur Hinrichtung geführten jüdischen Bürger derselbe
Chor nun die Bilder von Juden auf dem Weg in die Deportation
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nachahmt, dabei erst noch alles an Schmuck an sich raffend, was auf der
Straße liegt, dann unmerklich übergehend in einen Zug des Jammers, der
(ausgerechnet) im christlichen Dom verschwindet. (Abb. 5)
Die Ausstellung der Verkleidung und Maskerade in diesem Theater der
Wiederholung bricht mit der politischen Schwarzweiss-Malerei. Auch mit
der moralischen Schwarzweiss-Malerei des kollektiven Gedächtnisses an
den Holocaust. Immer sind hier die Grenzen klar gezogen. Die Täter sind
die Anderen, die Monster. Wir sind die Guten, zusammen mit den Opfern,
die wir mit uns auf einen Altar stellen und überhöhen. Die ausgestellte
Verkelidung
und
Maskerade
in
der
Inszenierung
von
„La
Juive“
überschreitet solche klar gezogenen Grenzen. Sie kontaminiert das Bild der
Opfer mit dem Klischee des geldgierigen Juden, das sie überblendet in das
des Deutschen, der sich am jüdischen Vermögen bereichert. So höhlt die
Inszenierung die vorgefertigten Bilder des Eigenen und des Fremden aus
und ergreift uns, bis wir uns kein Bild mehr machen können, sondern
durch die Bild-Ruinen des Jüdischen und Christlichen gehen. In diesem
Theater der Wiederholung sehen wir dann, was uns am Andern wie an
uns selbst erblickt: das Gesicht des Fremden, der weder Jude ist noch
Christ.
Lassen Sie mich in wenigen Sätzen zusammenfassen: Das Theater der
Wiederholung, das wollte ich ihnen zeigen, wendet sich nicht nostalgisch
der Vergangenheit zu, sonder begreift Geschichte als Ressource für die
Zukunft. „Der Dialog mit den Toten muss gesucht werden“, sagt Heiner
Müller, „damit sie herausgeben, was an Zukunft mit ihnen begraben
wurde.“ Die Wiederholung der gespenstischen Überreste der Geschichte
13
eröffnet einen virtuellen Raum in der Gegenwart, in der Vergangenes und
Gegenwärtiges,
Nahes
und
Fernes
Konstellationen
bilden,
die
die
Möglichkeiten eines anderen Lebens aufscheinen lassen. Ausschlaggebend
dafür ist
das Medium
des Theaters
als
ein
Phänomen
des Nicht-
Ursprünglichen, Sekundären, Uneigentlichen. Denn nur, wenn wir uns
verabschiedet haben
von
allem, was wir unser Ursprüngliches und
Eigenstes nennen, kann die Wiederholung die Gegenwart auf Zukunft
hinüberschreiten.
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