aus den sozialen berufen soziale arbeit als disziplin und profession

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AUS DEN SOZIALEN BERUFEN
Die TuP-Redaktion stellt in dieser Rubrik wissenschaftliche und fachpolitische Entwicklungen im Bereich
der Ausbildung und der Tätigkeit der sozialen Berufsgruppen dar, die für die Weiterentwicklung der Sozialen Arbeit von besonderer Bedeutung sind.
SOZIALE ARBEIT ALS DISZIPLIN UND PROFESSION – ODER: DIE
FORDERUNG NACH EINEM ENDE DER ABGRENZUNG
Jan Kruse
Seit vielen Jahren dominieren zwei theoretische wie auch praktische Projekte den Diskurs Sozialer Arbeit: erstens das disziplinäre Projekt der Sozialarbeitwissenschaft und
zweitens das praxisorientierte Projekt der Professionalisierung Sozialer Arbeit. Die
manchmal etwas pubertär wirkenden Diskussionen über die Sozialarbeitswissenschaft,
die ihren Höhepunkt in den vergangenen 90er Jahren hatten, scheinen gegenwärtig in
ihren festgefahrenen Positionen zum Stillstand gekommen zu sein. Auch die Diskussion
über die Professionalisierung Sozialer Arbeit verläuft schleppend und bleibt im Ergebnis
unbefriedigend. Diese Situation resultiert m.E. sowohl in dem disziplinären wie auch in
dem professionstheoretischen Diskurs aus folgendem Grund: in beiden Diskussionen soll
durch eine Strategie der Abgrenzung eine exklusive Identität gefunden werden, das je
spezifisch »Eigene«, ohne dabei das »Andere« für sich selbst in seiner Bedeutung wirklich zu reflektieren. Anhand eines eigenen Forschungsprojektes im Rahmen meiner Dissertation am Soziologischen Institut der Universität Freiburg soll in einem exemplarischen
Sinne ein forschungspraktischer Weg aus dieser diskurstheoretischen Sackgasse dargestellt werden.
Dieser Aufsatz darf nicht so verstanden werden, dass ich mich in ihm in differenzierter
Weise mit dem sozialarbeitswissenschaftlichen und professionstheoretischen Diskurs
auseinandersetzen möchte. Die vorhandene Literatur zu diesen beiden Diskurssträngen
in der Sozialen Arbeit ist viel zu ausufernd und oftmals unstrukturiert, als dass dies überhaupt möglich wäre, ohne ein weiteres raumfüllendes Buch zu verfassen. Es darf auch
nicht erwartet werden, dass ich in meinem Beitrag neue Argumente oder eine neue Position vortragen werde: in den genannten Diskursen sind alle erdenklichen Argumente ausgetauscht, alle möglichen Positionen bezogen worden. Dies ist mit ein Grund, warum sich
ein beachtlicher Stillstand in den Diskursen breit gemacht hat. Ziel des Aufsatzes soll es
vielmehr sein, mittels einer kontrastierenden Darstellung nochmals auf eine Position hinzuweisen, die scheinbar in beiden Diskursen an Gehör verloren hat, die aber forschungspraktisch gewendet aus der Sackgasse der Diskurse führen würde.
Das Ende der Bescheidenheit
Sylvia Staub-Bernasconi publizierte 1995 ein programmatisches Buch mit dem Titel: „Systemtheorie, soziale Probleme und Soziale Arbeit: lokal, national und international.” Die
Pointe steckte im Untertitel: „Vom Ende der Bescheidenheit“. Damit forderte sie das Ende
der prekären Identität der Sozialen Arbeit, die sowohl im disziplinären wie auch professionellen Sinne sich nicht selbst bewusst sei. Die in den 1990er Jahren dominierenden
Emanzipationsdiskurse in der Sozialen Arbeit sind jedoch historisch gesehen nicht neu
und begleiten diese in regelmäßigen Abständen seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts.
Da die Emanzipationsdiskurse in der Sozialen Arbeit zudem stets eine disziplinäre wie
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professionstheoretische Seite umfassen, möchte ich hier zuerst auf den disziplinären
Diskurs über die Etablierung einer autonomen Sozialarbeitswissenschaft eingehen, um
im Anschluss daran parallelisierend die professionstheoretischen Diskurse kurz zu betrachten. Diese Auftrennung ist nicht unproblematisch, da beide Diskursstränge oftmals in
einander verzahnt sind, was sicherlich an der Dialektik des „Theorie (Wissen, Disziplin)–
Praxis (Berufserfahrung, Profession)–Problems“ liegt, das Bestandteil beider Diskussionen ist, nur mit jeweils umgekehrter Blickrichtung.
Eine Disziplin auf der Suche nach sich selbst
Ich werde in diesem Abschnitt nicht im Detail auf die verschiedenen Dimensionen der
Diskussion über die Etablierung einer autonomen Sozialarbeitswissenschaft eingehen,
sondern vielmehr zwei gegensätzliche Positionen bzw. Strategien herausgreifen und in
aller Kürze darstellen, mit denen die diskutierte Sozialarbeitswissenschaft ganz unterschiedlich verortet wird.
• Sozialarbeitswissenschaft als integratives Projekt
Da ich bereits ausgeführt habe, dass die disziplinären und professionstheoretischen Diskussionen in der Sozialen Arbeit historisch nicht neu sind, liegt es nahe, dass es eine
hinsichtlich des disziplinären Autonomieprojektes distanzierte oder teilweise distanzierte
Position gibt. Sozialarbeitswissenschaft ist „Altbekanntes“, womit gemeint ist, dass sie
zahlreiche wissenschaftstheoretische Vorläufer und Klassiker aufweisen kann, oder ist
zumindest in Ansätzen bereits vorhanden, was bedeuten soll, dass sie streng genommen
lediglich auf der institutionalisierten Ebene im Vergleich zu anderen akademischen
(Hochschul-)Disziplinen noch nicht etabliert ist.
Gerade damit bleibt eine Unsicherheit über den Status der Existenz der Sozialarbeitswissenschaft bestehen, die den Emanzipationsdiskurs nicht zur Ruhe kommen lässt und
auch die Frage der »Gegenstandsbestimmung« der Sozialarbeitswissenschaft nach sich
zieht. In Bezug auf diese virulenten Diskussionen vergleicht Maier (1996) die Bemühungen einer Abgrenzung der Sozialarbeitswissenschaft von anderen Disziplinen mit der historischen Entstehung der Politikwissenschaft in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg. Er macht deutlich, dass die erfolgreiche Etablierung dieser neuen akademischen
Disziplin nicht auf die Reklamation eines disziplinär exklusiven (Forschungs-) Gegenstandes zurückzuführen ist, sondern auf die „Herstellung eines Kommunikationszusammenhangs“ (ebd., S. 140). Seines Erachtens ist eine Sozialarbeitswissenschaft nur als
eine integrative Wissenschaft zu verstehen, ohne einen exklusiven Forschungsgegenstand: „Sozialarbeitsforschung hat keinen spezifischen Gegenstand, der nicht auch von
anderen Disziplinen bearbeitet wird oder zumindest bearbeitet werden kann.“ (Maier
1998, S. 53) Auch Engelke (1996) führt zu dem Versuch, eine autonome Sozialarbeitswissenschaft zu formulieren, aus: „Jede Wissenschaftsdisziplin ist heute auf Austausch
mit und Unterstützung von anderen Wissenschaftsdisziplinen angewiesen. Jede Wissenschaftsdisziplin hat offene Grenzen und kann sich zu ihren NachbarInnen nur noch unter
großen Schwierigkeiten klar abgrenzen. In jeder Wissenschaftsdisziplin gibt es pluriforme, heterogene und miteinander unvereinbare Auffassungen und Theorien – auch über ihr `Proprium´. Die Auffassungen über und die Bewertungskriterien für Wissenschaft
sind selbst innerhalb der einzelnen Disziplinen kontrovers. Daher sind Selbstverständnis
und Anspruch, Grundlagenwissenschaft oder autonome Wissenschaftsdisziplin zu sein,
anachronistisch. Herkömmliche Wissenschaftssystematiken mit eindeutig markierbaren
Abgrenzungen und Hierarchien sind äußerst fragwürdig geworden. Alle Wissenschafts-
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disziplinen sind heute relativ selbstständig und mit anderen Wissenschaftsdisziplinen vielfach vernetzt. Wenn dennoch darüber nachgedacht wird, welche Wissenschaftsdisziplin(en) für die Soziale Arbeit Leit- und Grundlagendisziplin(en) sind oder sein soll(en),
dann ist zu fragen: Wer hat einen Vorteil davon?“ (ebd., S. 67 f.)
Mit dem Ende des Zitats spielt Engelke auf die macht- und hochschulpolitische Dimension der Diskussion über eine Sozialarbeitswissenschaft an, die sich vor allem daraus
ergibt, dass sich in Deutschland die Ausbildung in der Sozialen Arbeit oftmals noch in
Sozialpädagogik und Sozialarbeit unterteilt (auch wenn diese Unterteilung an vielen
Fachhochschulen bereits curricular nivelliert worden ist und in Stellenausschreibungen
ohnehin nur in einem formellen Sinne existent ist), die Sozialpädagogik dabei (auch) universitär verankert, die Sozialarbeit hingegen jedoch stets auf der Fachhochschulebene
angesiedelt ist. Somit müssen auch immer disziplinäre Machtfragen in dem sozialarbeitswissenschaftlichen Diskurs reflektiert werden, da es ganz banal um Besitzstände
und Ressourcen geht. Ansonsten verdeutlicht das Zitat nochmals die Notwendigkeit eines »Kommunikationszusammenhangs« (Maier), in dem sich eine sozialarbeitswissenschaftliche Disziplin in dem integrativen Projekt der Sozialarbeitswissenschaft vernetzt.
Im Rahmen dieses sozialwissenschaftlichen Gesamtprojektes möchte ich darüber hinaus
in Anlehnung an Maier (1996) auf die Notwendigkeit der Etablierung einer angemessenen, sozialarbeitswissenschaftlichen Forschung hinweisen.
• Sozialarbeitswissenschaft als exklusive Identität
Neben dieser sich integrativ verstehenden Position gibt es aber im Rahmen der sozialarbeitswissenschaftlichen Diskussion auch eine Position bzw. Strategie der Abgrenzung.
Hier ist nicht nur von einem „Ende der Bescheidenheit“, vielmehr sogar von einem Ende
der „Kolonialisierung durch Fremddisziplinen“ die Rede. Die manchmal geradezu entwicklungspsychologische Metaphorik dieses so geführten Emanzipationsdiskurses ist
bezeichnend und wirkt m.E. oftmals pubertär. Dennoch durchzieht sie auch die Diskussion über die Gegenstandsbestimmung der Sozialarbeitswissenschaft an vielen Stellen.
Da Emanzipation scheinbar nur durch eine selektive und exklusive Identitätsbildung möglich wird, sind die Abgrenzungsversuche hier virulent. Die Identität der Sozialen Arbeit als
Disziplin und als Profession soll durch eine positive Bestimmung des Gegenstandes beschrieben werden, was zu einer Vielzahl an Definitionsversuchen geführt hat, die allesamt selektiv und reduktionistisch sind, unbefriedigend bleiben und mehr über den Autor
als über den »Gegenstand« Sozialer Arbeit verraten. Eine solche substanziell und exklusiv verstandene Identität der disziplinären wie professionellen Identität der Sozialen Arbeit verkennt aber, dass »Identität« gerade im „Projekt der Moderne“ auf eine relationale
und dynamische Dimension mit endlosem Projektcharakter verweist. Der Versuch einer
solchen exklusiven Identitätsbestimmung verkennt also auch die bereits oben dargestellte Interdisziplinarität aller Sozialwissenschaften. Die Diskussionen – das muss man
sich vor Augen führen – dort um das »Proprium« haben ganz andere Funktionen als die
inhaltliche Füllung des jeweiligen Faches. Der so geführte Diskurs muss zwangsläufig in
eine Sackgasse führen, worauf Engelke bereits hingewiesen hat (Engelke 1996, S. 65).
Und in dieser Sackgasse scheint gegenwärtig die Diskussion über eine Sozialarbeitswissenschaft festgefahren. Wie steht es nun um den Professionalisierungsdiskurs Sozialer
Arbeit?
• Die Suche nach Anerkennung – der professionstheoretische Diskurs
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Es ist allseits bekannt und beklagenswert, dass die Identität der Berufstätigen aus der
Sozialen Arbeit schon immer prekär gewesen ist, und ihre Suche nach Anerkennung sowie ihr Streben nach der Überwindung dieser prekären Identität oftmals ein dispositiver
Zug Ihres Arbeitsverständnisses sind. Die »Professionalisierung« Sozialer Arbeit ist dadurch stets ein aktuelles Thema – und genauso problematisch:
• Anachronistische Professionalisierungsdiagnosen
Zwar hat sich im professionstheoretischen Diskurs über Soziale Arbeit schon seit einiger
Zeit – entsprechend des allgemeinen professionssoziologischen Diskussionsstandes –
die Einsicht durchgesetzt, dass die Soziale Arbeit nicht mir den Kriterien und Attributen
klassischer Professionen zu messen sei (vgl. Kleve 1999), dennoch bleiben aber jene
klassischen Professionen i.d.R. der Vergleichsmaßstab. Somit ist es nicht verwunderlich,
dass die Mehrzahl der Studien über die Professionalisierungstendenzen Sozialer Arbeit
den Berufstätigen keinen professionellen Standard zusprechen, und dass in Folge unterschiedliche Bewertungen wie „semi-professionell“, „noch-nicht-“ bzw. „bald-professionell“,
„noch-nicht-voll-professionell“ oder wie die Albernheiten mehr auch heißen mögen, virulent ihr Unwesen treiben. So knüpfen Ackermann und Seeck (1999) in ihrer Studie einerseits vielversprechend an dem strukturtheoretischen Professionalisierungskonzept von
Oevermann, das sich gegen einen funktionalistischen und attributionstheoretischen Zugriff wendet, in Verbindung mit dem Habitus-Konzept von Bourdieu an (ebd., S. 8 ff.). Andererseits kommen sie am Ende ihrer qualitativen Studie zu dem Fazit, dass erstens eine
berufliche Identität bei der Mehrzahl der Befragten nicht nachzuweisen sei (ebd., S. 21)
und zweitens, dass auch „eine Fachlichkeit wie in den klassischen Professionen sich für
den überwiegenden Teil der Befragten nicht aufweisen [lässt]“ (ebd., S. 13). Sie landen
damit entgegen der theoretischen Anlage ihrer Studie wieder beim klassischen Professionsvergleich. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangen Thole und Küster-Schapfl
(1997) und pointieren (selbstverständlich unter Ausnahmen) das Profil und das berufliche
Selbstverständlich der in ihrer Studie Interviewten in einer Kapitelüberschrift wie folgt mit
einem Interviewzitat: „Ansonsten kann diesen Job auch `n Maurer machen“ (vgl. ebd., S.
55 ff., S. 65 ff., S. 76 ff.).
Die oben genannten Studien bilden jedoch die Praxis m.E. mitunter unzureichend ab, und
dies aus zwei Gründen: erstens können sie sich implizit nicht von den klassischen Professionalisierungskonzepten lösen und zweitens verfolgen sie analog zu der dominierenden Position im sozialarbeitswissenschaftlichen Diskurs eine Strategie der Abgrenzung,
d.h. sie bemühen sich, die exklusive professionelle Identität von Berufstätigen aus der
Sozialen Arbeit zu finden, was im Rahmen der Anlage ihrer Studien allein forschungspraktisch überhaupt nicht möglich ist, da diese nie komparativ gestaltet sind. Das heißt es
gibt keine Studien, in denen in einem explorativen Ansatz Berufstätige aus der Sozialen
Arbeit mit ganz anderen Berufstätigen verglichen werden.
• Eine postmoderne Professionalität der Sozialen Arbeit
Kleve arbeitet in seinem brillanten Aufsatz (Kleve 1999) in Anlehnung an Bauman, Lyotard und Derrida eine Theorie »postmoderner« Professionalität aus. Unter »postmodern«
wird hier nicht eine Epoche, sondern eine Geisteshaltung aufgefasst, eine reflexive Denkfigur für das Ambivalente, Paradoxale und Widersprüchliche (siehe Kleve 1999, S. 371).
Nach Bauman ist »Ambivalenz« das Kennzeichen der Moderne, mit ihr ist das »Ende der
Eindeutigkeit« erreicht. Ähnlich wie Schütze (Schütze 1992, siehe insbesondere S. 137 f.,
S. 146 ff., S. 162 ff.) sucht nun Kleve gerade in dieser Ambivalenz und Widersprüchlich-
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keit das professionelle Wesen der Sozialen Arbeit, da die Auseinandersetzung mit der
Ambivalenz ihr charakteristisches Merkmal ist: „Sozialarbeit kann als postmoderne Profession bewertet werden, weil sie keine andere Wahl hat, als sich den vielfältigen Ambivalenzen in ihrem sozialstrukturellen und semantischen Feld zu stellen und diese anzunehmen, mit ihnen zu leben.“ (Kleve 1999, S. 375; siehe auch S. 377). Dass nun diese
Form der Professionalität nicht erkannt wird, liegt nach Kleve folglich daran: „Meine These, die ich schließlich zur wissenschaftlichen Reflexion der sozialarbeiterischen Profession noch andeutungsweise darstellen möchte, lautet, dass sich eine Disziplin Soziale Arbeit ebenso wie die sozialarbeiterische Profession postmodern neu bewerten könnte,
wenn sie ihre Bestrebungen nach zentralen Theorien, einer leitenden Wissenschaft, klaren Identitäten, kurz: ihre Bestrebungen nach Einheit, Stabilität und Ordnung aufgeben
würde.“ [Herv. i. Orig.] (ebd., S. 379). Und mit dieser weiterhin dominierenden Suche
nach Einheit, Stabilität und Ordnung sind wir bei dem zweiten Punkt meiner Kritik am professionstheoretischen Diskurs (s.o.) angelangt: den Abgrenzungsstrategien.
Wider den Abgrenzungsstrategien in den Diskursen über Soziale Arbeit
Auch wenn Identitäten trotz der modernen Ambivalenzen immer noch bzw. gerade deswegen vor allem durch die Negation des »Anderen«, der »Alterität« geformt werden (vgl.
Eßbach 2001), ist es mir in dieser Kürze hoffentlich gelungen zu zeigen, in welche Sackgasse sich die Diskurse über die Soziale Arbeit als Disziplin und Profession mit ihren
i.d.R. dominierenden Abgrenzungsstrategien manövrieren. Der Versuch, exklusive Identitäten zuformulieren, ist zum Scheitern verurteilt. Insofern plädiere ich dafür, sowohl im
disziplinären als auch im professionstheoretischen Diskurs »über den Tellerrand zu blicken«, sich nicht nur selbst zu beobachten, sondern auch die anderen, und dies nicht
selektiv, sondern prospektiv, im Sinne einer Erkundung nutzbarer und vergleichbarer
Forschungsansätze, -ergebnisse, Entwicklungen und Parallelen. Hiermit ist nicht die Aufgabe des »Endes der Bescheidenheit« gemeint, aber eben das Ende der Abgrenzung.
Diesen Ansatz möchte ich nun anhand eines eigenen explorativen Forschungsprojektes
im Rahmen meiner Promotion am Soziologischen Institut der Universität Freiburg skizzieren.
Der Blick über den Tellerrand
In der explorativen Studie habe ich das subjektive Arbeitsverständnis und das subjektivierte Arbeitshandeln von Berufstätigen aus typischen Feldern der Sozialen Arbeit in
komparativer Analyse zu Berufstätigen aus typischen Feldern des informations- und
kommunikationstechnologischen Dienstleistungsbereichs (kurz: IuK-Dienstleistungsbereich) untersucht. Anhand qualitativer Leitfrageninterviews wurde das persönliche Arbeitshandeln nicht per se vor einem professionstheoretischen Hintergrund, sondern in
Anlehnung an zwei aus der Arbeits- bzw. Industriesoziologie entlehnten Konzepten rekonstruiert: das subjektivierende Arbeitshandeln (Böhle, exemplarisch 1999) und die
Kommunikationsarbeit (exemplarisch Haag 1986). Hierbei sollte weniger der Fokus auf
das »Proprium« der jeweiligen Berufsgruppen gesetzt werden, vielmehr interessierte ich
mich in dem kontrastierenden Vergleich für das »Wie« die Berufstätigen das machen,
was sie als Fachkraft machen. Grundlage der doppelten komparativen Analyse waren im
heuristischen Sinne verschiedene forschungsleitende Interessen:
• Erstens sollten die beruflichen Identitäten und das persönliche Arbeitshandeln der Berufstätigen in Bezug auf neue Anforderungsprofile in den Arbeitsfeldern deskriptiv wie
analytisch betrachtet werden.
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• Zweitens sollte die Bedeutung der »Kommunikationsarbeit« in beiden Berufsgruppen
miteinander verglichen werden, wobei ich von der Annahme ausging, dass diese nicht
nur bei den Berufstätigen aus der Sozialen Arbeit traditionell und klassisch, sondern auch
bei denen aus dem IuK-Dienstleistungsbereich sehr hoch ist, und dass der Charakter der
Kommunikationsarbeit in beiden Berufsgruppen trotz bestehender Unterschiede vergleichbar bleibt.
• Drittens sollten zwei eigentümlich gegensätzliche Entwicklungen in beiden Berufsgruppen hinsichtlich des persönlichen Arbeitshandelns untersucht werden: Kann man in der
Sozialen Arbeit m.E. von einer »technologischen Wende« sprechen (Stichwörter: Formalisierung, Standardisierung, Qualitätsmanagement, DIN ISO 9000, Controlling, „BWL-isierung“, projektive Identität des Sozialmanagers, systemtheoretische Entwürfe gegenüber
handlungstheoretischen Entwürfen Sozialer Arbeit, etc.) mit dem Ergebnis einer Entfernung vom arbeitenden Subjekt, wird in der Industrie- und Arbeitssoziologie der Subjektbedarf des Arbeitshandelns entdeckt und allgemein von einer »Subjektivierung der Arbeit« gesprochen. Dieser Diskurs kann in der Sozialen Arbeit m.E. sehr fruchtbar aufgegriffen werden, da das subjektivierende Arbeitshandeln ebenfalls für die Soziale Arbeit
paradigmatisch ist. Auch kann dieses Konzept mit in der Sozialen Arbeit kursierenden
Konzepten verglichen werden. Ich denke hier vor allem an die Diskurse über Soziale Arbeit als »Kunsthandeln« und an das vieldiskutierte »Theorie-Praxis-Dilemma«.
Ein forschungspraktisches Zwischenfazit
Durch das Verfolgen dieser drei genannten forschungsleitenden Interessen – weitere Untersuchungsdimensionen ergaben sich von selbst durch die Offenheit des qualitativen
Zugangs im Prozess der Studie – möchte ich unterschiedliche Diskurse in den beiden
Berufsfeldern miteinander anschlussfähig und gegenseitig nutzbar machen. So kann zum
Beispiel durch die Übertragung des Konzepts des subjektivierenden Arbeitshandelns auf
die Soziale Arbeit das berufliche Erfahrungshandeln neu ins Blickfeld genommen werden,
um somit auch einen handlungstheoretischen Gegenentwurf zu den en vogue geratenen
systemtheoretischen Entwürfen Sozialer Arbeit zu formulieren.
Da die Anfertigung meiner Promotionsarbeit kurz vor dem Abschluss steht, kann ich an
dieser Stelle leider nicht über die vielschichtigen und äußerst interessanten Ergebnisse
der umfangreichen rekonstruktiven Fallanalysen berichten, sondern muss auf die Publikation meiner Doktorarbeit (voraussichtlich Ende 2004) verweisen. Hierzu nur so viel: Der
komparative Ansatz der Studie und die theoretischen Anschlüsse an verschiedene Diskurse außerhalb der Sozialen Arbeit, wie zum Beispiel auch an diskursanalytische Ansätze in Anlehnung an Foucault und Baudrillard, auf die im Rahmen dieses Beitrags aufgrund ihrer Komplexität nicht eingegangen werden konnte, haben die Fruchtbarkeit dieser Forschungsstrategie eines Endes der Abgrenzung unter Beweis gestellt.
Mit meiner kritischen Analyse der disziplinären wie professionstheoretischen Diskurse
über Soziale Arbeit habe ich – trotz der Kürze im Rahmen dieses Aufsatzes – hoffentlich
zu zeigen vermocht, dass diese oftmals mit einer Strategie der Abgrenzung auf der Suche nach der exklusiven Identität der Sozialen Arbeit sind, und dass dieser Weg m.E.
jedoch in eine Sackgasse führt, da er sowohl identitätstheoretisch wie auch wissenschaftstheoretisch und forschungspraktisch nicht nur anachronistisch sondern auch
grundsätzlich fragwürdig ist.
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Die Skizzierung meines eigenen Forschungsprojektes, in dem ich eben bewusst nicht
das »Proprium« der Sozialen Arbeit (unter-)suche, sondern eine komparative Analyse
von Berufstätigen aus typischen Feldern der Sozialen Arbeit und Berufstätigen aus typischen Feldern des informations- und kommunikationstechnologischen Dienstleistungsbereichs verfolge, soll dabei als ein Plädoyer für offene Forschungsansätze und Diskurse in
der Sozialen Arbeit verstanden werden, da die Blicke über den Tellerrand immer eine
fruchtbare Bereichung sind und hermetischen Mentalitäten entgegenwirken.
Literatur
Ackermann, F./Seeck, D.: Soziale Arbeit in der Ambivalenz von Erfahrung und Wissen. Motivation
– Fachlichkeit – berufliche Identität. Ergebnisse einer qualitativ-empirischen Untersuchung. In:
Neue Praxis 1/1999
Böhle, F.: Arbeit – Subjektivität und Sinnlichkeit. Paradoxien des modernen Arbeitsbegriffes. In:
Schmidt, Gert (Hg.): Kein Ende der Arbeitsgesellschaft: Arbeit, Gesellschaft und Subjekt im Globalisierungsprozess. Berlin 1999
Engelke, E.: Soziale Arbeit als wissenschaftliche Disziplin. Anmerkungen zum Streit über eine
Sozialarbeitswissenschaft. In: Puhl, Ria (Hg.): Sozialarbeitswissenschaft – Neue Chancen für
theoriegeleitete Soziale Arbeit. Weinheim u. München 1996
Eßbach, W. (Hg.): wir/ihr/sie. Identität und Alterität in Theorie und Methode. Tagungsband der 2.
Jahrestagung des SFB 541 der Universität Freiburg, Februar 1999. Würzburg 2001
Haag, I.: Arbeitskommunikation - Kommunikationsarbeit: Neukonzeption industriesoziologischer
Arbeitsanalyse durch die systematische Einbeziehung arbeitsbezogener Kommunikation. Berlin
1986
Kleve, H.: Soziale Arbeit und Ambivalenz. Fragmente einer Theorie postmoderner Professionalität. In: Neue Praxis 4/1999
Maier, K.: Überlegungen zur Etablierung einer Sozialarbeitswissenschaft auf dem Hintergrund der
Entwicklung der Politikwissenschaft. In: Puhl, Ria (Hg.): Sozialarbeitswissenschaft – Neue Chancen für theoriegeleitete Soziale Arbeit. Weinheim u. München 1996
Maier, K.: Zur Abgrenzung der Sozialarbeitsforschung von der Forschung in den Nachbardisziplinen. Ein Versuch. In: Steinert, Erika et al. (Hg.): Sozialarbeitsforschung: was sie ist und leistet.
Freiburg 1998
Schütze, F.: Sozialarbeit als „bescheidene“ Profession. In: Dewe, B./Ferchhoff, W./Radtke, F.O.
(Hg.): Erziehen als Profession. Zur Logik professionellen Handelns in pädagogischen Berufen.
Opladen 1992
Thole, W./Küster-Schapfl, E.U.: Sozialpädagogische Profis. Opladen 1997
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