Kann eine physische Krankheit als psychologisches Problem maskiert sein? Gabriella Kortsch Die Absicht hinter diesem Beitrag ist es, Ihnen Einsichten über Ihre eigene psychologische und physische Gesundheit zu vermitteln. Glauben Sie nicht einfach ohne weiteres, was ein Psychologe oder ein Arzt oder eine andere Fachkraft des Gebiets (wie ich, oder unzählige andere auf der ganzen Welt). Seien Sie sich bewusst, dass es vor allem im Feld der Psychologie und Psychiatrie unzählige Fehldiagnosen gibt. Sie in die Kategorie B gesteckt – eine psychologische Störung –, während Sie eigentlich unter C leiden – ein physiologisches Problem. Wie Sie es sich vorstellen können, ist die Behandlung für B grundverschieden von der Behandlung für C. Michael und Melanie machen Termine bei einem Psychologen, Psychotherapeuten oder Psychiater wegen einer Depression. Am Ende der ersten Sitzung, in der der Arzt seinen/ihren Geisteszustand entsprechend untersucht, verschreiben die ersten beiden vermutlich ein 5 – 20 Therapiesitzungen, während der dritte ein Antidepressivum empfiehlt. Anstatt der ärztlichen Anordnung zu folgen, entscheiden sie sich dazu, ihre Hormonspiegel testen zu lassen und stellen fest, dass einige der Werte zu niedrig sind. Sie beginnen eine Behandlung mit bioidentischen Hormonen und in relativ kurzer Zeit verschwindet die Depression – wie Morgennebel im Sonnenlicht. Dieses Hormonungleichgewicht wird möglicherweise durch ihre Andropause oder Menopause ausgelöst. Wenn Michael und Melanie jünger sind, könnte es auch am chronischen Stress liegen, unter dem wir aufgrund unserer modernen Lebensumständen leiden. In jedem Fall sind in diesem Szenario Hormone die Antwort – nicht Medikamente oder eine Therapie. i Stefans Lehrer sagt seiner Mutter, dass er vermutlich ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätssyndrom) hat. Nach einer kurzen Untersuchung stimmt der Kinderarzt zu und verschreibt Ritalin (ein Medikament, das Amphetaminen gleicht). Zwei Jahre langt macht das Ritalin Stefan unruhig, er nimmt ab und schläft nachts schlecht. Dann wird er von einem anderen Kinderarzt erneut untersucht und dieser stellt fest, dass Stefan eine durch Eisenmangel ausgelöste Anämie hat und dass seine Bleiwerte zu hoch sind. Diese beiden Faktoren lösen zusammen die Reizbarkeit aus, für die ihm Ritalin verschrieben wurde – und das Medikament hat seinen Zustand sogar noch verschlimmert. Ganz eindeutig ist in diesem Szenario die Behandlung von Eisenmangel und erhöhtem Bleispiegel die Lösung – nicht Medikamente oder eine Therapie.ii Jonathan macht einen Arzttermin wegen seiner Gedächtnisprobleme. Er ist 57, also ist er wohl noch etwas zu jung für früh einsetzendes Alzheimer. Der Arzt sagt ihm, dass er damit umzugehen lernen muss und dass er außer Gehirnjogging-Übungen nicht viel machen kann. Nachdem er sich etwas über das Thema informiert hat, beschließt er, seinen Vitamin-B12Spiegel testen zu lassen und findet heraus, dass er nicht nur gering, sondern viel zu gering ist. Seinen Nachforschungen zufolge kann dies eine Ursache für Gedächtnisprobleme sein (zusammen mit einer Menge anderer Symptome). Nach einer Reihe von B12-Injektionen und/oder der sublingualen Verabreichung von B12 (weil sein Verdauungssystem B12 nicht mehr allzu gut resorbieren kann) verbessert sich sein Gedächtnis drastisch. In dieser Situation ist ein Vitamin die Lösung – nicht Therapie. iii Susanne ging wegen Nervosität und Panikattacken gepaart mit Schlaflosigkeit zum Arzt und bekam eine Reihe von Sitzungen mit dem Psychotherapeuten verschrieben. Sie informierte sich über das Thema und entschied sich daraufhin, mehr Magnesium zu sich zu nehmen – nach einer Weile ließen ihre Symptome deutlich nach. In dieser Situation ist ein Mineral die Lösung – nicht Therapie. iv Eine international anerkannte „Bibel“ von Symptomen, das Diagnostic and Statistical Manual (DSM)v, wurde 1952 zum ersten Mal veröffentlicht (und hat seitdem zahlreiche Revisionen erhalten). Dieses Handbuch wird von einem großen Teil der Gemeinschaft von Ärzten und Therapeuten genutzt, deren Fachgebiet der menschliche Geist ist. In den obigen Beispielen werden Symptome einer bestimmten Kategorie zugeordnet und dann dementsprechend behandelt – ohne zu beachten, dass diese Symptome auch andere Auslöser haben könnten. Dr. Sydney Walker, Psychiater und Autor von A Dose of Sanity, schreibt: „ ... eine Kategorie ist keine Diagnose. Zu sagen, dass jemand „depressiv“ ist oder eine „Angststörung“ hat, ist meilenweit davon entfernt, die Gründe für diese Probleme herauszufinden. Man könnte es mit einem Kinderarzt vergleichen, dem zufolge ein Kind „Punkte auf der Haut hat“, der sich dann aber nicht die Mühe macht, herauszufinden, ob die Punkte ein Symptom von Masern, Staphylokokken oder einen allergischen Ausschlag sind. Patienten, denen eine manische Depression, eine Angststörung, ADHS oder ähnliches „diagnostiziert“ wird, erhalten eigentlich keine Diagnose – sondern nur eine Beschreibung.“ vi Ann Japenga schreibt: „Ich nutze das DSM-III-R fast jeden Tag,“ so Marc Graff, stellvertretender Leiter der Abteilung Psychiatrie beim amerikanischen Gesundheitsdienstleister Kaiser Permanente. „Ich habe eine Kopie im Büro, eine zuhause und nehme eine mit, wenn ich zu einem Patienten gerufen werde. Es hilft mir, mir eine Idee davon zu verschaffen, was mit dem Patienten los ist.“ Doch andere Sachkundige, sowohl Psychiater als auch verwandter Fachrichtungen halten das System zur Kategorisierung von Störungen im Bestfall für beliebig und im schlimmsten Fall für gefährlich. „Das Dokument ist mitnichten objektiv,“ argumentiert David Cohan, Soziologieprofessor im Bereich Trends in der psychologischen Gesundheit an der Universität von Montreal. „Da ist nicht Wissenschaftliches dran. Es ist viel mehr eine Liste von Fehlbarkeiten und Abweichungen vom Standard; eine Sammlung unserer Ängste und Abneigungen.“ vii Johannas (76) plötzliche auftretende Depression stellt sich als Nebeneffekt ihrer Bluthochdruckmedikamente heraus. Eine Therapie hätte ihr Problem nicht gelöst. viii Die Erschöpfung einer jungen Mutter und ihr scheinbares Desinteresse an ihrem Kind wirken wie eine Kindbettdepression, doch in Wahrheit handelt es sich um die Symptome einer Schilddrüsenfehlfunktion, die mit Medikamenten behandelt werden kann. Eine Therapie hätte ihr Problem nicht gelöst. ix Erich (47), Manager, hat Wutausbrüche bei der Arbeit und fühlt sich oft völlig überreizt. Ein Gehirnscan weist auf eine so genannte Temporallappenepilepsie hin, die durch einen chirurgischen Eingriff oder Medikamente behandelt werden kann. Eine Therapie hätte sein Problem nicht gelöst. x Der Psychiaterin Barbara Schildkrout von der Harvard University zufolge, Autorin von Unmasking Psychological Symptoms (ein Buch, das Therapeuten helfen soll, ihre diagnostischen Fähigkeiten zu schulen), gibt es mehr als 100 medizinische Störungen, die als psychologische Probleme maskiert sein können: Was es zu sein scheint Was es auch sein könnte ... Depression Schilddrüsenunterfunktion, Vitamin-D- oder Vitamin-B12-Mangel, Diabetes, hormonelle Veränderungen, Borreliose, Lupus, Kopftrauma, Schlafstörungen, manche Krebsarten und Nebenwirkungen von Krebsmedikamenten Angststörung Schilddrüsenüberfunktion, Atemwegsprobleme, Gehirnerschütterung, anaphylaktischer Schock Reizbarkeit Kopfverletzungen, Temporallappenepilepsie, Alzheimer, parasitische Infektion, hormonelle Veränderungen Halluzinationen Epilepsie, Gehirntumor, Fieber, Narkolepsie, Drogenmissbrauch Veränderungen der kognitiven Fähigkeiten Gehirnverletzungen oder Leberversagen, Quecksilber- oder Bleivergiftungen Psychosen sehr geringer -infektionen, Blutdruck, Parkinson, Geschlechtskrankheiten, Gehirntumore und -zysten, Epilepsie, Steroide, Drogenmissbrauchxi Der Neuropsychologe Jerrold Pollak glaubt, dass manche Patienten sowohl von Therapie wie auch von medizinischer Hilfe profitieren können. xii Eine Depression ist oft das erste Symptom, das Menschen bemerken, wenn sie physische Probleme haben, oder zumindest das Symptom, das sie veranlasst, medizinische Hilfe zu suchen. Auf gewisse Weise ist das positiv, weil ein Therapeut auf diese Art ein Gesundheitsproblem diagnostizieren kann, das möglicherweise ohne die begleitende Depression nie aufgefallen wäre. Doch unglücklicherweise wird die Depression viel zu häufig behandelt, ohne näher auf die Symptome oder die Krankengeschichte des Patienten einzugehen. So wird die zugrunde liegende Ursache oft nicht erkannt.xiii Ich wünschte, ich könnte Ihnen in diesem kurzen Artikel mehr der unzähligen Fehldiagnosen vorstellen, die die Autoren der hier vorgestellten Bücher und Artikel gesammelt haben. Eine psychiatrische Diagnose, die voreilig auf Grundlage einer psychiatrischen „Bibel“ gestellt wird, kann die falsche sein – das geben sogar viele Mitglieder der APA zu, die Organisation, die das DSM herausgibt. Und mehr noch, eine Behandlung durch Therapie oder Medikamente kann die Erkrankung sogar noch verschlimmern. Ich bin eine Psychotherapeutin und glaube an die Sinnhaftigkeit meiner Arbeit. Doch ich glaube auch, dass ein Außerachtlassen der verschiedenen physischen Faktoren, die eine Rolle spielen können, zu einer Fehldiagnose führen und damit möglicherweise für den Patienten tödlich enden kann. Bitte informieren Sie sich. Anmerkung: Mein Hauptaugenmerk in diesem Artikel liegt darauf, eine Reihe von Störungen vorzustellen, die scheinbar psychologischer Natur sind, tatsächlich aber physiologischen Ursprungs sind. Doch bitte verkennen Sie nicht, dass manche Störungen wirklich psychologisch sind, und dementsprechend eine andere Art der Behandlung erfordern. i Googlen Sie "Symptome von Hormonungleichgewicht". Googlen Sie auch "bioidentische Hormonersatztherapie". Walker, Sydney, A Dose of Sanity. New York, John Wiley & Sons, Inc., 1996, p. 60. iii Googlen Sie "Symptome eines Vitamin-B12-Mangels" Lesen Sie zudem Could it Be B12 An Epidemic of Misdiagnoses von S.M. Pacholok & J.J. Stuart (auf Englisch). iv Googlen Sie “Symptome von Magnesiummangel”. Lesen Sie auch The Magnesium Miracle by Carolyn Dean oder The Magnesium Factor von M.S. Selig & Andrea Rosanoff (auf Englisch). v Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders V, American Psychiatric Association, 2013. vi Walker, Sydney, A Dose of Sanity. New York, John Wiley & Sons, Inc., 1996, p. 5. vii Japenga, Ann, Rewriting the Dictionary of Madness: Is the Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders a Work of Pure Science or Just a List of Dangerous Labels. LA Times, June 5, 1994 (auf Englisch). viii Beck, Melinda, Confusing Medical Ailments with Mental Illness. WSJ, August 9, 2011 (auf Englisch). ix idem x idem xi Schildkrout, Barbara, Unmasking Psychological Symptoms. John Wiley & Sons, Hoboken, 2011 (auf Englisch). xii Beck, Melinda, idem. xiii Wasmer Andrews, Linda, Could Your Illness Trigger Depressive Symptoms? Feeling Blue? The Cause Could Be Diabetes or Other Diseases. Lifescript, February 27, 2012. ii