Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen

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M. Maschke
Neurosyphilis
ISBN 978-3-17-024463-4
Kapitel F5 aus
T. Brandt, H.C. Diener, C. Gerloff (Hrsg.)
Therapie und Verlauf
neurologischer Erkrankungen
6., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2012
Kohlhammer
BDG_neu.book Seite 539 Mittwoch, 15. August 2012 9:16 09
F5
Neurosyphilis
von M. Maschke*
F 5.1
Klinik und Diagnostik
Die Rückläufigkeit der Syphilisneuinfektionen zwischen 1985 und 1995 hatte zur Folge, dass die meisten
Kliniken den Routineeinsatz serologischer Syphilissuchreaktionen aufgaben. Mittlerweile ist es jedoch
v. a. seit 2001 in manchen Regionen wie Berlin oder
Hamburg allerdings zu einem sogar beträchtlichen
Anstieg der Neuerkrankungsrate gekommen. Dadurch ist das Risiko deutlich erhöht, eine floride Neurosyphilis zu übersehen. Das Problem besteht indes
darin, dass die klinischen Erscheinungsbilder der Syphilis, besonders aber die der Neurosyphilis, sehr variabel sind. Diese schon sehr früh erkannte Besonderheit des Leidens (Jonathan Hutchinson 1863:
»Syphilis – the great imitator«) hat sich in den letzten
Dekaden eher noch verschärft, weil die unwissentliche Mitbehandlung durch Antibiotikagaben aus
anderer Indikation, wie auch bessere Lebensbedingungen, die Entwicklung »klassischer« Manifestationsformen zum Vollbild der Syphilis oft verhindern.
HIV-Koinfektionen, die sehr häufig sind, können zusätzlich das Bild verfälschen. Der Verdacht auf Neurosyphilis entsteht heute in der Regel also nicht aufgrund der klinischen Symptomatik, sondern eher als
Folge der Liquoruntersuchung und/oder anamnestischer Hinweise zu Lebensstil und regionaler Herkunft des Betroffenen. In dieser Situation sind die
schon früher definierten Kriterien für das Vorliegen
einer Neurosyphilis aktueller als je zuvor.
Ein Patient leidet wahrscheinlich an einer Neurosyphilis, wenn mindestens zwei der nachfolgenden Punkte 1. bis 3. und immer der Punkt 4. gegeben sind:
1. Chronisch-progredienter Verlauf einer neurologisch-psychiatrischen Symptomatik mit
Phasen von Verschlechterung und Teilremission.
2. Pathologische Liquorbefunde mit gemischtzelliger oder mononukleärer Pleozytose, BlutLiquor-Schrankenstörung und/oder IgG-dominanter Immunreaktion im ZNS.
3. Günstige Beeinflussung von Krankheitsverlauf und/oder Liquorbefunden (v. a. Pleozytose und Schrankenstörung) durch Antibiotika.
4. Positiver TPPA-(oder TPHA-)Test und FTAABS-Test im Serum.
Das Erscheinungsbild des syphilitischen ZNS-Befalls hängt in erster Linie vom Krankheitsstadium
ab, in dem es auftritt. Im Primärstadium der Syphilis
Ein Patient leidet sicher an einer Neurosyphilis,
wenn eine lokale treponemenspezifische Antikörperreaktion, messbar über einen spezifischen Antikörper-Index (empfohlen: ITpA-Test), vorliegt1
1
(ITpA = Intrathekal-produzierte Treponema pallidumAntikörper)
Bei fehlender Antikörperproduktion gegen T. p. im ZNS
beträgt der ITpA-Index 1 (0,5–2,0). Ein Wert > 2,0 deutet auf eine spezifische Antikörpersynthese im ZNS hin,
ein Wert >, 0 beweist sie mit hoher Reliabilität (Sensitivität 84 %, Spezifität 100 %; Prange und Bobis-Seidenschwanz 1995). Falsch negative Befunde kommen
gelegentlich bei ZNS-Befall im Sekundärstadium und
bei vaskulitischer Neurosyphilis vor.
ist eine neurologische Symptomatik äußerst ungewöhnlich. Im Sekundärstadium kann es als Zeichen
der frühen ZNS-Invasion zu Kopfschmerz (leichte
Meningitis), Schwindel und Hirnnervenläsionen
(vorzugsweise N. VIII, VII und III) kommen. Die
frühsyphilitische Polyradikulitis wurde immer wieder beschrieben (Lanska et al. 1988). Während der
Spätlatenz (mindestens ein Jahr nach der Infektion)
entwickeln einige Patienten, ohne eigentliche Beschwerden zu haben, Funktionsstörungen, die mal
vom Ophthalmologen (z. B. beginnende Optikusläsion), mal vom Otologen (Hörverlust, Schwindelattacken) festgestellt werden. Wenn bei der Liquoruntersuchung chronische Entzündungszeichen wie
leichte Pleozytose oder oligoklonales IgG vorhanden
sind, spricht man von einer »asymptomatischen«
Neurosyphilis. Andere Patienten weisen eine manifeste ZNS-Symptomatik mit Kopfschmerz, Schwindel und reduzierter Leistungsfähigkeit sowie Reflexabweichungen, Pallhypästhesie, leichtgradiger
Gang- und Standataxie, Anisokorie, radikulären
Syndromen oder leichten zentralen Paresen auf. Wir
sprechen dann von einer unklassifizierbaren Neurosyphilis. Auch hier findet man oft Liquorveränderungen mit geringfügiger Pleozytose, Proteinerhöhung und oligoklonalem IgG. Die Progredienz
dieser Bilder ist langsam bzw. schleichend.
Die meningovaskuläre Neurosyphilis (Syphilis cerebrospinalis) wird definitionsgemäß ebenso wie die
noch zu erwähnenden parenchymatösen Neurosyphilisformen der Tertiärsyphilis zugeordnet. Dabei
ist zu beachten, dass die sehr späten Formen, wie die
Tabes dorsalis und progressive Paralyse, in der postantibiotischen Ära nur noch den geringeren Anteil
gegenüber der meningovaskulären Neurosyphilis
ausmachen (Conde-Sendin et al. 2004). Typischerweise manifestiert sich die Symptomatik vier bis sie-
* Autor dieses Kapitels in der 5. Auflage: H. Prange und M. Maschke.
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F
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Infektions- und Entzündungskrankheiten
ben Jahre nach der Infektion mit Sehstörungen
verschiedener Ursache (50 %), Schwindel (35 %),
Mono- oder Hemiparesen mit oft schlagartigem Beginn (20 %), Kopfschmerz (20 %), Hörverlust,
Gangstörungen oder Verhaltensauffälligkeiten (je
20 %). Später stehen Symptomkombinationen im
Vordergrund, die Hirnnervenausfälle/Hirnstammläsionen (25 %), Hemiparesen oder Hemihypästhesien und Gesichtsfeldausfälle (20 %), akustische und
vestibuläre Funktionsstörungen (13 %), eine chronische Meningitis (10 %), spinale Syndrome (10 %),
Epilepsie (8 %) wie auch chronische hirnorganische
Psychosyndrome (8 %) einschließen. Das Liquorsyndrom der vaskulitischen Variante ist durch leichte
Pleozytose, Störung der Blut-Liquor-Schranke und
quantitativ geringere lokale IgG-Synthese gekennzeichnet; Letztere fehlt in ca. 25 %.
Die tabische Neurosyphilis (Tabes dorsalis) tritt 5–
25 Jahre nach der Infektion auf und beginnt schleichend. Die häufigsten Initialsymptome bei 26 eigenen Patienten waren einschießende Schmerzen v. a.
in die Beine (54 %), Sehstörungen (27 %), Ataxie
(27 %), abdominelle Krisen, die in einigen Fällen zu
Laparotomien veranlassten (15 %), Parästhesien
(15 %), Schwindel (15 %) sowie Verhaltensauffälligkeiten (5 %). Als Kardinalsymptome standen später
im Vordergrund Reflexabschwächung oder -verlust
in den unteren Extremitäten (100 %), Pallhypästhesie (81 %), Pupillenstörungen, insbesondere reflektorische Pupillenstarre (66 %), Gangstörungen
(50 %), Optikusatrophie (45 %), Gelenkdeformationen (32 %), Augenmuskellähmungen (4 %). Die klinische Progredienz ist durch Antibiotika zu unterbrechen, die lanzinierenden Schmerzen und die
Ataxie bestehen zumeist auch nach sanierender Therapie fort. Das Liquorsyndrom schließt nur bei ca.
50 % eine mononukleäre Pleozytose, aber praktisch
immer eine mehr oder weniger ausgeprägte intrathekale IgG-Produktion ein.
Die paralytische Neurosyphilis (progressive Paralyse) entspricht einer chronischen Enzephalitis und
manifestiert sich frühestens ein Jahrfünft nach der
Infektion, meistens sehr viel später. Initial treten Wesensänderungen (34 %), Sprechstörungen (31 %),
Kopfschmerz (28 %), Schwindel (28 %), Neigung zu
aggressiven Durchbrüchen und gesetzlichen Verfehlungen (19 %) in Erscheinung (Prange und Goers
1991). Nach und nach entwickelt sich ein chronischer
Demenzprozess, kombiniert mit Verwirrtheit und
psychotischen Episoden, Kritik- und Urteilsschwäche, abnormen Pupillenreaktionen, irregulärem Tremor, »Silbenschmieren«, Beben der Gesichtsmuskulatur, Reflexsteigerungen, schließlich Harn- und
Stuhlinkontinenz und Marasmus. Wenn eine Hemisymptomatik, ggfs. mit Hirnwerkzeugstörungen
vorliegt, sprach man in der älteren Literatur von der
Lissauer Herdparalyse. Unbehandelt sterben die Patienten drei bis fünf Jahre nach Krankheitsbeginn.
Durch Behandlung ist in der Regel nur eine Teilremission zu erreichen; die Progredienz wird aber unterbrochen.
Sonstige Manifestationen wie gummöse Läsion von
ZNS oder peripheren Nerven, syphilitische Amyotrophie und Spinalparalyse, Pachymeningitis cervi-
calis hyperplastica und auch Pachymeningitis
haemorrhagica im Kalottenbereich sind selten geworden. Die gummösen Veränderungen stellen jedoch nach wie vor eine wichtige Differentialdiagnose bei unklaren Kontrastmittel aufnehmenden
Herden dar und sind ohne Biopsie zuweilen schwierig zu diagnostizieren, da nur 83 % eine seropositive
Syphilis und nur 65 % typische Liquorveränderungen aufweisen (Fargen et al. 2009).
F 5.2
Epidemiologie und Verlauf
Die Inzidenz der Syphilis nahm in Deutschland zwischen 2001 und 2004 wieder zu. Während im Jahr
1990 für die alten Bundesländer 868 Neuerkrankungen, d. h. 1,3 Erkrankte/100 000, gemeldet wurden,
lag die Zahl der registrierten Neuinfektionen 2004
bei 3 345 Fällen (4,2/100 000). In den Jahren 2004 bis
2008 ist bundesweit kein weiterer Anstieg zu erkennen (RKI 2009). 2008 wurden 3 172 Patienten mit
einer neu diagnostizierten Syphilis gemeldet. Es
wurden jedoch entgegen der bundesweiten Tendenz
Zunahmen der Inzidenzen im Jahr 2008 im Vergleich zum Vorjahr in den Bundesländern Berlin,
Brandenburg, Bremen und Hamburg registriert. Die
Anstiege in Berlin und Hamburg waren dabei mit
44 % bzw. 33 % beträchtlich. Die höchste Inzidenz
wurde 2008 mit 19,1/100 000 Einwohner in Berlin
registriert. Männer infizieren sich gemäß der aktuellen Daten zwölfmal häufiger als Frauen. Das typische Alter der Neuinfektion liegt bei Männern
zwischen 30 und 39 Jahren, bei Frauen früher (20–
29 Jahre). Die größte Risikogruppe sind Männer, die
Sex mit Männern haben (MSM), da mindestens vier
von fünf aller in Deutschland gemeldeten SyphilisFälle durch sexuellen Kontakt zwischen Männern
übertragen wurden. Darüber hinaus gibt es europaweit beträchtliche Unterschiede. Entsprechend der
Ergebnisse der IUSTI Europe (Ross et al. 2009) lag
die Inzidenz in Norwegen bei 1,2/100 000, in Rumänien bei 22,7/100 000 und in Russland bei 59,1/
100 000 Einwohner. In Deutschland findet, sich eine
seropositive Syphilis in 4–17 % der HIV-infizierten
MSM (Spielmann et al. 2010).
Die Inzidenz der Neurosyphilis verläuft mit einem
gewissen zeitlichen Versatz parallel zu den Neuinfektionen. Daten aus früheren Jahrzehnten lassen
sich dahingehend interpretieren, dass die Inzidenz
der Neurosyphilis etwa um den Faktor 0,07 niedriger liegt als die Inzidenz der Neuerkrankungen
(Rockwell et al. 1964, Prange und Ritter 1981). Man
kann also die derzeitige Inzidenz syphilitischer
ZNS-Komplikationen auf maximal 0,15–0,2/
100 000 schätzen.
Grundsätzlich entwickelt nur ein Drittel der Exponierten eine Syphiliserkrankung, die sich nach einer
Inkubationszeit von zehn Tagen bis zu drei Monaten
(durchschnittlich 21 Tage) als Primäraffekt (Ulcus
durum) manifestiert. Die Serokonversion findet 14–
40 Tage nach Erregerkontakt statt; der IgM-Westernblot ist am frühesten positiv*. Bei 10–40 % der
Patienten mit Primärkomplex heilt die Krankheit
auch ohne spezielle Therapie aus. Bei den übrigen
* IgM-Antikörper im Serum bleiben auch später, bis hin zum Tertiärstadium, als Aktivitätskriterium der unbehandelten
Syphilis positiv (MiQ Qualitätsstandards 2001).
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Neurosyphilis
stellt sich eine Generalisierung ein: Die Erreger breiten sich über Blut und Lymphsystem aus und verursachen eine Sekundärsyphilis, deren Symptome sich
4–16 Wochen nach Auftreten des Ulcus durum manifestieren. Am häufigsten sind Condylomata in der
Anal- und Genitalregion, aber auch andere Hautund Schleimhautareale können betroffen sein. Eine
leichte Mitreaktion des ZNS soll häufiger sein als klinisch diagnostiziert. Untersuchungen von Lukehart
et al. (1988) mit dem Rabbit-Inokulations-Test
(RIT) erbrachten einen Erregernachweis im Liquor
bei 30 % der Untersuchten im Primosekundärstadium; eine (zumeist symptomlose) Liquorpleozytose fand man in diesem Stadium bei 40 % der Untersuchten. Da im natürlichen Verlauf der Syphilis
nur 5–10 % der Erkrankten Jahre bis Jahrzehnte später eine Neurosyphilis entwickeln (Rockwell et al.
1964), ist offensichtlich eine Selbstheilung im ZNS
möglich. Bei Koinfektionen mit HIV stellt sich jedoch häufiger eine Neurosyphilis ein (Marra et al.
2004). Die Symptome des Sekundärstadiums bilden
sich etwa nach drei bis 12 Wochen wieder zurück.
Bei einem Viertel dieser Patienten stellt sich in den
nächsten 12 Monaten ein Rezidiv ein, sofern die
Krankheit nicht erkannt und behandelt wurde. Man
bezeichnet diese Phase als Frühlatenz; sie gilt als infektiös. Ab dem zweiten Jahr nach Abheilen des Primäraffektes spricht man von der Spätlatenz, in der
die Patienten in der Regel die Krankheit nicht mehr
übertragen. Definitionsgemäß beginnt das Tertiärstadium mit der späten Organmanifestation. Sie äußert sich bei ca. 15 % der Betroffenen als gummöse
Syphilis (Knochen, Haut, verschiedene Organsysteme), bei 10 % als kardiovaskuläre Syphilis (u. a.
Aortenaneurysma) und bei 5–10 % als Neurosyphilis. Die Tertiärsyphilis kann vier bis 40 Jahre nach
der Infektion auftreten. Während im Primär- und
Sekundärstadium residuenfreie Heilungen möglich
sind, erreicht man im Tertiärstadium auch durch
hoch dosierte Antibiotikagaben zumeist nur Defektheilungen. Der über längere Zeiträume entstandene
Entzündungsprozess bildet sich, wenn überhaupt,
nur langsam zurück. Indikationen für eine Liquorpunktion sind in Tab. F 5.1 dargestellt.
Tab. F 5.1:
Indikationen für Lumbalpunktion und
Liquordiagnostik bei positiven Seroreaktionen
• Neurologische, ophthalmologische, otologische
oder psychiatrische Symptomatik
• HIV-Infektion (speziell bei CD4 +-Zellzahl < 350/ul)
plus latente Syphilis
• Klinische Zeichen für eine gummöse oder kardiovaskuläre Manifestationsform der Tertiärsyphilis
• Therapiekontrolle (in zunehmend größeren
Abständen bis Zellzahl normalisiert ist)
• Verdacht auf Therapieversagen oder Rezidiv
(z. B. erneute IgM-Positivität)
griffsort der Beta-Laktam-Antibiotika darstellt. T. p.
besitzt weder Endotoxin noch entfaltet es eine toxische oder zelldestruktive Wirkung. Entscheidend für
seine Pathogenität ist die Haftung an der Wirtszelle,
die parasitär bis zu ihrem Untergang ausgenutzt wird.
Weitere Pathogenitätsfaktoren des Erregers sind
seine Strategien, sich den Abwehrmechanismen des
Wirtsorganismus zu entziehen. Hierzu gehören die
bakterielle Phosphodiesterase, die Antikörper des
Wirtes neutralisiert, und die Wanderung von T. p. in
immunologisch privilegierte Orte, z. B. Nervenzellen, deren Befall vom körpereigenen Immunsystem
nur eingeschränkt erkannt werden kann. Neuere Studien zeigen zudem, dass bestimmte Subtypen wie der
T. p. Subtyp 14d/f bevorzugt zu einer Neurosyphilis
führen (Marra et al. 2010).
Im Primäraffekt (Syphilis I) werden bei 60–90 % der
Erkrankten die lokalen Abwehrmechanismen durch
den Erreger unterlaufen, sofern keine antibiotische
Behandlung stattfindet. Es folgt eine Ausbreitung
von T. p. im Körper mit konsekutivem Befall von
Haut, Schleimhaut, Auge, ZNS sowie anderen parenchymatösen Organen. Diese Generalisierung des
Krankheitsprozesses entspricht dem Sekundärstadium. Die sich anschließende Latenzphase ist durch
einen infektionsimmunologischen Gleichgewichtszustand zwischen Erreger und Wirt gekennzeichnet.
Das Eindringen von T. p. in das Nervensystem ist offensichtlich in allen Krankheitsphasen möglich.
Einzelnen Autoren gelang es, am Primäraffekt die
Penetration von T. p. in periphere Nervenendigungen zu demonstrieren (Secher et al. 1982). Es blieb
allerdings ungeklärt, ob dieses bereits als Hinweis
für eine transneurale Erregerwanderung zum ZNS
hin zu bewerten ist. Die Penetration des ZNS durch
T. p. dürfte vorzugsweise auf hämatogenem Wege erfolgen. Liquoruntersuchungen bei an Sekundärsyphilis Erkrankten zeigten, dass 25–40 % pathologische Veränderungen aufweisen. Nach der später
nicht mehr überprüften Auffassung mancher Autoren ist dies ein Zeichen einer frühen ZNS-Invasion
(Chesney und Kemp 1924, Mills 1927, Löwhagen et
al. 1983).
Im Spätstadium der Syphilis ist der Organbefall
durch eine perivaskuläre Anhäufung von Lymphozyten, Plasmazellen und endothelialen Zellen charakterisiert. Die Maximalform der krankheitstypischen granulomatösen Reaktion ist das Gumma. Es
besteht aus massiven Infiltraten von Lymphozyten,
Plasmazellen und Makrophagen. Im ZNS werden
Meningen, Hirnnerven sowie kleine piale und parenchymatöse Gefäße in den entzündlichen Prozess
einbezogen. Die Parenchymschädigung kommt entweder durch Gefäßverschlüsse mit Gewebsischämie
oder durch Neuronendegeneration, Demyelinisation, Astrozytenproliferation sowie Ependymgranulation zustande.
(modifiziert nach CDC Atlanta 2006)
F 5.3.2
F 5.3
Therapeutische Prinzipien
F 5.3.1
Pathogenetische Aspekte
Der Erreger der Syphilis, Treponema pallidum ssp.
pallidum (T. p.), enthält in seiner zytoplasmatischen
Membran eine Peptidoglykanschicht, die den An-
Pharmakologie und
Pharmakokinetik
Die frühere Regel, wonach T. p. auf Penicillin, andere
Beta-Laktame, Makrolide und Tetrazykline immer
gut empfindlich ist, muss modifiziert werden, weil
ein Erythromycin-resistenter, ein Azithromycin resistenter und ein Penicillase-produzierender Stamm
von T. p. isoliert wurden (Norgard et al. 1981, Staple541
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Infektions- und Entzündungskrankheiten
ton et al. 1985, Lukehart et al. 2004). Hierbei handelt
es sich jedoch um seltene Ausnahmen. Es gibt allerdings geografische Regionen wie z. B. Dublin oder
San Francisco, in denen Makrolid-Resistenzen
durch die Verbreitung eines bestimmten T. p. Stammes in 54–88 % der Fälle nachgewiesen werden können (Lukehart et al. 2004, Mitchell et al. 2006). Die
Bestimmung der minimalen Hemmkonzentrationen für die einzelnen Antibiotika ist nicht möglich,
weil sich der Erreger durch mikrobiologische Standardtechniken nicht kultivieren lässt.
Aus experimentellen Daten weiß man, dass Penicillin-Konzentrationen von 0,1 g/ml im Serum maximal treponemozid sind (Rein 1981). Als Zielgröße
für die Behandlung der Neurosyphilis wird eine
Konzentration von 0,018 g Penicillin/ml als Mindestkonzentration im Liquor angesehen; spezielle
experimentelle Daten sind hierfür jedoch nicht verfügbar. Ein solcher Liquorspiegel ist durch Penicillindosen von 20–30 Mio IE/d, verteilt auf drei bis
sechs Einzelgaben zu erreichen (Ducas und Robson
1981, Zenker und Rolfs 1990). Auch hinsichtlich der
Therapiedauer ist die Datenlage unzureichend: Die
in vitro bestimmte Replikationszeit der Treponemen
von 30–33 Stunden könnte in vivo, beispielsweise
bei Neurosyphilis, wesentlich länger sein. Nach Zenker und Rolfs (1990) ist 1. die Erfolgsquote der Therapie positiv mit der Therapiedauer korreliert und
2. die Immobilisation von T. p. umso schneller und
effektiver, je höher man die verabfolgte Dosis wählt.
Die Antibiotikakonzentrationen, die zur 50 %igen
Immobilisation der Treponemen erforderlich sind,
liegen bei 0,002 g/ml für Penicillin G, 0,07 g/ml
für Amoxicillin und 0,01 g/ml für Ceftriaxon
(Korting et al. 1986). Diese Konzentrationen sollen
in vivo – wie zuvor für Penicillin G schon beschrieben – um den Faktor 10 überschritten werden. Nach
einer eigenen pharmakokinetischen Studie mit Cef-
Tab. F 5.2:
triaxon wird eine treponemozide Liquorkonzentration in dieser Größenordnung nach Verabfolgung
von 2 g/d (Initialdosis 4 g/d) erreicht (Nau et al.
1993). Damit ist Ceftriaxon eine dem Penicillin G
mindestens gleichwertige Substanz zur Behandlung
der Neurosyphilis, was in klinischen Studien bisher
aber nur durch eine kleinere Phase-II-Studie bei Patienten mit Neurosyphilis und HIV bestätigt wurde
(Marra et al. 2000).
Doxycyclin wurde nur bei kleineren Patientengruppen untersucht, deshalb kann auf der Basis der vorhandenen Datenlage keine definitive Empfehlung
gegeben werden (Quinn und Bender 1988, BASHH
Clinical Effectiveness Group 2008).
F 5.4
Pragmatische Therapie
F 5.4.1
Antibiotika
Die aktuellen europäischen Empfehlungen der
IUSTI (French et al. 2009) für die Behandlung der
latenten und tertiären Syphilis sind in Tab. F 5.2
dargestellt. Modifikationen ergeben sich allerdings
für neurologische und psychiatrische Patienten aus
folgenden Gründen:
1. Die Tagesdosis von 2,4 (wie auch 4,8) Mio IE Procain-Penicillin G i. m. plus 4 × 500 mg Probenecid über 10 bis 14 Tage reicht nicht aus, um in
jedem Fall treponemozide Penicillinspiegel im
Liquor zu erzeugen (Goh et al. 1984).
2. Benzathin-Penicillin G, welches in einer Dosierung von 2,4 Mio IE i. m. für das Primosekundärund das Latenzstadium empfohlen wird, gewährleistet ebenfalls nicht Liquorkonzentrationen
≥ 0,018 g Penicillin/ml und ist deshalb nicht zur
Therapie von ZNS-Komplikationen bei Syphilis
II sowie Früh- und Spätlatenz geeignet.
Therapieempfehlung für Syphilis im Latenz- und im Tertiärstadium
Antibiotikum
Route
Dosierung
Dauer
Benzathin-Penicillin G
intramuskulär
2,4 Mio IE
einmalig
Doxycyclin
oral
2 × 100 mg pro Tag
2 Wochen
Azithromycin
oral
1 × 2 g pro Tag
Einmalige Dosis*
Erythromycin
oral
4 × 500 mg pro Tag
2 Wochen
Tetracyclin
oral
4 × 500 mg pro Tag
2 Wochen
Frühlatenz
Spätlatenz oder unbekanntes Latenzstadium
Benzathin-Penicillin G
intramuskulär
2,4 Mio IE pro Woche
3 Wochen
Doxycyclin
oral
2 × 100 mg pro Tag
4 Wochen
Erythromycin
oral
4 × 500 mg pro Tag
2 Wochen
Tetracyclin
oral
4 × 500 mg pro Tag
4 Wochen
Tertiärstadium/neurologische Symptomatik
wässriges Penicillin G
intravenös
3–4 Mio IE alle 4 Stunden
18–21 Tage
Procain-Penicillin G
intramuskulär
2,4 Mio IE pro Tag
10–17 Tage
plus Probenecid
oral
4 × 500 mg pro Tag
10–17 Tage
(French et al. 2009; BASHH Clinical Effectiveness Group 2008; *Riedner et al. 2005)
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