DZPhil, Berlin 55 (2007) 3, 333-344 Wer von der analytischen

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DZPhil, Berlin 55 (2007) 3, 333-344
Wer von der analytischen Philosophie' spricht, erweckt den Anschein, als gäbe es eine besondere Art von Philosophie, die sich von anderen Arten unterscheiden ließe, und zwar durch
eine bestimmte Methode, genannt, Analyse'. Die Fragen, die mich hier beschäftigen werden,
lauten:
(1) Auf welchen Überzeugungen beruht die Idee, dass es tatsächlich eine derart besondere
Art von Philosophie gibt?
(2) Welche von diesen Überzeugungen sind unbegründete Dogmen, und welche stellen
Einsichten dar?
(3) Und schließlich: Welches Bild der Philosophie ergibt sich, wenn man an den Einsichten festhält und die Dogmen fallen lässt?
Es gibt kein kanonisches Manifest der analytischen Philosophie, von dem man ausgehen
könnte. Aber es gibt eine Reihe von gedanklichen Elementen, auf die man immer wieder
trifft, wenn Autoren, die sich als analytische Philosophen verstehen, ihr Selbstbild zum Ausdruck bringen. Diese Elemente passen nicht ohne weiteres zueinander; sie fugen sich nicht
zu einer einheitlichen, monolithischen Konzeption von Philosophie zusammen. Auch klafft
nicht selten eine Lücke zwischen dem Selbstbild und dem Tun. Trotzdem: Diese ideologischen Elemente sind das einzige Material, an dem man sich orientieren kann. Und so werde
ich meine Fragen zu beantworten suchen, indem ich sie der Reihe nach in Erinnerung bringe
und auf den Prüfstand stelle. Leicht ist das nicht, denn das rhetorische Gewand, in dem sie
daherkommen, ist von tückischer Unauffalligkeit: Viele Dinge klingen so ungeheuer natürlich und selbstverständlich, dass man leicht zu fragen vergisst, was sie denn eigentlich bedeuten. Es wird deshalb darauf ankommen, sie ein Stück weit zu verfremden.
Beginnen will ich mit einer Annahme, die so umfassend und selbstverständlich ist, dass sie
kaum je ausgesprochen wird: Philosophie ist ein Fach. Die analytischen Philosophen haben
versucht, die Philosophie zu professionalisieren. Sie haben versucht, sie nach dem Modell
einer Expertenkultur zu betrachten - nach dem Modell einer Aktivität also, die sich niederschlägt in Fachzeitschriften, Fachlexika, Fachkongressen und Gesellschaften, in denen sich
die Fachkollegen zusammenschließen, sowie in einer weitläufigen, ausgefeilten Fachsprache,
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Peter Bieri, Was bleibt von der analytischen Philosophie?
die außerhalb der Mauern der Akademie kein Mensch versteht. Auch die Rhetorik von philosophischer Forschung' und von philosophischen ,Forschungsprojekten' gehört dazu. Man
muss sich im Klaren darüber sein, dass diese Professionalisierung nicht diejenige ist, die es
bei der philologischen und historischen Beschäftigung mit den Werken vergangener Philosophie - also auf dem Terrain der Ideengeschichte - schon immer gegeben hat. Es ist eine
Professionalisierung, die nicht philosophischen Texten als ideengeschichtlichen Phänomenen gilt, sondern den philosophischen Themen selbst.
Stellen wir uns vor, wir verbringen einen Monat damit, vormittags das Journal of Philosophy
zu lesen und nachmittags die Werke von Seneca, Montaigne, Nietzsche, Cesare Pavese und
Fernando Pessoa. Dann bekommen wir ein Gefühl dafür, dass mit der Professionalisierung
der Philosophie durch die analytischen Autoren etwas ganz Neues geschehen ist und dass es
nicht selbstverständlich ist.
Fächer nun definieren sich durch zweierlei: einen Themenbereich und eine Methode. Wäre
Philosophie ein Fach, so müsste es also einen überschaubaren Bereich philosophischer Themen geben und eine philosophische Methode, in die man Neulinge einweihen könnte, damit
sie kompetent mit diesen Themen umgehen lernen und dadurch Mitarbeiter im Fach werden
können. Doch verhält es sich wirklich so?
Was die analytische Philosophie über die Natur ihrer Themen zu sagen hat, ist nicht einheitlich. Aber ihre Rhetorik suggeriert oft, als handle es sich hier um ein Fach, in dem es vor
allem darum geht, Probleme zu lösen. Und dem entspricht der Gedanke, dass es in der Philosophie - wie in jedem anderen, ernst zu nehmenden Fach - eine klare Richtung und klare
Kriterien des Fortschritts gibt, eines Fortschritts, der eben darin besteht, die das Fach definierenden Probleme zu lösen.
Ich denke, an dieser Auskunft gibt es sowohl etwas Richtiges als auch etwas Falsches,
Irreführendes. Richtig ist, dass die analytische Literatur enorm viel zum Verständnis dessen
beigetragen hat, was man unter einem philosophischen Problem' verstehen kann. Solche
Probleme sind Unstimmigkeiten, kognitive Dissonanzen in unserem Denken über die allgemeinsten Themen, die wir kennen. Und es ist ein großes Verdienst der analytischen Autoren,
dass sie uns gelehrt haben zu sehen, wie vielfaltig diese Unstimmigkeiten sein können, was
für Typen man da unterscheiden kann und was für verschiedene Arten es gibt, auf solche
Unstimmigkeiten zu reagieren. Die Übersicht, die sie uns in dieser Hinsicht vermittelt haben,
ist von unschätzbarem Wert. Und es ist außerdem richtig, dass man von der analytischen
Philosophie besonders gut lernen kann, in welchem Ausmaß Probleme das Motiv sein können für einen philosophischen Vorschlag.
Doch die Auskunft, dass Philosophie ein Fach ist, in dem es darum geht, Probleme zu
lösen, kann auch in die Irre fuhren, wenn sie so verstanden wird, als gäbe es einen Kanon,
einen überschaubaren, klar abgrenzbaren Bereich von Problemen, welche die Philosophie zu
lösen hätte, indem die Fachleute geduldig die Bausteine des großen Puzzles zusammentrügen.
In einem solchen Bild des Fachs liegt viel Naivität. Denn was in der Philosophie, auch der
analytischen, als ein interessantes Thema gilt und als ein faszinierendes Problem, ändert
sich, und es ändert sich oft nicht deshalb, weil die Probleme als gelöst ad acta gelegt werden
könnten wie in einer gewöhnlichen Wissenschaft. Eher ist es so, dass die Hintergrundüberzeugungen wechseln, dass neue Fragen gestellt werden, dass ein Arrangement neuer
Begriffe die Aufmerksamkeit fesselt, und auch dieses: dass einer der Heroen des Fachs etwas
auf die Tagesordnung setzt. Das ist doch auch, so könnte man einwenden, in den WissenBrought to you by | Universiteit Antwerpen
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schaften so. Das hat uns Kuhn klar gemacht. Doch ich denke, dass die Zufälligkeit und Zeitabhängigkeit von dem, was als drängendes Problem gilt, in der Philosophie um ein Vielfaches größer ist. Beweisen kann ich das hier nicht, aber ich kann Beispiele nennen: Erinnert
sich noch jemand an die Probleme, mit denen Carnap im Aufoau zu kämpfen hatte, oder
Goodman in The Structure of Appearance? Wer weiß noch, was es alles für Wörter waren,
deren Gebrauch die Schüler von Austin untersuchten, indem sie ganze Jahrgänge von Mind
füllten? Schreibt noch jemand über grue oder bare particulars? Über die Frage, wie sich
Sinnesdaten zu den Oberflächen von Dingen verhalten? Ist die Unbestimmtheit der Übersetzung noch ein lebendiges Thema? Oder die vielen, vielen Spielarten von Supervenienz? Die
Rekonstruktion des Utilitarismus in den Kategorien von Sneed? Parfits Gedankenexperimente
zu personaler Identität? Philosophische Probleme, hat man manchmal den Eindruck, sind so
leicht verderbliche Ware, dass sie nicht für die thematische Identität eines Fachs taugen.
Ähnliche Skepsis stellt sich ein, wenn man nüchtern über den anderen Aspekt des angeblichen Fachs nachdenkt: seine Methode. Ganz ohne Zweifel hat die Professionalisierung der
analytischen Philosophie ein Niveau an begrifflicher Artikulation und gedanklicher Transparenz erreicht, das niemand unterschreiten will, der es kennen gelernt hat. Auch was dialektische Raffinesse betrifft, sind Maßstäbe gesetzt worden. Und wahr ist überdies, dass es bei
vielen Themen Fortschritte gegeben hat in dem Sinne, dass wir nun den logischen Raum
möglicher Optionen viel besser überblicken als vor der analytischen Philosophie: bei großen
Themen wie beispielsweise Bedeutung, Wahrheit und Wissen, aber auch bei begrenzteren
Themen wie etwa Induktion, Intentionalität oder Willensschwäche. Es ist gar keine Frage,
dass der gewohnheitsmäßige Leser etwa von Hilary Putnam, David Lewis, Donald Davidson
und Peter Strawson sich bei diesen Themen souveräner bewegen wird als derjenige, der
diese Texte nicht kennt. Auch wird er uns Aristoteles, Hume, Kant und Brentano interessanter auslegen können. Und nicht zuletzt: Es macht einfach immensen Spaß, Texte von dieser
gedanklichen Raffinesse und dieser argumentativen Übersicht zu lesen. Doch wenn das Selbstbild der analytischen Philosophie als eines Fachs zuträfe, dann müsste mehr der Fall sein: Es
müsste eine stabile fachliche Matrix geben, ein methodologisches Repertoire, das einen auf
überschaubare, nachvollziehbare Weise von Thema zu Thema, von Problem zu Problem führte.
Das wäre nötig, um behaupten zu können, dass die analytischen Autoren der Philosophie - in
Kants Worten - zum „sicheren Gang einer Wissenschaft" verholfen hätten, oder um - in
Reichenbachs Worten - vom „Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie" berichten zu
können. Doch nichts dergleichen ist der Fall. Gab es eine Methode, die Wittgenstein vom
Tractatus zu den Philosophischen Untersuchungen führte? Schon allein die Frage klingt
lächerlich. Gibt es eine klare, verlässliche Methode - die ,analytische' Methode - , um zwischen Nagels und Dennetts Ansichten über Bewusstsein zu entscheiden? Oder zwischen
Davidsons und Kripkes Ansichten über Bedeutung und Referenz? Zwischen Christine
Korsgaards und Bernard Williams' Ansichten über Moral? Natürlich gibt es eine solche
Methode nicht, das weiß jeder, der mit diesen Themen im Detail gekämpft hat.
Keine hinreichend stabilen Themen, keine einheitliche Methode: Auch die analytische Philosophie ist nicht wirklich ein Fach. Gibt es trotzdem etwas, das den frühen und späten
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Wittgenstein eint, Nagel und Dennett, Davidson und Kripke, Korsgaard und Williams verbindet, sodass verständlich wird, warum sie alle im analytischen Camp als Mitspieler zugelassen und geachtet sind? Muss es nicht etwas geben, wenn die Rede von der analytischen
Philosophie einen Sinn, eine Pointe haben soll?
Es gibt vor allem zwei Wörter, die von den Betroffenen bei dieser Frage aufgeboten werden: „Klarheit" und „Argument". Manchmal werden sie mit der Monotonie einer Gebetsmühle geäußert, manchmal abgeschossen wie scharfe Munition. Die Anderen - der bunte,
unübersichtliche Haufen der „kontinentalen" Philosophen - „sind nicht klar" in dem, was sie
sagen, und „sie argumentieren nicht". Diese rhetorische Oberfläche nimmt für sich ein und
kann einen blenden: Natürlich muss Klarheit sein, denkt man, denn wie sollte man sonst
wissen, worüber wir reden; und natürlich muss argumentiert werden, es soll sich ja um ein
Unternehmen der Vernunft handeln. Und wissen wir nicht ganz gut, was das ist: Klarheit,
und wie man das macht: argumentieren?
Beginnen wir mit der Idee der Klarheit. Manchmal, würde ich sagen, wissen wir tatsächlich ganz gut, welchen Gehalt sie hat: innerhalb der festen Grenzen einer Wissenschaft etwa,
vor Gericht oder bei zweckrationalen Entscheidungen des Alltags. Da ist sich eigentlich niemand über Klarheit im Unklaren. Aber in der Philosophie, auch in der analytischen?
Um das Gewicht dieser skeptischen Frage zu sehen, muss man sich daran erinnern, dass
die analytische Philosophie nicht eine Geschichte hat, sondern zwei. Und es ist keine Übertreibung zu sagen, dass die zwei Geschichten sich maßgeblich in der Idee von Klarheit unterscheiden, die sie propagieren. Die eine Geschichte ist diejenige, die mit Frege beginnt, zu
Russell und dem frühen Wittgenstein fuhrt, den Wiener Kreis in sich aufnimmt und sich dann
zu Quine hin fortsetzt. Klarheit ist in diesem Strang der analytischen Philosophie etwas, das
an der Logik, der Mathematik und den Naturwissenschaften abgelesen ist. Man könnte dieses Ideal das Ideal der Exaktheit nennen. Dazu gehören solche Dinge wie die Idee einer
„idealen Sprache" und Begriffe wie diejenigen der „logischen Analyse" und der „rationalen
Rekonstruktion", wie man sie etwa bei Carnap findet, aber auch eine Idee wie diejenige der
„logischen Form" bei Davidson. Wer sich im Sinne solcher Klarheit als analytischer Philosoph versteht, weiß genau, wo in der kulturellen Landschaft er hingehört: auf die Seite der
exakten Wissenschaften, wo man tough ist und sich mit den ernst zu nehmenden, „harten"
Themen beschäftigt. Die Anderen, diejenigen aus den „weichen" Bereichen der Geisteswissenschaften - nun gut, sie reden auch viel und gern von „Philosophie", aber man muss den
a priori- Verdacht haben, dass es eigentlich nur Geschwätz ist, denn es ist eben nicht klar. Zum
Beispiel haben die Leute keine Ahnung von formaler Logik, wie soll das also gut gehen.
Doch es gab auch eine andere Geschichte, diejenige, die mit dem späten Wittgenstein zu
tun hatte, mit Austin, Ryle, Malcolm und anderen. Auch Strawson ist Teil dieser Geschichte,
selbst wenn er sie schließlich in eine andere Richtung gelenkt hat. Es war zunächst die ordinary
language philosophy, die Philosophie der normalen Sprache also. Und in diesem zweiten
Strang der analytischen Philosophie hieß „Klarheit" etwas völlig anderes als im ersten Strang.
Der Maßstab war nicht die wissenschaftliche Exaktheit, der die vieldeutige Umgangssprache
eher im Weg steht, sondern die raffinierte Logik gerade dieser Sprache. Das Ideal der Klarheit, um das es hier ging, könnte man das Ideal der Übersichtlichkeit nennen. Es ist eine Übersichtlichkeit, die nicht mit formaler Schlüssigkeit, sondern mit kontextueller Genauigkeit zu
tun hat. Es geht darum, die für die Philosophie wichtigen Wörter - wie „denken" etwa, „wissen", „Wahrheit" oder „Bedeutung" - darauf hin abzuklopfen, für welche Kontexte sie
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gemacht worden sind und wie sie dort funktionieren. Warum ist das wichtig? Drei Antworten
sind auf diese Frage gegeben worden. Die eine ist diejenige Wittgensteins: Solche Übersicht
schützt davor, sich in der Sprache zu verstolpern und philosophische Scheinprobleme wie
etwa das Leib-Seele-Problem entstehen zu lassen. Eine zweite Antwort gab Gilbert Ryle mit
The Concept of Mind. „Logische Geographie" war sein wunderbares Stichwort: systematische Übersicht schaffen über eine ganze Provinz der gewöhnlichen Sprache, die Sprache des
Geistes. Und dadurch Klarheit schaffen über den Geist. Und eine dritte Antwort schließlich
gab Strawson mit Individuais. Außer um systematische, ordnende Bestandsaufnahme ging es
jetzt bei philosophischer Klarheit noch um etwas mehr: darum zu verstehen, wie die begrifflichen Ressourcen der gewöhnlichen Sprache dazu beitragen, dass wir überhaupt Erfahrungen von einer Welt machen können.
III. Argumentieren
muss man!
Was ist aus diesen Idealen geworden? Das kann man sich am besten dadurch verdeutlichen,
dass man nun das zweite Zauberwort unter die Lupe nimmt: „argumentieren". Ein gültiges
Argument ist ein Übergang von Prämissen zu einer Konklusion, der Wahrheit transportiert.
Was diesen Grundgedanken anlangt, hatte uns die analytische Philosophie nichts zu lehren,
das wussten wir auch so. Was ihr ein besonderes Selbstbewusstsein verlieh, war, dass ihre
Vertreter, geschult an Frege und Russell, sich in der neuen formalen Logik auskannten. Das
versprach Exaktheit im früher erläuterten Sinn. Und niemand kann im Ernst bezweifeln, dass
die Transparenz, die eine Formalisierung schafft, oft nützlich ist. Doch wie weit hat uns diese
Exaktheit am Ende wirklich gebracht? Es sind Systeme der epistemischen, modalen und temporalen Logik entstanden, also Systeme der intensionalen Logik, und es gibt die raffiniertesten
formalen Analysen von kontrafaktischen Konditionalen. Dafür gibt es Experten im wörtlichen Sinne. Auffallig ist, wie wenig sie uns bei substanziellen philosophischen Fragen genützt haben. Was hat uns die epistemische Logik bei der Frage nach den Grenzen unseres
Wissens, beim Verständnis der skeptischen Herausforderung oder bei der Analyse von Selbsterkenntnis genützt? Das Verständnis unserer Modalbegriffe ist für die Philosophie von allergrößter Bedeutung. Findet man jedoch das, worauf es ankommt, in den modalen Kalkülen?
Und wissen wir seit der Formalisierung kontrafaktischer Kalküle wirklich besser, was ein
Naturgesetz ist?
Die Orientierung am formalen Argumentieren und an Kalkülen hatte zwei, wie ich finde,
unangenehme und unfruchtbare Konsequenzen. Die erste war, dass Philosophie manchmal
auszusehen begann wie Schach oder Hobbymathematik und dass die Fragestellungen wie
Logeleien klangen. Studenten wurden dadurch abgeschreckt. Nicht, weil sie die formalen
Dinge nicht verstanden. Der Grund war ernster: Sie erkannten sich mit ihrer Motivation, die
sie zur Philosophie gebracht hatte, in den Texten nicht mehr wieder. Mir selbst ging es nicht
anders. Man war auf die Suche nach einem umfassenden Verständnis der Welt und unserer
Stellung in ihr gegangen und fand sich plötzlich in den Händen partikularistischer Techniker.
Und die zweite unangenehme Konsequenz: Es griff eine Rhetorik Platz, in der sich die Überzeugung spiegelte, dass es in der Philosophie darum gehe, Andere durch beweisendes Argumentieren niederzuringen. Es war viel von „k.o.-Argumenten" die Rede, und auch sonst war
der Wortschatz oft unangenehm militärisch. In dieser Provinz der analytischen Philosophie
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herrschte und herrscht noch immer die überwertige Idee des outsmarting: Es kommt stets
darauf an, noch einen Tick scharfsinniger zu sein als der andere. Sportliche Konkurrenz, die,
weil sie am falschen Ort angewandt wird, einen Mangel an Intelligenz verrät.
Skepsis ist also erlaubt: So richtig funktioniert das Ideal der Exaktheit, wenn es an formalen Verfahren abgelesen ist, in der Philosophie einfach nicht. Gibt es trotzdem einen Sinn, in
dem uns die analytische Philosophie Exaktheit gelehrt hat? Ich würde sagen: ja. Aber es ist
nicht die Exaktheit, von der in der ideologischen Selbstbeschreibung manchmal die Rede ist.
Es ist eine Exaktheit, die ich so beschreiben würde: Die analytische Philosophie hat uns gelehrt, die Idee eines Gedankens ernster zu nehmen, als man es sonst gewohnt ist. Gedanken
nämlich verdanken ihre Identität und Bestimmtheit der Position, die sie in einem inferentiellen
Netzwerk haben. Sie sind die Gedanken, die sie sind, kraft dessen, woraus sie folgen, und
kraft dessen, was aus ihnen folgt. Und die Orientierung an der formalen Logik hat bei den
analytischen Philosophen eine Leidenschaft für inferentielle Übersicht hervorgebracht, die
gute Philosophie, wie ich sie verstehe, auszeichnet. Vieles, was ein Gedanke zu sein schien,
entpuppt sich unter dem Scheinwerfer inferentieller Analyse als widersprüchliches Gebilde,
das keinen Gehalt hat. Die Art etwa, wie Hilary Putnam den metaphysischen Realismus und
die skeptischen Hypothesen kritisiert hat, sind Beispiele.
Wie ist es mit Exaktheit und Definitionen? Auch hier gilt es, ein Dogma zu entthronen.
Wenn es gelingt, für einen Term notwendige und hinreichende Bedingungen anzugeben, so
kann das bei einem philosophischen Thema helfen. Aber erstens ist es nicht immer nötig, und
zweitens kann es auch zu einer fruchtlosen Obsession werden, der es an Komik nicht mangelt, wie bei der Kaskade von Definitionsvorschlägen für „wissen", die es nach Gettier gegeben hat, oder bei den endlosen Definitionsversuchen für den Begriff der Kausalität. Wichtig
ist stets, sich über die Funktion eines Elements in unserem gesamten Begriffsrepertoire Klarheit zu verschaffen. Aber diese Klarheit muss keineswegs immer die Form einer Definition
haben. Ich verstehe Definitionsversuche in der Philosophie nicht als zwanghafte Verpflichtung, sondern als Heuristik: Machen wir den Versuch und überlegen wir, was es bedeutet,
wenn er scheitert.
Die im Grunde naive Annahme, man hätte nichts verstanden, wenn man es nicht definiert
hat, war vielleicht eine der negativen Folgen der Orientierung an der neuen Logik.
Und so verhält es sich vielleicht auch mit der myopischen Fixierung auf deduktives Argumentieren, die es in der analytischen Philosophie gegeben hat. Das, wofür wir in der Philosophie argumentieren wollen, ist oft nicht etwas, das man schlüssig aus Prämissen ableiten
kann. Sehr gut wussten das die früher erwähnten Autoren, fur die Klarheit nicht Exaktheit,
sondern Übersichtlichkeit bedeutete. Wenn es um die begrifflichen Fallstricke der gewöhnlichen Sprache geht, oder um logische Geographie, oder die begrifflichen Facetten jeder Erfahrung, so ist weniger formales Schließen gefragt als die hohe Kunst der Beispielsanalyse.
Auch die Kunst der Gedankenexperimente. Und vielleicht am allerwichtigsten: die Kunst,
eine gewohnte Betrachtungsweise eines Themas durch eine neue zu ersetzen und zu sagen:
Sehen wir es doch einmal so! All diese Dinge sind Arten des Argumentierens, und sie verlangen alle eine Fähigkeit, die mit der formalen Kompetenz der Exaktheit nichts zu tun hat:
Phantasie.
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IV. Metaphysik: ein erstaunliches Comeback
Es hat sich gezeigt: Wenn man unter die rhetorische und ideologische Oberfläche der analytischen Philosophie blickt, sieht man, dass weder die Idee des Fachs noch die Ideale der
Klarheit und des Argumentierens stabil und eindeutig genug sind, um eine besondere, ganz
eigenständige Art der Philosophie definieren zu können. Und man sieht außerdem, dass die
Dogmen in Wirklichkeit gar nicht der Praxis ihrer Vertreter entsprechen. Den Eindruck, den
man bekommt, kann man mit gewisser Überspitzung so ausdrücken: Schlechte Zeiten für die
analytische Philosophie waren immer dann, wenn die Dogmen in die Tätigkeit hineinwirkten
und interessante Dinge erstickten; gute Zeiten dagegen, wenn sie als bloße Floskeln nebenherliefen und die Leute nicht bei ihren fesselnden Fragen störten.
Diese Einschätzung bekommt Unterstützung, wenn man einem Stichwort nachgeht, das in
der Entwicklung der analytischen Philosophie eine absolut erstaunliche Karriere durchlaufen hat: „Metaphysik". Am Anfang war die Sache vollkommen klar: Ein analytischer Philosoph zu sein, hieß, gegen alle Metaphysik zu sein. Es hieß, im Besitz von Kriterien zu sein,
die einen in die beneidenswerte Lage versetzten, ein für alle Mal Sinn von Unsinn unterscheiden zu können, und echte Fragen und Probleme von Scheinfragen und Scheinproblemen.
Es war viel Pathos damit verbunden, denn man konnte sich als Bannerträger der Aufklärung
verstehen und als Nachfolger Humes, der am Ende des Enquiry empfiehlt, alles als Blendwerk und Täuschung ins Feuer zu werfen, was nicht Mathematik oder Beschreibung sinnlicher Erfahrung ist. Die Maßstäbe der Sinnkritik waren in den beiden Strängen der analytischen Philosophie verschieden. Im logischen Positivismus ging es um das empiristische Ideal
sinnlicher Verifikation, in der Philosophie der normalen Sprache war Kontexttreue das Kriterium,
das die legitime von der illegitimen Verwendung von Wörtern scheiden sollte.
Die Geschichte der analytischen Philosophie ist in gewissem Sinne die Geschichte der unaufhaltsamen Aufweichung und Entleerung dieser engen Kriterien für Sinn. In dem Maße, in
dem der fundamentalistische und atomistische Empirismus einem holistischen, an Kohärenz
orientierten Verständnis empirischer Erkenntnis wich, konnten viele Dinge, die früher dem
scharfrichterlichen Verdikt des Logischen Empirismus zum Opfer gefallen waren, als sinnvoll anerkannt werden. Und allmählich ließ auch der Bann von Wittgensteins These nach,
dass philosophische Themen einfach aus Sprachverwirrung entstünden. Das Klima wurde
liberaler, sodass Strawson riskieren konnte, seine Überlegungen in Individuais als „deskriptive Metaphysik" zu bezeichnen. Das war 1959. In den vier Jahrzehnten danach verlor der
Ausdruck „Metaphysik" nach und nach seinen Charakter als Schimpfwort, und die Rede von
„metaphysical issues" wurde gängige Münze. 1995 schließlich erschien der Blackwell
Companion to Metaphysics, herausgegeben von analytischen Cracks wie Jaegwon Kim und
Ernest Sosa. Einer der brillantesten analytischen Philosophen, David Lewis, schrieb ein Buch
über mögliche Welten, das nicht weniger nach Metaphysik schmeckt als Leibniz' Monadologie oder Spinozas Ethik. Und selbst theologische Themen wie die Theodizee rückten durch
Leute wie Plantinga und Swinburne in den Fokus analytischer Aufmerksamkeit.
Ob diese Entwicklung nicht am Ende zu einer neuen Scholastik führt, ist eine berechtigte
Frage, die ich jedoch offen lassen will. Was sie zeigt, ist jedenfalls dieses: Auch die Gegnerschaft zur Metaphysik ergibt kein Abgrenzungskriterium für die analytische Philosophie.
Und das ist gut so, denn es bedeutet, dass die analytischen Philosophen aufgehört haben,
sich als Wächter über bestimmte thematische Tabus zu verstehen. Am Anfang - in Wien,
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Peter Bieri, Was bleibt von der analytischen Philosophie?
Chicago und Oxford - galt es als unfein, sich die Hände mit klebrigen existenzialistischen
Themen wie Tod, Schuld und Sinn des Lebens schmutzig zu machen. Natürlich gab es nie
einen vernünftigen Grund, warum man darüber nicht sinnvolle Dinge sollte sagen können.
Aber es gehörte zur Ideologie gewisser Heroen des Milieus, dass es gegen den guten Geschmack verstieß. Der krasseste Fall ist Quines arrogantes Diktum: „Philosophy of science is
philosophy enough." Zum Glück gab es Leute wie Strawson, Thomas Nagel und Bernard
Williams, die dieser Engstirnigkeit entgegentraten.
V. „Why does language matter to philosophy?"
A u f diese Titelfrage von Ian Hackings Buch gibt es in unserem Zusammenhang eine Antwort, die zwei Teile hat: Erstens sind analytische Philosophen methodologische Nominalisten, denen semantic ascent zur zweiten Natur geworden ist; und sie sind nicht zuletzt
deshalb Nominalisten, weil sie - zweitens - seit Frege und Russell Gegner des Psychologismus in der Semantik und Logik sind. Sind das vielleicht Dinge, die der analytischen Philosophie schließlich doch noch zu einer Identität verhelfen?
Nicht wirklich. Dass man Begriffe am besten als Wörter in Aktion betrachtet, und dass sich
über Wörter eher Einigkeit erzielen lässt als über Vorstellungen, sind bleibende Einsichten
der analytischen Philosophie. Sie hat uns in tausend Varianten gelehrt, dass man keine gute
Philosophie macht, wenn man mit unseren Wörtern einfach nur herumfuchtelt, sie nach Belieben verknüpft, dramatisiert, aufbläht und beschwört. Dass Heidegger den analytischen
Philosophen in diesem Zusammenhang als Schreckgespenst gilt, ist nachvollziehbar. Aber
Sprachanalyse als ein Mittel des Philosophierens gab es natürlich schon früher, angefangen
mit Piaton und Aristoteles, exemplarisch bei Abälard und Ockham, beim frühen Husserl, bei
Bolzano und Meinong. Und was viel entscheidender ist: Die sprachanalytische Wendung
könnte nur dann als Abgrenzungskriterium für die analytische Philosophie dienen, wenn sich
das Dogma halten ließe, dass sich alle interessanten Fragen der Philosophie als Fragen über
Wörter und die logische Struktur von Sätzen darstellen ließen. Doch dieses Dogma ist längst
gefallen, auch bei den analytischen Philosophen selbst. Wie man mentale Verursachung zu
verstehen hat, oder unseren Willen zur moralischen Einschränkung unserer Handlungsfreiheit, oder Rationalität, oder Gerechtigkeit — das sind Fragen, bei denen Sprachanalyse nicht
weit fuhrt. Und weil das so ist, bin ich stets von Neuem verblüfft, wenn ich über Dummetts
Behauptung stolpere, die Grundlage für alle Philosophie sei eine Theorie der Bedeutung.
Gewiss, eine Theorie der Bedeutung ist noch etwas anderes als sprachanalytische Praxis.
Trotzdem müsste man, um Dummett folgen zu können, eines von zwei Dingen annehmen:
entweder dass die richtige Theorie der Bedeutung als Entscheidungskriterium für philosophische Fragen dienen könnte, sozusagen in der Nachfolge der Wiener Sinnkriterien, oder
dass sich aus den theoretischen Einsichten einer Bedeutungstheorie Antworten auf alle anderen Fragen ableiten ließen. Und wer glaubt so etwas im Ernst?
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VI. Gibt es analytische Philosophie ohne analytische Wahrheit?
Diese Frage kann man auch so lesen: Was für ein Verständnis von analytischer Philosophie
konnte übrig bleiben, nachdem Quine die „analytisch-synthetisch"- Unterscheidung angegriffen hatte? Er selbst gab in Epistemology Naturalized im Grunde diese Antwort: Es gibt
keine Philosophie als etwas, das sich von Wissenschaft prinzipiell unterschiede. Und weil es
Quine war, haben viele diese Auskunft rezitiert, ohne die Courage für die Konsequenz zu
haben, dass es dann auch keine analytische Philosophie gäbe. Sie haben weitergemacht, und
zwar nicht mit Wissenschaft, sondern mit Philosophie. Und sie haben weiterhin unterschieden zwischen „begrifflichen" und „empirischen" Fragen - eine Unterscheidung, ohne die
keine Philosophie auskommt. Was ist der richtige Kommentar zu dieser Unterscheidung
angesichts der Zweifel in Two Dogmas? Im Grunde haben ihn damals schon Strawson und
Grice gegeben: Die Unterscheidung ist zwar keine absolute, aber bestens verständlich zu
einem bestimmten Zeitpunkt einer sprachlichen Praxis. Diesen Kommentar kann man durch
Wittgensteins Metapher von Fluss und Flussbett erläutern: Bestimmte begriffliche Zusammenhänge stehen nicht in Frage, sie bilden das stabile Flussbett, auch wenn sich Flussbetten im
Prinzip verschieben können. Und es sind diese begrifflichen Zusammenhänge, die Philosophen zum Gegenstand machen.
Sind die Einsichten, die man dabei gewinnen kann, analytisch im Sinne der öden „Junggesellen-Sätze? Natürlich nicht. Wenn sich jemand wie Davidson klar macht, wie die Ideen
von Handlung, Gründen, Ursachen, Rationalität, Bedeutung und Wahrheit in einem komplizierten inferentiellen Netzwerk zusammenhängen, so ist das keine empirische Entdeckung keine, an der die Sinne in besonderer Weise beteiligt wären. Was er herausfindet, findet er a
priori heraus - durch pures Nachdenken über die funktionale Rolle von Begriffen. Und es ist
informativ, also neu, was er herausfindet, sodass ich keinen Grund sehe, warum man nicht
sagen sollte: Es handelt sich um synthetische Einsichten a priori. Humes und Ayers Auskunft,
dass es so etwas nicht gibt, war auch nur ein Dogma. C. I. Lewis und Wilfrid Sellars haben
das genau gesehen. Es handelt sich um ein pragmatisches' Apriori, wie sie es nannten eines, das man auf unser begriffliches Repertoire einschränken muss, mit dessen Hilfe wir
unsere Erfahrung und unser Handeln organisieren. Und warum sollte das der Philosophie
nicht genügen? Interessant sind die Entdeckungen, die man in diesem Rahmen machen kann,
in jedem Fall.
VII. Rationalität und Kontingenz
Frege und Russell, und später Leute wie Carnap und Hempel, gaben der analytischen Philosophie eine bestimmte Idee von Rationalität mit auf den Weg: Es war die Idee einer universellen, historisch unwandelbaren Rationalität. Das war ein cartesianisches und kantisches
Erbe, und es passte perfekt zur früher besprochenen Ablehnung des Psychologismus. Es
geriet mit Kuhn und dem späten Wittgenstein ins Wanken. Die Oxforder Tradition war darauf
besser vorbereitet als die amerikanische Linie, denn natürliche Sprachen sind voll von
kontingenten Dingen. Was ist aus dem Gedanken geworden, dass es historisch oder naturalistisch kontingente Randbedingungen für unser Verständnis von Vernunft gibt, auch wenn
sie uns verborgen sein mögen und wir uns keine Alternativen zu unserer tatsächlichen beBrought to you by | Universiteit Antwerpen
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Peter Bieri, Was bleibt von der analytischen Philosophie?
grifflichen Praxis vorstellen können, weil wir das ganz Fremde überhaupt nicht als eine solche Praxis erkennen könnten? Strawson, der Kantianer unter den analytischen Philosophen,
hatte nach den begrifflichen Bedingungen für jede mögliche Erfahrung einer Welt gefragt.
Aber auch er hatte hinzugefügt, die durch transzendentale Argumente aufdeckbaren begrifflichen Strukturen seien „rooted in natural fact" - und also kontingent.
Ich denke, es gibt auch hier eine Spannung zwischen Dogma und Tätigkeit, wie wir sie nun
schon mehrfach beobachtet haben. Man kann sie sichtbar machen, wenn man ein Wort betrachtet, das früher in der analytischen Philosophie ein verfemtes Wort war, heute dagegen in
eben dieser Philosophie gängige rhetorische Münze ist: „Intuition". Geächtet war das Wort,
solange damit die Idee eines besonderen, dubiosen Erkenntnisvermögens verbunden war.
Doch dann kam Chomsky und sprach von „grammatikalischen Intuitionen" über das, was
sprachlich geht und was nicht. Jetzt hieß „Intuition" nur noch „spontane Meinung", und in
dieser Bedeutung gebraucht es heute jeder, wenn er von Überzeugungen spricht, mit denen
er an ein Thema herangeht und die er nicht ohne Not aufgeben möchte, auch wenn jeder
einräumt, dass solche Intuitionen fallibel sind. Nun sind solche Intuitionen kontingent, sie
wurzeln in zufälligen Bildungsgeschichten und Lebensformen. Wie also kann die analytische
Philosophie sie zulassen und trotzdem am Gedanken einer ungeschichtlichen Vernunft festhalten? Auf diese Frage habe ich noch nie eine überzeugende Antwort gehört.
Das klingt nach einer riesengroßen Frage, und der Versuch, sie zu beantworten, erscheint
vermessen, denn wer ihn macht, maßt sich eine Auskunft darüber an, was die Philosophie
insgesamt sein sollte. Doch ich muss gestehen, dass ich die Antwort nach dem bisherigen
Durchgang so schrecklich schwierig gar nicht finde. Wovon man sich verabschieden sollte,
ist der Mythos der analytischen Philosophie als einem einheitlichen Fach. Ein solches Fach
hat es nie gegeben. Nicht einmal ein ideologisch einheitliches Gebilde gab es unter diesem
Namen. Hilary Putnam hat sich gegen die Rede von einer „analytischen Bewegung" gewandt,
und gegen die Gründung von Gesellschaften für analytische Philosophie, die eine Gemeinsamkeit von Projekten vorgaukeln, die es nicht gibt. Ich habe einen tiefen Atemzug getan, als
ich das las.
Beibehalten sollte man auf jeden Fall die Maßstäbe von Klarheit und gedanklicher Übersicht, welche die analytische Philosophie gesetzt hat. Sie sind von bleibendem Wert, auch im
Umgang mit den Schlüsseltexten aus der Geschichte der Philosophie. Der Unterschied im
Niveau zwischen Historikern, die jene Maßstäbe erfüllen, und solchen, die es nicht tun, ist
gewaltig. Skeptisch dagegen sollte man sein, wenn uns jemand ein eindimensionales Verständnis von Klarheit und Argumentation einreden will. Niemand kann im Vorhinein und ex cathedra
entscheiden, wie wo zu argumentieren ist. Und es ist, wie gesehen, nicht schwer, den Dogmen
zu widerstehen oder streitbar entgegenzutreten: Man blicke einfach auf die gedankliche Praxis, die viel reicher und vielschichtiger ist als der ideologische Überbau. Es ist diese gedankliche Praxis, auf die es ankommt. Man könnte sie einen bestimmten Stil nennen.
Es gibt inzwischen auch viel Scholastik in der analytischen Literatur. Damit meine ich
nicht nur die formalen, technischen Dinge, die sich verselbständigt haben und nur noch für
ein paar wenige Eingeweihte von Bedeutung sind. Ich meine auch begriffliche Turnübungen,
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DZPhil 55 (2007) 3
in denen man keine philosophische Motivation erkennen kann. Sie sind leicht auszumachen,
denn sie sind einfach unendlich langweilig. Man sieht sofort: Der Aufsatz wurde vor allem
geschrieben, weil jemand eine berufliche Identität brauchte und eine Stelle haben wollte.
Das klingt gehässig, aber hinter vorgehaltener Hand würden die meisten zustimmen. Am
Abend eines Tages, wo ich es nur mit solchen Texten zu tun hatte, würde ich auf die Frage
nach der Zukunft der analytischen Philosophie bissig sagen: Sie hat keine.
An anderen, besseren Tagen würde ich sagen: Sie hat sehr wohl eine Zukunft. Ich sehe sie
im Projekt einer deskriptiven Metaphysik der Erfahrung, die sich die vielen sprachanalytischen
Einsichten dieser Philosophie zu Eigen macht, ohne sich irgendwelchen Dogmen zu verschreiben, weder quineanischen noch wittgensteinianischen. Man könnte das Projekt auch in
kantischen Worten beschreiben: Orientierung im Denken. Eine Orientierung, in der wir uns
vergewissern, wie wir über uns und unsere Erfahrung der Welt denken und vielleicht denken
müssen, wenn es eine verständliche Welt sein soll. Neben Strawson sind da für mich leuchtende Beispiele Harry Frankfurt und Bernard Williams mit ihren Analysen des Personseins.
Die Orientierung im Denken, die man auf diese Weise erwirbt, ist manchmal auch von praktischer Bedeutung, etwa bei moralphilosophischen Themen. Doch darum geht es mir nur am
Rande. Wichtiger ist mir die gedankliche Übersicht als solche. Wenn man sie gewonnen hat,
ist man ein anderer Mensch als vorher. Ich glaube, das ist der Grund, warum ich selbst bei der
analytischen Philosophie gelandet und geblieben bin - irgendwie. Zu wissen, dass die Orientierung im Denken eine kontingente Orientierung in einem kontingenten Denken ist, stört
mich nicht. Ich kann Richard Rorty gelassen und mit Genuss zuhören. Ich nicke, wenn er
sagt, dass philosophischer Fortschritt nicht im geduldigen Verfolgen von kleinteiligen
Forschungsprojekten einer universell arbeitenden Vernunft besteht, sondern in überraschenden Leistungen unserer durch und durch kontigenten, idiosynkratischen Einbildungskraft.
Ich nicke nicht mehr, wenn er daraus schließt, dass die analytische Genauigkeit im Ausschreiten von Provinzen unseres Denkens überflüssig ist.
Und die Sache mit der „analytischen" und der „kontinentalen" Philosophie? Nach allem,
was ich bis hierhin geschrieben habe, wird es niemanden wundern, wenn ich sage: Diese
Unterscheidung ist ein Ärgernis, einfach nur ein Ärgernis, und man sollte damit absolut
keine Geduld haben. Die beiden Etikette haben nicht und hatten nie eine sachhaltige Unterscheidung hinter sich. Auf beiden Seiten hatten sie von Anfang an nur die Funktion von
Kampfparolen, und vielfach ist das heute noch so. Was die Europäer angeht, so entwickelte
sich eine unselige Spaltung zwischen denjenigen, die die Geschichte der Philosophie und ihre
Auslegung hochhielten, und den anderen, die auf die philosophischen Care-Pakete aus der
angelsächsischen Welt warteten und auch dann Englisch redeten, wenn sie Deutsch redeten.
Und vielfach besteht diese unheilige Allianz von Eiferern auch jetzt noch. Was die Kollegen
englischer Zunge angeht, so sind sie nicht unschuldig an dieser Situation. Ihre oft mangelnde
historische Bildung verfuhrt sie nicht selten zu verzerrenden Diagnosen und zu einem herablassenden Gebaren uns gegenüber, das mich wortlos sauer macht, weil es zeigt, wie schlicht
provinziell die analytische Philosophie manchmal ist. Deshalb ist Juliet Floyds wunderbares
Buch so wichtig.
Eigentlich ist ja ganz klar, was zu tun ist: Als gebildete Menschen, die mit der Geistesgeschichte auf ganz selbstverständliche Weise vertraut sind, lassen wir uns auf die neuesten
Gedanken zu den Fragen ein, die uns interessieren, gleichgültig, in welcher Sprache sie daherkommen. Weil das Universum philosophischer Gedanken ausgesprochen endlich ist, finden
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Peter Bieri, Was bleibt von der analytischen Philosophie?
wir natürlich Vorläufer für viele dieser Überlegungen, und wir finden auch Möglichkeiten der
Kritik, die die Zeitgenossen übersehen. Doch diese Beobachtung lässt in uns keinen Antagonismus entstehen zwischen zwei Bewegungen oder Lagern. Historisch informiert suchen wir
die beste Orientierung im Denken, die wir bekommen können. Dann machen wir Philosophie. Weder analytische noch kontinentale. Einfach Philosophie.
Prof. Dr. Peter Bieri, Freie Universität Berlin, Institut fiir Philosophie,
Allee 30, 14195 Berlin
Habelschwerdter
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