Zur Theorie und Praxis interkultureller Philosophie

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Zur Theorie und Praxis interkultureller Philosophie von Jacob Emmanuel Mabe Interkulturalität rückt immer mehr ins Zentrum der sozial‐, kultur‐ und religionswissenschaftlichen Überlegungen. Auch das Interesse der Natur‐ und Ingenieurwissenschaften an diesem Thema nimmt beträchtlich zu. Doch für die Philosophie bleibt die Interkulturalität Projekt, d.h. ein intel‐
lektueller Prozeß, der zum Ziel hat, ein globales Wissens für die gesamte Kulturmenschheit zu realisieren und zu fördern. Der folgende Essay macht sich zur Aufgabe, die verschiedenen Theorieansätze1 der interkulturellen Philosophie auf ihre Beziehungen zur Lebenspraxis zu untersuchen. 1. Zur Theorie der interkulturellen Philosophie 1. 1. Grundlagen und Probleme Die globale Welt unserer Zeit drängt den aufmerksamen, nachdenklichen Beobachter zu der Frage, ob alle Kulturen, gleichgültig wie sie sind, dem‐
selben Planeten Erde angehören oder ob etwa ein Teil von ihnen zur Do‐
minanz über die anderen prädestiniert ist. Warum bekämpfen sich die Menschen ihrer Kulturen wegen gegenseitig, statt nach einem verträgli‐
chem Miteinander zu suchen? Das mag für manche Philosophen eine un‐
nütze Frage sein und sie mögen sagen, zum Zusammenleben der Men‐
schen gehören nicht nur Mitleid, Liebe und Solidarität, sondern auch Dummheit, Aggression, Brutalität, Haß, Gegenseitiges Mißtrauen etc. Eine solche Ansicht beruht auf einem fundamentalen Irrtum. Denn die Handlungen der Menschen werden weniger durch Emotionalität und Spontaneität als durch Reflexion und Vernunft bestimmt. Gerade aufgrund 1 Einzelheiten bei Heinz Kimmerle: Interkulturelle Philosophie zur Einführung, Hamburg 2002, S. 79 ff; Franz Martin Wimmer: Interkulturelle Philosophie, Wien 2004, S. 53 ff. ihrer Intelligenz sind die Menschen in der Lage, die Bedingungen ihrer Existenz positiv zu verändern und sich individuell sowie kollektiv am Le‐
ben zu erhalten. Daher können sie sich dem Transformationsprozeß der Natur nicht einfach passiv unterwerfen. Im Gegenteil, das ganze Sinnen und Trachten der Menschen strebt nach dem Ideal der Selbsterhaltung. Die als interkulturell bezeichnete Philosophie hat sich zur Aufgabe gemacht, allen Völkern und Kulturen methodisch zu helfen, zur Einsicht dieses ih‐
nen gemeinsamen Lebensideals zu gelangen und im Dialog zu teilen.2 Was motiviert nun zum Dialog und woher kommt das Wissen, daß er den Menschen nützt? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt der interkultu‐
rellen Philosophie, die glaubt, daß nur durch Dialog die moralischen Ge‐
meinsamkeiten einsichtig gemacht sowie die dunklen Seiten der Vergan‐
genheit durchleuchtet werden können, die durch Dauerrivalitäten und unnötigen Feindschaften zwischen den Kulturen bestimmt waren. Heute weiß man, daß dialogsbereite Menschen zur Konvergenz und friedlicher Koexistenz der Kulturen beitragen können. Diese Erkenntnis kommt aus den positiven Erfahrungen insbesondere seit 1945 (Menschenrechts‐ und Minderheitenschutz, Diskriminierungsverbot, Diplomatie, wirtschaftliche Zusammenarbeit, Weltmeisterschaften etc.). Bei aller Kritik sind die Kulturen und Völker noch nie in der Geschichte der Menschheit so zusammengekommen, wie dies in den letzten 60 Jahren der Fall ist. In Hinblick darauf läßt sich fragen, ob manche Kriege und Kon‐
flikte der vergangenen Jahrhunderte oder Jahrtausende doch nicht möglich waren, weil die Menschen kulturell entweder gar nichts oder nur wenig voneinander wußten? Die interkulturelle Philosophie will dieses Bewußt‐
sein der Gemeinsamkeiten stärken. Dadurch unterscheidet sie sich von den Einzelwissenschaften, die sich überwiegend mit ökonomischen, politischen und sozialen Strukturen der Kulturen anhand von Beobachtungen befassen und daraus ableiten, sie seien vom Rang her und durch ihren Inhalt ebenso verschieden wie inkompatibel. Manche Wissenschaftler gehen so weit, daß sie die Inkompatibilität von Kulturen aufgrund der vermeintlichen Lebens‐ und Denkstile der Men‐
schen als eine drohende Gefahr für die Sicherheit, die Stabilität und den 2 Vgl. Heinrich Beck und Gisela Schmirber (Hg.): Kreativer Friede durch Begeg‐
nung der Weltkulturen, Frankfurt/M. 1995. 36
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Frieden in der Welt bezeichnen.3 Die interkulturelle Philosophie dagegen ermittelt weniger die Differenzen als die analogen4 Momente der Kulturen unabhängig von ihren Überlieferungs‐ oder Artikulationsformen.5 Zu die‐
sem Zweck arbeiten die Philosophen aus Afrika, Amerika, Asien, Europa und Ozeanien seit einigen Jahren intensiv zusammen.6 Daraus sind interna‐
tionale Netzwerke hervorgegangen, die mittlerweile eine veritable Platt‐
form für weltweite Debatten und Kontroversen über globale Fragen bilden. Dabei lernen die Philosophen voneinander, wie sie von ethnozentrischen Überlieferungen und kolonialistischen Denkmustern, die den obsoleten Differenzkult sowie die archaische Fiktion der Identitäten verstärken,7 Ab‐
stand nehmen und sämtliche Klischees überwinden können.8 3 4 5 6 7 8 Siehe z.B. Samuel Huntington: The Clash of Civilisations and the Remaking of Word Order, New York 1996 Dt.: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, 3. Aufl., München und Wien 1997). Einzelheiten bei Franz Martin Wimmer: Interkulturelle Philosophie Bd. 1: Ge‐
schichte und Theorie, Wien 1990; Ram Adhar Mall: Philosophie im Vergleich der Kulturen. Interkulturelle Philosophie – eine neue Orientierung, Darmstadt 1995; Raul Fornet‐Betancourt (Hg.): Unterwegs zur interkulturellen Philosophie, Frankfurt/M. 1998; Heinz Kimmerle: Der Philosophiebegriff der interkulturellen Philosophie, Nordhausen 2009. Vg. Jacob Emmanuel Mabe: Mündliche und schriftliche Formen philosophischen Denkens in Afrika. Grundzüge einer Konvergenzphilosophie, Frankfurt et al 2005; Heinz Kimmerle: Afrikanische Philosophie im Kontext der Weltphiloso‐
phie, Nordhausen 2005. Der UNESCO, der Gesellschaft für interkulturelle Philosophie e.V., der Wiener Gesellschaft für interkulturelle Philosophie, der Zeitschrift Polylog und sonstigen mit der Interkulturalität befaßten philosophischen Institutionen gebührt daher große Anerkennung. Näheres bei Manfred Brocker und Heino Heinrich Nau (Hg.). Ethnozentrismus. Möglichkeiten und Grenzen des interkulturellen Dialogs, Darmstadt 1997. Es sei in diesem Zusammenhang auf zwei Essays verwiesen, die der Verfasser dieses Artikels zur Präzisierung seiner These verfaßt hat. Jacob Emmanuel Ma‐
be: Was wissen Europäer kulturell von Afrika, München 2006; Entwicklungspo‐
litik als Katalysator der europäisch‐afrikanischen Beziehungen, in: Afrika Euro‐
pas verkannter Nachbar, hrsg. von Herta Däubler‐Gmelin, Ekkerhard Münzig und Christian Walther, Frankfurt/M. et al., Bd.1 2007, S. 21‐38. 37
Daß manche Philosophen aus Europa und Nordamerika heute andere Geistes‐ und Lebenswelten nicht nur ernst nehmen, sondern auch Afrika‐
ner, Asiaten, Südamerikaner etc. als gleichwertige Diskussionspartner ak‐
zeptieren, ist zweifellos ein gewaltiger Durchbruch. Nun arbeiten alle ge‐
meinsam an neuen Denkmodulen, die die Vorteile ebenso der kulturellen Vielfalt wie des Austauschs von Erfahrungen und Wissen über Werte, Identitäten und Differenzen evident werden lassen. Seit Beginn ihrer akademischen Verbreitung Anfang der 1990er Jahre lei‐
stet die interkulturelle Philosophie mit mannigfachen Stilisierungen und methodischen Variationen einen außerordentlichen Beitrag zur Lösung der essentiellen Erkenntnisprobleme und dies in verschiedenen Sprachen. Da‐
bei hilft sie den Menschen, ihre möglichen kulturellen Differenzen nicht zu verdrängen, zu verschleiern oder auszuklammern, sondern durch profun‐
dere Erkenntnisse überflüssig zu machen. Trotz ihrer zunehmenden Be‐
deutung in den internationalen Beziehungen findet die interkulturelle Phi‐
losophie im universitären Bereich leider dennoch keine Legitimation als Lehr‐ und Forschungsgebiet, da man ihr wahrscheinlich wenig zutraut, zum Fortschritt des Weltwissens beizutragen. Es verwundert deshalb nicht, daß interkulturellen Themen in den meisten Lehrangeboten kaum Beach‐
tung geschenkt wird. Doch interkulturelle Philosophie ist für ihre akademische Marginalisie‐
rung teilweise selbst verantwortlich, da sie »nicht eine neue Disziplin«9 oder eigenständiges Fach10, sondern vielmehr eine multivalente Dimension des Denkens sein will, indem sie in alle Bereiche der Philosophie eindringt. Damit tritt sie in Konkurrenz insbesondere mit der Kulturphilosophie, Anthropologie und Geschichte der Philosophie und stellt zugleich eine extreme Bedrohung für ihre Existenz dar. Um sich aber die notwendige akademische Akzeptanz zu verschaffen, sollte sich die interkulturelle Phi‐
losophie fortan internationalen sowie allgemeinen Fragen der Ethik, Onto‐
logie, Erkenntnistheorie etc. aus einer globalen Perspektive widmen. 9 10 Heinz Kimmerle, Inter kulturelle Philosophie, S. 10. Die interkulturelle Philosophie könnte sich in dieser Hinsicht die interkulturelle Germanistik, Pädagogik und Kommunikation zum Vorbild nehmen, die sich in‐
stitutionell und nicht jedoch inhaltlich als eigenständige Fachgebiete bereits eta‐
bliert haben. 38
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Zudem soll die interkulturelle Philosophie nicht als eine Xenophilosophie wirken, die sich ausschließlich fremden Denkformen und Gelehrten wid‐
met, oder als eine Ethnophilosophie erscheinen, die den Mythen und sämt‐
lichen kulturellen Überlieferungen anderer Völker zugrunde liegt, sonst würde man ihre Existenzberechtigung weiter anzweifeln. Zusammengefaßt soll sich die Kompetenz der interkulturellen Philosophie darauf beschrän‐
ken, –
die methodischen Grundlagen für die Untersuchung des ethischen, ontologischen, politischen, moralischen, ästhetischen, historischen und religiösen Denkens Afrikas, Asiens, Amerikas, Europas und Ozeaniens zu untersuchen, um ihre Werteanalogien aufzuzeigen,
– den Geist der kulturellen Vielfalt der Welt beleben,
– kulturtranszendente und –invariante Begriffe herauszuarbeiten, die für Kommunikation und den Dialog zwischen den Völkern förderlich wären,
– die weltweite Kontoversen und Debatten über philosophische Fragen zu stimulieren, um den Rückfall des Dialogs in die obsolete Dialektik der Kulturen dauerhaft zu verhindern,
– die Grundlagen für eine globale Geschichtsschreibung der Philosophie stellt,
– eigene Lösungen für globale Erkenntnisfragen zu bieten, auf die andere Disziplinen bei ihren Fragenformulierungen zurückgreifen können.
1. 2. Zur Methodologie der interkulturellen Philosophie Die interkulturelle Philosophie hat bislang keine spezielle Methodologie, sondern operiert mit verschiedenen methodischen Ansätzen, denen es ge‐
mein ist, daß sie eine radikale Veränderung insbesondere der negativen Einstellungen zum kulturell Anderen erreichen wollen.11 Im Folgenden werden allerdings nur die Methoden dargestellt, die in der philosophi‐
schen Allgemeinheit zusammenzufassen sind: 1. 2. 1. Die Grundlagenmethoden (a) Die historischen Methoden Im Mittelpunkt der historischen Methoden steht die Interpretation und Rekonstruktion der Philosophiegeschichte über alle kulturellen Grenzen hinweg. Dabei wird die eurozentrische Tendenz durch eine globale Per‐
spektive der Periodisierung der Philosophiegeschichte von der Antike bis 11 Siehe Hamid Reza Yousefi und Ram Adhar Mall: Grundpositionen der interkul‐
turellen Philosophie, Nordhausen 2005. 39
zur Gegenwart ersetzt. So werden der Antike nicht mehr nur Griechenland und Rom, sondern auch die alten Geisteswelten Altägyptens, Arabiens, Chinas, Indiens Japans, Numidiens, Persiens etc. zugeordnet. Die interkul‐
turelle Historisierung zielt in diesem Zusammenhang darauf, eine globale Philosophiegeschichte unter Berücksichtigung sämtlicher Lebenswelten darzustellen. (b) Die systematischen Ansätze Die Systematisierung dient vor allem der Abhandlung von philosophi‐
schen Fragen (Gott, Seele, Sicherheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Glaube, Den‐
ken, Menschenrechte, Frieden, Toleranz etc.) jenseits aller Ethnozentrismen und nur in einem globalen Horizont.12 (c) Die Hermeneutik Die hermeneutische Dimension nimmt Rekurs insbesondere auf Anton Wilhelm Amo13, Hans‐Georg Gadamer14 und Paul Ricoeur15, um sämtliche überlieferten Materialien der Welt mit philosophischem Anspruch auf ihre interkulturelle Valenz hin zu untersuchen. Die interkulturelle Hermeneutik beruht auf einer Verstehens‐ und Interpretationsphilosophie. In beiden Fällen sucht sie nach Wegen der Begegnung mit dem Fremden sowie der Öffnung für das kulturell Andere.16 12 13 14 15 16 Siehe beispielsweise Heiner Bielefeldt: Philosophie der Menschenrechte. Grund‐
lagen eines weltweiten Freiheitsethos, Darmstadt 1998; Hamid Reza Yousefi und Klaus Fischer (Hg.): Die Idee der Toleranz in der interkulturellen Philosophie, Nordhausen 2007. Einzelheiten bei Jacob Emmanuel Mabe: Anton Wilhelm Amo interkulturell gelesen, Nordhausen 2007. Hans‐Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 1972. Paul Ricoeur: Soi‐même comme autre, Paris 1990. Anett C. Hammerschmidt: Fremdverstehen. Interkulturelle Hermeneutik zwi‐
schen Eigenem und Fremden, München 1997; Notker Schneider/Rham A. Mall/Dieter Lohmar (Hg.): Einheit und Vielfalt. Das Verstehen der Kulturen. Amsterdam – Atlanta 1998; Kimmerle: Das Eigene anders gesehen. Ergebnisse interkultureller Erfahrungen, Nordhausen 2007. 40
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(d) Die Dekonstruktion Die Dekonstruktion ist eine von Jacques Derrida in die Philosophie einge‐
führte Vorgehensweise, die auf die interkulturelle Forschung angewandt wird, um manche sich widersprechenden Aspekte in bestimmten Konzep‐
ten zu eliminieren. Derrida selbst vertritt die These, die Bedeutung eines Textes ergebe sich aus der Differenz zwischen den verwendeten Wörtern und nicht aus deren Referenz auf die Dinge, die sie repräsentieren.17 Die interkulturelle Dekonstruktion setzt auf »die Fähigkeit, sich auf den Stand‐
punkt des Anderen zu versetzen«18 und strebt zugleich die Überwindung des Absolutheitsanspruchs insbesondere der westlich‐europäischen Kultur bei Begriffsbildungen,19 was als Dekonstruktion des Ethnozentrismus be‐
zeichnen kann, der zur kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Tei‐
lung der Welt beispielsweise in Erste und Dritte Welt, Industrieländer und Schwellen‐ bzw. Entwicklungsländer, Norden und Süden geführt hat. Mit der Dekonstruktion des Ethnozentrismus soll dem Wissensmonopol einer Kultur ein Ende gesetzt werden. Denn die Dekonstruktion fördert die In‐
teraktion der Kulturen durch Kooperation, Austausch, Dialog und Transfer von Wissen und nicht von kulturellem Exotismus. Mit der Dekonstruktion sollen die Repräsentanten der jeweiligen Kulturen für sich selbst sprechen, ohne dabei provokative Gegendiskurse zu fürchten, sondern ihnen mit rationalen Argumenten zu begegnen.20 (e) Die vergleichende Methode Die komparatistische Methode etabliert einen Vergleichsrahmen für philo‐
sophische Reflexionen, von dem die Philosophen ausgehen, um die mögli‐
chen erkenntnistheoretischen, ethischen, metaphysischen Ähnlichkeiten zwischen den Kulturen aufzuzeigen.21 Der Vergleich hat leider den Nach‐
17 18 19 20 21 Siehe Jacques Derrida: De la grammatologie, Paris 1967; ders: L’écriture et la différence, Paris 1967. Heinz Kimmerle, Interkulturelle Philosophie, S. 14. Einzelheiten bei Heinz Kimmerle: Jacques Derrida zur Einführung, 5. Aufl., Hamburg 2000. Vgl. Léopold Sédar Senghor, Liberté V: Le dialogue des cultures, Paris 1993. Rham A. Mall: Philosophie im Vergleich der Kulturen 1995; Jörg Salaquarda: Zu Archie J. Bahma. Comparative Philosophy. Western, Indian and Chinese Philo‐
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teil, daß er dazu verführen kann, sich ein Bild von seiner Kultur zu machen und sie dabei höher als die anderen Kulturen zu schätzen. Ram Adhar Mall ist ein großer Verfechter dieser Methode. Heinz Kimmerle wirft ihm vor, sich dabei nicht von der klassischen Komparatistik des 19. Jahrhunderts deutlich abzugrenzen22. Leider vermag auch Kimmerle nicht zu erklären, wie er ohne Vergleich behaupten kann, die Kulturen seien vom Rang gleich und vom Inhalt verschieden.23 Denn solche Behauptung hängen meist von den Auffassungen ab, die Menschen von den Kulturen haben. (f) Die Konvergenzmethode Die Konvergenzmethode ist ein von Jacob Emmanuel Mabe bezeichnetes Verfahren, das die Zusammenführung von mündlichen und schriftlichen Denkstilen sowie Artikulationsformen zur Aufgabe der Philosophie macht.24 Das Ziel dieser Methode besteht in der Aufhebung der Differenz zwischen der akademischen Schriftphilosophie und der Oralphilosophie, die nach Mabes Ansicht ebenfalls aus individuellen Reflexionen entsteht. 25 Wenn auch die Oralphilosophie überwiegend durch die gesprochenen Sprachen überliefert ist, grenz sie sich vom oraltraditionellen Denken ab, das sämtliche kollektiven Überlieferungen einer Kultur mitsamt allen My‐
then umfaßt. Die Konvergenzmethode sucht auf diese Weise die Integrati‐
on mündlicher Konzepte in die geschriebene Philosophie. 1. 2. 3. Die angewandten Methoden (a) Der Dialog Der Dialog (gr. Dialogón = Gespräch) wurde von den alten Griechen als Denkprinzip begriffen. Doch es war Platon, der als erster Philosoph den 22 23 24 25 sophy compared, Albuquerque 1995; Rolf Eberfeldt: Kitaro Nishida – Das ver‐
stehen der Kulturen. Moderne japanische Philosophie und die Frage nach der Interkulturalität, Amsterdam – Atlanta 1999; Walter Schweidler (Hg.): Westliche und östliche Denkwege, Sankt Augustin 2009 Vgl. Heinz Kimmerle, Interkulturelle Philosophie, S. 72 f. Ibid., S. 8. Vgl. Heinz Kimmerle: Afrikanische Philosophie im Kontext der Weltphiloso‐
phie, Nordhausen 2005, S. 120 f. J. E. Mabe, Mündliche und schriftliche Formen, S. 353 ff. 42
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Dialog zu einem Diskussions‐ und Reflexionssystem machte. Dabei brachte er Denker aus verschiedenen Disziplinen (Philosophen, Astronomen, Ma‐
thematikern etc.) in einem Gespräch zusammen, bei dem sie ihre Meinun‐
gen und Argumente in direkter Konfrontation austauschten. Um dem Dia‐
log philosophische Substanz zu verleihen, setzte Platon die Dialektik als Methode ein, deren Aufgabe darin bestand, nicht nur die Differenzen und Übereinstimmungen zwischen den Denkern erkennbar zu machen, son‐
dern auch alle Widersprüche beim Dialog aufzulösen. Die gegenwärtige Philosophie des Weltdialogs knüpft an diese platoni‐
sche Tradition an, indem sie den Dialog als Methode und Prinzip zugleich auffaßt. Das Prinzip dabei drückt sich durch die Regeln aus, die dem Ge‐
spräch, d.h. dem miteinander Sprechen, Diskutieren, Reflektieren der Kul‐
turen und Völker über alle Fragen des Lebens und der Welt im Hinblick auf ihre möglichen Lösungen zugrunde liegen. Die Prinzipien des interkul‐
turellen Dialogs sind u.a.: – der Konsens, d.h. die Realisierung eines gemeinsamen Denkhorizonts
– die symmetrische Kommunikation
– die Verständigung durch Kooperation und Partnerschaft.
Als Methode ist der Dialog durch zwei Formen gekennzeichnet:
– Der Dialog »mit« oder der vertikale Dialog ist diejenige Form, die zwei oder mehrere ungleiche Partner sprechen läßt. Dabei herrscht eine Meinungsdiktatur der
dominanten Kultur, die sowohl die Themen als auch die Sprache und die Richtung des Dialogs bestimmt. So findet man Menschen in Europa, die vom »Dialog
mit Afrika, mit dem Islam, mit der Türkei« etc. sprechen.
– Der Dialog »zwischen« oder der horizontale Dialog stellt gleichwertige Partner
dar, die alle Fragen ohne Bevormundung oder Absolutheitsanspruch gemeinsam
erörtern.
Die in der interkulturellen Philosophie favorisierte Form ist der Dialog »zwischen«, bei der die Kulturen aufeinander zugehen, um durch kon‐
struktive Gespräche voneinander zu lernen. Dieser Dialog erfolgt – durch mündliche Gespräche und Absprachen,
– durch schriftlichen Austausch von Ideen und Meinungen in Form von Briefskorrespondenzen, Publikationen und Rezensionen,
– durch gemeinsame Reflexionen bei Konferenzen etc.
Der Philosophie fällt dabei die Aufgabe zu, die Partner thematisch und sprachliche auf den Dialog so vorzubereiten, daß sie sich gegenseitig gut verstehen. Dabei erarbeitet sie Denkmodelle, die den Menschen helfen, ebenso vom Differenzkult wie von der obsoleten Fiktion der Identität Ab‐
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stand zu nehmen, auf die sich manche Völker berufen, um sich kulturell von anderen Menschen abzugrenzen. Denn hinter der Fiktion der Differenz verbirgt sich stets ein Moment der Negativität anderer Lebens‐ und Denk‐
stile. Der Dialog soll vielmehr zu einer universellen Verständigung führen. Letztere soll verhindern, daß ein Partner den Rationalitätsanspruch nur für seine Kultur allein reklamiert. Im Dialog sollen alle Partner erkennen, daß sich alle Kulturen auf die gleiche Vernunft als Maßstab für das Denken und Handeln des Menschen berufen. Insofern gibt es weder eine Kultur noch eine Dialogsform, die nicht vernünftig sind, und ein vernünftiger Dialog führt dazu, daß der Kampf der Kulturen durch deren Versöhnung ersetzt wird. Setzt sich die Philosophie mit dem interkulturellen Dialog auseinander, so fragt sie nicht danach, wie die Kulturen strukturiert sind oder welche Bilder sie für ihre Wahrnehmung vermitteln. Die philosophische Untersu‐
chung widmet sich vielmehr den grundlegenden Elementen, die weniger die Differenzen der Kulturen als deren Analogien in der Ethik, Moral, Äs‐
thetik, Metaphysik etc. evident werden lassen. Dabei hat die Philosophie die Gründe für die Rivalitäten zwischen den Kulturen zu ermitteln, um Wege zu einem vernünftigen Verlaufsprozeß von Dialogen aufzuzeigen. Das Ziel ist, die bestehenden Divergenzen zu überbrücken. Welche Logik hat denn der Dialog? Der Ausgangspunkt beruht auf der Erkenntnis, daß die den Kulturen zugeschriebenen Ähnlichkeiten und Un‐
terschiede weder den Naturgesetzen noch dem göttlichen Willen unterlie‐
gen. Denn weder Gott noch die Natur wirken im menschlichen Verstand. Daher können die vermeintlichen Differenzen oder Ähnlichkeiten auch auf Einbildungen beruhen, die die objektive Wirklichkeit vielleicht nicht spie‐
geln. Ohne Dialog bleiben die Menschen ihren Fiktionen und Einbildungen verhaftet, indem sie sich falsche Bilder machen, die sie zu konfusen Begrif‐
fen verführen. In der Konsequenz dieser Erkenntnis versucht die Philosophie, die Rich‐
tung des Dialogs so zu bestimmen, daß alle Völker weltweit zur Einsicht nicht nur ihrer Werteanalogie, sondern auch der Grenzen ihres Wissens sowohl über die eigene Kultur als auch über andere Kulturen gelangen. Im gegenseitigen kulturellen Austausch sollen sie Defizite aufheben. Dies be‐
sagt, daß der Dialog die besten Voraussetzungen für die Angleichung der 44
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kulturellen Wissensniveaus weltweit stellt. Denn er hilft einerseits, der okkulten und amorphen Indifferenz gegenüber anderen Traditionen effek‐
tiv entgegenzuwirken und andererseits zu erkennen, daß es keine kulturel‐
le Supermacht, geschweige denn Metropolkultur gibt, von der andere Kul‐
turen peripher abhängen. (h) Die Didaktik Die didaktische Methode zielt auf die Vermittlung der interkulturellen Kompetenz durch Erziehung und Bildung ab. Sie wird insbesondere bei pädagogischen Beratungen und Übungen sowie in Kolloquien, Vorlesun‐
gen, Praxisseminaren, Bildungsreisen etc. angewandt. Bei dieser Methode werden die Menschen befähigt, die globalen Fragen aus verschiedenen Perspektiven zu begreifen. Durch bestimmte Bildungsinhalte werden ihnen Werte wie Mitmenschlichkeit, gegenseitige Toleranz, Solidarität, Achtung der Menschenwürde und Grundrechte etc. vermittelt. Erziehung und Bil‐
dung haben sich im interkulturellen Denken weitgehend bewährt, insofern sie die Denk‐ und Wissenshorizonte erweitern sowie zu mehr Sensibilität beim Umgang mit anderen Kulturen verhelfen.26 Da Kulturen vielfach auf die Werte der jeweiligen Gesellschaften bezo‐
gen werden, lassen sich ihre Antagonismen viel leichter aus den sozialen, politischen, ökonomischen und religiösen Strukturen ableiten. Dies führt unterdessen zur Bildung von Kategorien, wie etwa Leistungsfähigkeit oder Standard, als Beurteilungskriterien von Kulturen. So werden die Kulturen aufgrund der ökonomischen Standards (Volkseinkommen, Brutto‐
Inlandsprodukt etc.) oder der Leistungsfähigkeit der Wirtschaftssysteme (Struktur der Arbeit, der Beschäftigung etc.), der politischen, zivilgesell‐
schaftlichen und religiösen Institutionen etc. der Länder voneinander un‐
terschieden. Solche Differenzierungskriterien mögen wissenschaftlich relevant sein, sollten aber keineswegs dazu führen, über die Werteanalogien der Kultu‐
ren hinwegzusehen. Man denke dabei nur an Werte, wie Ehrlichkeit, Höf‐
lichkeit, Treue, Loyalität, Seriosität, Geduld, Frieden, Gesundheit, Auto‐
nomie, Glaube, Vertrauen, Solidarität etc., die alle Kulturen und Völker 26 Siehe z.B. Lothar Bedella und Herbert Christ (Hg.): Begegnung mit dem Frem‐
den, Gießen 1996 45
ausnahmslos gemeinsam haben. Sie werden in den wissenschaftlichen Analysen leider nicht hinreichend reflektiert, weshalb sie im Weltdialog unangemessen rezipiert werden. Die interkulturelle Philosophie hat nun von dieser These der Analogie auszugehen, um nach neuen Werten zu suchen, die politisch, sozial, ökonomisch, ökologisch etc. kompatibel wä‐
ren. 2. Zur Praxis der interkulturellen Philosophie Die Praxis der interkulturellen Philosophie bezieht sich auf ihre Auseinan‐
dersetzungen mit den kulturellen Realitäten der Welt, insbesondere in den Bereichen Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, internationales Recht und Völ‐
kerrecht, Gesundheit etc. Die interkulturelle Praxis hängt daher mit der Etablierung einer globalen Ethik zusammen, deren Quelle nicht aus den überkommenen Moraltheorien einer einzelnen Kultur schöpft. Doch nicht die Herkunft als solche stellt das Problem der philosophischen Ethik dar. Sie wird vielmehr kritisiert, daß sich ihre dominanten Doktrinen aus der eurozentrischen Motivation heraus konstituiert haben.27 Dieses Argument mag vielleicht verallgemeinernd sein, bleibt insofern stichhaltig, weil selbst die der großen Denker der Aufklärung bei aller Kritik an der europäischen Kultur ihrem Geist verhaftet waren. Schon die Gleichgültigkeit der meisten damaligen Philosophen gegenüber dem Sklavenhandel, dem Kolonialis‐
mus und Imperialismus sowie dem Rassismus und Nationalismus genügt, um diese These zu rechtfertigen. Daher können die Ideen jener Philoso‐
phen nur sehr bedingt universelle Geltung beanspruchen. Dies trifft ebenfalls auf die Gegenwartsphilosophie aufgrund ihrer Zen‐
trierung auf die rationalistischen, materialistischen, idealistischen, empiri‐
stischen, positivistischen, marxistischen, realistischen und sonstigen ethi‐
schen Überlieferungen des Westens zu. Daraus hat sich noch nie eine Sitte entwickelt, auf die selbst alle Völker achten. Von ihnen zu erwarten, daß sie eine globale Moral herbeiführen, ist illusionär. Es ist nicht zuletzt sehr bedauernswert, daß viele zeitgenössischen Denker Europas, die sogar für universelle normen eintreten, der neokolonialen Ideologie, der Afrophobie, Semitophobie, und Islamophobie passiv unterworfen sind. Umgekehrt darf 27 Näheres dazu bei Peter Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt/M. 2006, S. 263 f. 46
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man sich nicht wundern, daß Lehrmeinungen aus Afrika, China, Japan, Indien etc. nicht einmal auf Akzeptanz in eigenen Kulturen stoßen, ge‐
schweige denn Menschen in anderen Kulturen besonders begeistern. Im Gegenteil, die okzidentophoben (antiwestlichen) und tribalistischen oder ethnizistischen sowie sonstigen fundamentalistischen Tendenzen bleiben weltweit im Vormarsch. Was für eine Unlogik! Die interkulturelle Philosophie versucht, sich mit allen Formen von Zen‐
trismen auseinanderzusetzen, um zu zeigen, daß sie gegen die Menschheit ausgerichtet und deshalb nicht in der Lage sind, eine globale Ethik für Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenrechte, Menschenwürde, Sicher‐
heit etc. zu formulieren, die alle Völker akzeptieren können. So setzt sie auf den Dialog, um jeder Form des Ethnomoralismus entgegenzutreten. Sie sucht stattdessen nach einer Konvergenz aller moralischen Anschauungen aus allen Denktraditionen, damit sich daraus ein Normensystem herleiten läßt, das mit den gegenwärtigen Erwartungen an die universelle Sittlichkeit vereinbar wäre. Mit seinem Polylog schlägt Franz Martin Wimmer ein interessantes Mo‐
dell der internationalen Kommunikation vor, das Menschen aus allen Kul‐
turen am Miteinandersprechen aktiv teilnehmen läßt. Dieser Ansatz soll vertieft werden, indem man nach den anthropologischen und ontologi‐
schen Bedingungen sucht, die das Wesen des Polylogs verständlicher ma‐
chen.28 Heinz Kimmerle setzt sich seit mehr als zwei Jahrzehnten mit afrikani‐
schen und europäischen Geistestraditionen intensiv auseinander und ver‐
weist auf einige kulturelle Similaritäten, die nach seiner Ansicht den Dialog zwischen Afrikanern und Europäern ermöglichen können. Interkulturell stellt sich dennoch die Frage, ob eine mögliche europäisch‐afrikanische Kultursynthese zugleich die Basis für eine wahrhaft universale Moral bil‐
den kann. Während Kimmerle rein hermeneutisch verfährt, argumentieren Ram Adhar Mall, Raul Fornet‐Betancourt und viele andere Vertreter der inter‐
28 Zu Recht weist Wimmer darauf hin, daß es im Gespräch »zwischen vielen über einen Gegenstand« darauf ankommt, zu verstehen, »was gemeint ist«. Franz Martin Wimmer, Interkulturelle Philosophie, S. 66 und 67. Viel wichtiger wären auch das sich Fragen, ob der Andere mit seiner Ansicht doch nicht Recht hat. 47
kulturellen Philosophie komparatistisch, indem sie die Kulturen meist me‐
taphysisch und historisch miteinander vergleichen. Man soll nur darauf achten, daß der Vergleich die sittlichen Ähnlichkeiten verdeutlicht, indem die Waage stets in der Mitte gehalten wird, um das Gleichgewicht zwi‐
schen den Kulturen aufrechtzuerhalten. Von diesem Prinzip der Nichtbeeinträchtigung der kulturellen Gleich‐
wertigkeit soll die interkulturelle Philosophie in Zukunft ausgehen. So kann sie zeigen, inwieweit die Denktraditionen ungeachtet ihrer Vielfalt den gleichen moralischen Grundwert haben, der ihre jeweilige Rationalität begründet. Diese fundamentale These soll beweisen, daß nur gemeinsam die Kulturen zur ethischen Erneuerung der Welt fähig sind. Denn eine einzelne Kultur, sei es die kapitalistische oder sozialistische, die westliche oder orientalische, die europäische oder afrikanische, die christliche oder die moslemische, die konfuzianische oder buddhistische Kultur etc., kann nicht allein das Los der gesamten Menschheit bestimmen. Doch gemeinsam können sie die Menschen entweder verderben oder beglücken. Zusammengefaßt besteht die Aufgabe der interkulturellen Ethik unter anderem darin, a) die moralischen Aufgaben der Philosophie in der globalen Welt zu bestimmen29,
b) eine allgemeine Tugendennomenklatur für Machtträger bei der Lösung internationaler Aufgaben (Umwelt- und Klimaschutz, Friedenskonsolidierung etc.) zu
etablieren
c) die Bedingungen zur Globalisierung der Regeln fürs rationale und verantwortliche Regieren und Verwalten zu stellen,
d) die rationalen Prämissen für einen globalen Moralkodex zur Vermeidung ethnozentrischer Ressentiments bei interkulturellen Begegnungen insbesondere in den
Bereichen Entwicklungspolitik, Freizeit, Sport, Tourismus, Wirtschaffs- und
Handelsbeziehungen etc. zu eruieren,
e) zur sittlichen Verbesserung des Menschen durch Erziehung und Bildung beizutragen,
f) eine Werteordnung zu etablieren, auf deren Grundlagen sich die politischen, sozialen und ökonomischen Denkmodelle der Gegenwart aufbauen lassen können.
29 Arno Baruzzi und Takeichi Akihiro: Ethos des Interkulturellen. Was ist das, woran wir uns jetzt und in Zukunft halten können? Würzburg 1998; Karl‐Josef Kuschel et al (Hg.): Ein Ethos für die Welt? Globalisierung als ethische Heraus‐
forderung, Frankfurt/M. 1999; Rainer Zimmer: Ethik und interkulturelle Ver‐
nunft: Struktur des universellen Diskurses, Nordhausen 2005. 48
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Hatten die Religionen über Jahrhunderte die Maßstäbe für das Gute und Böse sowie für das Wahre und Falsche gelegt, wenn sie auch diesem An‐
spruch nie gerecht wurden, würden sie sich heute und in Zukunft mit die‐
ser Aufgabe selbst extrem überfordern. Denn keine einzige Religion kann heute den Anspruch erheben, die Rolle des Kompasses für moralisches Handeln sogar unter religiös gläubigen Menschen würdig zu erfüllen. Ab‐
gesehen davon zeigt der moralische Wirrwarr in jüdisch, islamisch, christ‐
lich oder buddhistisch geprägten Ländern, daß auch diese Religionen nur begrenzte Möglichkeiten besitzen, um eine globale Ethik des Friedens und des Dialogs aus eigener Kraft zu etablieren. Ein veritabler Dialog der Kul‐
turen, der die Völker versöhnen soll, darf keine religiösen oder politisch‐
ideologischen Ziele allein verfolgen, um nicht die Position des stärkeren Partners zu festigen; er soll ausschließlich epistemischen und normativen Zwecken dienen. Da die Philosophie Wurzeln in jeder Kultur hat, sollte sie die Verantwor‐
tung übernehmen, zwischen den Kulturen zu vermitteln, indem sie ihre jeweiligen schriftlich und mündlich überlieferten Theorien neu reflektiert, um sie miteinander so zu konvergieren, daß sie zur Geltung in der globalen Welt kommen können. Dabei soll sie stets das Prinzip der Heterokultur in ihren Mittelpunkt stellen, um die Handlungsmaximen zu verdeutlichen, die den Menschen aus allen Weltregionen heute gemein sind. Denn durch die zunehmende Verbreitung von Kommunikationsmitteln und Informati‐
onsmedien sowie durch den Massentourismus und die Internationalisie‐
rung von Bildung etc. sind fast alle heutigen heterokulturell geworden. Mit anderen Worten: Der homo sapiens (des 21. Jahrhunderts) ist nicht nur ein ökonomisches (homo oeconomicus) und kommunikatives (homo communi‐
cans), sondern auch und heterokulturelles Wesen. Denn der Mensch ver‐
mag, fremde Lebens‐ und Denkstile in sich zu integrieren sowie mit seinen kulturellen Überlieferungen harmonisch zu kombinieren. So bedient sich der Afrikaner des Englischen, Französischen, Arabischen etc. wie seine eigene Muttersprache. Dies trifft auch für einen Perser oder Araber, der chinesische, indische, kamerunische, thailändische Küche wie seine nationalen Gerichte kocht und genießt. Man denke zudem an eine Japanerin, die sich nur mit der deutschen, russischen, spanischen, engli‐
schen, südafrikanischen Literatur identifiziert. Es verwundert in diesem Zusammenhang nicht, daß sich manche Mitteleuropäerinnen mit der Frage 49
der Genitalverstümmelung und Hexerei in Afrika kompetent auseinander‐
setzen können. Nicht zuletzt gibt es Menschen in Afrika, Asien und Süd‐
amerika, die mit den Funktionsmechanismen des westlichen Kapitalismus sehr gut vertraut sind, oder Osteuropäer, die trotz kommunistischer Sozia‐
lisation mit der demokratischen Machtkontrolle sowie der deregulierten Marktwirtschaft sehr gut umgehen wissen. Diese Beispiele zeigen, daß eine globale Ethik, der sich möglichst viele Menschen verpflichten, durchaus möglich ist. Zwar haben manche Philosophietheorien des 20. Jahrhunderts, wie die des Realismus (Richard Rorty, Hilary Putnam)30, Konstruktivismus (Paul Lorenzen)31, der Universalpragmatik (Jürgen Habermas)32 und Transzen‐
dentalpragmatik (Hans‐Otto Apel)33 gute formale Regeln für die Argumen‐
tationspraxis bei internationalen Begegnungen geliefert. Die Universal‐
pragmatik untersucht die Bedingungen für mögliche universale Verständi‐
gung und versucht, sie »zu identifizieren und nachzukonstruieren«. Die Transzendentalpragmatik bemüht sich um eine Wortgemeinschaft. Beide praktische Diskurstheorien haben zwar die Strukturen des Verständi‐
gungsprozesses profund analysiert, aber leider nicht erkannt, daß Men‐
schen nur aufgrund ihrer heterokulturellen Eigenschaften oder Kompetenz in der Lage sind, zu einem wahrhaft universalen Konsens zu gelangen oder sich auf viele Fragen ebenso sprachlich wie begrifflich zu verständigen. Die Realisten Richard Rorty und Hilary Putnam erkennen den Menschen aus allen Kulturen die Fähigkeit zu kommunizieren, zu lernen und zu ar‐
gumentieren zu, weshalb sie die Grenzen zwischen den Lebensformen sowie die interkulturellen Konflikte durchaus für überwindbar halten. Dabei gehen sie von der Erfahrung Amerikas als einer multikulturellen Gesellschaft von Menschen aus, die trotz unterschiedlicher Herkunft ein 30 Hilary Putnam: Vernunft, Wahrheit und Geschichte, 1982;Richard Rorty: Eine Kultur ohne Zentrum. Vier philosophische Essays, Frankfurt/M. 1993; ders.: Phi‐
losophy and the Miror of Nature, Princeton 1997. 31 Paul Lorenzen: Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie, Mannheim 1987. 32 Jürgen Habermas: Was heißt Universalpragmatik? Frankfurt/M. 1976; ders: Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/M. 1991. 33 Karl‐Otto Apel: Diskurs und Verantwortung: Das Problem des Übergangs zur postkonventionalen Moral, Frankfurt/M. 1988. 50
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Zusammengehörigkeitsgefühl (in bestimmten Bereichen) entwickelt haben, die sie ihrer gemeinsamen Erziehungskultur verdanken. Für die Relativi‐
sten gibt es keinen Rationalitätsstandard für eine Kultur, geschweige denn für alle Kulturen. Auch die Konstruktivisten fordern, daß die Wissenschaf‐
ten aus der Lebenswelt aufgebaut und begründet werden. Ihr Ziel ist die Verbesserung der Argumentationspraxis. Paul Lorenzen spricht dabei vom vernünftigen Argumentieren, das durch die »Transsubjektivität« des Ar‐
gumentierenden bestimmt sein soll. Alle diese um Diskurs‐Universalismus bemühten philosophischen Posi‐
tionen vertreten die These, daß alle Völker a priori auf gemeinsame Erfah‐
rungen angewiesen seien, man müsse ihnen lediglich zu dieser Erkenntnis verhelfen. So glauben sie zu zeigen, wie die verschiedenen Völker zu einer einheitlichen Auffassung von Vernunft trotz ihrer divergenten Vorstellun‐
gen von Werten und Normen kommen könnten. Sie scheinen allerdings zu übersehen, daß diese Fähigkeit, die den Menschen zur Einsicht ihrer ratio‐
nalen Gemeinsamkeiten verholfen haben, nicht naturgesetzlich bestimmt, sondern erst durch die verstärkten Begegnung mit anderen Kulturen durch Erziehung, Bildung, Medien, Gastronomie, Reisen, Sport‐ und Musikver‐
anstaltungen etc. bedingt ist. Dieses Vermögen, andere Lebens‐ und Denkweisen in sich zu integrieren und zu vereinigen, bestimmt das Wesen des heterokulturellen Menschen. Die Heterokultur ist mithin eine emotionale und zugleich rationale Kraft, die jeden Menschen dazu treibt, die Nähe zu jedem Anderen ohne Rück‐
sicht auf dessen Herkunft zu suchen. Aufgrund ihrer heterokulturellen Eigenschaft fällt es den Menschen heute viel leichter, eine religiöse, politi‐
sche und ökonomische Allianz jenseits aller geographischen und kulturel‐
len Grenzen zu bilden. Will die interkulturelle Philosophie eine wahrhaft globale Ethik der Vielfalt realisieren, der alle Völker verpflichtet sein kön‐
nen, so sollten ihre Denkmodule für Gesellschafts‐, Rechts‐, Staats‐ und Wirtschaftsordnungen der heterokulturellen Realität der Menschen Rech‐
nung tragen. Literaturangabe: Mabe, Jacob Emmanuel: Zur Theorie und Praxis interkultureller Philosophie, in: Interkulturalität. Diskussionsfelder eines umfassenden Begriffs, hrsg. v. Hamid Reza Yousefi und Klaus Fischer, Nordhausen 2010 (35‐52). 51
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