Vorlesung: Einführung in die Politische Philosophie WS 2012/13

Werbung
Vorlesung: Einführung in die Politische Philosophie
WS 2012/13
Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin, 8.Vorlesung (04.12.2012)
Die Kommunitarismusdebatte*
Historische Einordnung

Auch wenn der Kommunitarismus als eine besonders in den USA bedeutsame Strömung
der politischen Philosophie, die sich in Reaktion auf Rawls Theory of Justice gebildet und
in den 80er Jahren ihren Höhepunkt erreicht hat, nicht auf eine lange
Entwicklungsgeschichte
zurückblicken
kann,
spiegelt
sich
in
der
Kommunitarismusdebatte doch der in der abendländischen Philosophie immer wieder
auftretende und mit unterschiedlichen Begriffen bezeichnete Gegensatz zwischen
Gemeinschaftszugehörigkeit einerseits und (methodologischen) Individualismus sowie
Liberalismus andererseits. Die entsprechenden Ansätze der politischen Philosophie lassen
sich dabei allerdings nicht immer eindeutig in dieses Schema einordnen.
??????????Während Aristoteles von einer staatsspezifischen Identitätsprägung ausgeht
und sich für eine (sogar strafrechtlich sanktionierte) verpflichtende Teilnahme an
zivilreligiösen Riten ausspricht und ganz grundsätzlich die Bestimmung dessen, was für
den einzelnen gut ist, für leichter hält, wenn bereits klar ist, was gut ist für die Stadt, in der
er lebt, und somit klar dem Gemeinschaftszugehörigkeit als identitätsstiftend ansehenden
(in heutiger Terminologie) kommunitaristischen Lager zuzurechnen wäre, weist Platons
politische Philosophie sowohl kommunitaristische wie individualistische Züge auf.

Die Parallelen zu Positionen, die bereits zu einem früheren Zeitpunkt zu diesem
Themenkreis vertreten wurden, sind dabei allerdings nicht allen Teilnehmern der
amerikanischen Kommunitarismusdebatte bewusst. Unabhängig von der Frage konkreter
und expliziter historischer Bezüge, lassen sich kommunitaristische Merkmale vor allem
auch bei dem häufig als „Vater des Konservatismus“ bezeichneten irisch-britischen
Politiker, Schriftsteller und Staatsphilosophen Edmund Burke (1729 -1797) finden, der im
Gegensatz zum Liberalismus der Vertragstheoretiker der Aufklärung anstelle des (seiner
Auffassung nach) ahistorischen und isolierten Individuums die Gemeinschaft und die
Geschichte in den Fokus rückt und die Tradition über die Vernunft stellt.

Auch die Geschichtsphilosophie Hegels enthält bereits viele der später von
Kommunitaristen geäußerten Gedanken. So besteht im Rahmen seines historistischen
*
Zusammengestellt von Klaus Staudacher. Siehe für eine sehr übersichtliche Zusammenfassung der
Kommunitarismusdebatte: Schwabe, Christian, Politische Theorie 2. Von Rousseau bis Rawls, Paderborn 20102,
148 – 179; vgl. außerdem den von Axel Honneth herausgegebenen Sammelband: Kommunitarismus: Eine
Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1995; siehe auch online den
folgenden
Beitrag
in
der
Stanford
Enzyclopedia
of
Philosophy:
http://plato.stanford.edu/entries/communitarianism/
1
Ansatzes zwar anders als bei Burke kein Gegensatz zwischen Tradition und Vernunft; da
die Tradition jedoch selbst vernünftig ist, ist sie selber das entscheidende Kriterium, um
zu beurteilen, ob etwas vernünftig ist. Zugleich wird bei ihm das Individuum als
organischer Teil der Gemeinschaft aufgefasst, und zwar genau der Gemeinschaft, die in
der jeweiligen Geschichtsepoche besteht 1 . Im weiteren Verlauf der deutschen
Geistesgeschichte wurde vor allem auf soziologischer Ebene eine Debatte mit der
Gegenüberstellung: Gemeinschaft und Gesellschaft2 geführt. Vor und während des Ersten
Weltkriegs wurde dann ‚deutsche Kultur’ gegen ‚westlich-französische Zivilisation’ in
Stellung gebracht: die der deutschen Kultur dieser Rhetorik nach eigenen literarischen,
musikalischen und philosophischen Höchstleistungen bedürfen keiner Demokratie, um
hervorgebracht zu werden, und sind auch höher zu bewerten als freies Wahlrecht und
demokratische Legitimation.
Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus am Beispiel einzelner Autoren

Wenn im Folgenden die kommunitaristische Kritik am Liberalismus und insbesondere an
Rawls als dessen prominentesten zeitgenössischen philosophischen Repräsentanten,
jeweils kurz anhand der Beiträge einzelner Autoren dargestellt wird, ist zu bedenken, dass
„der Kommunitarismus“ keine fest umrissene Theorie und noch viel weniger eine
geschlossene Schule politischen Denkens darstellt. Auch ist der spezifisch amerikanische
Kontext der Debatte von Bedeutung 3 . Weiterhin ist zu beachten, „dass im Grunde
genommen alle kommunitaristischen Kritiker des Liberalismus mit diesen gleichwohl die
Grundwerte der freiheitlichen Demokratie teilen: Diese soll nicht durch antiliberale
1
vgl. dazu Skirbekk, G., Gilje, N., Geschichte der Philosophie. Eine Einführung in die europäische
Philosophiegeschichte, Band 2, Frankfurt a. M. 1993, 591 – 594.
2
So der Titel des grundlegenden 1887 erschienen Werkes des Historikers und Soziologen Ferdinand Tönnies
(1855 - 1936). Ihm zufolge umfasst die Gemeinschaft alle Arten von sozialen Zusammenschlüssen, die sich - wie
vor allem die Familie, aber auch freundschaftliche und nachbarschaftliche Bindungen - „durch ein hohes Maß an
persönlicher Intimität, emotionaler Tiefe, moralischer Verpflichtung, sozialem Zusammenhalt und Dauer
auszeichnen“ (Skirbekk, G., Gilje, N., Geschichte der Philosophie. Eine Einführung in die europäische
Philosophiegeschichte, Band 2, Frankfurt a. M. 1993, 767) . Demgegenüber stehe die Gesellschaft für
Beziehungen, die von einem hohen Grad an Individualismus, Egoismus, Zweckrationalität und
Nutzenkalküldenken geprägt ist. Trotz dieser negativen Charakteristik der Gesellschaft war Tönnies als
Befürworter der Arbeiterbewegung, Kritiker des wilhelminischen Obrigkeitsstaates und später auch des
Nationalsozialismus, Sozialdemokrat (seit 1930) und Mitglied der Liga der Menschenrechte (siehe dazu:
http://www.uni-kiel.de/ns-zeit/bios/toennies-ferdinand.shtml) allerdings keineswegs reaktionär.
3
vgl. dazu Schwabe, Christian, Politische Theorie 2. Von Rousseau bis Rawls, Paderborn 20102, 157, der dort
darauf verweist, dass sich „das Lob der ‚communities’, der lokalen, nachbarschaftlichen Gemeinschaften, das
Ideal der ‚grass-root-democracy’, die dahinter stehende Idee und Mentalität der Selbstorganisation [und] auch
die Skepsis gegenüber bürgerfernen politischen Institutionen […] nicht einfach auf andere gesellschaftliche
Kontexte und Traditionen übertragen lässt“. So gehe etwa der - eben erwähnte - und „in Deutschland bis zur
Mitte des 20.Jahrhunderts äußerst einflussreiche Diskurs über die Dichotomie von Gemeinschaft und
Gesellschaft […] von einem ganz anderem Gemeinschaftsbegriff aus“ (ebd.). In der Vorlesung wurde in diesem
Zusammenhang auf die 1985 von Robert Bellah veröffentlichte Studie: „Habits of the Heart. Individualism and
Commitment in American Life“ verwiesen, die das Bild einer in großem Selbstbetrug lebenden usamerikanischen Gesellschaft zeichnet: Das nach außen hin prägend und dominant erscheinende Konzept eines
liberalen und weitgehend dezentral organisierten Minimalstaates, in dem bei Betonung der individuellen
Verantwortung der Sozialstaat auf das allernötigste beschränkt ist, und so viel freier Markt herrscht wie möglich,
steht in auffälligen Kontrast zu dem Befund, dass die Mehrheit der Befragten Gemeinschaft, Familie, sozialen
Zusammenhalt und Religion als die für sie entscheidenden Werte und Strukturen benannt hat.
2
Alternativen ersetzt, sondern durch ein besseres Verständnis ihrer Grundlagen und
Voraussetzungen gerade erhalten bleiben“4.

Michael Sandel (* 1953), durch dessen Liberalism and the Limits of Justice (1982) der
Begriff “kommunitaristisch“ weite Verbreitung findet, ist der erste, der das Problem des
atomisierten liberalen Individuums umfassend herausarbeitet. Zentraler Begriff ist für ihn
dabei das unencumbered self, ‚das nicht eingebettete, ungebundene, frei schwebende
Selbst’. Erst die Einbettung in eine Gemeinschaft macht für ihn Identität aus. Des
Weiteren werden Personen erst durch ihre Ziele konstituiert. Wie aber lassen sich dann
überhaupt Personen vorstellen, die sich im rawls’schen Urzustand, in dem sie ja nichts
über ihre persönlichen Ziele wissen, von diesen sie ja erst konstituierenden Zielen
distanzieren müssen. Und warum sollten sie sich im Urzustand als rein individuelle
rationale Risiko-Minimierer ohne jegliche gesellschaftliche Bindung für das
Differenzprinzip entscheiden, das als Teilungsprinzip Solidarität mit den am schlechtest
Gestellten fordert. Für Sandel setzt der Liberalismus damit Grundsätze und einen
Gemeinschaftssinn voraus, den er selber aber gar nicht zu begründen vermag, und
vielleicht sogar untergräbt.
Gegen Sandels Argumentation lässt sich einwenden, dass Rawls Gedankensexperiment
des durch den „Schleier des Nichtwissens“ charakterisierten Urzustands die normative
und eben nicht rein zweckrational begründete These zugrunde liegt, dass genau diejenigen
Prinzipien gerecht sind, die unter den fairen Bedingungen der Entscheidungssituation
beschlossen werden. Überdies haben die Teilnehmer im Urzustand durchaus Kenntnis
über ihre möglichen Ziele bzw. Lebenspläne und sie wissen zudem, das bestimmte
Grundgüter (primary goods) erforderlich sind, damit diese Lebenspläne verwirklicht
werden können5.

4
5
Eine radikale Kritik nicht nur des Liberalismus, sondern auch der Aufklärung und
überhaupt der gesamten Moderne formuliert Alasdair MacIntyre (* 1929) in seinem
1981 erschienen Buch After Virtue . MacIntyre, der zunächst überzeugter Maoist war und
sich dann aber zu einem der wichtigsten Vertreter konservativ-katholischen Denkens
gewandelt hat, prangert darin gleichsam in einer Paraphrase der Nikomachischen Ethik
den vollständigen Verlust einer jedwede Moralität erst ermöglichenden gemeinsamen
kulturellen Praxis an. Ganz im Sinne Aristoteles geht er davon aus, dass Werte immer nur
praxisinhärent sind und nie erst aus einer Theorie heraus entwickelt werden; jede
Handlung und jede Praxis offenbart Werte, so dass es zu einem permanenten
„valuing“ (‚Bewerten’) kommt. Da eine gemeinschaftliche Praxis in Form einer
weitgehend geteilten Religion oder Weltanschauung verloren gegangen sei, hängen unsere
Praxis und die zu sehr auf subjektivistischen und individualistischen Grundsätzen
basierende Theorie nicht mehr eng genug zusammen. Da die Praxis selbst inkohärent und
unübersichtlich geworden sei, verstünden wir unsere eigene Praxis nicht mehr.
Nimmt man MacIntyres Kritik ernst und erblickt im Fehlen einer gemeinschaftsstiftenden
Religion oder Weltanschauung ein tatsächlich grundlegendes Übel, dann erhebt sich
allerdings die (angesichts der jüngsten Entwicklung in Ägypten aber auch im Hinblick auf
Schwabe a.a.O.
siehe hierzu auch die kurze Behandlung der kommunitaristischen Kritik an Rawls im 6.Skript.
3
die politischen Verhältnisse im Iran sicherlich nicht rein akademische) Frage, ob
MacIntyre wirklich Theokratien den westlichen liberalen Demokratien vorziehen würde.

Ganz anders als MacIntyre geht Michael Walzer (*1935) in seinem Werk Spheres of
justice (1983)6 nicht von einem einheitlichen Gesellschaftsbild aus. Gesellschaften seien
viel zu komplex, als dass sich das in ihnen jeweils wirksame normative Gefüge auf
wenige Regeln zurückführen ließe. Zentral ist in seinem Ansatz dabei der Begriff der mit
Rechten und Pflichten verbundenen membership (‚Gemeinschaftszugehörigkeit’). In einer
membership-Analyse kommt Walzer zu dem Schluss, dass die Anforderungen und
Rahmenbedingungen, um in einer bestimmten Gemeinschaft – sei es nun ein Staat, ein
Verein oder eine andere Art von Zusammenschluss – Mitglied zu sein, überaus vielfältig
und damit nicht universell, sondern partikular sind. Daraus ergibt sich für Walzer nicht
nur, dass die von der jeweiligen Gemeinschaftszugehörigkeit konstituierten Rechte und
Pflichten ihrerseits nicht universell sind, sondern auch, dass ein einfacher und
reduktionistischer Gerechtigkeitsbegriff, der nur auf einem und wenigen Prinzipien basiert,
gar nicht möglich ist. Vielmehr können durchaus unterschiedliche membership-Regeln
gleichermaßen legitim sein.
Walzer versteht seine Konzeption dabei als Korrektiv und nicht als Alternative zum
Liberalismus.

Der kanadische Philosoph Charles Taylor (*1931) ist anders als die meisten anderen dem
Kommunitarismus zugerechneten Autoren mit den in der Philosophiegeschichte
vertretenen Vorläuferpositionen zum Kommunitarismus sehr gut vertraut 7 . Er steht
politisch eher links und hat sich im kanadischen Parlament für die französische
Minderheit engagiert.
Taylors Kritik am Liberalismus richtet sich explizit nicht gegen dessen zentralen Werte
Freiheit und Gleichheit. Sein Grundeinwand lautet vielmehr, dass der Liberalismus, so
wie er von seinen Anhängern vertreten wird, auf einer unzutreffenden Anthropologie, oder
zumindest auf einem ergänzungsbedürftigen Menschenbild basiert. Das sowohl für die
neuzeitlichen Vertragstheorien von Hobbes und Locke als auch für das moderne politische
Denken bis Rawls und Nozick charakteristische Menschenbild gehe nämlich von einem
Individuum aus, das aus allen sozialen Verpflichtungen herausgerissen sei und primär an
den eigenen Nutzen denke8. Bei all diesen „atomistischen“ Ansätzen sei die Gesellschaft
lediglich Mittel zum Zweck der Erfüllung von Zielen, die nur rein individualistische (und
6
Walzer ist neben seiner Liberalismuskritik vor allem durch sein heute als Klassiker geltendes Buch Just and
unjust wars von 1977 bekannt. Die Kritik am Liberalismus ist bei Walzer nicht nur philosophisch, sondern auch
politisch motiviert. Dass es der Reagan-Administration gelungen war, Marktradikalität und Familienwerte
wählerwirksam zu verbinden, ließ in ihm die Überzeugung reifen, dass auch gesellschaftspolitisch eher linke
Projekte, wie der von ihm geforderte nach europäischem Modell zu organisierende Wohlfahrtsstaat, einer auf
Gemeinschaftswerte abstellenden Basis bedürfen, wenn sie beim Wähler auf Akzeptanz stoßen sollen. - Da
seiner Meinung nach der Begriff des Kommunitarismus häufig kulturrelativistisch verstanden wird, will Walzer
ihn nicht als Bezeichnung für seine Position heranziehen.
7
vgl. vor allem seine 1975 veröffentlichte Hegelmonografie (dt.: Hegel, Frankfurt a. M. 1983), die insbesondere
in den angelsächsischen Ländern auf große Resonanz gestoßen ist. Als weitere bedeutende Werke dieses Autors
wurden in der Vorlesung genannt: Human agency and language. Philosophical Papers1, Cambridge 1985;
Philosophy and the human sciences. Philosophical papers 2, Cambridge 1985; Sources of the Self: The Making
of Modern Identity. Harvard University Press 1989 (dt.: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen
Identität, Frankfurt a. M. 1994)
8
vgl. dazu Schwabe (siehe oben:*), 159 f.
4
nicht kollektive, die Gesellschaft als Ganzes betreffende) Anliegen zum Inhalt haben; die
Individuen haben Rechte unabhängig von der erst durch sie konstituierten Gesellschaft.
Daher postulierten solche Theorien auch einen Primat des Rechten vor dem Guten.
Tatsächlich gehe die individuelle Identität aber erst aus der kollektiven hervor. Der
Atomismus verfehle daher „die Art und Weise, wie Menschen leben und ihre Welt
erfahren und interpretieren, wie den Dingen die Bedeutung zukommt, die sie für die
Menschen haben – kurz: wie der Mensch zu Person wird“9. Dabei stehe vor der Frage
„Was soll ich tun?“ die Frage nach der eigenen Identität: „Wer bin ich?“ Dieser zunächst
nur rein ontologische Befund sei nun aber auch in normativer Hinsicht relevant, denn bei
diesem Prozess der Identitätsfindung gehe es eben zunächst nicht um die liberalen Fragen
der Gerechtigkeit, sondern darum, was ein Leben sinnvoll und lebenswert macht, also um
Fragen des guten Lebens. Anders als Rawls vertritt Taylor daher einen Primat des Guten
vor dem Rechten.
Taylors Zurückweisung des atomistischen Menschenbildes der neuzeitlichen
Vertragstheorien ist, wie bereits angedeutet, nicht so zu verstehen, dass damit auch die
Freiheit des Einzelnen und seine Rechte in Zweifel gezogen werden sollen. Der
Liberalismus müsse jedoch lernen „daß eine demokratische Gesellschaft eine allgemein
anerkannte Definition des guten Lebens benötigt“10 und dass ein freies Individuum seine
Identität nur innerhalb einer Gesellschaft oder bestimmten Kultur bewahren kann, und
deshalb die gesamte Struktur und Verfasstheit dieser Gesellschaft bzw. Kultur auch für
das einzelne Individuum von zentraler Bedeutung sind. Würde sich der Liberalismus in
dieser Weise seiner eigenen ontologischen Grundlagen bewusst werden, „würde er auch
besser erkennen, welche Gefahren seinem liberalen Gemeinwesen drohen – und welche
Gegenstrategien angezeigt erscheinen“11.

Rawls kommt seinen Kritikern teilweise recht weit gehen, indem an die Stelle des
ursprünglich universalistischen Anspruchs zumindest teilweise eine kontextuelle
Argumentation zu treten scheint 12 . Angesichts eines seiner Meinung nach
unüberwindlichen Pluralismus von Vorstellungen vom Guten, dem jede moderne
politische Theorie Rechnung zu tragen habe, hält er zwar gegen seine
kommunitaristischen Kritiker am Primat des Rechten vor dem Guten fest. Rawls betont
aber jetzt doch stark den Zusammenhang zwischen den Traditionen und Kontexten, in
denen wir aufgewachsen sind, und unseren Vorstellungen von Gerechtigkeit. Aufgabe
politischer Theorie ist für ihn nun vor allem die Artikulation und Klärung verbreiteter
Überzeugungen und Gewissheiten unserer Tarditionen bzw. Kultur, in seinem Fall: der
westlichen Kultur der Menschen- und Bürgerrechte.
9
Schwabe (*), 160.
Taylor, Charles, “Aneinander Vorbei: Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus”, in
Honneth, Axel (siehe oben: *), 104.
11
Schwabe (*), 163.
12
Siehe zu diesem Aufzählungspunkt vor allem: Rawls, John, Politischer Liberalismus, Frankfurt a. M. 1998;
ders., Geschichte der Philosophie, Frankfurt a. M. 2008. Siehe auch ders., Kantian Constructivism in Moral
Theory, in ders., Collected Papers. Edited by Samuel Freeman, Cambridge/London 1999, 303 – 358; ders.,
Gerechtigkeit als Fairness – Ein Neuentwurf, Frankfurt a. M. 2003.
10
5
Gegen Ende der Vorlesung wurde die Frage aufgeworfen, inwieweit der Liberalismus die
kommunitaristischen Einwände in seine Theorie integrieren und für sich fruchtbar machen
sollte.

Amy Gutmann hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass, wenn die
Kommunitaristen ihre eigenen Argumente ernst nähmen, ihre Kritik am Liberalismus auf
fragwürdiger Grundlage erfolgt. Denn die (amerikanische und im weiteren Sinn westliche)
Gesellschaft, aus der heraus die kommunitaristische Kritik formuliert wird, ist selber
durch und durch liberal strukturiert. Das bedeutet aber, dass nach den eigenen Maßstäben
der Kommunitaristen die liberalen Werte gar nicht in Frage gestellt dürfen, ja
möglicherweise nicht einmal in Frage gestellt werden können13.
Unabhängig von diesem Einwand lässt sich durchaus einräumen, dass der von den
neuzeitlichen Vertragstheorien zugrundegelegte methodologische Individualismus im
Hinblick auf die soziale Wirklichkeit nicht adäquat erscheint. Es gibt eben nicht nur
individuelle, sondern auch kollektive Absichten. Tatsächlich ist sogar eine Vielzahl sozialer
Phänomene dadurch gekennzeichnet, dass Menschen Absichten und Überzeugungen
miteinander teilen, gemeinsam handeln und auch gemeinsame Praktiken sowie soziale
Institutionen etablieren14.
In diesem Zusammenhang spielt auch das Phänomen der in der Demokratie tatsächlich
praktizierten (hier also nicht nur normativ postulierten) und eben nicht auf der Maximierung
des Eigennutzens beruhenden Kooperation eine bedeutende Rolle15. Lebendige Demokratie
funktioniert nur, wenn diejenigen, die bei einer Abstimmung unterlegen sind, die Umsetzung
der ihren Interessen und Überzeugungen zuwiderlaufenden Entscheidung nicht blockieren
(und zwar auch dann nicht, wenn sie dazu in der Lage wären): Die Kooperation der
Abstimmungsteilnehmer (bzw. Im Falle von Enthaltung oder Nicht-Teilnahme an der
Abstimmung: der Abstimmungsberechtigten) – also z.B. der Abgeordneten des jeweiligen
Parlaments oder der wahlberechtigten Bürger – „ist notwendig, um kollektive Entscheidungen
in kollektive Handlungen zu überführen“16.
Entscheidend an dieser auf der sozialen Wirklichkeit beruhenden und auch in Kenntnis der
kommunitaristischen Kritik erfolgenden Zurückweisung des methodologischen
Individualismus ist nun, dass damit keine Aufgabe des liberalen Politikansatzes verbunden ist,
denn die Berücksichtigung kollektiver Präferenzen und kooperativen Verhaltens bedeuten
keine Einschränkung individueller Freiheit und Gleichheit.
13
Vgl. dazu Gutmann, Amy, Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus, in: Honneth, Axel (siehe oben:*).
Siehe dazu vor allem die Beiträge von Raimo Tuomela und Margret Gilbert, aber auch die übrigen Aufsätze
in: Schmid, H. B., Schweikard, D. P., Kollektive Rationalität, Frankfurt a. M. 2009.
15
Siehe dazu ausführlich Nida-Rümelin, Julian, Demokratie als Kooperation, Frankfurt a. M.; vgl. auch ders.,
Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und politische Ordnung, Paderborn 2009, 205 – 220.
16
Nida-Rümelin, Julian, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und politische Ordnung, Paderborn
2009, 210.
14
6
Herunterladen