Universität Würzburg Lehrstuhl für Moraltheologie Vorlesung WS 2015/16: Ethische Grundfragen der Medizin mth 2. Ab wann ist der Mensch Person? – Der Streit um den moralischen Status des Embryos - 1. 1.1 - - - Die Frage nach dem moralischen Status des Embryos ist die Frage, ab wann ihm Personstatus zukommt, mit dem der Besitz unbedingter Würde und Lebensschutz verbunden ist. Unterscheidung von zwei Fragen: 1) Kommt jedem menschlichen Wesen Personwürde und damit Lebensschutz zu? 2) Ab welchem Zeitpunkt liegt ein menschliches Individuum vor? Positionen, nach denen nicht jedem menschlichen Wesen Personwürde zukommt Personstatus ab dem Beginn personaler Vollzüge Prominentester Vertreter: Peter Singer. Personstatus ist an den aktuellen Besitz personaler Vollzüge (Bewusstsein, Interessen, Zukunftsvorstellung) gebunden. Daher haben auch höhere Säugetieren (Walen, Menschenaffen) ansatzhaft Personstatus. Alles andere ist ein „Speziesismus“. Konsequenzen: - Menschlicher Fötus ist keine Person, weil ihm die entsprechenden Vollzüge fehlen. Dem Fötus kommt kein unbedingter Wert, wohl aber ein abgestufter Wert zu. - Auch ein neugeborener Mensch ist noch keine Person. Legales Recht auf Leben sollte erst 1 Monat nach der Geburt beginnen. Problematik: - Schwierigkeit des empirischen Nachweises für personenrelevante Eigenschaften. - Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für demente Menschen? Lässt sich hier noch von eigenen Interessen und von Selbstbewusstsein sprechen? 1.2 Personstatus ab dem Zeitpunkt der Geburt - Vertreter: Norbert Hoerster - Nur das Überlebensinteressen kann das Tötungsverbot begründen. Ein solches Interesse haben nur Lebewesen, die einen Überlebenswunsch und zukunftsbezogene Wünsche haben. Dies setzt IchBewusstsein voraus. - Personstatus und Lebensrecht beginnen erst einige Zeit nach der Geburt. - Durch die Tötung eines Fötus wird kein Überlebensinteresse verletzt. Es wäre lediglich das Interesse der späteren Person, die aber durch die Tötung gerade nicht existieren wird. - Aus pragmatischen Gründen ist die Geburt der Beginn der Schutzwürdigkeit. Denn: - Der Mensch ist vor der Geburt noch keine Person. - Die Geburt ist ein Einschnitt, der sich problemlos feststellen lässt. - Geburt ist vom tatsächlichen Auftreten des Selbstbewusstseins nicht sehr weit entfernt. - Problematik: - Die pragmatische Festsetzung hat letztlich in Interessen der Gesellschaft ihren Grund. Diese können auch wieder geändert werden. - Während einer Frühgeburt etwa in der 27. Woche schon Lebensrecht zukommt, ist dies für einen Fötus in der 37. Woche nicht der Fall. Willkürliche Festlegung, die nicht in der Sache ihren Grund hat. 13 Universität Würzburg Lehrstuhl für Moraltheologie Vorlesung WS 2015/16: Ethische Grundfragen der Medizin mth 1.3 Personstatus ab der Ausbildung des Hirnstamms - Vertreter: Hans-Martin Sass - Unterscheidung von Hirnleben I (neuronales Zellmaterial des Gehirns vorhanden, ab 57. Tag p.c.) und Hirnleben II (Beginn der neuronalen Vernetzung, ab 70. Tag p.c.). - Bis zum 70. Tag – auf jeden Fall aber bis zum 57. Tag – ist keine Hirntätigkeit beim Fötus vorhanden. Wie nach dem Hirntod nicht mehr von Person gesprochen wird, so auch vor dem Hirnleben nicht. - Problematik - Die symmetrische Parallelisierung des Zustands nach dem Hirntod und vor dem Hirnleben scheint unangebracht. Man muss die Entwicklungsrichtung sehen. - Hier wird nicht mit der Aktualität personaler Vollzüge argumentiert, sondern bereits nur noch mit der Potentialität personaler Vollzüge. 2. Positionen zur Frage, ab wann ein menschliches Wesen vorliegt 2.1 Ab der Differenzierung von Embryo und Plazenta - Solange noch keine Differenzierung von Embryo und Plazenta stattgefunden hat, kann man kein Personstatus zuschreiben. Sonst muss man erklären, wieso aus Zellen, denen man Personstatus zugesprochen hat, Zellen entstehen, die keinen Personstatus haben. - Einwand: - Dass man dem Embryo Personstatus zuschreibt, bedeutet nicht, dass jeder einzelnen Zelle dieser Personstatus zukommt. - Plazenta ließe sich als vorübergehendes Organ des Fötus verstehen. 2.2 Ab dem Ausschluss der Zwillingsbildung - Vertreter: z.B. N. M. Ford, Th. A: Shannon, A. B. Wolter, aber auch J. Gründel u.a. - Argument: Solange noch zwei oder mehrere Individuen aus dem Embryo hervorgehen können, kann man noch nicht von einem menschlichen Individuum sprechen und deshalb auch keinen Personstatus zuschreiben. Es ist vielmehr vom „Prä-Embryo“ zu sprechen. - Einwand: - Die Zwillingsbildung spricht nicht gegen die Individualität des Embryos. Vielmehr ist die Teilung die Weise, wie sich Lebewesen in diesem Stadium vermehren können. Aus einem Individuum geht ein weiteres hervor. 2.3 Personstatus ab dem Zeitpunkt der Kernverschmelzung - Ausgehend vom Problem einer aktualistischen Auffassung und vom Problem, eine Zäsur in der Embryonalentwicklung zu finden, geht diese Position für die Zuschreibung des Personstatus vom frühest-möglichen Zeitpunkt aus. - Ist die Position des deutschen Embryonenschutzgesetzes. - Ist ebenso die Position der christlichen Kirchen. - Hauptargumente: Embryo entwickelt sich nicht erst zum Menschen und zur Person, sondern als Mensch und als Person. Seine Begründung erhält dies durch den Hinweis auf die Potentialität des Embryos zu personalen Vollzügen, die Kontinuität seiner Entwicklung und seine von Anfang an gegebene Individualität. 14 Universität Würzburg Lehrstuhl für Moraltheologie Vorlesung WS 2015/16: Ethische Grundfragen der Medizin - Kirchliche Texte: Gott ist ein Freund des Lebens“ (VI,1): mth „Um Maßstäbe für den Umgang mit Embryonen in vitro zu finden, ist auszugehen von der Einsichten, die wir über die Würde des vorgeburtlichen Lebens gewonnen haben und die gleichermaßen für Embryonen in vivo wie in vitro gelten: Der Embryo ist individuelles Leben, das als menschliches Leben immer ein sich entwickelndes ist; die Anlage zur uneingeschränkten Ausübung des Menschseins ist in ihm von Anfang an enthalten; das ungeborene Leben hat ebenso wie das geborene Anspruch auf Schutz. Dann kann aber – wie bei anderen Humanexperimenten – Forschung am ungeborenen Leben nur insoweit gebilligt werden, wie sie der Erhaltung und der Förderung dieses bestimmten individuellen Lebens dient; man sollte in diesen Fällen von Heilversuchen sprechen. Gezielte Eingriffe an Embryonen hingegen, die ihre Schädigung oder Vernichtung in Kauf nehmen, sind nicht zu verantworten – und seien die Forschungsziele noch so hochrangig. Der Opfergedanke ist hier völlig unangebracht; anderen zugute kann sich ein Mensch aus freien Stücken allenfalls selbst opfern. Die angestellten Überlegungen gelten für die Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken (auch in der neuerdings überlegten Form der Erzeugung von Vorkernstadien), für die Verwendung von „überzähligen“ Embryonen wie für den „Verbrauch“ von Embryonen zur pränatalen Diagnostik. Die Würde des menschlichen Lebens verbietet es, dass es bloß als Material und Mittel zu anderen Zwecken genutzt und – erst recht – gar nur erzeugt wird.“ - Enzyklika „Evangelium vitae“, Nr. 60: „Manche versuchen, die Abtreibung durch die Behauptung zu rechtfertigen, die Frucht der Empfängnis könne, wenigstens bis zu einer bestimmten Zahl von Tagen, noch nicht als ein persönliches menschliches Leben angesehen werden. In Wirklichkeit ,beginnt in dem Augenblick, wo das Ei befruchtet wird, ein Leben, das nicht das des Vaters oder der Mutter, sondern eines neuen menschlichen Geschöpfes ist, das sich eigenständig entwickelt. Es wird nie menschlich werden, wenn es das nicht von dem Augenblick an gewesen ist. Für die Augenfälligkeit dieser alten Einsicht ... liefert die moderne genetische Forschung wertvolle Bestätigungen. Sie hat gezeigt, dass vom ersten Augenblick an das Programm für das, was dieses Lebewesen sein wird, festgelegt ist: eine Person, diese individuelle Person mit ihren bekannten, schon genau festgelegten Wesensmerkmalen. Bereits mit der Befruchtung hat das Abenteuer eines Menschenlebens begonnen, von dessen großen Fähigkeiten jede einzelne Zeit braucht, um sich zu organisieren und funktionsbereit zu sein‘. Auch wenn das Vorhandensein einer Geistseele von keiner experimentellen Beobachtung ausgemacht werden kann, liefern die Schlussfolgerungen der Wissenschaft über den menschlichen Embryo ,einen wertvollen Hinweis, um das Vorhandensein einer Person von diesem ersten Erscheinen eines menschlichen Leben an rational zu erkennen: sollte ein menschliches Individuum etwa nicht eine menschliche Person sein?‘ Im übrigen ist der Einsatz, der auf dem Spiel steht, so groß, dass unter dem Gesichtspunkt der moralischen Verpflichtung schon die bloße Wahrscheinlichkeit, eine menschliche Person vor sich zu haben, genügen würde, um das strikteste Verbot jedes Eingriffs zu rechtfertigen, der zur Tötung des menschlichen Embryos vorgenommen wird. Eben deshalb hat die Kirche jenseits der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen und selbst der philosophischen Aussagen, auf die sich das Lehramt nicht ausdrücklich eingelassen hat, stets gelehrt und lehrt noch immer, dass der Frucht der menschlichen Zeugung vom ersten Augenblick ihrer Existenz an jene unbedingte Achtung zu gewährleisten ist, die dem Menschen in seiner leiblichen und geistigen Ganzheit und Einheit moralisch geschuldet wird: ,Ein menschliches Geschöpf ist von seiner Empfängnis an als Person zu achten und zu behandeln, und deshalb sind ihm von jenem Augenblick an die Rechte einer Person zuzuerkennen, als deren erstes das unverletzliche Recht auf Leben angesehen wird, dessen sich jedwedes unschuldige menschliche Geschöpf erfreut‘.“ 15 Universität Würzburg Lehrstuhl für Moraltheologie Vorlesung WS 2015/16: Ethische Grundfragen der Medizin mth 2.3.1 Das Argument der Potentialität Auch wenn der Embryo noch nicht aktuell personale Vollzüge zeigt, so besitzt er doch bereits die Potentialität dazu. - Einwand: Prinz Charles ist zwar potentieller König von England, aber besitzt noch nicht die Rechte des Königs von England. (Peter Singer) Dagegen: Unterscheidung von „aktiver“ und „passiver“ Potentialität. - Einwand: Die befruchtete Eizelle enthält noch nicht die volle Potentialität zur Entfaltung zum Menschen. Es müssen noch Informationen des mütterlichen Organismus hinzukommen. Weitere Informationen, werden nicht nur einseitig vom mütterlichen Organismus hinzugefügt, sondern kommen in einem „embryo-maternalen“ Dialog hinzu. - Einwand: Die für die Stammzellentnahme hergestellten Embryonen werden gar nicht mit dem Entwicklungsziel eines menschlichen Individuums hergestellt. Dagegen: Die psychologische Absicht kann nicht über den Status des erzeugten Lebewesens bestimmen. Gibt es einen entsprechenden Grund, die aktive Potentialität zur Entfaltung eines Menschen nicht zur Auswirkung kommen zu lassen? - Einwand: Wenn die befruchtete Eizelle bereits die Potentialität zur Hervorbringung eines Menschen enthält und deshalb unbedingt schutzwürdig ist, warum dann nicht auch Ei- und Samenzellen vor ihrer Vereinigung? Auch sie enthalten bereits diese Potentialität. (Richard Hare) 2.3.2 Das Argument der Individualität Von der Kernverschmelzung an kann man bereits von einem Individuum sprechen. Erst mit der Kernverschmelzung liegt das neue Genom vor, das die Individualität des neuen Menschen wesentlich prägt. - Einwand: Im Achtzellstadium kann man eine der Zellen aus der Eihülle entnehmen und anschließend wieder einfügen. Diese Handlung müßte erstens als Klonen und zweitens als Tötung eines Embryos bestraft werden, was aber absurd erscheint. (R. Merkel) Dagegen: 1) Warum ist das absurd? 2) Ist das nicht ein biologischer Essentialismus? 3) Welchen Grund gibt es, so etwas zu tun? 2.3.3 Das Argument der Kontinuität Richtet sich gegen die Annahme von Entwicklungssprüngen oder für den Personstatus relevanten Entwicklungseinschnitten. - Historisch: - Aristoteles und Thomas von Aquin: Gedanke der Sukzessivbeseelung. Dagegen: Albert der Große. Der Gedanke wurde erst 1679 unter Papst Innozenz XI endgültig aufgegeben. Erst 1869 verbannte Papst Pius IX. diese Unterscheidung auch aus dem Bereich kirchlicher Rechtsprechung. - Gegen die aristotelische Lehre richtet sich auch der Präformismus; dagegen: Entdeckung der weiblichen Keimzelle 1827 durch Karl Ernst von Baer. - Anschließend verbreitete sich der sog. Epigenismus (vertreten z.B. von Ernst Haeckel, 18341919); endgültig widerlegt durch die Erkenntnisse der Genforschung. - Einwände: - Auch bei kontinuierlicher quantitativer Entwicklung kann es qualitative Sprünge geben. Aber: Warum sollte dies auch vom Personstatus gelten? - Parallelität von Embryonalentwicklung und zunehmender Werthaftigkeit. Aber: Dies ist lediglich eine Intuition und kein Argument. 16 Universität Würzburg Lehrstuhl für Moraltheologie Vorlesung WS 2015/16: Ethische Grundfragen der Medizin - mth Grundsätzlicher Einwand (gegen die theologische Sicht): Auch natürlicherweise nistet sich die Mehrzahl der befruchteten Eizellen nicht ein. Wenn Gott das zulässt, kann der Wert von frühen Embryonen nicht unbedingt sein. Aber: Dies ist ein naturalistischer Fehlschluss. Sonst könnte man daraus, dass bei Naturkatastrophen Menschen sterben, schließen, dass das so sein soll oder dass wir auch so handeln sollen. Fazit: - Die Diskussion um den moralischen Status des Embryos hat sich festgefahren. Um hier weiterzukommen ist auf die unterschiedlichen Voraussetzungen der Argumentation zu achten. - Während die Vertreter der Position „Von Anfang an“ die drei PIK-Argumente als Zusammenhang verstehen, separieren sie die Gegner dieser Position und widerlegen sie getrennt voneinander. - Während die Vertreter der Position „Von Anfang an“ den Embryo in einem Entwicklungsprozess sehen, achten die Gegner nur auf den momentanen Entwicklungsstand. - Die Frage nach dem moralischen Status des Embryos ist keine Frage des logisches Beweises, sondern eine Frage der Deutung und des Verstehens (nicht der Analytik, sondern der Hermeneutik) - Ob man einen Achtzeller als Zellhaufen oder als Mensch im Werden bezeichnet, lässt sich nicht aus den biologischen Fakten ableiten, sondern ist eine Frage der Deutung, wohl unter Bezugnahme auf die biologischen Fakten, aber nicht von ihnen erzwungen. 17