Murad Wilfried Hofmann Muhammad Sameer Murtaza Ecevit Polat

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Murad Wilfried Hofmann
Muhammad Sameer Murtaza
Ecevit Polat
Islamische Philosophie
Band 1:
Von den Anfängen bis zu Al-Kindi
1
Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen
2
Murad Wilfried Hofmann
Muhammad Sameer Murtaza
Ecevit Polat
Islamische Philosophie
Band 1:
Von den Anfängen bis zu Al-Kindi
3
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© 2016 Muhammad Sameer Murtaza
1. Auflage 2016
Herstellung und Verlag:
tredition GmbH
Hamburg
ISBN: 978-3-7345-5210-6
4
Inhaltsverzeichnis
Geleitwort
7
Aiman Mazyek
Was ist islamische Philosophie?
10
Muhammad Sameer Murtaza
Zur Rolle der islamischen Philosophie
46
Murad Wilfried Hofmann
Al-Afghanis Plädoyer für die islamische Philosophie
66
Muhammad Sameer Murtaza
Ein philosophischer Weg zum Islam
90
Murad Wilfried Hofmann
Die Rolle der Intuition in der islamischen Philosophie
103
Muhammad Sameer Murtaza
Al-Kindi – Ein Philosoph im Garten des Propheten
143
Muhammad Sameer Murtaza
Al-Kindi – Der verkannte Philosoph
Ecevit Polat
5
159
6
Geleitwort
Aiman Mazyek
Einst gab es eine Zeit, da war die muslimische Welt
berühmt für ihre Gelehrten, Naturwissenschaftler
und Philosophen. Mit einer Mischung aus Neid und
Bewunderung schielte das Abendland zum Orient.
Doch das war einmal vor langer Zeit…
Mit Blick auf die muslimische Welt von heute
klingen die Berichte über das muslimische Mittelalter wie ein Märchen. In der Regel kennen wir Muslime selber nicht einmal die großen Denker unserer
Geistesgeschichte. Weder begehen wir ihretwegen
Gedenktage noch bemühen wir uns, ihre Werke zu
erhalten, und so zerbröselten sie zu Staub in unserer
kollektiven Erinnerung.
Es ist auch den von uns Muslimen so oft gescholtenen Orientalisten zu verdanken, dass unsere Denker nicht gänzlich vergessen wurden. Sie trugen
mühevoll ihre Manuskripte zusammen, edierten sie
neu, kommentierten und studierten sie, so wie einst
die Muslime die großen Griechen, allen voran Aristoteles, durch Aufbereitung und Übersetzung vor der
geistesgeschichtlichen Versenkung retteten.
Gestehen wir es uns redlich ein: Wir selber tragen
hieran auch eine Mitschuld. Nicht wenige muslimische Bewegungen ab etwa dem 18. Jahrhundert
haben uns weismachen wollen, dass die gesamte
muslimische Geschichte eine Geschichte der Dekadenz sei. Einzig die Rückkehr zum Qurʾān und der
sunna und die Trennung von allem, was danach
kam, biete die Hoffnung auf eine Erneuerung der
7
umma. Das klang, unterjocht durch den westlichen
Kolonialismus, der in diesen Ländern wütete, verführerisch und so simpel, dass es überzeugte. Wie
ein Lauffeuer verbreitete sich dieses Gedankengut
mit fatalen Folgen für das Heute.
Weite Teile der umma sind zu Analphabeten ihrer
eigenen Geistesgeschichte geworden. Getrennt vom
Wissensschatz von Generationen von Muslimen haben wir uns selber auf die Stufe null zurückgeworfen. Mehr noch, diese Denkfeindlichkeit bewirkte,
dass wir auf dieser Stufe verharrten. Aber wir stagnieren nicht, wir fallen immer weiter zurück, denn
die restliche Welt erklimmt immer höhere Gipfel des
Denkens.
Erstaunlich nur, dass diese Zertrümmerer der
muslimischen Geistesgeschichte in der Konfrontation
mit „dem Westen“ immer wieder das ruhmreiche
muslimische Mittelalter zitieren, wenn es darum
geht, dem Diskussionspartner die einstige muslimische Überlegenheit zu beweisen. Aber eigentlich
haben sie gar kein Recht, diese Zeit argumentativ für
sich zu beanspruchen. Sie wissen nichts von
Al-Kindi, von Al-Farabi, Ibn Sina und Al-Ghazali.
Ihre puritanische Theologie hatte ja zum Ziel, sie
alle aus der Geschichte zu tilgen. Wer sich mit dem
muslimischen Mittelalter brüsten will, der muss
auch die Faktoren, die ihm zugrunde lagen, positiv
bewerten: Freiheit des Denkens und Pluralität im
Verständnis der Religion. Geistige Beweglichkeit,
nicht Engstirnigkeit, ist der Garant für geistige
Höhenflüge.
Umso erfreulicher, dass Murad Hofmann mit
seiner kleinen Schrift (aber mit gewaltigem Inhalt!)
Ein philosophischer Weg zum Islam so nachhaltig eine
neue Generation von muslimischen Denkern prägen
8
konnte, die sich wieder der islamischen Philosophie
widmet.
Es bleibt zu hoffen, dass Muslime sich von der
wahhabitischen philosophiefeindlichen Propaganda
nicht abschrecken lassen, sondern offen dafür und
mutig sind, die Geschichte des muslimischen Denkens zu entdecken.
Zu denken heißt manchmal auch, sich zu irren.
Daher sollten die Leserinnen und Leser diese Schriftreihe nicht blind konsumieren, sondern kritisch mitdenken, um so ihr eigenes Denken zu stimulieren.
Gerade dann wird Philosophie unglaublichen Spaß
machen. Man merke sich: Kein Philosoph hat jemals
behauptet, sein Denken sei die Wahrheit.
Es bleibt zu hoffen, dass der Herausgeber
Muhammad Sameer Murtaza uns noch viele Folgebände bescheren wird.
9
Was ist islamische
Philosophie?
Muhammad Sameer Murtaza
Begibt man sich auf die Suche nach einer Definition
dessen, was islamische Philosophie ist, so wird man
vier negative Beobachtungen machen:
1) Im Unterschied zu anderen Wissenschaften gibt es
in der islamischen Philosophie keine allgemein anerkannte philosophische Methode.
2) Die islamische Philosophie verfügt auch nicht
über einen gesicherten Bestand an allgemein anerkannten Wissensbeständen, der sich in verbindlicher
Weise in Lehrbüchern darstellen ließe.
3) Es gibt gar keine philosophischen Lehrbücher und
keine Autoritäten, allenfalls Einführungen, die helfen sollen, mit dem Philosophieren zu beginnen.
4) Während die anderen Wissenschaften stets nicht
weiter hinterfragte Prämissen voraussetzen, hinterfragt die islamische Philosophie alles, selbst ihren
eigenen Ausgangspunkt, den Islam. Das bisher fraglos Hingenommene wird hierdurch fragwürdig und
erzeugt ein Staunen, das als Beginn einer philosophischen Haltung angesehen werden kann.
Die islamische Philosphie ist demnach ein unverbindliches Sammelsurium von Lehren unterschiedlicher Philosophen, eine Geschichte des muslimischen
Denkens und zugleich eine Einladung, uns eine
Denkschule auszusuchen oder eine neue zu gründen.
10
Die islamische Philosophie hat also immer einen
Entwurfscharakter.
Aber vielleicht lässt sich doch ein Merkmal identifizieren, dass alle muslimischen Philosophen gemeinsam haben: das Hinterfragen. Die islamische
Philosophie ist eine Wissenschaft, die ständig hinterfragt. Dies macht sie zum Urboden aller Wissenschaften, zugleich orientiert sie sich an den Erkenntnissen der anderen Wissenschaften. Sie mischt sich
nicht in Fragen der Forschungswissenschaft ein,
sondern konzentriert sich auf die erkenntnistheoretischen und methodologischen Probleme der Forschung und trägt damit zum Erfolg der anderen Wissenschaften bei.
Die Philosophie ist damit zum einen Wissenschaftstheorie, zugleich wird sie im Bereich der Existenzialphilosophie zu einer Lebenssinnphilosophie.
Hier tritt sie dann zwar nicht in Konkurrenz zu den
Naturwissenschaften, aber zur Theologie (kalām)
und zur Mystik (Sufismus).
Disziplinen der Philosophie
Üblicherweise spezialisiert sich ein Philosoph im
Laufe seines Lebens auf eine oder mehrere Disziplinen der Philosophie. Diese können sein:
- Sprachphilosophie: Was ist Bedeutung? Was
heißt es, dass sprachliche Ausdrücke für etwas stehen? Ist das Sprechen ein Handeln?
- Erkenntnistheorie: Was kann ich wissen? Was ist
Erkenntnis? Was ist Wahrheit?
- Wissenschaftstheorie: Was bedeutet es, eine
These zu beweisen? Welche Kriterien muss Wissenschaftlichkeit erfüllen? Was sind Erklärungen? Was
11
macht eine wissenschaftliche Theorie aus? Was ist
ein Gesetz?
- Metaphysik: Gibt es Gott? Was können wir über
Ihn wissen? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Gibt es
weitere Geschöpfe, die dem Erkenntnisvermögen des
Menschen verborgen sind?
- Kosmologie: Was ist Raum? Was ist Zeit? Was ist
Wirklichkeit und was Realität? Gibt es Ereignisse?
- Philosophie des Geistes: Was ist Bewusstsein?
Was ist Denken? Bin ich frei?
- Philosophische Anthropologie: Was ist der
Mensch? Was unterscheidet den Menschen von anderen Lebewesen? Besitzt der Mensch eine Würde?
- Ethik: An welchen Werten und Normen soll der
Mensch sein Handeln orientieren? Gibt es das Gute?
- Politische Philosophie: Braucht es einen Staat?
Woher leitet Herrschaft ihre Legitimität ab? Wie soll
Herrschaft konzipiert sein? Welche Ökonomie besitzt
ein Ethos der Verantwortung?
- Rechtsphilosophie: Muss das Recht wertgebunden sein? Welche Werte liegen der šarīʿa zugrunde?
Ist das gegenwärtige Recht legitim? Darf die šarīʿa
abgeändert werden? Welchen Werten muss neues
Recht folgen? Gibt es überhaupt Recht und Unrecht?
Was ist Gerechtigkeit?
- Sozialphilosophie: Wie gelingt das Zusammenleben von Individuen innerhalb einer Gesellschaft?
- Geschichtsphilosophie: Durch welche Faktoren
kommt es zum Aufstieg oder zum Niedergang von
Zivilisationen? Was ist Fortschritt?
- Technikphilosophie: Darf der Mensch alles, was
er kann? Darf der Mensch die Natur verändern wie
er will?
- Religionsphilosophie: Was ist Glauben? Sind
alle Religionen gleich? Gibt es eine mystische Erfahrung?
12
- Ästhetik: Was ist das Schöne? Gibt es Wahrheit
oder Erkenntnis in der Kunst? Wodurch zeichnet sich
ein Kunstwerk aus?
- Logik: Was ist ein gültiges Argument?
- Existenzialphilosophe: Was kann der Mensch
werden? Wie kann der Mensch seine Persönlichkeit
weiterentwickeln? Was sind aktive und reaktive Kräfte?
In der Auseinandersetzung mit dem Denken früherer
Philosophen schult, schleift und schärft der Philosoph sein eigenes Denken. Er sucht bei ihnen keine
endgültigen Antworten auf seine eigene Fragestellung, aber sie helfen ihm, mit dem Philosophieren
anzufangen. Anhand des Studiums ihrer Denkwege
kann er die Irrtümer und Irrwege früherer Philosophen feststellen und sich diese ersparen. Philosophieren heißt also, methodisch und grundlegend zu
fragen sowie rational und argumentativ zu antworten.
Anders als in der Theologie oder in Ideologien ist
beim philosophischen Nachdenken allein die rationale, nachvollziehbare Argumentation zulässig, um
die zentralen Fragen menschlichen Weltverständnisses und menschlicher Lebenspraxis zu beantworten.
Die Geburt der
islamischen Philosophie
Kann es überhaupt so etwas wie eine islamische Philosophie geben? Ist sie nicht nur das Ergebnis einer
Übernahme griechischen Denkens im 9. Jahrhundert? Also reiner Elektizismus?
Dies ist ein beliebter und leichtfertiger Gedankengang, der sehr gerne von eurozentrischen Euro13
päern und ideologisch gesinnten Muslimen gegangen
wird,
um
die
islamische
Philosophie
zu
delegitimieren. Doch ist er gerechtfertigt? Oder ist
die islamische Philosophie etwas, dass das Selbstverständnis Europas und muslimischer Ideologen nachhaltig erschüttern würde? Kann es sein, dass von der
islamischen Philosophie eine Bedrohhung für zementierte Weltbilder ausgeht?
Das erste Beweismittel, das Muslime schon vor
der Begegnung mit der griechischen Philosophie auf
der Grundlage des Qurʾān, der als Impulsgeber für
dieses Denken diente, über die Welt sinnierten, finden wir in dem Begriff ḥikma, der Weisheit bedeutet.
Doch wieso ist dem so? Und was hat es mit diesem
Wort auf sich?
Ḥikma und Falsafa
Verharren wir also für den Moment bei der ḥikma
und beschäftigen uns mit dem bisher wenig beachteten Unterschied zwischen der ḥikma und dem späteren arabischen Ausdruck für Philosophie, der
falsafa.1
Um einen arabischen Begriff als islamische Terminologie in seiner Ursprungsbedeutung zu verstehen, ist es zwingend notwendig, einen Blick in das
Referenzmedium arabischer Sprache zu werfen: dem
Qurʾān.
Als Ursprung der Weisheit gilt der islamischen
Offenbarung Gott. So preisen Ihn die Engel mit den
Worten:
1 Eine wichtige Anregung zur nachstehenden These stellte folgende Schrift dar: Colli, Giorgio (1981): Die Geburt
der Philosophie. Frankfurt am Main.
14
Sie sagten: „Preis Dir, wir haben nur Wissen von
dem, was Du uns lehrst; siehe, Du bist der Wissende, der Weise (al-ḥakīm).“ (2:32)
Gott wird von den Engeln als der Weise, al-ḥakīm
angerufen. Da Er den Menschen an Seiner Weisheit
teilhaben lassen will, vermittelt Er sie durch Seine
Gesandten und die Offenbarungsschriften:
Demgemäß entsandten Wir zu euch einen Gesandten aus euerer Mitte, euch Unsere Verse vorzutragen, euch zu reinigen, euch das Buch, sowie
die Weisheit zu lehren, und euch zu lehren, was
ihr nicht wußtet. (2:151)
So tragen Wir dir Unsere Verse und diese weise
Ermahnung vor. (3:58)
Das Zuteilwerden von Weisheit ist eine Barmherzigkeit, eine Gnade, die von Gott ausgeht. Sie beschränkt sich dabei nicht nur auf die Propheten,
sondern auch nichtprophetischen Gestalten kann sie
zuteilwerden:
Er gibt die Weisheit, wem Er will. Und wem
Weisheit gegeben wurde, dem wurde ein hohes
Gut gegeben; doch keiner beherzigt es, außer den
Verständigen. (2:269)
Lies! Im Namen deines Herrn, Der erschuf – erschuf den Menschen aus einem sich Anklammernden. Lies! Denn dein Herr ist gütig, der
durch die (Schreib-)Feder gelehrt hat – den Menschen gelehrt hat, was er nicht wußte. (96:1-5)
15
Und wahrlich Wir gaben Luqman2 Weisheit: „Sei
Gott dankbar; denn wer dankbar ist, der ist nur
zu seinem eigenen Besten dankbar. Und wer undankbar ist – siehe, Gott ist unabhängig und
rühmenswert.“ (31:12)
Nach
dem
Philosophen
Muhammad
Iqbal
(gest. 1938) ist diese Gnade sogar etwas, das über
die Offenbarung hinausgeht, hierbei stützte er sich
auf den Vers:
Gott war wahrlich gegen die Gläubigen gnädig,
indem Er unter ihnen einen Gesandten aus ihrer
Mitte erweckte, ihnen Seine Verse zu verlesen, sie
zu läutern und das Buch und die Weisheit zu lehren; denn siehe, sie waren zuvor in offenkundigem Irrtum. (3:164)
Laut Iqbal ist die separate Aufführung der Weisheit
neben dem Buch ein Indiz dafür, dass diese etwas
ist, das nicht in der Offenbarung enthalten ist. 3 In
der Schia wie auch im Sufismus glaubt man beispielsweise, dass der Prophetengefährte, Schwiegersohn des Propheten, vierter Kalif des Islam und erster Imam der Schia, Ali ibn Abi Talib (gest. 661),
Träger dieser vom Propheten Muhammad über den
Qurʾān hinausgehenden Weisheit ist.4 Gleichermaßen ging der Gelehrte Abdoldjavad Falaturi
(gest. 1996) davon aus, dass in der islamischen Philosophie die Ansicht vorherrschte, dass das Wissen,
d. h. die Weisheit, über das Metaphysische „denjenigen vernunftbegabten Seelen gespendet (…) [wird],
2 Luqman ist ein vorislamischer Weisheitslehrer.
3 Iqbal, Muhammad (o. J.: 84).
4 Dar, B. A. (1963: 344).
16
die für diesen Empfang geeignet sind und dass es
keinen Wirkenden außer Allah gibt“5.
Laut Sure 3, Vers 58 ist die Weisheit jedoch in
der Offenbarung enthalten, daher kann Iqbal nicht
zugestimmt werden, dass sie etwas Getrenntes von
der Offenbarung ist, allerdings kann dem zugestimmt werden, dass der Gehalt der Weisheit über
die Offenbarung hinausgeht. Aber worum könnte es
sich bei ihr handeln?
In der Tat wird im Qurʾān immer wieder von dem
Buch und der Weisheit gesprochen. Gott ist al-ḥakīm,
somit ist Seine Rede Weisheit. Ist seine Rede Weisheit und ist die Offenbarung Seine Rede, so ist die
Offenbarung ḥikma. Daher kann Iqbal nicht zugestimmt werden, dass sie etwas Getrenntes von der
Offenbarung ist. Aber die Offenbarung ist in der
Zeit, sowie in menschlicher und damit endlicher
Sprache offenbart. Dadurch wird sie interpretationsbedürftig. Dies wirft die Frage auf, wie der Muslim
die Offenbarung richtig auslegt. Gemäß dem Exegeten Ali Ünal bedeutet die Wendung Offenbarung und
Weisheit, wie sie in Sure 2, Vers 129 oder Sure 3,
Vers 164 vorkommt, dass mit Weisheit „die Art und
Weise gemeint [ist], in der man das Buch versteht
und es praktiziert und im Alltagsleben umsetzt. In
diesem Sinn ist die „Weisheit“ nahezu synonym mit
der Sunna des Gesandten. Deshalb haben viele Gelehrte sie als die Sunna interpretiert.“6
Ali ibn Abi Talib galt als außerordentlicher Kenner und Versteher der Offenbarung. Diese Tatsache
verknüpfen wir nun mit den philosophischen Gedanken von Abdolkarim Soroush. Dieser lehrt, zwischen der Religion und dem religiösen Wissen zu
5 Falaturi, Abdoldjavad (o. J.: 268-269).
6 Ünal, Ali (2009: 86).
17
differenzieren. Letzteres stellt das Verständnis des
Menschen von seiner Religion dar.7 Religiöses Wissen ist also Ausdruck des Verständnisses, das Gläubige von ihrer Religion besitzen. Es darf aber nicht
mit der Religion gleichgesetzt werden, da es ein
Produkt menschlicher Interpretationen ist und damit
immer nur Entwurfscharakter hat. Dies schließt
Fehlbarkeit mit ein. Soroush schreibt:
Religion ist heilig und himmlisch, aber das Verständnis von Religion ist menschlich und irdisch.
Das, was konstant bleibt, ist die Religion, das,
was sich wandelt, sind das religiöse Wissen und
die Erkenntnis.8
Es liegt bei Gott, eine Religion zu offenbaren,
aber es liegt an uns, sie zu verstehen und zu realisieren. Es ist dieser Punkt, an dem das religiöse
Wissen geboren wird.9
Folglich kann es vom Islam keine abschließende, in
ein Interpretationssystem eingeschlossene Definition
und Auslegung geben. Daher schreibt Soroush treffend: „Die letzte Religion ist bereits hier, aber das
letzte Verständnis von Religion hat uns bisher nicht
erreicht.“10 Wenn wir Ünal darin folgen, dass Weisheit die richtige Interpretation der Offenbarung darstellt, dann steht dies natürlich konträr zu der Aussage von Soroush. Was macht also die Weisheit zu
7 Vgl. Soroush, Abdolkarim (2000: 15).
8 Ebda. (31).
9 Ebda.
10 Ebda. (37).
18
wahrem Wissen (ʿilm)11, die sich vom bloß perspektivischen Blick unterscheidet?
ʿIlm ist die wahre Erkenntnis und damit korrekte
Benennung (ism) einer Sache, wie Gott diese in
Wirklichkeit erschaffen hat.12 Daher heißt es in der
Urgeschichte:
Und Er lehrte Adam aller Dinge Namen; dann
zeigte Er sie den Engeln und sprach: „Nennt Mir
die Namen dieser Dinge, wenn ihr wahrhaft
seid.“ Sie sagten: „Preis Dir, wir haben nur Wissen von dem, was Du uns lehrst; siehe, Du bist
der Wissende, der Weise.“ (2:31-32)
Die falsche Benennung eines Tatbestandes führt
dagegen zu einer falschen Wahrnehmung der Wirklichkeit13:
Wahrlich, Namen sind es bloß, die ihr ersonnen
habt, ihr und euere Väter. Gott sandte keine Ermächtigung dazu hinab. Sie folgen nur einer
Wahnvorstellung und ihren Wünschen, obwohl
die Rechtleitung ihres Herrn zu ihnen gekommen
ist. (53:23)
Ihr verehrt neben Ihm nichts als Namen, die ihr
und euere Väter selber erfunden habt, und wozu
Gott euch keine Ermächtigung gab. Die Entscheidung liegt allein bei Gott. Befohlen hat Er, dass
ihr Ihn alleine anbetet. Das ist der wahrhafte
Glauben, jedoch wissen es die meisten Menschen
nicht. (12:40)
11 Vgl. Falaturi, Abdoldjavad (o. J.: 250-251).
12 Vgl. ebda. (258).
13 Vgl. ebda.
19
Diese falsche Wahrnehmung in Bezug zum ʿilm, kann
a) als ein Noch-nicht-Wissen spezifiziert werden,
wenn die Engel antworten: „Preis Dir, wir haben nur
Wissen von dem, was Du uns lehrst; siehe, Du bist der
Wissende, der Weise“ (2:32)14, b) als ein Aufheben
bereits vorhandenen Wissens verstanden werden,
wenn es in der Offenbarung heißt: Und Gott hat euch
erschaffen. Dann lässt Er euch sterben, doch lässt Er
einige von euch das gebrechlichste Alter erreichen, so
dass sie nichts mehr von dem wissen, was sie einst gewusst haben (lā yaʾlama baʾda ʿilmin šaiʾa). Siehe, Gott
ist wissen und mächtig (16:70)15, oder c) als eine Meinung, Ansicht oder Annahme (zann) aufgefasst werden, die aber nicht mit dem Gegenstand (šay) korrespondiert. Folglich ist die Benennung falsch (siehe
Sure 12, Vers 40). Es handelt sich also hierbei um
ein Schein-Wissen, da die Namen (asmāʾ) keinen
Bezug zur Wirklichkeit haben.16
Bezogen auf die Hermeneutik können Interpretationen des Qurʾān aufgrund von fehlender Informationen oder falscher Schlussfolgerungen, die nicht mit
dem Gegenstand, d. h. der Offenbarung korrespondieren, schlicht falsch sein. Aber hebt dies die Aussagen Soroushs auf? Keineswegs, die Offenbarung ist
die Quelle der Weisheit und die Geschichte muslimischen Denkens ist eine Geschichte dem ʿilm, also
dem rechten Verständnis dieser Weisheit so nahe
wie nur möglich zu kommen. Diese Geschichte des
Denkens stellt das religiöse Wissen dar, in dessen
Verlauf falsche Interpretationen herausgefiltert und
veraltete Auslegungen aufgrund von Noch-NichtWissen weitergedacht oder zurückgewiesen werden.
14 Vgl. ebda. (283).
15 Vgl. ebda. (283-284).
16 Vgl. ebda. (285).
20
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