MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN Heft 78 INFORMIERTE ZUSTIMMUNG ALS VORSTUFE ZUR AUTONOMIE DES PATIENTEN Hans-Martin Sass September 1992 1 ZUSAMMENFASSUNG Das Prinzip INFORMED CONSENT wird als ein notwendiges bioethisches Prinzip im Übergang von einer paternalistischen hippokratischen zu einer partnerschaftlichen nachhippokratischen Arzt Patient Interaktion beschrieben. Der weitere Fortschritt vor allem der prädikativen und präventiven Medizin macht eine weitere Verlagerung des Schwerpunktes der Bioethik weg von der Arztethik und hin zu einer Patienten- oder Bürgerethik notwendig, zu einer Ethik der Gesundheitsmündigkeit. Zwei vernetzte nachhippokratische Tugendkataloge werden vorgestellt, einer für den Patienten und einer für den Arzt. ABSTRACT The INFORMED CONSENT principle marks an important transitory step from previously paternalistic Hippocratic towards post-Hippocratic patient-physician interaction in partnership. Future progress in predicitve and preventive medicine require even more a – major shift in bioethics away from traditional emphasis on physician ethics towards citizen ethics or patient ethics and the ethics of health literacy. Two interrelated lists of postHippocratic virtue ethics are presented, one for thee patient and one for the physician. 2 VORWORT Die Medizinische Fakultät der Ruhr-Universität Bochum und das Zentrum für Medizinische Ethik Bochum veranstalteten im SS 92 gemeinsam eine Ringvorlesung unter dem Oberbegriff ,,Informed Consent“. Die Einwilligung des Patienten für nichttherapeutische Vorhaben im Rahmen medizinischer Forschung am Patienten wurde durch Ministerialerlasse schon zu Beginn dieses Jahrhunderts verfügt, in ausführlicher Form aber erst während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse 1946-1949 unter dem Stichwort ,,Informed Consent“ formuliert („Nuremberg Code“). Der Grundsatz der informierten Zustimmung des Patienten ist - ausgehend von in den USA besonders umfangreich erarbeiteten medizinethischen Grundlagen - inzwischen verpflichtender Grundsatz weit über den Bereich biomedizinischer Forschung hinaus auch für diagnostische und therapeutische Eingriffe geworden. Schon immer galt die Einwilligung des Patienten nicht nur als moralische und ethische, sondern auch als rechtliche Voraussetzung dafür, ärztliche Eingriffe von der Schuld der Körperverletzung zu entbinden. Nähere Anforderungen an die Qualität dieser Einwilligung sind vor allem durch die Rechtsprechung über immer weiter ausgedehnte Anforderungen an die Aufklärungspflicht des Arztes erarbeitet worden. Das Arzt-Patient-Verhältnis ist seiner Natur nach deutlich paternalistisch geprägt. Der hilfesuchende Patient ist nicht selten in einer Lage, in der die Hoffnung auf Hilfe die Furcht vor möglichen Gefahren diagnostischer oder therapeutischer Eingriffe überlagert. Der Arzt ist dem Patienten gegenüber in der Situation, ihm auftragsgemäß Wege zur Heilung oder doch Linderung aufzuzeigen, statt ihn über alle nur möglichen Nebenwirkungen oder Gefahren zu unterrichten. Schon von dieser Grundsituation her, ist der Patient kaum in der Lage, wirklich autonom, d.h. unbeeinflusst eine eigene, auf Kenntnis und Einsicht gegründete Entscheidung zu treffen. Er will es in vielen Fällen wohl auch gar nicht. Noch schwieriger sind die Probleme dann, wenn der Patient wegen der Schwere seiner Erkrankungen, wegen seines körperlichen oder geistigen Zustandes, wegen seiner Abhängigkeit, wegen seiner Jugend oder seines hohen Alters an der Einsicht und Wahrnehmung gehindert ist, die eine volle willentliche Zustimmung voraussetzt. In all diesen Situationen ist die Verantwortung des Arztes besonders groß, die Selbstbestimmung des Patienten zu beachten, soweit es die Umstände nur irgend ermöglichen. Die Ringvorlesung.(des Sommersemesters 1992 fasst Erfahrungsberichte und Reflexionen gerade aus solchen Bereichen der Medizin zusammen, in denen die Zustimmungsfähigkeit des Patienten infrage steht oder nicht gegeben ist. Sie zeigt die 1 Bindungen auf, denen der Arzt auch in diesen Fällen unterliegt, und versucht Regeln zu entwickeln, die auch in Grenzbereichen eine begründete und vertretbare Entscheidung für das ärztliche Handeln ermöglichen. Obwohl von Seiten unserer Studierenden oft Klage darüber geführt wird, medizinethische Fragen würden im Unterricht nicht ausreichend berücksichtigt, hat die Ringvorlesung nicht das Echo gefunden, das sie nach Bedeutung und Gewicht der Beiträge verdient hätte. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass einige der Vortragenden sich bereitgefunden haben, ihre Ausführungen zu einem druckreifen Manuskript auszuarbeiten. In dem vorliegenden Heft ist der zweite Beitrag aus dieser Vorlesungsreihe nun einem größeren Interessenkreis zugängig. Dank gebührt allen Beteiligten an der Ringvorlesung; an dieser Stelle aber besonders dem Autor dieses Heftes. Für das Zentrum für Medizinische Ethik Prof. Dr. K. V. Hinrichsen 2 INFORMIERTE ZUSTIMMUNG ALS VORSTUFE ZUR AUTONOMIE DES PATIENTEN Hans-Martin Sass MEDIZINISCHE ETHIK JENSEITS VON HIPPOKRATES Wenn der Philosoph und Ethiker im Rahmen einer Ringvorlesung der Medizinischen Fakultät spricht, so wird von ihm erwartet, dass er zu den speziellen Aspekten des Informed Consent Stellung nimmt, wie sie sich aus der Sicht der akademischen Philosophie und Ethik ergehen. Häufig wird dieser Erwartung damit Rechnung getragen, dass der Redner zunächst seine Reverenz vor der Jahrtausende alten Tradition der hippokratischen Ethik zum Ausdruck bringt, denn für viele Mediziner fallen auch heute noch medizinische Ethik und hippokratischer Eid zusammen. Ich will dieser Erwartung gerne nachkommen und bestätigen, dass der hippokratische Eid und das hippokratische Ethos dem medizinischen Beruf wie sonst keinem anderen Berufsstand von außen Autorität und Anerkennung und von innen Richtschnur und Regeln der Integration von Ethik und Expertise gegeben haben. Aber der Hippokratische Eid gehört heute eher in die Geschichte der Medizin, denn in die moderne Klinik. Wir können heute wenig mit ihm anfangen, können und dürfen ihn nur noch historisch verstehen, auch wenn er von berühmten Klinikern auf Festveranstaltungen immer noch als die Flagge einer ethisch reflektierenden und verantwortlichen Medizin gehisst wird. Der hippokratische Eid ist Teil der Medizingeschichte; unsere Probleme sind anders. Sie werden vom hippokratischen Eid nicht mehr voll abgedeckt und sein paternalistischer Ansatz, die Vorannahme, dass der Arzt schon wisse, was das Beste für den Patienten sei, ist für die allermeisten Szenarien der Patienten-Arzt-Interaktion in der modernen Medizin nicht nur überholt, sondern unangebracht, unakzeptabel und irreführend. Der Hippokratische Eid ist nicht etwa nur deswegen überholt, weil in ihm das Prinzip des Informed Consent, der - wie die Medizinjuristen es übersetzen - Einwilligung nach Aufklärung - nicht vorkommt. Er ist überholt, weil mit den kulturellen Änderungen der letzten Jahrtausende, vor allem seit der europäischen Aufklärung, auch die Kultur des Arzt-PatientenVerhältnisses sich ändert, - und er ist überholt, weil die Medizin sich ändert. Ich will zunächst von den medizininternen und medizinexternen Gründen des Aufkommens des Informed Consent Prinzips sprechen und danach das Informed Consent Prinzip in der Interaktion mit anderen medizinethischen Prinzipien skizzieren, drittens die geänderten neuzeitlichen Szenarien der Kultur der Arzt-Patient-Interaktion beschreiben; viertens werde ich von der notwendig werdenden Aufmerksamkeitsänderung in der Medizinethik, weg von der Arztethik 3 und hin zu der Patientenethik sprechen, die eigentlich erst die Ausfüllung des Prinzips der Selbstbestimmung in Ansehung von Krankheit und Gesundheit ist. Wir leben im Zeitalter der nachhippokratischen Medizin, „jenseits von Hippokrates“. Dieser Ausdruck stammt nicht von mir, sondern von dem Internisten und langjährigen Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer, Hanns-Peter Wolff. Ich zitiere: „Die kritische Auswertung des Corpus hippokraticum aus dem Blickwinkel der medizinischen Gegenwartsproblematik hat die zeitlose Gültigkeit der in der Eidesformel enthaltenen Verpflichtung zu Hilfeleistung, Verschwiegenheit und Achtung menschlichen Lebens nicht angetastet. Sie macht andererseits deutlich, dass tragende Elemente des heutigen A:rztPatienten-Verhältnisses wie Wahrhaftigkeit und Verantwortlichkeit des Arztes und Selbstbestimmung des Patienten fehlen. Diese waren der antiken Mentalität fremd. Sie stellt auch die Verbindlichkeit der apokryphen Postulate des primum nil nocere und der Verlängerung des Lebens bei einigen der zahlreichen moralischen Dilemmata der modernen Medizin in Frage, für die die hippokratische Tradition keine Lösungen bietet.“ [in: Medizin und Ethik, hg. H M Sass, 1989, 191f]. VIER GRÜNDE FÜR DIE TRANSFORMATION DER MEDIZIN Von den vier Gründen, die für die Transformation der Medizin und nachfolgend der Arzt-Patient-Interaktion verantwortlich sind, nenne ich zunächst die zwei wissenschaftsexternen, welche mit der Transformation von weltanschaulich geschlossenen Gesellschaften in offene, pluralistische Gesellschaften, ja oft multikulturelle Gesellschaften zusammenhängen. Spätestens seit der Aufklärung sieht unsere öffentliche und politische Kultur den Schwerpunkt von Güterabwägungen und Wertentscheidungen hei dem mündigen, selbstverantwortlichen und aufgeklärten Individuum in der Rolle des Bürgers, der kein Untertan mehr ist. Nicht mehr die Kirche oder der obrigkeitliche Staat oder der Despot sind die Subjekte verantwortlicher Entscheidungen, sondern der mündige und aufgeklärte Bürger. In die Welt und Sprache der Medizin übersetzt bedeutet das theoretisch und generell, dass nicht mehr der Arzt paternalistisch und heteronom [wie Kant sagen würde], sondern dass der Patient selbstbestimmend oder autonom [wie Kant sagen würde] über Intervention oder Nichtintervention oder über Interventionsalternativen soll entscheiden können müssen. Das Arzt-Patient Verhältnis wird zum Experten-Klienten Verhältnis, in dem der eine Dienstleistung erbringt, die der andere nachfordert; wie in anderen Dienstleistungsberufen ist auf der einen Seite Expertise und guter Service gefordert, für deren Gewährleistung und Haftung im Regelfall das Vertragsverhältnis die adäquate Form der Interaktion ist. 4 So ist auch im wesentlichen unter bezug auf die aufklärerischen und bürgerrechtlichen Traditionen bioethisch die Forderung nach der Einführung des Informed Consent Prinzips in die ärztliche Praxis von Beauchamp und Faden in ihrem bahnbrechenden Buch mit dem gleichnamigen Titel 1985 begründet worden; der Japaner Rihito Kimura spricht von der Bioethik als einer Bürgerrechtsbewegung. Die UNESCO hat auf einer Expertentagung im August 1991 die weltweite Verbreitung von Bioethik als eines Instruments zur Realisierung von human rights gefordert, damit „künftige Generationen sich auf die konkreten und ethischen Implikationen der Veränderungen in der medizinischen, epidemiologischen und gesundheitlichen Landschaft“ [UNESCO, Human Rights Teaching VII, 1991, 31] einrichten können; Informed Consent spielt eine wichtige Rolle bei der Transformation von Menschenrechten in den Raum der Medizin. Allerdings macht die UNESCO Deklaration deutlich, dass es Szenarien und Fälle geben kann, in denen das „Recht auf Nichtwissen“ und auf Nichtinformation ebenfalls den Rang eines Menschenrechts haben kann, dass also in solchen Fällen abgewogen werden muss, entweder vom Patienten oder vom Arzt [1 c, 30]. Wenn das Ziel der medizinischen Intervention „das beste Interesse“ des Patienten ist, „aegroti salus suprema lex“ -, dann kann nur in weltanschaulich geschlossenen Systemen der Arzt wissen, was denn im besten Interesse des Patienten liegt, so lautet das Argument. In offenen Gesellschaften bestimmt der Patient sein Interesse selbst. Für den Arzt ändert sich die Maxime aegroti salus suprema lex in das aegroti voluntas suprema lex: nicht das Heil des Patienten, vom Arzt definiert, sondern der Wunsch des Patienten, vom Patienten definiert, ist das höchste Gebot, -wie hätten Sie es denn gerne? Was sind das für Ziel- und Lebenswertvorstellungen, die in diesem Wunsch ausgedrückt sind? Die Moderne kennt eine ganze Reihe von unterschiedlichen Wert- und Lebenszielen, hedonistischen, solchen des Macht- und Gelderwerbs, der sozialen oder wissenschaftlichen oder politischen oder kulturellen Anerkennung, der Wunsch nach einer Familie, nach Kindern, nach Schönheit, nach Schmerzfreiheit, nach Beendigung des Lebens, nach Lebensverlängerung usw.; jeder von uns hat seine eigenen Prioritäten unter diesen Werten, wie soll der Arzt heteronom bei einer bestimmten Intervention das „salus“ in einem konkreten Fall feststellen? Wie soll der Arzt das wissen? Er kann es nur wissen, wenn er den Patienten fragt; - und damit beschreiben wir die kopernikanische Wende der Erwartungen an die Medizin in all den Fällen, in denen es um mehr geht als bloße Routinebehandlung mit implizit schon durch das Aufsuchen des Arztes vorausgesetzter und dokumentierter Zustimmung zur Behandlung. Das sind dann die Fälle, die nach Viktor v. Weizsäcker durch die Parameter von „Not und Hilfe“ als dem „wirklichen Wesen des Krankseins“ gekennzeichnet sind (Ges. 5 Schriften, Bd. 5, 13]; dies ist aber nur eines von vielen Szenarien der modernen Medizin und dazu noch eines, das durch den Fortschritt der Medizin gegenüber anderen Szenarien in seiner Häufigkeit und Härte zurückgedrängt werden kann und wird. Diesen Sachverhalt macht die Diskussion der beiden medizininternen Gründe deutlich, die zu einer Transformation der Arzt-Patient Interaktion entweder schon geführt haben und noch führen werden. Es sind Fortschritte in der Therapie und in der Diagnostik. An erster Stelle sollen hier die Fortschritte in der modernen Therapie oder besser Interventionsmedizin genannt werden, in der Antibiotikabehandlung, in der Chemotherapie und Radiologie, bei den Psychopharmaka und bei der Lebensverlängerung, in der Chirurgie und bei der Organtransplantation, auf den Intensivstationen. Ist der Einsatz eines künstlichen Hüftgelenks bei einem bestimmten Patienten von einem bestimmten Lebensalter in dessen bestem Interesse oder nicht, ist es der nochmalige Versuch einer chemotherapeutischen Behandlung eines Patienten mit infauster Prognose, ist es die IFV bei einem kinderlosen Ehepaar oder bei einer alleinstehenden Frau ohne Partner aber mit Kinderwunsch, ist es die Methadonersatztherapie bei einem Heroinsüchtigen? Fragen über Fragen, die in einer weniger entwickelten und weniger leistungsfähigen Medizin nicht vorkamen, wo die Abwägung zwischen dem Nichtschadensgebot und dem Hilfsgebot, dem primum nil nocere und dem bonum facere leichter waren. Hier wird das Prinzip des Informed Consent als Instrument eingesetzt, die vom Arzt geplante Intervention dem individuellen, bestimmten Interesse des Patienten anzupassen, genauer: dem Patienten Gelegenheit zu geben, zu dem vom Arzt vorgeschlagenen und geplanten Weg zustimmend Stellung zu nehmen. Eine besondere Rolle spielt die Frage nach dem Subjekt der Verantwortung bei chronischen Krankheiten, welche nicht heilbar, sondern nur symptomatisch zu betreuen sind wie Bluthochdruck, Diabetes, auch der Morbus Parkinson und die Hemodialyse. Hier wird der Patient zum Partner, ja zum Spezialisten seiner eigenen Krankheit. Er ist beteiligt an Kontrolle, Dosierung und Behandlung der Symptome, ja häufig wird er der eigentlich Handelnde und der Arzt wird in die sekundäre Rolle des Beraters, Controllers und Einstellers zurückgedrängt; das Scheitern oder die Verschlechterung der Intervention ist wesentlich dem Patienten, nicht dem Arzt zuzuschreiben. Diese Form der Interaktion wird schon nicht mehr vom Prinzip des Informed Consent abgedeckt, eher von Prinzipien der Patientenmündigkeit, der Gesundheitsverantwortung: educated partnership, responsible self-management oder comanagement wären die angemesseneren Ausdrücke, wenn man denn schon englische Ausdrücke verwenden will. 6 Die zweite Gruppe der medizininternen Gründe für eine Änderung der Arzt-Patient Interaktion sind die Fortschritte der Diagnose, insbesondere der langfristigen prädiktiv genannten genetischen Diagnose, welche die Interaktionsszenarien zwischen Arzt und Patient weg von der akuten, oft paternalistisches Handeln erfordernden Krisenintervention zu einer nichtakuten, die Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des Patienten, auch des präsymptomatisch diagnostizierten Bürgers beratenden präventiven und prädiktiven Medizin zu nennen. Aber die Interaktion zwischen Arzt und präsymptomatischem Bürger in der prädiktiven Medizin ist deutlich anders als bei der Behandlung von chronischen Krankheiten. Prädiktion und Prävention erfolgen sinnvollerweise, wenn der Bürger als potentieller Kranker noch präsymptomatisch ist. Erst die langfristig mögliche Diagnostik auf Prädispositionen für individuelle Gesundheitsrisiken, Bluthochdruck, Diabetes, kardiovaskulare oder onkologische Prädispositionen machen individuelle Prävention und routinemäßige Kontrolle möglich und notwendig. Prävention geschieht nichtakut, präsymptomatisch. Die Interaktion zwischen Arzt und Patient wandelt sich von der momentanen akuten Intervention zur langandauernden nichtakuten Begleitung und Beratung. Auch der Krankheitsbegriff und seine bisher relativ saubere Trennbarkeit zum Gesundheitsbegriff geraten ins Wanken. Ist ein zwanzigjähriger präsymptomatischer Träger einer genetischen Abnormalität, die in der Regel erst vom vierten Lebensjahrzehnt symptomatisch und behandlungsbedürftig wird, gesund oder krank; und was ist mit dem im Mutterleib heranwachsenden Fötus eines prasymptomatischen Trägers oder eines präsymptomatischen oder auch schon symptomatischen Vaters? Ich spreche von heute durch DNA Marker posinatal, pränatal, auch präimplantativ diagnostizierbaren genetischen Aberrationen wie den autosomal dominant vererbbaren polizystischen Nierenerkrankungen [ADPKD], auch schwereren Abnormalitäten wie der Zystischen Fibrose, der Chorea Huntington oder leichteren und später einsetzenden wie Prädispositionen für bestimmte Kreislauf- oder Krebskrankheiten oder Formen von Demenz. Wie übersetzt man denn hier das primum nil nocere oder das bonum facere, das Gebot des Nichtschadens und das Gebot des Helfens und Heilens in diese neuen Situationen; wer bestimmt und wie bestimmt er das „salus aegroti“, das beste Interesse des Patienten? Wer ist denn Patient bei einer pränatalen oder präimplantativen [die allerdings zur Zeit in der Bundesrepublik im Gegensatz zum Schwangerschaftsabbruch aus medizinischer Indikation verboten ist] Diagnostik, die Mutter oder die Eltern beide, die kein genetisch schwerbelastetes Kind wollen oder das Ungeborene, die Zygote oder der Nasciturus, für den Prävention einer unheilbaren genetischen Belastung „Prävention des Lebens“ bedeutet; was aber heißt Prävention für ein Leben, das durch Abort oder Interruption terminiert wird? Dies sind Fragen, die sich nicht diesseits, sondern jenseits 7 von Hippokrates stellen und die nach dem Prinzip des Informed Consent gerufen haben, aber mit ihm auch nicht gelöst werden können. INFORMED CONSENT ALS TRANSITORISCHES PRINZIP GUTER KLINISCHER PRAXIS Die vier von mir genannten wissenschaftsinternen und wissenschaftsexternen Faktoren, die zu einer Transformation der Patient-Arzt-Interaktion jenseits von Hippokrates führen, können gut erklären, wieso das Informed Consent Prinzip in dieser Zeit des Umbruchs der Medizin zunehmend eine Rolle spielt. Gleichzeitig machen die genannten Gründe aber auch deutlich, dass das Prinzip der „Einwilligung nach Aufklärung“ nicht der Weisheit letzter Schluss ist, dass es immer noch Situationen gibt, wo die stellvertretende heteronome verantwortliche Entscheidung des Arztes wie zu Zeiten des Hippokrates gefordert ist, und dass es Situationen gibt, wo es längst nicht ausreicht, weil partnerschaftliche Lösungen oder besser: mehr und mehr autonome Entscheidungen mündiger Bürger, Patienten und potentieller Patienten gefragt sind. Die Geschichte der Medizin zeigt auch, dass das Informed Consent Prinzip zunächst nicht in der klinischen Ethik, sondern in der Forschungsethik aufgebracht wurde und erst von dort in die nichtforschende klinische Medizin transportiert wurde. Ein Erlass des Preußischen Kultusministers zu Fragen der Klinischen Forschung vom Jahr 1900 fordert, meines Wissens erstmals, die Aufklärung des Probanden und seine unzweideutige Zustimmung bei nichttherapeutischen Forschungen; ähnlich fordern die Reichsrichtlinien zur Forschung am Menschen von 1931 die Unverzichtbarkeit der Einwilligung bei nichttherapeutischen und die in der Regel unerlässliche Einwilligung bei therapeutischen Versuchen. Erst der Kodex von Nürnberg und dann die Helsinki-Tokyo-Deklaration zur biomedizinischen Forschung hat das Prinzip des Informed Consent dann weltweit für die Forschung, nicht aber für die sonstige klinische Praxis, verbindlich gemacht. Im Genfer Ärztegelöbnis von 1948 und in der Verpflichtungsformel für deutsche Ärzte von 1979 kommt es nicht vor, ist jedoch inzwischen über Standes- und Verwaltungsvorschriften zu einem wesentlichen Instrument geworden, das für den Arzt Haftungsprobleme regelt und dem Patienten ein gewisses Maß an Mitsprache bei Interventionen erlaubt. Insgesamt scheint nicht so sehr das Prinzip an sich, sondern die Art und Weise seiner Implementierung im klinischen Alltag das eigentliche ethische Problem darzustellen. Es stellt eine für ein bestimmtes Szenarium der Patient-Arzt-Interaktion differenzierte Anwendung des Prinzips der Autonomie und Selbstbestimmung dar. Es steht damit in einem engen Interaktionsverhältnis mit anderen für das Arzt-Patient Szenarium 8 entscheidenden ethischen Prinzipien, die einer weiteren Differenzierung und Abwägung im Einzelfall bedürfen. Für den erfahrenen Kliniker ist diese Forderung nach der Differenzierung und Präzisierung der ethischen Befunderhebung ebenso wenig neu wie die Forderung nach der Differenzierung in der Differentialdiagnose. Deshalb sprechen wir heute in der medizinischen Ethik auch von der Differentialethik, d. h. der Notwendigkeit kontrolliert, nachprüfbar, begründet und vor allem differenziert über ethische Prinzipien und Implikationen bei der Prognosestellung, dem Gespräch mit dem Patienten und den Optionen der Therapie zu sprechen. Traditionell haben nämlich in der Medizin nicht so sehr die genannten generellen ethischen Begriffe, sondern eng und präzise gefasste sogenannte mittlere ethische Prinzipien bei der Abwägung von Interventionsalternativen eine Rolle gespielt. Zu diesen mittleren ethischen Prinzipien, die aus den Rohstoffen der allgemeinen ethischen Werte als Halbfertigprodukte ethischer Arbeit in dar Medizin entwickelt worden sind, gehören Prinzipien wie Schweigepflicht, Respekt vor der Intimsphäre des Patienten, das primum nil nocere, das bonum facere, der therapeutische Vorbehalt, das „beste Interesse des Patienten“, und natürlich die „Einwilligung nach Aufklärung“, informed consent und das Gegenstück dazu, die „Verweigerung nach Aufklärung“, informed denial. Alle diese medizinethischen Prinzipien stehen in einer natürlichen Spannung zueinander, so z. B. das Prinzip des nil nocere zu dem des bonum facere. Der Arzt kann es oft nicht vermeiden, dem Patienten Schmerzen zuzufügen oder dessen Gesundheit durch Eingriffe oder Medikamente zu beeinträchtigen. Vor- und Nachteile und Risiken unvermeidbarer Nebenwirkungen sind gegeneinander abzuwägen. Das erfordert eine differenzierende Mikroanwendung und Mischanwendung der mittleren Prinzipien. Selten ist die Durchsetzung eines und nur eines ethischen Prinzips auf Kosten der anderen gefordert. Die vier grundlegenden Prinzipien, nil nocere, bonum facere, Selbstbestimmung des Patienten und Ärztliche Verantwortung bilden das Spannungsverhältnis, in dem sich Vertrauen zwischen Arzt und Patient entwickeln muss und in dem die Integration medizinischer Ethik und medizinischer Expertise zu erfolgen hat. Es gibt keinen medizinischen Einzelfall, in dem diese vier Prinzipien, vom Vertrauen als dem fünften Prinzip zusammengehalten und es begründend, nicht vorkommen. Alle nur möglichen Risiken in Praxis, Klinik und Forschung lassen sich innerhalb dieses Rahmens beschreiben. Die weiteren ethischen Prinzipien, wie die Schweige- und Aufklärungspflicht, sind demgegenüber von sekundärer Bedeutung, ebenso zusätzliche Prinzipien, die das Außenverhältnis der Arzt-Patient Beziehung betreffen; ihre Missachtung oder falsche 9 Integration kann einerseits zu gefährlichen Risiken führen, andererseits werden sie oft um der Durchsetzung der grundlegenderen mittleren Prinzipien wegen übertreten. Wie schon erwähnt, sind aber diese mittleren Prinzipien selbst erst noch Halbfertigprodukte, die für eine konkrete Situation einer weiteren Präzisierung und Differenzierung, einer weiteren Engführung der Begrifflichkeit bedürftig sind. Das „primum nil nocere“, das Gebot des Nichtschadens differenziert sich je nach Fall in so unterschiedliche Kriterien wie: leichte oder schwere Formen von Unwohlsein, Schmerz, Stress, Verletzung der Intimsphäre, auch vorübergehende oder andauernde, individuell erträgliche oder unerträgliche Beeinträchtigung, Körperverletzung, Verletzung oder Verlust von Organen oder Beeinträchtigung ihrer Funktion. Das „bonum facere“, das Wohl des Patienten, kann in der Beseitigung von Ursachen oder von Schmerzen oder von Symptomen bestehen, in der Verbesserung des Wohlbefindens oder des Wohlseins oder einer Organfunktion, in der Prävention oder in der akuten Krisenintervention, in der Verlängerung des Lebens oder in der Verbesserung der vom Patienten oder vom Arzt oder von beiden gemeinsam zu bestimmenden Lebensqualität, auch am Lebensende und hei infauster Prognose, liegen. Ähnlich ist das Prinzip des informed consent zu differenzieren zwischen Totalinformation und Teilinformation, Verzicht auf Information unter therapeutischem Vorbehalt, schließlich auch in Abwägung mit dem Prinzip des informed denial, der „Verweigerung nach Aufklärung“, ein Prinzip das leider viel zu selten in der Literatur und im klinischen Alltag ernst genommen wird; dabei ist es die Kehrseite des informed consent, beides ist Ausdruck der Selbstbestimmung und Autonomie des Patienten und des Respekts vor der Würde selbstverantwortlicher Entscheidungen. Schauen wir uns nun im dritten Teil an, wie im einzelnen diese differenzierenden Abwägungen zwischen einzelnen medizinethischen Prinzipien, unter ihnen das Prinzip des Informed Consent, in unterschiedlichen Szenarien der Arzt-Patient Interaktion erfolgen. DIE FÜNF SZENARIEN DER ARZT-PATIENT-INTERAKTION Ich stelle Ihnen fünf unterschiedliche Szenarien vor, von denen mindestens vier so relativ neu sind, dass sie die medizinische und medizinethische Situation „jenseits von Hippokrates“ gut kennzeichnen können. Für die Reduktion von medizinischen und ethischen Unsicherheiten und Risiken in allen fünf Szenarien ist das partnerschaftliche Ermitteln Abwägen, Entscheiden und Überprüfen gemeinsam mit dem Patienten das wohl beste Instrument. Die Begründung für die partnerschaftliche Analyse, Bewertung und Intervention ist eine doppelte: (1) Der technische Fortschritt lässt unterschiedliche Optionen für 10 Intervention, inklusive des Verzichts auf Intervention zu. Da es bei der medizinischen Intervention um Leben, Lebensqualität und die Würde auch des Sterbens oder Altwerdens geht, kann nicht der Arzt oder das Team oder der Gesetzgeber oder die Krankenkasse stellvertretend für den einzelnen diese Entscheidungen treffen. (2) Aber auch wenn es nicht die unterschiedlichen Interventionsalternativen der modernen Medizin gäbe, würde die Pluralität unterschiedlicher Verständnisse von Lebensqualität, Lebensfreude und Lebenssinn es nicht erlauben, dass paternalistisch der Spezialist über den Bürger, auch nicht in der Rolle des Patienten, stellvertretend entscheidet. Die nachhippokratische Medizin kommt nicht ohne Patientenethik aus; wir brauchen den tugendsamen Arzt und den tugendsamen Patienten; deshalb werde ich Ihnen zum Schluss einen Tugendkatalog für Patienten vorstellen und die Forderung aufstellen, dass wir in Zukunft, wenn wir von Medizinethik sprechen, nicht nur die Arztethik, sondern zunehmend und künftig vordringlich die Patientenethik im Auge haben müssen. Eine partnerschaftliche und patientenorientierte Reduktionsstrategie klinischer Risiken könnte sich, wie der von uns im Bochumer Zentrum für Medizinische Ethik entworfene Arbeitsbogen für die medizinethische Praxis an folgenden acht Schritten orientieren: 1. medizinisch-technische Diagnose; 2. medizinisch-ethische Diagnose; 3. Integration axioskopischer und medizinischer Fakten; 4. Patientengespräch über technische und ethische Risiken; 5. Zustimmung des Patienten; 6. vertrauensgestützte Kommunikation und Kooperation; 7 routinemäßige Überprüfung von Behandlung und Kommunikation; 8. Sicherstellung der Möglichkeit von Abbruch oder Modifikation. Eine solche partnerschaftliche Risikoanalyse und Risikobewertung trägt damit (1) zu einer Präzisierung der medizinisch-ethischen Diagnostik und einer Differenzierung von Prognose und Interventionsalternativen bei, (2) zu einer risikoreduzierten partnerschaftlichen Verantwortung für die Intervention und ihre Überprüfung durch Vermeidung von paternalistischen oder heteronomen Fremdentscheidungen, (3) zu einer generellen Verschiebung der Risikobilanz weg vom Arzt und näher hin zum Bürger und Patienten, wie es dem neuzeitlichen Verständnis von Selbstbestimmung, die Gesundheitsmündigkeit nicht ausschließen darf, und einer künftigen Medizin, die durch eine Transformation von der akuten Krisenintervention hin zu einer nichtakuten prädiktiven und präventiven Serviceleistung gekennzeichnet ist, besser entspricht. Das gilt heute für die Feststellung von Konzeptionen von Lebensfreude, Lebenszielen und Lebensqualität bei einer nur marginal effektiven, aber patienten-orientierten Intensivmedizin und morgen bei professionellen Informationen, Beratungen und Behandlungen in der sich rasch entwickelnden präventiven und prädiktiven Medizin. 11 Bei der partnerschaftlichen Interaktion zwischen Arzt und Patient kommt es, wie schon beschrieben zu den notwendigen Abwägungen zwischen beruflicher Verantwortung des Arztes und der Autonomie des Bürgers als Patienten, auch zu den Risikoabwägungen zwischen Schaden und Nutzen. Allerdings sind die Abwägungen unterschiedlich je nach Situation; auch die aktive Beteiligung der Partner unterscheidet sich nicht nach ethischer Theorie, sondern nach situativer Voraussetzung. Empirisch lassen sich fünf unterschiedliche Rollen des Arztes beschreiben, die auch die unterschiedlichen Rollen des Bürgers/Patienten widerspiegeln, welche nach einer Patientenethik als Ausdruck und Realisierung der Autonomie des Bürgers verlangen: der Arzt als Partner, der Arzt in der klassischen Rolle des hippokratischen Arztes, der Arzt als Berater, der Arzt als Forscher, der Arzt als Funktionsträger der organisierten Medizin. Die Rollen können sich mischen, sind daher distinkt unterschiedlich. Das Modell der Partnerschaft in der Entscheidungsfindung und dem Management der Behandlung ist das der modernen Medizin am angemessenste. Für lebensstilrelevante oder chronische Gesundheitsrisiken ist es das allein zweckmäßige, weil es dem Patienten die notwendige Teilverantwortung für Gesundheit und Lebensqualität auferlegt; der Arzt ist mehr als bloß Berater, er ist Partner und Experte zugleich und hilft dem Patienten, die Therapieentscheidungen mitzutragen und mitzuverantworten. Das Prinzip des Informed Consent zeigt den Weg zum partnerschaftlichen Interaktionsverhältnis, deckt es aber nicht ab. Deshalb kann es nur transitorisch verstanden werden und muss zu einer soliden und vertrauensgestützten Risikopartnerschaft führen, bei welcher der Patient oft der aktivere und verantwortungsreichere, der Arzt und das Team die passiveren, kontrollierenden, einstellenden und beratenden Partner sind. Das hippokratische Modell bezieht sich auf die „anthropologische Situation von Not und Hilfe“, die ich einleitend schon im Anschluss an Viktor v. Weizsäcker skizziert habe. Es ist für den Arzt durch Autorität und die Tugend voller Verantwortung und für den Patienten durch Abhängigkeit und die Tugend der Kompliance beschreibbar; das Informed Consent Prinzip kommt nicht zum Tragen. Wir finden es vor, wenn beim Patienten eine zeitweise oder grundsätzlich eingeschränkte Fähigkeit zur partnerschaftlichen oder selbständigen Entscheidung vorliegt; alle klassischen Prinzipien der hippokratischen Tugendlehre behalten in diesem Modell ihre Funktion. Patientenbriefe, Patiententestamente und Patientenanwälte, value histories, advanced directives and proxy decision making, sind Instrumente, die Autonomie des Bürgers und die Einwilligung des Patienten indirekt in solche Situationen einfließen zu lassen. Hier ist noch viel Forschungsarbeit bei der optimalen Aufstellung solcher Instrumente und noch viel mehr bei Bürgern und Ärzten und Juristen bei der Akzeptanz 12 solcher Instrumente zu leisten. Insgesamt ist dieses Modell sowohl aus den medizininternen wie aus den medizinexternen Gründen nicht mehr zeitgemäß, deshalb werden solche Hilfsinstrumente entwickelt, um seinen Einsatz erträglicher zu machen. Das Beratungsmodell kommt überall dort zum Tragen, wo die prognostische Expertise des Arztes gefragt ist. Gesundheitsberatung und -information gehören zu den ethischen Pflichten des Arztes als Berater; das weite Feld der Prävention und Gesundheitserziehung ist mit reicherem ethischen und medizinischen Gewinn aber wohl eher im Partnermodell als im Vertragsmodell anzusiedeln. Das Beratungsmodell wird mit den schon vorhandenen und sich abzeichnenden Fortschritten der prädiktiven Medizin gewaltig zunehmen. Ich glaube, es ist nicht zuviel gesagt, wenn ich prognostiziere, dass es in Zukunft noch das partnerschaftliche Szenarium an Zahl und medizinischer wie ethischer und gesellschaftlicher Bedeutung übertreffen wird. Täglich werden neue genetische Informationen für Prädispositionen von Krankheiten, schweren und leichteren, von behandelbaren und von unbehandelbaren, von früh oder sehr spät im Leben einsetzenden gefunden. Eine Revolution der Medizin bahnt sich an.: die Begriffe von Krankheit und Gesundheit sind neu zu definieren, auch die Begriffe von Prävention, Gesundheitsverantwortung und Recht auf Gesundheit, ebenfalls die Modelle der solidarischen Versicherung und Finanzierung von Gesundheitsberatung, Prävention und akuter Intervention; der Begriff der Gesundheitsmündigkeit ist neu zu prägen und zu besetzen. Bei all diesen Aufgaben sprechen wir nur noch ganz am Rande von Arztethik, aber zentral von Gesundheitsethik im weiteren Sinne, von einer Transformation der öffentlichen Kultur und der individuellen Einstellung zu dem neuen Wissen, der Pflicht zum Wissen und dem Recht auf Nichtwissen. Der Arzt wird zum Berater; er ist nicht mehr der zentral Handelnde. Seine ethische oder unethische Einstellung ändert wenig an den Herausforderungen, vor die Bürger und Gesellschaft durch die Transformation der Medizin weg von der akuten Krisenintervention und hin zur nichtakuten langfristigen Beratung, Begleitung und Betreuung gestellt sind. Hier ist die Stelle, wo ich das mir für heute gestellte Thema „Informierte Zustimmung als Vorstufe zur Autonomie“ als These und Prognose unterstreichen und formulieren muss: angesichts der medizinischen Revolution durch die prädiktive Medizin wird das Schwergewicht künftiger Medizinethik sich von der Arztethik auf die Patienten- und Bürgerethik verlagern müssen: die Entwicklung von Gesundheitsmündigkeit und Gesundheitsrisikokompetenz ist die ethische und kulturelle Antwort auf die technischen Fortschritte in der modernen Medizin. Im vierten Modell, dem der medizinischen Forschung steht der forschende Arzt in der besonderen Situation zwischen dem besten Interesse des Patienten und den Interessen des 13 medizinischen Fortschritts abwägen und unter hohen Graden von Unsicherheit und Risiko arbeiten zu müssen; das verlangt eine besondere Mischung partnerschaftlicher und paternalistischer Verantwortung und Risikoabwägungskompetenz. Wie schon erwähnt, ist für diese Szenarien zuerst für die nichttherapeutische und nun auch, von seltenen und zu begründenden Ausnahmen abgesehen, für die therapeutische Forschung das Prinzip des Informed Consent in die klinische Forschung eingeführt worden. Hier hat es seinen Platz und wird dem Konzept einer Risikopartnerschaft gerecht. Allerdings ist das Prinzip hier auch an Grenzen der Leistungsfähigkeit gekommen, denn was heißt „Information“ bei einem Forschungsprozess, der ja gerade durch hohe Grade von Prognoseunsicherheit und Risiko gekennzeichnet ist, Grade, die höher sind als sie in der nichtforschenden Medizin vorkommen. Die Risiken für den Patienten oder Probanden werden durch genaue Vorschriften, der Helsinki-Tokyo Deklaration und dem Arzneimittelgesetz folgend, durch die Einschaltung einer Ethikkommission und die sorgfältige Formulierung des Informationstextes für den Probanden/Patienten gemildert. Das Forschungsrisiko bleibt bestehen und kann durch den Informed Consent nicht gemildert, sondern nur partnerschaftlich verteilt werden. Im fünften Modell, dem des staatlich organisierten Gesundheitswesen stehen Arzt und Patient/Bürger als Funktionsträger innerhalb eines Systems organisierter Medizin in unterschiedlichen Verantwortungsverhältnissen dem Team, der Institution, dem Fachverband, der Versicherung und den staatlichen Verordnungen und Gesetzen gegenüber. Sie bilden Teil eines „Systems“, zu dem sie in einem Verhältnis teils informierter, teils wenig informierter Zustimmung stehen. Sie können aus dem System nicht aussteigen; der Arzt könnte höchstens seinen Beruf aufgeben; der Bürger hat nicht einmal diese Alternative, aber auch kein institutionalisiertes Mitspracherecht. Jedenfalls kann kein Arzt seine Arbeit ohne dieses Netz von Unterstützungen nicht so tun, wie er es tut. Andererseits tendieren Institutionen medizinischer Versorgung wie alle Institutionen dahin, Handlungsrollen und Entscheidungsmodelle zu standardisieren und persönliche Verantwortung und Zuwendung durch institutionell vorgegebene Rollen oder Krankheitsbegriffe oder Behandlungsmuster zu ersetzen, hierzu kann dann die formale Einholung der „Einwilligung nach Aufklärung“ in rechtsverbindlicher Form gehören, eine Schwundform dessen, was die Beachtung des Prinzips aus den vier eingangs genannten Gründen notwendig gemacht hatte. Auch das im wesentlichen auf die Akutintervention hin organisierte System der Gesundheitsversorgung hat noch nicht die neuen ethischen und medizinischen und epidemiologischen Herausforderungen der neuen prädiktiven und präventiven Möglichkeiten der Medizin erkannt oder auf sie reagiert. Das Modell der solidarischen Verteilung der Kosten und Risiken von Krankheit und 14 Gesundheit muss neu durchdacht werden in einer Zeit, in der die Prävention und Prädiktion erlaubt, Risiken zu vermeiden oder zu mildern. Das Prinzip der solidarischen Gesundheitsverantwortung und -mündigkeit muss gleichberechtigt neben das Prinzip der solidarischen Kostenverantwortung und Versicherung treten. Die Einführung des Konzepts der Gesundheitsmündigkeit jedoch mit allen seinen Rechten und Pflichten in das System der Kostenfinanzierung wird eine kopernikanische Revolution in der Gesundheitsversorgung hervorrufen, gegenüber der die Diskussionen in der konzertierten Aktion im Gesundheitswesen um die bessere Verteilung der Ressource sich wie Sandkastenspiele ausnehmen. Diese Sandkastenspiele werden jedoch wenig nützen, da tendenziell die Kosten der Akutintervention steigen werden, wenn sie das einzige Szenarium bleibt, das die ordnungsethischen und medizinpolitischen Parameter für die Verhandlungen der Konzertieren Aktion abgibt. Das Prinzip des Informed Consent ist ungeeignet, die Erwartungshaltung von Bürgern und Patienten an die Unerschöpflichkeit des bequemen, aber mit ethischen, medizinischen und ökonomischen Risiken behafteten Reparaturbetriebes der Akutmedizin zu modifizieren. Das Bürgerrecht auf Gesundheit. besteht in erster Linie in dem Recht und der Pflicht auf Informationen der Prädiktion und Prävention, und danach auch in dem Recht auf Solidarität in der Gesundheitsverantwortung und der Schonung der Ressourcen, schließlich in dem Recht, bei infauster Prognose oder bei Multimorbidität im hohen Alter nicht alle technischen Möglichkeiten der Medizin ausschöpfen zu müssen, weil die Gesellschaft und auch zum Teil das medizinische Establishment den Tod als Feind verdrängt, statt ihn als Normalität des Endes eines gelungenen Lebens zu akzeptieren. Auch diese Problematik geht weit über die Informed Consent Problematik hinaus. Man könnte höchstens die Rollen vertauschen und vom Arzt Informed Consent verlangen, d.h. die Forderung nach der Pflicht des Arztes aufstellen, selbst in diejenige Behandlung einzuwilligen, über die der Patient ihn durch Patiententestamente oder Patientenbeauftragte oder Patientenbriefe oder im direkten Gespräch informiert hat (vgl. Sass, Kielstein: Die Wertanamnese, Bochum 1992). Das ist eine ungewohnte Forderung, die aber, wenn ich es recht sehe, in Zukunft häufiger erhoben werden wird, auf die einige Ärzte generell oder im Einzelfall mit informed denial, der Verweigerung nach Information, antworten werden, und an die das Rechtssystem sich noch wird gewöhnen müssen, wenn die grundgesetzlich garantierte Würde des Menschen und seine Selbstbestimmung auch in den letzten Tagen und Wochen des Lebens und auch gegenüber einer sich nur technisch selbstmissverstehenden Apparatemedizin geschützt werden soll. 15 DIE FORDERUNG NACH EINER PATIENTENETHIK Ich komme zum Schluss und fasse zusammen. Die vielbeschworene Autonomie des Patienten - oder: die Selbstbestimmung des Bürgers auch in der Rolle als Patienten oder potentiellen Patienten - kann nur ansatzweise und transitorisch durch das Prinzip des INFORMED CONSENT, realisiert werden, also durch eine Modifikation des tradierten paternalistischen Szenariums. Dieses Szenarium spielt auch, wie ich versucht habe zu zeigen, eine zunehmend geringere Rolle und sollte aus medizinischen und ethischen Gründen durch die päventiven und prädiktiven Szenarien der Partnerschaft, Beratung und Selbstbestimmung ersetzt werden. Das ist aber keine Frage der Arztethik im engeren Sinne, sondern eine Herausforderung an unsere öffentliche Kultur und an die Ordnungsethik des Umgangs mit den Gesundheitsrisiken. Die Autonomie des Bürgers auch in seiner Rolle als potentieller Patient kann nur von ihm selbst in einer kopernikanischen Wende der Verantwortungstransformation weg vom Arzt und hin zum Bürger realisiert werden. Auch das vielbeschworene Recht auf Gesundheit ist dann keines mehr, das vom Bürger von anderen, den Ärzten und den Steuerzahlern, eingeklagt werden kann, sondern das es durch die Realisierung von Gesundheitsmündigkeit und Kompetenz in Ansehung von Gesundheitsrisiken wahrzunehmen und zu akzeptieren gilt. In dieser Perspektive erscheint die Autonomie des Patienten nicht so sehr als ein Recht dem Arzt oder dem Gesundheitssystem gegenüber, sondern als eine individuelle Pflicht zur Gesundheitsmündigkeit und Risikokompetenz im Umgang mit der Prädiktion und der Prävention, schließlich auch im Umgang mit den Lebensqualität sichernden und erhaltenden technischen Möglichkeiten der akuten und der intensiven Medizin. Was wir brauchen, und wozu das Modell der Mitbeteiligung des Patienten an Interventionsentscheidungen mittels des Instruments Informed Consent ein Zwischenschritt war, ist die Orientierung an einem Tugendkatalog für Bürger in ihrer Rolle als Patienten oder potentielle Patienten, so wie die Ärzte der Vorzeit sich an dem hippokratischen Tugendkatalog orientierten. Die Fortschritte der modernen Medizin und die Pluralität unserer Wert- und Weltbilder, nicht zuletzt auch die Grenzen der Finanzierbarkeit aller nur denkbaren ethischen oder unethischen technischen medizinischen Interventionen, rufen nach einer Patientenethik. Nur eine Konzentration der Medizin, der Medizinethik und der öffentlichen Kultur auf die Ausbildung von Gesundheitsmündigkeit und Gesundheitsverantwortung wird die technischen Möglichkeiten der modernen optimal ausnutzen können. Ein Tugendkatalog für Patienten kann nicht autonom sein, er muss vernetzt sein mit einem den Möglichkeiten und Grenzen der modernen angepassten Tugendkatalog für den 16 Arzt. Das Grundmuster beider Tugendkataloge ist die optimale Integration von Ethik und Expertise, das Recht und die Pflicht des Bürgers und Patienten auf Gesundheit, ihre Erhaltung und Verbesserung, das Recht auf einen menschenwürdigen Tod, und die Pflicht des Arztes zu professioneller Expertise und einer patientenorientierten, nicht apparate-orientierten Beratung, Begleitung und Intervention. Bevor ich Ihnen den mit dem Tugendkatalog für Ärzte vernetzten Tugendkatalog für Patienten zur Diskussion vorstelle, möchte ich noch hinweisen auf eine im letzten Herbst erfolgte Aktualisierung der „Gesundheit für Alle“, Initiative der europäischen Sektion der Weltgesundheitsorganisation, die nach einem sehr ausführlichen Konsultationsprozess ein zusätzliches Ziel Nummer 38 für das Jahr 2000 vorgestellt hat: Gesundheit und Ethik. Danach wird gefordert: „Ethik als Curriculumschwerpunkt in der Aus- und Fortbildung der Gesundheitsberufe, - verstärkte Bewusstseinsbildung in der Öffentlichkeit, unter Politikern und Entscheidungsträgern im Hinblick auf ethische Fragen, - ein ethischer Praxiskodex für die Gesundheitsberufe, in dem auch die Beziehung zwischen gesundheitlichem Leistungserbringer und Patienten behandelt wird“ [Eur/RC41/InfDoc/1Rev1 vom 21. Nov 1919] Hier ist noch nicht von dem Verantwortungskodex für den europäischen Bürger die Rede; aber die verstärkte Beschäftigung mit ethischen Fragen der Gesundheit und der Medizin wird zwangsläufig die Diskussion so thematisieren wie wir es heute getan haben. NACHHIPPOKRATISCHE VERNETZTE TUGENDKATALOGE FÜR PATIENTEN UND ÄRZTE REGELN FÜR DEN PATIENTEN 1. Suche Dir einen Arzt Deines Vertrauens. 2. Entwickle Verantwortung und Mündigkeit für Deine Gesundheit und die Kriterien der Qualität Deines Lebens. 3. Vermeide Gesundheitsrisiken und nutze die Möglichkeiten der prädiktiven und präventiven Medizin. 4. Erwarte von der Medizin Heilung oder Milderung, aber sei Dir der Grenzen und der Risiken der medizinischen Intervention bewusst. 5. Sei ein verantwortlicher und zuverlässiger Partner für Ärzte und ihre Mitarbeiter bei einer notwendig werdenden Behandlung. 6. Erwarte vom Arzt, dass er Dich über Risiken und Ziele einer akuten Behandlung oder einer Prognose hinreichend informiert und diskutiere diese mit dem Arzt. 17 7. Erkenne auch in Krankheit oder Behinderung Möglichkeiten und Herausforderungen zur Entwicklung individueller Lebensqualität. 8. Sei Dir bewusst, dass unterschiedliche Lebensstufen, auch das Alter, nicht durch reduzierte, sondern durch modifizierte Formen von Lebensqualität sich unterscheiden. 9. Diskutiere mit Deinem Arzt, mit Freunden und Familie, Deine Kriterien von Lebensqualität für den Fall, dass andere einmal für Dich über Behandlungsrisiken entscheiden müssen; halte Deine Vorstellungen schriftlich fest und beauftrage einen Vertrauten mit stellvertretenden Entscheidungen. 10. Trage Deinen Teil bei zu einem verantwortlichen und solidarischen Umgang mit den Kosten des Gesundheitswesens. REGELN FÜR DEN ARZT 1. Behandle Deinen Patienten als Mitmenschen, nicht nur seine oder ihre Symptome oder Krankheiten. 2. Hilf Deinem Patienten zu Gesundheitsverantwortung und Gesundheitsmündigkeit. 3. Integriere die Befunde von „Blutbild“ und „Wertbild“ Deines Patienten und mache sie zur Grundlage von Prognose, Intervention und Interventionsüberprüfung. 4. Sei Dir der Grenzen des technisch Machbaren bewusst und diskutiere diese mit Deinem Patienten. 5. Entscheide, so weit wie möglich, in Partnerschaft mit dem Patienten über Optionen oder Verzicht von Intervention. 6. Entwickle eine differenzierte und individualisierte Strategie für Intervention und Beratung. 7. Hilf Deinem Patienten bei der langfristigen Erstellung von Wertbildern, die bei Koma, Demenz oder Multimorbidität adjuvantiv oder regulativ herangezogen werden können. 8. Wähle für klinische Studien Patienten nicht nur nach dem Krankheitsprofil, sondern auch nach ihrem Wertprofil aus. 9. Verbinde Ethik mit Expertise zur Reduktion technischer und zur Vermeidung ethischer Risiken. 10. Trage Deinen Teil bei zu einem verantwortlichen und solidarischen Umgang mit den Kosten des Gesundheitswesens. 18