Beckmann (48394) / p. 1 /27.10.09 Jan P. Beckmann Ethische Herausforderungen der modernen Medizin VERLAG KARL ALBER A Beckmann (48394) / p. 2 /27.10.09 Die moderne Medizin ist in einem ebenso schnellen wie nachhaltigen Wandel begriffen: in der Forschung etwa durch Einblicke in die molekularen Mechanismen der frühen Zellentwicklung einschl. der De-Differenzierung; in der Diagnostik infolge zunehmender Kenntnisse genetisch bedingter Krankheitsdispositionen in Form einer Erweiterung der kurativen durch die prädiktive Medizin; in der Therapie durch den Ausbau der Organ-, Zell- und Gewebetransplantationen, und im nichtkurativen Bereich schließlich durch die Palliativmedizin. Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit den ethischen Herausforderungen auf paradigmatische Weise. Dabei geht es in jedem der vier Bereiche um eine jeweils spezifische Herausforderung: in der Stammzellforschung um eine an der Molekularbiologie orientierte Medizin, in der genetischen Diagnostik um eine zunehmend individualisierte Medizin, in der Transplantationsmedizin um eine Medizin, die Teile des menschlichen Körpers zu »Heilmitteln« für andere werden lässt, und in der Palliativmedizin um eine das kurative Paradigma verlassende hinnehmende Medizin. Der Autor zeigt, dass diese Herausforderungen der modernen Medizin sowohl solche der Medizin als auch solche seitens der Medizin sind. Der Autor: Jan P. Beckmann, geb. 1937, Studium der Philosophie in Bonn u. München, Prom. 1967 u. Habil. 1979, Univ. Bonn, Lehrtätigkeit Yale 1968– 70, Oxford 1983; seit 1979 Prof. der Philosophie, FernUniversität Hagen (2003 emeritiert). Beckmann (48394) / p. 3 /27.10.09 Jan P. Beckmann Ethische Herausforderungen der modernen Medizin Verlag Karl Alber Freiburg / München Beckmann (48394) / p. 4 /27.10.09 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Originalausgabe Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / München 2009 www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten ISBN 978-3-495-48394-7 Beckmann (48394) / p. 5 /27.10.09 Vorwort Das Folgende stellt die für den Druck überarbeitete und teilweise gekürzte Version an verstreuten Orten publizierter Aufsätze des Verfassers dar. In erweiterter Form haben dieselben Eingang in Lehrtexte für das von ihm betreute Weiterbildende Studienangebot Medizinische Ethik (Näheres s. www.fernuni-hagen.de/philosophie/philins/in dex.html) des Instituts für Philosophie der FernUniversität gefunden. Dieses Studienangebot wird seit Jahren von Ärzten und anderen im Gesundheitswesen Tätigen frequentiert. Den Studierenden sei an dieser Stelle für ihr Interesse, ihre Anregungen und nicht zuletzt für ihre Kritik gedankt, desgleichen den angehenden Medizinern und Medizinerinnen, die seit 1998 die jährliche vom Verfasser geleitete medizinethische Vorlesung in der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen besuchen. Gedankt sei auch den Verlagen für die freundliche Verwendungserlaubnis der Publikationen des Verfassers. Große Anerkennung gilt den beiden Wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Claudia Imhoff, BA, MA und Ulrike Müller-Bruhnke, MA, Dipl. psych. für ihre unermüdliche Hilfe bei den Korrekturen und der Druckvorbereitung. Nicht zuletzt gilt ein herzliches Wort des Dankes meiner Frau für ihre liebenswürdige Geduld mit dem stets arbeitslustigen und wissenschaftlich umtriebigen Emeritus. FernUniversität in Hagen Institut für Philosophie im Frühsommer 2009 Jan P. Beckmann 5 Beckmann (48394) / p. 6 /27.10.09 Beckmann (48394) / p. 7 /27.10.09 Inhaltsbersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Teil I: Ethische Herausforderungen in der Forschung. Beispiel: Stammzellforschung . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Vorwort Einführung 1. Die Diskussion um den Status des extrakorporalen frühen menschlichen Embryos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2. Der Schutz der Embryonen in der Forschung . . . . . . . . 51 3. Überlegungen zum Ansatz ethischer Analyse des Klonens im Humanbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 4. Ethik nach Vorgaben des Gesetzes? . . . . . . . . . . . . . 83 5. Die Diskussion um die Novellierung des Stammzellgesetzes (2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Zur Frage begrifflicher Klarheit und praxisbezogener Kohärenz in der gegenwärtigen Stammzelldebatte . . . . . 122 Literatur zu Teil I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 6. 7 Beckmann (48394) / p. 8 /27.10.09 Inhaltsbersicht Teil II: Ethische Herausforderungen diagnostischer Art. Beispiel: Genetische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . 139 1. Gendiagnostik: Anthropologische Aspekte . . . . . . . . . 142 2. Gendiagnostik: Ethische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . 160 3. (Gen-)Informationelles Selbstbestimmungsrecht 4. Gentests und Versicherungen 5. Pharmakogenomik und Pharmakogenetik . . . . . . . . . . 204 Literatur zu Teil II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 . . . . . . 173 . . . . . . . . . . . . . . . 184 Teil III: Ethische Herausforderungen therapeutischer Art. Beispiel: Transplantationsmedizin . . . . . . . . . . . . . 231 . . . . . . . . . 235 1. Ethische Fragen der Organtransplantation 2. Ethische Fragen der Gewebetransplantation 3. Ethische Fragen der Xenotransplantation . . . . . . . . . . 334 4. Menschliche Identität und die Transplantation von Organen tierischer Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Zur Inanspruchnahme von Tieren zu Transplantationszwecken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 5. Literatur zu Teil III 8 . . . . . . . . 317 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Beckmann (48394) / p. 9 /27.10.09 Inhaltsbersicht Teil IV: Ethische Herausforderungen nicht-kurativer Art. Beispiel: Palliativmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 1. Palliativmedizin und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 2. Die »Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 . . . . . . . 443 3. Überlegungen zum Thema »Sterben und Tod« 4. Patientenverfügung: Selbstbestimmung versus Lebensschutz? . 450 Anhang: Beispiel für Anlage und Struktur einer Patientenverfügung 490 Literatur zu Teil IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 9 Beckmann (48394) / p. 10 /27.10.09 Beckmann (48394) / p. 11 /27.10.09 Einfhrung 1. Ethik und Moral Ärztliches Handeln und die dazu erforderliche wissenschaftliche Forschung für die Zwecke evidenzbasierter Medizin sind ihrer Natur nach auf Hilfe für den Menschen und speziell auf Heilung (bonum facere) und Schadensabwendung (nil nocere) hin angelegt und insofern immer schon normativ geprägt. Die zugrunde liegenden Normen müssen jedoch nicht nur intuitiv befolgt und praktiziert, sie müssen auch reflexiv diskutiert und intersubjektiv überprüft werden. Denn es ist eines, das Gute zu wollen, und ein anderes, die Gründe hierfür angeben zu können. Ersteres hat mit Moral, letzteres mit Ethik zu tun. Moral bestimmt sich durch die Gesamtheit der Regeln, Werte und Normen, die eine gegebene Gesellschaft als Ganze für ihr Handeln, insofern dasselbe für den Menschen Gutes bewirken und für ihn Nachteiliges verhindern soll, als verbindlich anerkennt. Die Untersuchung der Frage hingegen, ob konkretes menschliches Handeln, für das der Anspruch auf Moralität erhoben wird, gerechtfertigt ist, d. h. einer rationalen, intersubjektiv nachvollziehbaren Überprüfung der ihm zugrunde gelegten Prinzipien und Normen standhält, obliegt der Ethik. Ethik ist nicht selbst eine Moral, sie kann es ihrer Natur nach nicht sein; sie ist vielmehr wissenschaftlich kontrollierte und reflektierte Rede über Moral. Ethik fragt nach den Bedingungen moralisch korrekten Handelns, sie untersucht kritisch die in den einzelnen Moralen geltenden Normen und richtet ihr Augenmerk auf die Prinzipien und Normen, d. h. auf die obersten Gründe für die Beurteilung desjenigen, was als moralisch unbedenklich, verbindlich oder verboten gilt. Ethische Expertise verhält sich daher gegenüber moralischer Kompetenz wie die Fähigkeit, Begründungen für die Güte des jeweiligen Handelns anzugeben, zum Willen, Gutes zu bewirken. Ethik muss man kennen, Moral praktizie- 11 Beckmann (48394) / p. 12 /27.10.09 Einfhrung ren. Dabei sind beide aufeinander angewiesen: Ethik ohne Moral wäre ein leeres, Moral ohne Ethik ein blindes Unterfangen. 2. Ethik und Medizin Medizinisches und ärztliches Handeln bewegen sich in drei Dimensionen: in der naturwissenschaftlich bestimmten Dimension des Wissens, für welches Gesetzmäßigkeiten, Kausalerklärungen und Verallgemeinerungen kennzeichnend sind; sodann in der geisteswissenschaftlich geprägten Dimension des Deutens, welches das gesetzmäßig Allgemeine mit dem Individuell-Besonderen verknüpft, und schließlich in der praktischen Dimension des Anwendens, welche ausnahmslos situativ und individuell bestimmt ist. Als Wissenschaft hat die Medizin mit dem Allgemeinen, als Deutung mit dem Besonderen und als Heilen mit dem Individuellen zu tun. Das Allgemeine und das Besondere sind ihrer Natur nach wiederholbar, das Individuelle ist es seiner Natur nach nicht. Hinsichtlich naturwissenschaftlicher Objektivationen kann man von Krankheiten, hinsichtlich der Deutung von Kranksein sprechen, im Hinblick auf den einzelnen Menschen jedoch nur von Kranken. Die genannte Dreidimensionalität medizinisch-ärztlichen Handelns verwirklicht sich nicht in einem gleichsam »vor-ethischen« oder gar »ethikfreien« Raum. Weder sind die Wissenschaften wertfrei, noch bildet das konkrete Handeln einen normativer Bestimmung vorgängigen Bereich. Die Ansicht, erst werde geforscht, erkannt und gehandelt und anschließend nach den normativen Bedingungen und Grenzen gefragt, ist überholt; sie beruht auf einem vormodernen Verständnis von Wissenschaft und Handeln als einer Art ethisch neutralen Umgehens mit der Natur, welche sich ihrerseits »schon wehren wird«, wenn etwas »zu weit geht«. Die Natur kann sich nicht – oder allenfalls in Grenzen – »wehren«, dazu fehlt ihr der Subjektstatus. Hinzu kommt, dass der Mensch inzwischen die Bausteine der Materie und die Baupläne des Lebens nicht nur zu erkennen, sondern auch zu manipulieren begonnen hat. Anders als Jahrhunderte zuvor beschränkt der heutige Mensch sich nicht auf das Entdecken neuer Zusammenhänge in der Natur; vielmehr verändert er die Natur und damit auch sich selbst fortlaufend. Dass die Philosophie, deren traditionelles Wappentier die Eule der Minerva ist, zu alledem gleichsam erst nach Einbruch der Dämmerung ihre Stimme erhebt, also dann, wenn das Tagesgeschehen in den Wis12 Beckmann (48394) / p. 13 /27.10.09 Einfhrung senschaften abgelaufen ist, kann jedoch nicht mehr als zeitgemäßes Paradigma gelten. Was Not tut, ist die Vergleichzeitigung, ja nach Möglichkeit die Antizipation ethischer Fragestellungen angesichts des schnellen Fortgangs der Wissenschaften. Medizinische Ethik ist derjenige Bereich der Ethik, der sich insbesondere mit Prinzipien, Normen und Begründungen desjenigen menschlichen Handelns beschäftigt, das auch woanders, doch in besonderer Weise im Bereich der Medizin auftritt. Medizinische Ethik ist keine Sonderethik, sondern integraler Bestandteil philosophischer Ethik. Auch geht sie gleichermaßen Mediziner und Pflegekräfte wie auch Patienten und damit, weil jeder zumindest potentiell Patient ist, jedermann an. Dabei hat Medizinische Ethik angesichts der genannten Dreidimensionalität medizinisch-ärztlichen Handelns mit einer dreifachen Beziehung zu tun: mit dem Menschen, mit der Wissenschaft und mit der philosophischen Disziplin der Ethik. Zentraler Bezug ist der Mensch: Wer ist er? Was ist er? Es sind dies traditionell Fragen der Anthropologie, doch besitzen sie einen unmittelbaren ethischen Bezug. Denn ob man den Menschen im ärztlichen Handeln und in der medizinischen Wissenschaft als eine leiblich-geistige Einheit ansieht oder ihn als Bürger zweier Welten, einer durch Freiheit gekennzeichneten geistigen und einer durch Naturgesetze determinierten körperlichen Welt betrachtet, hat unmittelbare Konsequenzen für die Frage der Moralität medizinisch-ärztlichen Handelns. 3. Autonomie, Selbstbestimmung und Lebensschutz Ärztliches Handeln und medizinische Forschung sind in ihrer ethischen Zielsetzung der Hilfe und des Lebenserhalts des Menschen auf eine zentrale Voraussetzung angewiesen: auf die informierte Zustimmung des Einzelnen und der Gesellschaft als Ganzer. Jedwedes ärztliche Handeln ist auf die ausdrückliche Einverständniserklärung des Patienten auf der Basis seiner vollen Unterrichtung über Art, Alternativen, Risiken und Chancen der Behandlung angewiesen (»informed consent«). Falls eine solche ausdrückliche Einwilligung krankheitsoder altersbedingt vom Patienten unmittelbar nicht zu erhalten ist und auch keine Vorabverfügung (»Patientenverfügung«) vorliegt, muss sich der Arzt am mutmaßlichen Willen des Patienten orientieren. Auch die wissenschaftlich-medizinische Forschung steht unter dieser 13 Beckmann (48394) / p. 14 /27.10.09 Einfhrung normativen Voraussetzung. Zwar werden wissenschaftliche Erkenntnisse im Bereich der Medizin wie anderswo durchaus auch um ihrer selbst willen angestrebt (Prinzip ›Freiheit der Forschung‹), doch bedürfen sie zu ihrer ethischen Letztbegründung des notwendigen Bezugs zum Wohl des Menschen, und dieses Wohl kann seiner Natur nach nicht fremdbestimmt, es muss selbstbestimmt sein. Grundlage hierfür ist die seit der Europäischen Aufklärung zentrale Auffassung von der »Selbstgesetzlichkeit« (griech. autonomía) und Unverfügbarkeit des Menschen und dem darauf beruhenden Recht auf Selbstbestimmung. Entgegen einem häufig anzutreffenden Missverständnis bedeuten ›Selbstgesetzlichkeit‹ und ›Autonomie‹ nicht schrankenlose Selbstverfügung; vielmehr verstehen sich beide Begriffe als relational: ›Selbstgesetzlichkeit‹ steht unter der strengen Bedingung der Verallgemeinerungsmöglichkeit. Das Individuum ist nur insoweit ›selbstgesetzlich‹ als es »seine« Gesetze unter die allgemeine Geltungsbedingung für jedermann stellt, und es ist nur dann und nur insofern wirksam ›autonom‹, als es die Autonomie des Mitmenschen respektiert. In einer solchen Vorstellung von Selbstgesetzlichkeit und Autonomie ist kein Platz für Einzel- oder Gruppenegoismen. Es empfiehlt sich daher – dies wird im Folgenden immer wieder expliziert – zwischen Selbstgesetzlichkeit und Heteronomie und vor allem zwischen Autonomie und Selbstbestimmung zu unterscheiden: Die beiden Erstgenannten stehen zueinander in der Beziehung des nicht aufhebbaren und ausschließlichen Widerspruchs, die beiden Letztgenannten hingegen in der Beziehung eines Prinzips zu dem auf diesem beruhenden Recht. Autonomie ist Prinzip; sie ist in ihrer Ursprünglichkeit (lat. principium = Anfang) ohne übergeordnete Norm. Dabei ist zu beachten, dass Autonomie kein Zusprechungsergebnis, sondern einen Anerkennungssachverhalt darstellt. Wer einem Menschen Selbstgesetzlichkeit und Autonomie abzusprechen versuchen wollte, würde sich gleichsam selber beides absprechen. Doch der Mensch ist autonom von ihm selbst her, unabhängig von seinem aktualen Zustand und von irgendwelchen Fähigkeiten und Leistungen. Dagegen kann er in der Manifestation dieser seiner Verfasstheit bzw. ihrer rechtlichen Inanspruchnahme infolge von Jugend (Neugeborenes), Alter (Demenz) oder Krankheit (Bewusstlosigkeit, Koma) temporär oder dauerhaft mehr oder weniger eingeschränkt sein. Das mindert jedoch nicht seine Autonomie, denn die Logik dieses Begriffs lässt keine Intensitätsgrade zu. Auch kann man Autonomie, weil ein Prinzip, 14 Beckmann (48394) / p. 15 /27.10.09 Einfhrung nicht einklagen, im Unterschied zum Recht auf Selbstbestimmung. Es wird sich zeigen, dass die dem Folgenden zugrunde gelegte Unterscheidung zwischen Autonomie und Selbstbestimmung hilfreich ist, aber auch immer wieder herausgefordert wird; dies insbesondere durch die ethisch ebenfalls zentrale Norm des Lebensschutzes. 4. Notwendigkeit Medizinischer Ethik Schon immer hat menschliches Handeln generell unter der moralischen Maxime gestanden, dass nicht alles, was getan werden kann, auch getan werden darf. Auch dass diese Maxime für medizinisches Handeln gilt, ist in sich nichts Neues. Neu ist, dass angesichts der schnellen Entwicklungen in nahezu allen Bereichen der Medizin, insbesondere in Reproduktionsmedizin, Humangenetik, Intensiv- und Transplantationsmedizin, Ärzte und Patienten, ja die Gesellschaft als ganze mit Fragen und Problemen konfrontiert werden, deren ethische Qualität entweder unsicher oder strittig, in jedem Fall aber ungeklärt ist. So stellen beispielsweise in der Reproduktionsmedizin die Ergebnisse neuester Forschung Wissenschaftler und die Gesellschaft als Ganze vor Fragen der Eingriffsmöglichkeiten in den menschlichen Entstehungsprozess, die vor wenigen Jahrzehnten noch gänzlich unbekannt gewesen sind und deren ethische Implikationen sich zum Teil erst in Umrissen zeigen. In der Humangenetik hat man seit geraumer Zeit begonnen, den biologischen ›Code‹ des Menschen zu ›dechiffrieren‹ – ein Forschungsprogramm, das ungeahnte Möglichkeiten der Krankheitsprävention und -heilung, aber auch der »Machbarkeit« bestimmter Änderungen an der biologischen Spezies homo sapiens sapiens eröffnet. Ähnliches gilt von der Transplantationsmedizin, die angesichts der Möglichkeiten der Gewebe- und der Organübertragung vor der Frage steht, wo die Grenzen der »Austauschbarkeit« menschlicher Körperteile zu ziehen sind. Und es gilt nicht zuletzt vom Umgang mit Sterben und Tod als Ereignissen im Leben des Menschen, in denen eine besonders intensive Diskussion über das rechte Verhältnis zwischen patientenseitiger Selbstbestimmung und ärztlicher Hilfsverpflichtung vonnöten ist. Angesichts derartiger Problembereiche ist Ethik in der Medizin zum einen deswegen notwendig, weil alles normativ geprägte Handeln und damit auch dasjenige in der Medizin ständiger Überprüfung und 15 Beckmann (48394) / p. 16 /27.10.09 Einfhrung Reflexion auf seine Grundlagen bedarf, und zum anderen deswegen, weil insbesondere stark innovativ bestimmte medizinische Handlungsfelder den einzelnen Arzt häufig vor neue, zum Teil unerwartete moralische Anforderungen stellen, die ohne eine zuvor erworbene ethische Expertise nicht angemessen bewältigt werden können. Denn so begrüßenswert und beachtlich die Habitualisierung und Befolgung des durch die Jahrhunderte von den Ärzten etablierten und bewährten hippokratischen Ethos ist, so bliebe dasselbe doch ohne immer wieder vorgenommene ethische Überprüfung und Reflexion in seiner Begründungsstruktur unbekannt; auch wäre es angesichts der Fortschritte medizinischer Forschung und der sich darauf gründenden, bisher unbekannten neuen Handlungsmöglichkeiten unter Umständen überfordert. Hier hilft die Fähigkeit zu wissenschaftlich abgesicherter Normenreflexion, um moralisches Handeln im Einzelfall begründen und neue medizinische Handlungsmöglichkeiten mit ethischer Kompetenz beurteilen zu können. Beides ist bei einem rein intuitiven Umgang mit Moral kaum möglich. Begründungen nämlich müssen intersubjektiv überprüfbar sein und damit ein hinreichendes Maß an Verallgemeinerbarkeit besitzen. Dies erfordert eine über die moralische Praxis hinausgehende Reflexion über Moral, wie sie die Ethik als philosophische Disziplin vornimmt. Diese Aufgabenstellung ist in einer Zeit und in einer Gesellschaft zu leisten, in der es nicht nur eine Vielheit moralischer Normen gibt – dies war schon immer der Fall –, sondern in der es – und das ist das eigentlich Neue und Schwierige – einen Pluralismus von Werten gibt, in Bezug auf die es insgesamt keinen Konsens gibt. Die Antwort hierauf kann jedoch nicht ein moralischer Relativismus sein. Ein solcher käme einem Selbstmissverständnis gleich, das darin bestünde zu meinen, angesichts des Pluralismus moralischer Werte bliebe nur der Rückzug auf entweder ein Minimum moralischer Standards oder auf die persönlichen Überzeugungen des Einzelnen. Ein Selbstmissverständnis wäre dies deswegen, weil niemand, schon gar nicht der in der Medizin Handelnde bzw. Behandelte, nach moralischen Minimalstandards oder nach den eigenen subjektiven Vorstellungen handeln dürfte bzw. behandelt werden möchte. Vielmehr will jedermann – und das ist sein gutes Recht – nicht nur auf der Basis neuester medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse behandelt werden, sondern auch nach Maßgabe einer Moral, deren Prinzipien und Begründungen im offenen und öffentlichen Diskurs aller Beteiligten diskutiert und vereinbart sind. 16 Beckmann (48394) / p. 17 /27.10.09 Einfhrung 5. Aktuelle ethische Herausforderungen Besonders herausfordernd werden derartige Fragen hinsichtlich des Beginns und des Endes menschlichen Lebens. Welches ist der Status des extrakorporalen Embryos? Handelt es sich um ein Leben, welches bei ungehinderter Entwicklung zum Menschen wird oder ist es bereits ein werdender Mensch, unabhängig davon, ob er übertragen wird? Weiter: Wie verhalten sich das Recht auf Wissen und dasjenige auf Nichtwissen um das eigene Genom zueinander? Und: Lässt sich der menschliche Körper im Rahmen der Transplantationsmedizin als »Materialquelle« bzw. als »Ersatzteilempfänger« begreifen, und was geschieht, wenn dieser Bereich einem Marktgeschehen ausgesetzt wird? Schließlich: Stellt der maschinell beatmete Körper des Hirntoten noch Leben des Menschen dar oder handelt es sich um künstlich aufrechterhaltenes biologisches Leben im Körper eines Verstorbenen? Stehen die Hilfe bei schwerem Leid und die Begleitung Sterbender letztlich unter der ethischen Norm des Lebensschutzes oder derjenigen des Respekts vor der Autonomie und Selbstbestimmung des Individuums? Auf einigen Feldern ist der ebenso schnelle wie nachhaltige Wandel der modernen Medizin nachgerade mit Paradigmenwechseln verbunden: • in der Forschung etwa durch die Neuerungen der molekularen Einblicksmöglichkeiten in die Mechanismen früher Zellentwicklung – einschl. des Verfahrens der De-Differenzierung – im Rahmen der humanen embryonalen Stammzellforschung; • in der Diagnostik beispielsweise infolge zunehmender Kenntnisse genetisch bedingter Krankheitsdispositionen; hier steht eine folgenreiche Erweiterung der kurativen durch die prädiktive Medizin an: Während Erstere Kranke zu heilen sucht, vermittelt Letztere Gesunden Einblicke in ihre Krankheitsdispositionen; • in der Therapie z. B. durch eine starke Erweiterung der Organ-, Zell- und vor allem der Gewebetransplantation; • in der nicht-kurativen Medizin wie der Palliativmedizin schließlich infolge der Herausforderung, nicht nur Leben zu retten und zu erhalten, sondern zu Ende gehendes Leben auf Wunsch des Patienten hinzunehmen und helfend und schützend zu begleiten. Die Zusammenstellung dieser vier Themenkomplexe mag auf den ersten Blick gleichwohl verwundern, besteht doch ein nicht unerheblicher Unterschied zwischen der Palliativmedizin als einer helfenden, aber 17 Beckmann (48394) / p. 18 /27.10.09 Einfhrung nicht-kurativen Medizin auf der einen und eindeutig therapiebezogenen Entwicklungen, wie sie in der Stammzellforschung erhofft, in der genetischen Diagnostik zunehmend anvisiert und in der Transplantationsmedizin praktiziert werden, auf der anderen Seite. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass es in jedem der vier Themenkomplexe um eine jeweils spezifische Herausforderung geht: in der Stammzellforschung um eine an der Molekularbiologie orientierte Medizin, in der genetischen Diagnostik um eine zunehmend individualisierte Medizin, in der Transplantationsmedizin um eine Art »Austausch«-Medizin und in der Palliativmedizin um eine das kurative Paradigma verlassende helfend-hinnehmende Medizin. Der Zielsetzung Medizinischer Ethik entsprechend ist es nicht Aufgabe der folgenden Darlegungen, die genannten medizinischen Herausforderungen im Einzelnen darzustellen und zu beurteilen, wohl hingegen, die mit den jeweiligen Herausforderungen verbundenen ethischen Implikationen vorzustellen und zu analysieren. Dabei geht es in der humanen embryonalen Stammzellforschung aus ethischer Sicht grundlegend um die Frage, ob es rechtfertigungsfähig ist, zwecks Heilung schwerer Krankheiten auf frühes menschliches Leben in der Form sog. »überzähliger«, d. h. nicht zur Übertragung in den weiblichen Uterus gelangender Embryonen zurückzugreifen. Auf dem Feld genetischer Diagnostik steht ethisch insbesondere das Recht auf (gen-)informationelle Selbstbestimmung im Mittelpunkt der Diskussion. Hinsichtlich der Transplantationsmedizin geht es aus ethischer Sicht um die Frage, ob der menschliche Körper oder Teile desselben gleichsam zu »Heilmitteln« und ggf. »marktfähig« gemacht werden dürfen. Im Falle der Palliativmedizin schließlich steht wesentlich zur Diskussion, ob und wenn ja, wie bei Patienten mit schwerer chronischer Erkrankung und bei Sterbenden die Norm des Lebensschutzes mit derjenigen des Respekts vor dem autonomiebasierten Selbstbestimmungsrecht des Menschen in Einklang zu bringen ist. Hier wie schon in den drei ersten Themenkomplexen wird sich zeigen, dass die ethischen Herausforderungen der modernen Medizin sowohl solche seitens der Medizin als auch solche der Medizin sind: Es geht im Kern um die Fragen, woher wir kommen, wie wir es mit der Manipulierbarkeit unseren genetischen »Bauplans« halten, wie wir mit den sich ausweitenden Möglichkeiten, nicht mehr funktionierende Teile unseres Körpers zu »ersetzen«, umgehen und schließlich, wie wir uns gegenüber unserer Endlichkeit verhalten. Antworten auf Fragen der genann18 Beckmann (48394) / p. 19 /27.10.09 Einfhrung ten Art schuldet uns nicht nur die Medizin; vielmehr schuldet sie gleichermaßen der Einzelne und die Gesellschaft als Ganze auch gegenüber der Medizin. 19 Beckmann (48394) / p. 20 /27.10.09 Beckmann (48394) / p. 21 /27.10.09 Teil I Ethische Herausforderungen in der Forschung Beispiel: Humane embryonale Stammzellforschung Beckmann (48394) / p. 22 /27.10.09 Inhalt von Teil I: Ethische Herausforderungen in der Forschung Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kap. 1. Die Diskussion um den Status des extrakorporalen frühen menschlichen Embryos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung in die Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur Definitionsproblematik des frühen menschlichen Embryos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Hintergründe der verschiedenen Diskussionsansätze . . . 3.1 Der extrakorporale frühe menschliche Embryo als ›human being‹. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Der extrakorporale frühe menschliche Embryo als ›human life‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Der extrakorporale frühe menschliche Embryo als ›special cell life‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Umgangsanalyse als Beitrag zur Erhöhung der Konsenswahrscheinlichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kap. 2. Der Schutz der Embryonen in der Forschung 1. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . 2. Antwortansätze . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Lebensschutz . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Schaden/Nutzen-Kalkül . . . . . . . . 2.3 Mischansatz . . . . . . . . . . . . . . 3. Grundzüge eines möglichen Konsenses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kap. 3. Überlegungen zum Ansatz ethischer Analyse des Klonens im Humanbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ist ethische Analyse des Klonens im Humanbereich verfrüht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lassen sich ethische Analysen mit Hilfe der Biologie vornehmen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Generelle oder differenzierende ethische Analyse des Klonens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zentrale Aspekte einer differenzierenden ethischen Analyse des Klonens im Humanbereich . . . . . . . . . 5. Soziale Aspekte des Klonens . . . . . . . . . . . . . . . 6. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 24 29 29 31 36 37 41 43 44 48 . . . . . . . 51 51 55 55 58 59 60 . 63 . 63 . 67 . 69 . . . 71 79 81 Beckmann (48394) / p. 23 /27.10.09 Inhalt von Teil I: Ethische Herausforderungen in der Forschung Kap. 4. Ethik nach Vorgaben des Gesetzes? . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ethik und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zum Verständnis der drei vom Stammzellgesetz (StZG) vorgeschriebenen Kriterien . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Das Kriterium der Hochrangigkeit . . . . . . . . 3.2 Das Kriterium der hinreichenden Vorprüfung . . 3.3 Das Kriterium der sog. »Alternativlosigkeit« bzw. »Erforderlichkeit« . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der wissenschaftlich-ethische Doppelcharakter der drei Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zum Umgang mit den drei Kriterien . . . . . . . . . 6. Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 83 86 . . . . . . 87 88 91 . . 92 . . . . . . 93 95 98 Kap. 5. Die Diskussion um die Novellierung des Stammzellgesetzes (2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur ethischen Grundlage des Stammzellgesetzes von 2002 . 3. Die Frage der Defizite der älteren Linien . . . . . . . . . 4. Die Gesetzesnovellierung von 2008 aus Sicht der ethischen Grundlage des Stammzellgesetzes . . . . . . . . . . . . . 4.1 Alternative I: Ersatzlose Streichung des Stichtags . . 4.2 Alternative II: »Nachlaufender« Stichtag . . . . . . . 4.3 Alternative III: Beibehaltung des bisherigen Stichtags . 4.4. Alternative IV: Neuer Stichtag . . . . . . . . . . . . 4.5. Erweiterung der hES-Nutzung zu diagnostischen, präventiven und therapeutischen Zwecken . . . . . . 4.6. Notwendigkeit der Aufhebung der Rechtsunsicherheit für deutsche Forscher . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kap. 6. Zur Frage begrifflicher Klarheit und praxisbezogener Kohärenz in der gegenwärtigen Stammzelldebatte . . 1. Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Definitorische Präzisionsnotwendigkeiten . . . . . . 3. Praxisbezogene Kohärenzprobleme . . . . . . . . . 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 101 104 108 112 112 114 115 116 118 119 121 . . . . . 122 122 123 127 128 Literatur zu Teil I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 23 Beckmann (48394) / p. 24 /27.10.09 Einfhrung Mit dem ersten Auftreten des menschlichen Embryos in der Petrischale und damit außerhalb seiner von der Natur vorgesehenen mütterlichen Umgebung vor etwa vier Jahrzehnten entstand nicht nur reproduktionsmedizinisch, sondern auch ethisch-rechtlich eine neue Situation: Erstmals sah sich der Mensch in der Lage, im Rahmen des Verfahrens der Behandlung ungewollter Kinderlosigkeit nicht nur natürliche Hindernisse für das Entstehen zukünftiger Artgenossen zu überwinden, sondern seinesgleichen in einem Anfangs- bzw. Frühstadium zu beobachten, das seinem Auge und planenden Zugriff zuvor aus natürlichen Gründen verschlossen geblieben war. Stellt schon das Zustandekommen des extrakorporalen menschlichen Embryos in vitro einen Akt rechtfertigungsbedürftiger Künstlichkeit dar, so konnte es angesichts menschlicher Forschungsneugier nicht lange dauern, bis der legitimierenden Begründung solcher Künstlichkeit eine neue ethische Herausforderung ins Haus stand: diejenige der Rechtfertigungsbedürftigkeit des Umgangs mit der extrakorporalen Erzeugung von Embryonen, die, obzwar zu Reproduktionszwecken hergestellt, »überzählig« 1 geworden sind und zu nicht-reproduktiven – und damit aus Sicht der Embryonen: fremdnützigen – Zwecken zur Verfügung zu stehen scheinen. Letzteres ist insbesondere in der Form der Ableitung embryonaler Mit dem Ausdruck »überzählig« (im Engl. »supernumerous«) werden in der einschlägigen Literatur diejenigen Embryonen bezeichnet, die zwar zu Reproduktionszwecken erzeugt worden sind, aber nicht zur Übertragung gelangen, weil entweder bereits ein Implantationserfolg vorliegt oder die Gesundheit der Frau eine Schwangerschaft nicht zulässt. Angesichts der Gefahr der Konnotation von »überzählig« mit »überflüssig« sind zwecks Erhaltung der deskriptiven Bedeutung im Folgenden mit »überzähligen« »nicht transferierte« Embryonen (»not transfered embryos«) gemeint. Dieselben sind begrifflich wohl zu unterscheiden von sog. »discarded embryos«, die man infolge einer – in Deutschland verbotenen – PID verworfen, d. h. von einer Implantation wegen bestimmter Defekte ausgeschlossen hat. 1 24 Beckmann (48394) / p. 25 /27.10.09 Einfhrung Stammzellen, die angesichts ihrer Pluripotenz und Plastizität ein adulten Zellen weit überlegenes Entwicklungs- und damit zugleich Forschungspotential aufweisen, der Fall. Von der embryonalen Stammzellforschung erhofft man sich neben Einblicken in die Entstehung von Krankheiten in der embryonalen Frühphase Aufklärung über die Mechanismen der frühen Ausdifferenzierung von Zellen und mehr noch der möglichen Teilumkehr (De-Differenzierung) von bisher als irreversibel geltenden Abläufen. Ziel ist die Hilfe für Kranke, die an pathologischen Zellprozessen leiden, wie sie vor allem in der Onkologie, aber auch im Bereich degenerativer hirnphysiologischer Prozesse (z. B. Alzheimer) anzutreffen sind, sowie pharmakologische Toxizitätsforschungen im Rahmen der Entwicklung neuer, zielsicherer und nebenwirkungsärmerer Medikamente. Dagegen eignen sich die embryonalen Stammzellen nicht so ohne weiteres als therapeutisches Zellersatzmaterial, weil sie für den Empfängerkörper allogen sind und daher bei Übertragung eine dauerhafte pharmakologische Immunsuppression erforderlich machen, mit allen damit verbundenen Nebenwirkungen. Außerdem verfügen sie im Falle der Mutation zu Tumorzellen über ein gewisses onkogenes Potential, was wiederum für die Forschung interessant ist. Hier ergeben sich Zusammenhänge mit dem Feld der Biotechnologie, d. h. des Einsatzes von Biomaterialien und des sog. tissue engineering, welches zelluläre Biomaterialien, die in vitro kultiviert, vermehrt und verändert werden, zur Herstellung sog. bioartifizieller Konstrukte nutzt. Zwar stecken die entsprechenden Versuche noch in den Anfängen, doch bieten die embryonalen Stammzellen neben ihrer schon genannten hohen Plastizität den Vorzug, bei professioneller Kultivierung praktisch unbegrenzt haltbar zu sein. Dies alles unter Hinnahme des Untergangs des Embryos infolge der Ableitung der Stammzellen. Damit werden, so scheint es, erstmals Formen frühen menschlichen Lebens vernutzt, um erhoffterweise menschliches Leben zu retten. 2 Man hat dies in der Öffentlichkeit gelegentlich mit der Organspende verglichen. Der Vergleich ist jedoch nicht zutreffend, denn weder im Falle der Lebendspende noch im Falle der postmortalen Organspende wird menschliches Leben beendet, um anderem menschlichen Leben zu helfen (Näheres s. Teil III). Auch wird im Falle der Organtransplantation von einer Spende ausgegangen, d. h. von einer freiwilligen, auf persönlicher Entscheidung zurückgehenden Zurverfügungstellung von etwas. Der nicht zur Übertragung gelangende Embryo hingegen kann naturgemäß seine Stammzellen nicht »spenden«. 2 25 Beckmann (48394) / p. 26 /27.10.09 Teil I: Ethische Herausforderungen in der Forschung Liegen hier Widersprüche vor? Wie geht die Gesellschaft mit der Abstufung des Lebensrechtes von Embryonen um, die notwendig mit der Entnahme von Stammzellen einhergeht? Hier zeigt sich deutlich, dass Verfahren wie die humane embryonale Stammzellforschung nicht nur gesellschaftliche Folgen, sondern auch gesellschaftliche Bedingungen haben. Zu den Bedingungen individuellen wie gesamtgesellschaftlichen Handelns zählen an prominenter Stelle Gesetz und Recht, und so ist es nicht verwunderlich, dass die ersten Reaktionen in der Diskussion um die Stammzellforschung in Deutschland mit Bezug auf das geltende Recht erfolgten: einerseits durch Hinweis auf das Embryonenschutzgesetz aus dem Jahre 1992, wonach am menschlichen Embryo keine ihm nicht dienlichen Handlungen vorgenommen werden dürfen, und andererseits durch den Hinweis auf Artikel 5 des Grundgesetzes (GG), wonach die Freiheit der Forschung einen hohen Rang besitzt, so dass ein vollständiges Verbot der Stammzellforschung möglicherweise einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht würde standhalten können. Nun ist, was Ersteres angeht, bekanntlich nicht alles, was rechtlich zulässig ist, auch ethisch legitim. Wenn, wie 2002 im Stammzellgesetz vom Bundestag beschlossen und 2008 mit neuer Stichtagsregelung bestätigt, Import und wissenschaftliche Nutzung von humanen embryonalen Stammzellen im Ausnahmefall nicht verboten sind, so folgt daraus nicht, dass beides unter ethischen Gesichtspunkten rechtfertigungsfähig wäre. Die Beachtung der Differenz zwischen Legalität und Legitimität ist eine für jede Kultur wichtige, wenn nicht konstitutive Angelegenheit. Würde man alles, was nicht sein darf, durch rechtlichen Zwang regeln, dann bliebe für das frei handelnde und für sein Tun und Lassen verantwortliche Individuum kein Platz mehr. Würde man andererseits alles für ethisch legitim halten, was gesetzlich nicht verboten ist, wäre für Moral kein Platz. Das Gleiche gilt, würde man behaupten, alles tun zu dürfen, was nicht verboten ist. Als schwierig erweist sich die Einschätzung des Gewichts des Artikels 5 GG in diesem Kontext. Diesbezüglich ist darauf hingewiesen worden, dass auch der hochrangige Gedanke der Forschungsfreiheit seine Grenzen in dem in Artikel 1 und 2 GG verankerten Respekt vor der Würde und vor dem Leben des Menschen hat. Strittig war und ist, ob schon dem extrakorporalen frühen menschlichen Embryo dieser grundrechtliche Schutz – und zwar in vollem Umfang – zuzusprechen ist. Wie auch immer: Rechtlich wurde geltend gemacht, es sei erheblich, dass der mit der Stammzellentnahme verbundene Untergang 26 Beckmann (48394) / p. 27 /27.10.09 Einfhrung menschlicher Embryonen nicht auf dem Gebiet der Wirksamkeit des Grundgesetzes, sondern im Ausland erfolgt und dass dies nicht durch Anforderung aus Deutschland geschieht. Entscheidend ist, dass die im Ausland erfolgte Erzeugung von Embryonen, aus denen die zu importierenden Stammzellen gewonnen worden sind, ausschließlich zu Fertilisationszwecken hergestellt, aber im Rahmen der IVF »überzählig« geworden sind, und dass die »Eltern« nach entsprechender Aufklärung diese Embryonen freiwillig und ohne Honorierung zur Verfügung gestellt haben. Dem Einwand, dies laufe auf eine Doppelmoral hinaus, weil man im Ausland akzeptiere, was in Deutschland strafbar ist, nämlich die Gewinnung von Stammzellen unter Hinnahme des Untergangs von Embryonen, wurde entgegengehalten, es sei genauso Doppelmoral, im Ausland unter Nutzung der Forschung an humanen embryonalen Stammzellen entwickelte therapeutische Verfahren und Medikamente anschließend in Deutschland den Patienten zukommen zu lassen. Nun lässt sich eine Doppelmoral nicht durch die gegenteilige Doppelmoral ausgleichen, und so geht die Diskussion trotz rechtlicher und politischer Entscheidungen weiter. In den Medien haben sich dazu namhafte Naturwissenschaftler und Philosophen zu Worte gemeldet, darunter nicht wenige mit kritischem bis ablehnendem Tenor gegenüber der Frage der Erlaubtheit der Forschung an importierten humanen embryonalen Stammzellen. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht nach wie vor die Unsicherheit, als was der extrakorporale frühe menschliche Embryo, d. h. die wenige Tage alte Blastozyste, anzusehen ist: als ein »Etwas« 3 , das zum Menschen werden kann, oder als Mensch von Anfang an. Wenn Letzteres gelten soll: Wie steht es dann mit dem »überzählig« gewordenen Embryo, dem die Möglichkeit zur Weiterentwicklung versagt ist? Unstrittig ist, dass Embryonen niemals zu anderen als zu Fertilisationszwecken hergestellt werden dürfen und dass somit eine Herstellung von Embryonen zum alleinigen Zweck der Gewinnung von Stammzellen nicht rechtfertigungsfähig wäre. Uneinig ist man sich hingegen im Hinblick auf den moralischen Status des extrakorporalen Bemerkenswert ist der Umstand, dass in kaum einem Land die Annahme auftaucht, der menschliche Embryo in vitro sei lediglich ein »Zellbündel«, mit dem man nach Belieben verfahren könne. Statt dessen zeigt die häufig festzustellende Bemühung um die Etablierung von Regeln im Umgang mit dem Embryo, dass derselbe einen moralischen Status sui generis besitzt. 3 27 Beckmann (48394) / p. 28 /27.10.09 Teil I: Ethische Herausforderungen in der Forschung frühen menschlichen Embryos. Diesbezüglich ist Einigkeit jedoch wichtig, stellt die Entnahme von humanen embryonalen Stammzellen aus der Blastozyste doch wegen der unvermeidlichen Hinnahme des Untergangs des Embryos aus ethischer Sicht eine Verletzung des Respekts vor seinem Leben dar. Doch hat man nicht seinen Untergang infolge seiner »Überzähligkeit« bereits in Kauf genommen? Wenn ja: Ist diese Inkaufnahme mit derjenigen infolge der Stammzellentnahme in ethischer Hinsicht vergleichbar? Die folgenden Darlegungen gelten (1.) der Diskussion um den Status des extrakorporalen frühen menschlichen Embryos, (2.) der Frage nach seinem Schutz in der Forschung, (3.) der Prüfung des sog. Klonens oder Klonierens, (4.) der Problematik einer »Ethik nach Maßgabe des Rechts«, (5.) der Novellierungsdiskussion um das Stammzellgesetz und schließlich (6.) der Frage begrifflicher Klarheit und praxisbezogener Kohärenz in der Stammzelldebatte. 28