Das Theater der Wiederholung HUFS Seoul 12.09.15 Einleitung Der Titel meines Vortrags geht auf ein gleichnamiges Forschungsprojekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft zurück, das ich in Leipzig seit zwei Jahren leite. Das Projekt befasst sich mit der auffallenden Wiederkehr von Geschichte in den zeitgenössischen Künsten in Deutschland, Europa und den USA. Ein signifikantes Beispiel dafür ist die Performancekunst. Wurde diese noch vor 20 Jahren als ein unwiederholbares Ereignis vollkommener Präsenz verstanden und praktiziert, so veranstalten die Performerinnen und Performer heute allerorten künstlerische Reenactments: Sie wiederholen frühere Performances wie Maria Abramovic in „Seven Easy Pieces“, ausgerechnet in einem Museum, dem Guggenheim in New York 2005. Oder sie wiederholen historische Ereignisse wie den Bergarbeiterstreik in England 1984/85 oder die Montagsdemonstrationen in Leipzig während der Friedlichen Revolution in der DDR 1989. Die Wende der Performancekunst zum Reenactment, der künstlerischen Wiederholung von Vergangenem, ist nur ein ein Feld, auf dem die Wiederholung von Geschichte in den Künsten zu beobachten ist. Auch das zeitgenössische Drama und Theater arbeiten in unübersehbarer Weise mit Praktiken und Figuren der Wiederholung von Geschichte. Heiner Müller war – in der Nachfolge von Brecht – der erste, der in seinen Stücken die gespenstische Wiederkehr der Vergangenheit in der Gegenwart offenlegte. „Germania 3. Gespenster am Toten Mann“, sein letztes Stück, macht das schon im Titel deutlich. Wie kaum ein anderer Dramatiker vor ihm hat 1 Müller auf das Phänomen der Wiederholung aufmerksam gemacht und es dramaturgisch genützt. In seinem Stück „Germania Tod in Berlin“, das die deutsche Geschichte von der Novemberrevolution bis in die fünfziger Jahre der DDR durchmisst, wiederholt Müller, um ein Beispiel zu nennen, die Geschichte der feindlichen Brüder zur Zeit der alten Germanen und in der Gefängniszelle nach dem niedergeschlagenen Arbeiteraufstand in der DDR 1953. Er wiederholt das Motiv der feindlichen Brüder nicht, um das Immergleiche von Geschichte zu zeigen, sondern das Wiederkehrende, sich hartnäckig am Leben Erhaltende und die jeweiligen Unterschiede zwischen einst und jetzt. Auch die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek sucht in ihren Texten nach Vorgängen der Wiederholung von Geschichte und nützt sie für eine besondere Technik des wiederholenden Schreibens. Ihr letztes Stück, „Die Schutzbefohlenen“ das auf die Flüchtlingsströme reagiert und den Skandal, wie Europa damit umgeht, versteht sich bewusst als eine umschreibende Wiederholung der „Schutzflehenden“ des Aischylos. In „Ulrike Maria Stuart“ sieht sie, wie es schon im Titel angedeutet ist, die beiden prominenten Frauen der bundesrepublikanischen Terroristenszene, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin, aus der Perspektive der beiden Königinnen Maria Stuart und Elisabeth I. in Schillers Trauerspiel „Maria Stuart“. In Ermordung ihrem von Stück jüdischen „Rechnitz (Der Würgeengel)“ Zwangsarbeitern am lässt Kriegsende sie die in den Berichten von Boten wiederkehren. Sie verbinden in ihrem Geplapper und Gequassel die Banalität ihres heutigen Alltags nahezu bruchlos mit dem Schrecken der Ereignisse von einst. Die Verbindung zwischen beiden erfolgt in Jelineks Schreiben über den Wortwitz. Von einer Doppeldeutigkeit, von 2 einem Wortspiel aus gelangt ihr Text vom Trivialen zum Schrecklichen und zurück. Nicht nur die Dramatiker, auch die Regisseure des Gegenwartstheaters wie Frank Castorf, Jossi Wieler und Laurent Chétouane verwenden die Figur der Wiederholung als strukturierendes Element ihrer Theaterinszenierungen. Von einer Arbeit des Regissuers Jossi Wieler wird später noch die Rede sein. Woher stammt der Begriff der Wiederholung? Der erste Denker, der der Wiederholung in der Neuzeit einen prominenten Platz zuweist, ist Sören Kierkegaard. In seinem Essay „Die Wiederholung“ aus dem Jahr 1843 prognostiziert er, dass das Phänomen der Wiederholung künftig eine sehr wichtige Rolle in der Philosophie spielen wird: „Die Wiederholung ist die neue Kategorie, welche entdeckt werden soll.“ 1968 erscheint in Paris Gilles Deleuze’ Hauptwerk „Differenz und Wiederholung“, das die Wiederholung als Grundfigur des Handelns untersucht. Aus beiden Werken können wir wertvolle Einsichten für die Analyse der Wiederkehr der Geschichte in der Gegenwartskunst gewinnen. Ich möchte Ihnen im Folgenden einen Einblick in diese Arbeit geben. Dazu stelle ich Ihnen in einem ersten Teil meines Vortrags zunächst das Theater des Historismus vor. Es ist das Gegenmodell zum Theater der Wiederholung und entfaltet vom 19. Jahrhundert eine bis in die Gegenwart anhaltende Wirkung. Jeder, der sich heute mit der Wiederkehr und Aneignung von Geschichte in der Gegenwart beschäftigt, muss sich daher mit dem Historismus auseinandersetzen. Ich möchte Ihnen das an einem Beispiel 3 zeigen, das selbst historisch ist: Am bewegten Bühnenbild der französischen Grand Opéra „La Juive“ aus dem 19. Jahrhundert, einem zentralen Ort des Historismus. In den folgenden Abschnitten meines Vortrags werde ich dann die Grundzüge des Theaters der Wiederholung erläutern, das wir gegenwärtig untersuchen. In drei Schritten werde ich dazu jeweils eine theoretische und praktische Figur vostellen. Zunächst die Überschreitung der Gegenwart in der Wiederholung von Geschichte. Dann die Verdichtung der Zeiten und ihre Verräumlichung in der Konstruktion einer virtuellen RaumZeit. Und schließlich möchte ich zeigen, dass die Wiederholung selbst immer schon Theater ist, Verkleidung und Maskerade. Diese drei Theoreme sollen hier nicht abstrakt abgehandelt werden, sondern an drei künstlerischen Beispielen vorgestellt werden: An einem zeitgenössischen Theaterstück, einem literarisch-philosophischen Essay und – den Bogen schließend - an einer aktuellen Inszenierung der eben genannten Oper La Juive. I Das Theater des Historismus Der Kaiser kommt zuletzt. Er bildet den krönenden Abschluss einer nicht enden wollenden Prozession von Hunderten von Soldaten, Rittern, Bischöfen und Kardinälen auf dem Konstanzer Konzil vor genau 600 Jahren. Wir wissen nicht, ob es diese Prozession je gegeben hat. Wenn ja, dann sicher nicht so eindrucksvoll, wie im 19. Jahrhundert auf einer Opernbühne in Paris. Dort bildet sie das hinreissende Finale des 1. Aktes von Fromental Halévys Grand Opéra La Juive. Von der Pracht dieses Zuges in der Uraufführung von 1835 geben zeitgenössische Berichte beeindruckend Auskunft: „Die Spitze der Wirkung war es“, heißt es da, 4 „als … unter dem Geläute der Glocken und Lobgesang in den Kirchen der Einzug des Kaisers erfolgte, und sich die Masse aus der Tiefe der gewaltigen Szene durch die Straße herauf, und dann wieder gegen den Vordergrund herabbewegte. Man glaubt kaum, wie eine solche ansteigende, fallende und dann wieder sich biegende Bewegung eines Zuges das Malerische desselben erhebt!“ Eine Farblithographie zeigt uns diese „Wiederauferstehung des Mittelalters“ auf der Bühne. ( Abb. 1) Zwischen dem christlichen Dom und dem Haus des jüdischen Goldschmieds, dessen Tochter die Protagonistin des Stücks ist, sehen wir die Prozession. Im Zug der Massen, die sich auf die Zuschauer zu bewegen, scheint die Vergangenheit lebendig zu werden und in die Gegenwart einzutreten. Sie scheint es. Denn tatsächlich verläuft die Bewegung umgekehrt. Das bewegte Bild mittelalterlicher Pracht und Herrlichkeit ist nichts als eine Projektion der Gegenwart auf die Vergangenheit. Der Einzug des Kaisers ist eine Rückprojektion des 19. Jahrhunderts. Er projiziert die Sehnsucht nach kaiserlicher Grandeur – nach dem Ende Napoleopns – auf das Mittelalter. Kaum 15 Jahre später hat sich die rückwärts gewandte Sehnsucht in der Herrschaft Napoleons III. erfüllt. Die Rückprojektion Grundoperation des der Gegenwart ästhetischen auf die Historismus. Vergangenheit Nicht nur ist die das 19. Jahrhundert, der sie entstammt, auch unsere Zeit, in Deutschland und Europa, ist voll von diesen historistischen Geschichtsbildern. Wir erleben seit 10 Jahren einen regelrechten Geschichtsboom. Fernsehfilme wie „Dresden“, „Unsere Mütter, unsere Väter“ oder „Das Wunder von Bern“, in 5 denen die Geschichte Bundesrepublik mittels des Nationalsozialismus heute erlebbarer und Liebesintrigen der mit jungen heutigen Gefühlen von heutigen Filmstars angeblich nahegebracht werden, sind ein Renner. Massen von Publikum drängen sich neuerdings zu populären Reenactments vergangener Schlachten, wie vor 2 Jahren anlässlich der 220. Wiederkehr der Völkerschlacht von Leipzig. Und gut besucht sind die Living History Camps, in denen man angeblich erleben kann, wie man im Mittelalter oder zur Zeit der alten Römer gelebt hat. Aber das Vergangene ist tot. Der Glaube, man könne das Tote wiederbeleben, ist nichts als – ein Glaube. Es ist letztendlich, ein neoreligiöses Verständnis von Geschichte. Woher kommt dieses neoreligiöse Bedürfnis nach Geschichte in unserer Zeit? Immer wird dabei gesagt, es ginge darum, Geschichte hautnah zu erleben. Das nahezu libidinöse Bedürfnis nach Geschichte wird getrieben von einem starken Erlebnishunger. Wenn mein Alltag erlebnisarm und flach ist, soll das Erleben von Geschichte im historischen Kostüm und in historischer Dekoration, durch die Einfügung meiner Person in ein Geschichtsbild mich heraustragen aus diesem Alltag, soll mich erheben und mir eine gesteigerte Selbsterfahrung, gesteigerten Selbstgenuss verschaffen. Diese Selbstüberhöhung durch ‚Geschichte’ hat nichts mit historischer Erfahrung zu tun. Aber sie ist ein Symptom, ein Anzeichen dafür, wie Menschen in Krisenzeiten versuchen, sich zu stabilisieren und sich Identität zu verschaffen Das mag aus ihrer Sicht verständlich sein, ist aber rückwärtsgewand, sentimental und nostalgisch. „Der Historismus stellt das ewige Bild der Vergangenheit dar“, hat Walter Benjamin in seinen geschichtsphilosophischen Thesen konstatiert. 6 II Wiederholung und Überschreitung „Und dann“ ist der Titel eines Stücks von Wolfram Höll, das 2014 mehrfach ausgezeichnet wurde. Der Autor, in Leipzig im Osten Deutschlands geboren und aufgewachsen – der Stadt, in der ich seit einigen Jahren unterrichte und lebe - erzählt darin die Geschichte von vier Verlierern der Wende und Wiedervereinigung in Ostdeutschland. Ein Vater und drei Kinder, vier „Verlierlinge“, wie sie ein Neologismus auf „Verlierer“ im Text nennt, leben in einem alten Plattenbau aus DDRZeiten nun in der wiedervereinigten Bundesrepublik und sind doch in der Gegenwart nicht angekommen. Auch sie leben von einer Projektion. Das ist ganz wörtlich gemeint. Jeden Abend nämlich schaltet der Vater einen Filmprojektor ein und wirft damit das bewegte Bild der Mutter, die der Familie abhanden gekommen ist, auf die Wände der umliegenden Häuser. Das ist ein wunderbar-wörtliches Bild für die Nostalgie, die viele Menschen nicht nur in Ostdeutschland umtreibt. Dieser Nostagie erliegt der Text von Höll aber selbst nicht. Es ist ein Text ohne Figurenrede, der sich durch viele Wiederholungen vorantastet Und dann sehen wir es Da erscheint sie erscheint sie erscheint sie erscheint gross ganz gross riesig auf der Fassade auf dem Plattenbauhaus gegenüber 7 Die Wiederholungen bis in die sprachlichen Minstrukturen hinein produzieren ein Vor und Zurück, sie bewirken, dass der Text insgesamt zwischen Vergangenheit und Gegenwart changiert, oszilliert. So öffnet sich ein Erfahrungsraum der Vergangenheit in der Gegenwart, der nicht mit ihrer Verlebendigung zu verwechseln ist. Sondern der die Spuren der Erinnerung und die Modi des Erinnerns erfahrbar macht. Zugleich zeigt sich in diesem Erfahrungsraum die Gegenwart durchsetzt von solchen Wiederholungen unberührt, des sondern Vergangenen. Sie lassen überschreiten sie. Die die Gegenwart Wiederholung nicht kann die Vergangenheit nicht reanimieren, aber was und wie wiederholt wird, verändert unser Denken und Fühlen, es bricht den allgegenwärtigen Alltag auf und überschreitet ihn auf Zukunft hin. Damit ist ein wesentliches Kennzeichen des Theaters der Wiederholung benannt. Das Aktuelle der Wiederholung liegt, darauf haben Kierkegaard und Deleuze Misslingen: eindringlich dem hingewiesen, Verfehlen des paradoxerweise ursprünglichen in ihrem Ereignisses. Die Wiederholung kehrt nicht zurück zu dem, wie es gewesen ist. Die Bewegung zurück, die das Einstige erinnernd restaurieren und bewahren will, wird durch das Scheitern der Restaurationsbewegung in die Gegenwart und über sie hinaus getrieben. Der Wiederholung des Vergangenen ist daher die Überschreitung des Gegenwärtigen inhärent. Die Wiederholung, so Kierkegaard, ist ein Erinnern „nach vorwärts“, auf Zukünftiges hin. Die Orientierung auf Zukunft hin ist ein wichtiges Kriterium, das die Wiederholung von der Praxis des Historismus und des kollektiven Gedächtnisses unterscheidet. 8 II Wiederholung und Raumzeit Um zu erfahren, „ob eine Wiederholung möglich ist“1, reist Constantin Constantius, der Erzähler in Sören Kierkegaards Essay „Die Wiederholung“ von 1843 nach Berlin, der Stadt, in der er früher schon einmal gewesen ist. Gleich nach seiner Ankunft dort sucht er die Wohnung am Gendarmenmarkt auf, in der bei seinem vorigen Aufenthalt gewählt hatte und beschreibt, was er hier vorfindet: „(Z)wei Zimmer, von ganz gleicher Gestalt, übereinstimmend möbliert, wie man in einem Spiegel ein Zimmer doppelt sieht. Das hintere Zimmer ist geschmackvoll erleuchtet. Ein Armleuchter steht auf einem Arbeitstisch, ein leicht geschwungener Lehnstuhl, bezogen mit rotem Samt, steht vor diesem. Das vordere Zimmer ist nicht erleuchtet. Hier mischt sich des Mondes bleiches Licht mit der stärkeren Beleuchtung des hinteren Zimmers. Man setzt sich auf einen Stuhl am Fenster, man betrachtet den großen Platz, man sieht die Schatten der Vorbeigehenden über die Mauern huschen, alles verwandelt sich zu einer szenischen Dekoration. Eine Traumwirklichkeit dämmert im Hintergrund der Szene. Man fühlt eine Lust, den Mantel umzuwerfen und sich leise die Mauer entlangzuschleichen, mit spähenden Blicken, aufmerksam auf jeden Laut. Man tut dies nicht, man sieht bloß sich selbst verjüngt dies tun. (...)Man löscht die Lichter, man zündet ein kleines Nachtlicht an. Das Mondlicht ist jetzt alleiniger Sieger. Ein einzelner Schatten zeigt sich noch dunkler, ein einzelner Fußtritt braucht lange Zeit, sich zu verlieren. Des Himmels 1 Sören Kierkegaard: Die Wiederholung, in: S.K. Werke II, Reinbek 1961, S. 5-83, hier S. 7. 9 wolkenlose Wölbung sieht so wehmütig und gedankenvoll träumend aus, als wäre der Weltuntergang schon vorüber und der Himmel ungestört mit sich selbst beschäftigt.“2 Das also ist die Szene, die sich Constantin Constantius bei seinem wiederholten Besuch in der Berliner Wohnung darbietet, denkt der Leser. „Aber ach, hier war keine Wiederholung möglich“3, schreibt Constantius wenige Zeilen später, weil der Zimmerwirt sich inzwischen verheiratet hat und den Großteil der Wohnung selbst nutzt. Wann und wo aber dann ist die Szene angesiedelt, die wir gerade noch für die des wiederholten Besuchs in Berlin hielten? Weder in der Gegenwart noch in der Vergangenheit und ganz und gar nicht in der aktuellen Wirklichkeit. Obgleich die Beschreibung eine Menge Realien aufgreift, nehmen diese in der Beschreibung als „szenische(.) Dekoration“4nicht geheuren Charakter an. Das Clair-obscure, in das die Szene getaucht ist, das gespiegelte Zimmer, das daraus entwichene Leben und das Eigenleben der Dinge, Schatten und Gesten, das alles offenbart die gespenstische Existenz der Szenerie. Ihre Zeit ist die Schnittstelle von retrospektiven und prospektiven Text-Zügen. Unterschiedliche Zeitschichten, unterschiedliche zeitliche Ereignisse sind hier übereinander gelagert. Zeit hat sich hier verräumlicht. Sie ist zur Raumzeit geworden. Der Ort dieser RaumZeit ist im Hier und Jetzt. Aber ihre Form ist nicht die Aktualität, sondern die Virtualität. Virtuelle Räume sind Möglichkeitsräume. Voll mit Figuren, Überresten, Erinnerungssplitter aller Zeiten, die untereinander korrespondieren und Konstellationen bilden. 2 A.a.O., S. 25. 3 Ebd. 4 Ebd. 10 III Wiederholung und Theater Lassen Sie mich noch einmal auf die Oper La Juive zurückkommen. 2008 wird sie in der Stuttgarter Staatsoper in einer Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito erneut aufgeführt. Wenn der Vorhang aufgeht, glaubt man sich wieder in die Vergangenheit versetzt. (Abb. 2) Die Bühne von Bert Neumann greift auf das Bühnenbild der Uraufführung zurück: links der Dom, rechts das Haus des jüdischen Goldschmieds, herausgeschnitten aus dem schwarzen Bühnenhintergrund und hell angestrahlt – etwas puppenstubenhaft, unwirklich und nicht geheuer. Auf der Bühne der Stuttgarter Staatsoper wiederholt sich Geschichte. Nicht als lebendiggewordene Vergangenheit des Mittelalters, sondern als Wiederholung von dessen erster Wiederholung 1835. Auch das mittelalterliche Konstanz von 1415 auf der Bühne der Grand Opéra war bereits Theater: Dekoration, Kostüme, Komparserie. Ursprünglich in der Wiederholung, so Deleuze, ist die Verkleidung. „Tatsächlich ist die Wiederholung das, was sich verkleidet (...). Sie liegt nicht unter den Masken, sondern bildet sich von einer Maske zur anderen (...) Die Masken verdecken nichts, nur andere Masken. Es gibt keinen ersten Term der wiederholt würde.“ Wiederholung und Theater sind nicht zu trennen. Wieler und Morabito exponieren das Theaterhafte der Wiederholung. Wenn die Bühne sich zum ersten Mal dreht, sieht man die Rückseite von Dom und Goldschmiedehaus: nichts als Kulissen, die Fassaden getragen und gestützt von einem dreigeschossigen Holzgerüst, die einzelnen Ebenen durch Treppen verbunden. (Abb. 3). 11 Die Ausstellung des Theaters der Wiederholung hat eine ausgesprochen politische Wirkung. Thema von La Juive ist der mörderische Antisemitismus. 5 Akte hindurch geht es durch alle Verwicklungen der Handlung hindurch immer nur um das Eine: Dass die Juden Fremdkörper in der christlichen Gemeinschaft sind, die wahlweise in den See geworfen, verbrannt gehören oder, wie es am Ende geschieht, in einen Kessel mit kochendem Wasser geworfen werden. Der antisemitische Hass wird von Stereotypen des Eigenen und des Fremden genährt. Die Inszenierung unterläuft die tödlichen Stereotypen durch die gezielte Offenlegung von Verkleidung und Maskerade. Sie greift dabei auf eine Maskerade zurück, die in der Realität der Judenverfolgung tatsächlich stattgefunden hat. 1938 haben ganz in der Nähe der Stadt Konstanz in einem Fastnachtszug Schüler und Lehrer einer Schule die Deportation jüdischen Bürger verhöhnend wiederholt haben. (Abb. 4)Sie haben sich der Hasskarikatur des Juden entsprechend verkleidet und sind durch die Straßen der Stadt gezogen. Die Regisseure Wieler und Morabito bauen dieses Ereignis in ihre Inszenierung ein. Zu Beginn des 5. Akts, als die Christen triumphieren, dass die Juden nun getötet werden, kleidet sich der Chor der Konstanzer Bürger in stereotype Judenmasken des 20. Jahrhunderts, um darin in diebischer Freude Gold und Perlen an sich zu bringen und Schuldscheine zu zerreißen – durchweg mit karikierenden jüdischen Gebärden. Der Effekt ist, dass man als Zuschauer nicht mehr weiß, wer wen spielt und wer wer ist: Handelt es sich hier um jüdische Stereotypen oder um Christen bei der Arisierung? Verwirrender noch wird es, wenn im anschließenden Trauermarsch der zur Hinrichtung geführten jüdischen Bürger derselbe Chor nun die Bilder von Juden auf dem Weg in die Deportation 12 nachahmt, dabei erst noch alles an Schmuck an sich raffend, was auf der Straße liegt, dann unmerklich übergehend in einen Zug des Jammers, der (ausgerechnet) im christlichen Dom verschwindet. (Abb. 5) Die Ausstellung der Verkleidung und Maskerade in diesem Theater der Wiederholung bricht mit der politischen Schwarzweiss-Malerei. Auch mit der moralischen Schwarzweiss-Malerei des kollektiven Gedächtnisses an den Holocaust. Immer sind hier die Grenzen klar gezogen. Die Täter sind die Anderen, die Monster. Wir sind die Guten, zusammen mit den Opfern, die wir mit uns auf einen Altar stellen und überhöhen. Die ausgestellte Verkelidung und Maskerade in der Inszenierung von „La Juive“ überschreitet solche klar gezogenen Grenzen. Sie kontaminiert das Bild der Opfer mit dem Klischee des geldgierigen Juden, das sie überblendet in das des Deutschen, der sich am jüdischen Vermögen bereichert. So höhlt die Inszenierung die vorgefertigten Bilder des Eigenen und des Fremden aus und ergreift uns, bis wir uns kein Bild mehr machen können, sondern durch die Bild-Ruinen des Jüdischen und Christlichen gehen. In diesem Theater der Wiederholung sehen wir dann, was uns am Andern wie an uns selbst erblickt: das Gesicht des Fremden, der weder Jude ist noch Christ. Lassen Sie mich in wenigen Sätzen zusammenfassen: Das Theater der Wiederholung, das wollte ich ihnen zeigen, wendet sich nicht nostalgisch der Vergangenheit zu, sonder begreift Geschichte als Ressource für die Zukunft. „Der Dialog mit den Toten muss gesucht werden“, sagt Heiner Müller, „damit sie herausgeben, was an Zukunft mit ihnen begraben wurde.“ Die Wiederholung der gespenstischen Überreste der Geschichte 13 eröffnet einen virtuellen Raum in der Gegenwart, in der Vergangenes und Gegenwärtiges, Nahes und Fernes Konstellationen bilden, die die Möglichkeiten eines anderen Lebens aufscheinen lassen. Ausschlaggebend dafür ist das Medium des Theaters als ein Phänomen des Nicht- Ursprünglichen, Sekundären, Uneigentlichen. Denn nur, wenn wir uns verabschiedet haben von allem, was wir unser Ursprüngliches und Eigenstes nennen, kann die Wiederholung die Gegenwart auf Zukunft hinüberschreiten. 14