Raum für Musik – das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg „Orchester“ war ursprünglich eine Ortsangabe; hier tanzte der griechische Chor, hier saßen die Ehrengäste und spielten die Musiker. Das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg gibt immer neuen Bewegungen, Gästen und Musikstücken Raum: 2010/2011 war die große letzte Saison des langjährigen Chefdirigenten Sylvain Cambreling. Noch einmal setzte Cambreling starke Akzente: mit Ludwig van Beethovens Neunter Sinfonie in Kombination mit Arnold Schönbergs „Survivor from Warsaw“, mit Gustav Mahlers „Lied von der Erde“ zusammen mit Joseph Haydns Schöpfung und „Deserts“ von Edgard Varese. Im Mahler-Jahr 2011 komplettierte außerdem Michael Gielen den Zyklus aller Wunderhornlieder mit Christiane Iven, Hanno Müller-Brachmann und dem SWR Sinfonieorchester. In Donaueschingen machte die Komposition „limited approximations“ für sechs Klaviere im 12tel-Ton-Abstand und Orchester von Georg Friedrich Haas Furore, die auch den Orchesterpreis des SWR Sinfonieorchesters erhielt. Und ein ganz besonderes Engagement stand am Schluss der Saison: Auf Einladung des Teatro Real in Madrid spielte das Orchester unter der Leitung von Sylvain Cambreling in Olivier Messiaens Oper „Saint Francois d’Assise“. Seit ihrer Neu-Gründung im Jahr 1950 sind die Donaueschinger Musiktage und das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg untrennbar miteinander verbunden. Etwa 400 Kompositionen wurden dort durch das Orchester uraufgeführt, und das Orchester schrieb Musikgeschichte: mit Musik von Hans Werner Henze, Bernd Alois Zimmermann, György Ligeti oder Krzysztof Penderecki, von Karlheinz Stockhausen, Luigi Nono, Olivier Messiaen, Luciano Berio, Helmut Lachenmann oder Wolfgang Rihm. 1959 begann Pierre Boulez ebenda seine internationale Dirigentenkarriere mit dem damaligen SWF Sinfonieorchester. Bis heute ist das SWR Sinfonieorchester in Donaueschingen, aber auch darüber hinaus, ein unverzichtbarer Partner für die Komponisten unserer Zeit. „Im Zentrum der europäischen Kultur“, wie es Sylvain Cambreling formulierte, steht das Orchester jedoch nicht nur im Bezug auf die zeitgenossische Musik. Seit 1946, seit seiner Gründung, die der legendäre erste SWF-Musikchef Heinrich Strobel in der französischen Besatzungszone vorangetrieben hatte, ist das SWR Sinfonieorchester (zunächst „Südwestfunkorchester“, dann „Sinfonieorchester des Südwestfunks“ bzw. „SWF Sinfonieorchester“) gleichermaßen Anziehungspunkt für internationale Dirigenten, Solisten und Komponisten wie auch musikalischer Botschafter im In- und Ausland. Erster Motor für diese vielfältigen Aktivitäten war Hans Rosbaud. 1948 übernahm der gebürtige Grazer als Chefdirigent das Orchester, das schon damals neunzig Mitglieder hatte. Rosbauds Bemühen um eine ausgefeilte Orchesterkultur, das sich auch bei ersten Tourneen in die Schweiz und nach Frankreich bewährte, und sein Engagement für die aktuelle Musik lockten auch Paul Hindemith und Igor Strawinsky zu Gastdirigaten nach Baden-Baden; vor allem die zahlreichen Proben und Aufführungen mit Strawinsky sind ein beeindruckendes Kapitel in der Orchesterchronik. 1/4 Der Franzose Ernest Bour, ab 1963 Nachfolger von Hans Rosbaud, setzte eigene Akzente – zum Beispiel mit Interpretationen der Musik Joseph Haydns –, war aber ähnlich beeindruckend und ebenso prägend für die besondere Kultur des Orchesters. Seine große Genauigkeit und Sachlichkeit hinderten ihn nicht daran, sich „glühend“ für die zu interpretierende Musik einzusetzen, auch für die heute legendären neuen Töne der „Sinfonia“ von Berio oder von György Ligetis „Lontano“. Kazimierz Kord, Baden-Badener Chefdirigent zwischen 1980 und 1986, gilt als sein Gegenstück: Seine Sache war die Sinfonik der großen Geste, u.a. dirigierte er in Donaueschingen die Uraufführung der dritten Sinfonie von Witold Lutosławski. Franz Schreker und Gustav Mahler gehören zu den Komponisten, die im SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg „entdeckt“ wurden, bevor sie als feste Bestandteile in das Konzertleben eingingen. Womöglich trug die intensive Erfahrung mit zeitgenössischer Musik und den jeweils spezifischen, ungewohnten Ansprüchen der neuen Kompositionen dazu bei, dass immer wieder überraschende Aufführungen und Einspielungen auch aus dem Orchesterrepertoire vergangener Jahrhunderte stattfanden. Nicht zuletzt die „Klassiker“ Haydn, Mozart und Beethoven blieben und wurden so lebendig. Der Musikdenker Michael Gielen, dem es darum geht, in der Musik und ihrer Interpretation „der Wahrheit zu begegnen“, knüpfte genau hier an. Als Chefdirigent des Orchesters wirkte er von 1986 bis 1999. In dieser Zeit bestach er durch analytisches Feingefühl und durch Programmideen, die mit Gewohnheiten brachen: bekannte Kompositionen wurden neu und oft epochenübergreifend kombiniert, unbekannte Stücke vorgestellt. Mit dem „Requiem eines jungen Dichters“ von Bernd Alois Zimmermann, dessen amerikanische Erstaufführung Gielen dirigierte, gastierte das Orchester 1999 in der New Yorker Carnegie Hall. Für sein musikalisches Lebenswerk wurde Michael Gielen 2010 mit dem Ernst von Siemens-Musikpreis ausgezeichnet. Überhaupt sind Tourneen und Gastspiele ein gewichtiger Teil der „Mission“ des Orchesters. Bei vielen renommierten Festivals sind die Musikerinnen und Musiker regelmäßig zu Gast: beim Festival d’Automne in Paris, bei musica Strasbourg, Wien modern, dem Musikfest Berlin, Lucerne Festival, Ars Musica Brüssel, den Salzburger Festspielen u.a. Das Orchester bespielt außerdem neben den nahe liegenden in Baden-Baden, Mannheim und Freiburg auch die großen Konzerthäuser in Hamburg, Frankfurt, Köln, Essen … Zu den Aufsehen erregenden Reisen der jüngsten Zeit gehörten 2006 die Tournee mit Arnold Schönbergs „Gurreliedern“, die das Orchester mit Michael Gielen in insgesamt fünf Länder führte, die Reisen zu Mozarts 250. und Lachenmanns 70. Geburtstag 2005/2006 sowie 2003 die Messiaen-Tournee nach Lissabon, Wien und in die Kulturhauptstadt Graz. Um die Musik Olivier Messiaens hat sich Sylvain Cambreling besonders verdient gemacht. Seit 1999 leitete er das Orchester und bildete mit den ständigen Gastdirigenten Michael Gielen und Hans Zender ein einzigartiges, hochkarätiges Triumvirat. Cambreling, der aus Frankreich stammt und international ein (auch im Musiktheater) gefragter Gastdirigent ist, führte das Orchester aber auch zu besonders intensiver Auseinandersetzung mit der Musik von Hector Berlioz, Claude Debussy und Maurice Ravel. Auch Cambreling ist ein enthusiastischer Interpret zeitgenössischer Werke – und ein kreativer Programmmacher, hörbar u.a. in der Kombination von Messiaens „Et exspecto resurrectionem mortuorum“ mit Texten des Schriftstellers Martin 2/4 Mosebach und Haydns „Sieben letzten Worten“, die Cambreling für eine räumliche Aufführung bearbeitete. Zum Messiaen-Jahr 2008 erschien eine CD-Box, die erstmals in der Geschichte der elektronischen Medien sämtliche Orchesterwerke Olivier Messiaens vereint. Sie gehören zu den über 300 Werken, die das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg bis heute auf CD herausgebracht hat, viele erscheinen mittlerweile im SWR-eigenen Label SWR music (Vertrieb hänssler). Die hohe Qualität der Aufnahmen ist auch an den zahlreichen Preisen abzulesen, die sie bis heute erhalten haben; zuletzt gab es 2009 den Preis der Deutschen Schallplattenkritik für eine neue Edition der „Ballets russes“ mit Kompositionen von Claude Debussy, Igor Strawinsky und Florent Schmitt unter der Leitung von Sylvain Cambreling. Die MessiaenEinspielung brachte Cambreling 2009 den Echo-Klassik als „Dirigent des Jahres“ und sie erhielt 2010 den MIDEM Classical Award. Dass das Orchester als Klangkörper überzeugt, hängt nicht zuletzt von seinen einzelnen Mitgliedern ab. Dies wird in wenigen Orchestern so deutlich wie im Sinfonieorchester des SWR und mag mit seiner Geschichte zusammenhängen. Nicht selten forderten die Komponisten Neuer Musik solistisches Spiel von allen Beteiligten oder auch individuelle Entscheidungen über den Spielverlauf. Darüber hinaus sind viele der Musikerinnen und Musiker in festen Kammermusik-Formationen aktiv – mit ganz unterschiedlichem Repertoire zwischen alter und neuer Musik. Heute ist das Orchester in der Lage, als „Solistenensemble“ zu agieren: „individuell, wie in einer Gruppe von Freunden“ (Hans Zender). Engagement und Selbstbewusstsein der Musikerinnen und Musiker zeigen sich aber auch in der Initiative zu einem Orchesterpreis, der seit 2005 jährlich bei den Donaueschinger Musiktagen verliehen wird. Mit seiner besonderen Flexibilität und seiner Offenheit für Neues, aber auch für das Ungewohnte im Gewohnten war das Orchester über die mehr als sechs Jahrzehnte seines Bestehens Anziehungspunkt für internationale Gäste. Unzählige renommierte Solisten arbeiteten mit den Musikern in Baden-Baden und Freiburg zusammen, zu den Gastdirigenten gehörten neben vielen anderen Sir John Barbirolli, Nikolaus Harnoncourt, Lorin Maazel, Giuseppe Sinopoli, Esa-Pekka Salonen und Pierre Boulez. Und die historische Aufnahme mit Leopold Stokowski von 1954/1955 wurde ebenfalls mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet. Mehr und mehr öffnet sich das Orchester auch Gästen aus ganz anderen Zusammenhängen. „Musik macht Schule“, heißt ein Vermittlungsprojekt, das seit 2001 Schulklassen mit aktuellen Konzertprojekten vertraut macht. Das interaktive Jugendprojekt „Der Schrei“ erhielt 2009 den „Zukunftspreis Jugendkultur“ der PwCStiftung. Und eine interkulturelle Fusion auf höchstem professionellen Niveau ereignete sich im Frühjahr 2007, als das Orchester in sechs Konzerten unter dem Titel „Zwischenräume“ zusammen mit den „Söhnen Mannheims“ auftrat. Rock-Pop mit Elementen aus Hiphop und Soul verband sich mit sinfonischen Klängen und sorgte für riesige Begeisterung, u.a. in der ausverkauften Mannheimer SAP Arena. 2010/2011 realisierte das Orchester unter Sylvain Cambreling in Zusammenarbeit mit vier Schulen an unterschiedlichen Standorten „Klangvisionen“: ein Kompositionsprojekt für Schüler. 3/4 „Orchester“ = Raum. Das SWR Sinfonieorchester öffnet nicht nur Räume, es ist selbst ein Raum, dessen Funktionen vielfältig sind: Mal ist es ein großzügiges Gästezimmer, mal eine aufregende Versuchsküche, mal ein ungeschütztes open-air-Areal – und immer wieder ein großer Saal, ein Festsaal der Musik. François-Xavier Roth wird als neuer Chefdirigent ab der Saison 2011/2012 mit vielen Ideen und Projekten diese Räume maßgeblich mitgestalten. Fotos unter www.ard-foto.de Pressekontakte: Georg Brandl, Tel. 07221/929-3857, [email protected] Stefan Stahnke, Tel. 030/34781984, [email protected] 4/4