Wirksamkeitsvergleiche von Verhaltens- und Psychopharmakatherapie Hans-Christoph Steinhausen Universitäten Aarhus in Aalborg, Basel und Zürich Evidenzbasierung Verhaltenstherapie (VT) und Psychopharmakotherapie (PPT) als die einzigen Therapieformen für psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit hinlänglicher Evidenzbasierung Wirksamkeitsvergleiche als Fragestellung von grosser praktischer Bedeutung Empirische Studienbasis ADHS (+++) Angststörungen (+/-) Depression (++) Zwangsstörungen (+) Steinhausen (2009), in Schneider & Margraf (Hrsg.) Lehrbuch VT, Band 3 ADHS 1 MTA-Studie • N=579 Kinder mit ADHD (kombinierter Typ); Alter 7-9.9 Jahre • randomisierte klinische Studie über 14 Monate - Medikation (Titration) - Verhaltenstherapie (Eltern, Schule, Kind mit graduellem Abbau über die Zeit) - kombinierte Therapie (KOMB = MED + VT) - standard community care (CC) • Ergebnisse - Symptomreduktion unter allen 4 Bedingungen - KOMB, MED > VT, CC - KOMB = MED; bei zahlreichen Vergleichen nur KOMB > VT, CC The MTA Cooperative Group, Arch Gen Psychiatry 56, 1073-1086, 1999 MTA-Studie Symptomatische Normalisierungsraten Normalisation rate (%) 80 68 70 56 60 50 40 30 34 25 20 10 0 Community Care CC Behavioural Treatment MED MED + Behavioural Treatment Swanson et al 2001 MTA-Ergebnisse • VT (N= 60) in Sommer-Therapie-Programm vs. KOMB (N=57). KOMB > VT in 5/30 Evaluationsmerkmalen. In der Hauptstudie KOMB > VT in allen Merkmalen. MED erzielte keine grossen zusätzlichen Effekte bei aktiver und intensiver VT. • Angststörung als Prädiktor und Verlaufsvariable. ANX+ bei 33 % der Pbn., bei 2/3 komorbid mit CD/ODD. ANX+ profitierte von VT-Komponente und hatte keine neg. Effekte auf Medikationswirkung. • Reduktion von neg. Elternverhalten und Familienstress. VT, MED, KOMB > SCC • Reduktion von neg./ ineff. Disziplin: KOMB, VT > CC Pelham et al.(2000) J. Abn. Child Psychol 2 MTA-Kommentare • Design-Entscheidungen: (1) fixe Dosis VT vs. variable Dosis MED, (2) Ausschleichen der VT vs. Fortsetzung der MED vor Outcome - Messung, (3) nicht vollständig valide VT-Ansätze. • Zusätzliche Effekte von KOMB sind bedeutsam für die Entwicklung. • Hohe Kosten des VT-Programms. E. Taylor, Arch. Gen. Psychiatry 56, 1097-1099, 1999 MTA-Kommentare • Grosse, heterogene Stichprobe, ‘state of the art‘ Therapie, lange Behandlungsperiode, ausgiebige Dokumentation von Therapie-Manualen, Monitoring der Therapie • Prädisposition für MED > VT: Outcome-Messung 4 - 6 Mo nach VT- Ende, während MED fortgesetzt wurde • Klinische Implikationen - VT ist effektiv bei ADHD - KOMB ist üblicherweise überlegen - Gleichzeitige VT gestattet niedrigere MED-Dosis W.E. Pelham, Can. J. Psychiatry, 44, 981-990, 1999 MTA-Kommentare • Mangelnde theoretische Begründung der VT. Therapie nach der Annahme, dass ADHD ein Ergebnisse von fehlerhaftem Lernen sei. Die Probleme könnten genauso gut das Ergebnis einer Fehlentwicklung hinsichtlich kognitiver Fertigkeiten, motivationaler Defizite etc. sein. Die beeinflussten Umweltfaktoren sind wahrscheinlich nicht die basalen Ursachen. • Hingegen können die komorbiden Störungen (ODD/CD) mindestens teilweise das Ergebnis von fehlerhaften Lernprozessen und Umweltkontingenzen sein. R. Barkley. J. Abn. Child Psychology, 28, 595 - 599, 2000 3 MTA-Kommentare • VT ist nicht notwendigerweise effektiver als Information und Aufmerksamzuwendung für Familien. Fehlende Gruppe mit entsprechender Zuwendung ist ein methodisches Defizit. • Aufwand der MTA in Praxis nicht umsetzbar. • Statt der Gruppeneffekte müssen Daten über Anzahl von Pbn mit Veränderungen (Verbesserungen und Verschlechterungen) dokumentiert werden. R. Barkley. J. Abn. Child Psychology, 28, 595 - 599, 2000 MTA-Sekundäranalysen Analyse der VT-Ergebnisse nicht nach 14 Monaten, sondern nach 9 Monaten während (statt nach) der aktiven Behandlung KOMB, MED > VT, CC Bei komorbider ANX bzw. ANX / SSV ist KOMB klinisch indiziert March et al.(2000) JACP, Jensen et al.(2001) JAACAP, Arnold et al.(2004) JACP MTA-Verlauf nach 24 Monaten Wirksamkeit Verschlechterung unter KOMB / MED, aber nicht unter VT / CC MTA Cooperative Group, Pediatrics 113, 754-761, 2004 4 MTA-Verlauf nach 36 Monaten Jensen et al. (2007), 3-YEAR FOLLOW-UP OF THE NIMH MTA Study ,JAACAP,46, 989-1002 MTA-Verlauf nach 36 Monaten Diskussion Die Randomisierung endete nach 14 Monaten. Anschliessend wählten die Familien die für sie jeweils beste Therapie. Damit bekamen alle Interventionen relativ gute Ergebnisse. Nach dem Ende der Intensivbehandlung sind die positiven Zusatzeffekte möglicherweise abgeschmolzen, sodass alle Interventionen sich der Standardtherapie annäherten. Das Fehlen einer unbehandelten Kontrollgruppe erlaubt keine Aussage darüber, ob die Interventionen besser sind als keine Behandlung. MTA-Verlauf nach 8 Jahren 5 MTA-Verlauf nach 8 Jahren Molina et al.(2009) JAACAP MTA-Verlauf nach 8 Jahren In nahezu jeder Analyse unterschieden sich die ursprünglich randomisierten Gruppen nicht signifikant. Der Einsatz von Medikation fiel um 62% nach den ersten 14 Monaten. Dieser Faktor ist für die Ergebnisse bedeutungslos. Die MTA-Teilnehmer schnitten bei 91% der untersuchten Variablen schlechter als die lokale Kontrollgruppe ab. Die Art oder Intensität der ADHS-Behandlung in den ersten 14 Monaten erlauben keine Vorhersage des weiteren Verlaufs. Vielmehr ist der Frühverlauf (Schweregrad, +SSV, Intelligenz, soz. Milieu, Ausmass der Sy-Rückbildung auf Therapie per se) unabhängig vom Behandlungstyp prognostisch bedeutsam. Innovative, auf die spezifischen Funktionsdefizite der Jugendlichen ausgerichtete Behandlungsansätze sind erforderlich. CAMT ADHS+OPPOS Normalisierungsraten Verhaltenstherapie (n=37) 11 % Wechsel zu VT 27 % Wechsel zu MED Psychoedukation / Verhaltenstherapie+ Medikation (n=38) Meist nur eine Morgendosis MPH Eltern Lehrer Eltern Lehrer Normalisierungsraten vergleichbar zu MTA Döpfner et al., (2004).ECAP 6 Zusammenfassung und Implikationen ADHS Zwischen VT und PPT bestehen (je nach Bewertung der methodischen Angemessenheit der VT in der MTA unterschiedlich grosse ) Wirksamkeitsunterschiede. Die Intensität der Behandlung in der MTA übersteigt die Möglichkeiten der gewöhnlichen Praxis. Bei speziellen Patienten (ADHS / ANX) sollte wegen der differenziellen Wirksamkeit eine VT-Komponente integriert werden. Adaptive Therapiestudien haben eine grössere ökologische Validität. VT ist klinisch bei vielen Kindern mit ADHS indiziert, speziell wenn PPT in ihren Effekten variabler ist (z.B. Vorschulalter, geistig Behinderte) oder abgelehnt wird. Angststörungen Domäne der VT mit hoher Wirksamkeit der Interventionen in der klinischen Praxis Meta-Analyse von 10 randomisiert-kontrollierten Studien klinischer Angststörungen mit KVT: 56.5% Remissionen am Ende der Behandlung Effektstärke von 0.86 in 24 bis 2005 publizierten Studien mit KVT Grosses Forschungsdefizit bei PPT SSRI am ehesten klinisch im Einsatz Keine vergleichende Therapieforschung Cartwright-Hatton et al.(2004), In-Albon & Schneider (2007) Zusammenfassung und Implikationen Angststörungen KVT ist als einzige Therapieform hinlänglich evidenzbasiert. Hierfür liegen geeignete Therapieprogramme vor. Die Indikation für PPT ist sehr eingeschränkt allenfalls SSRI sind einsetzbar Benzodiazepine sind ausserhalb akuter Behandlungen kontraindiziert. 7 Depression Depression KVT Positive Wirksamkeitsnachweise für psychosoziale Therapien (mehrheitlich KVT) in Meta-Analysen; mittlere bis hohe Effektstärken: 0.72 in kontrollierten prä-post-Vergleichen 0.64 in kontrollierten Verlaufsuntersuchungen 1.14 in unkontrollierten prä-post-Vergleichen 1.26 in unkontrollierten Verlaufsuntersuchungen Effekte bei Jugendlichen > Kindern Effekte tendenziell bei Mädchen > Jungen Michael & Crowley (2002) Depression KVT Niedrigere Effektstärken als bei anderen Störungen Merkmale erfolgreicher Therapien (ES >0.50) Fokussierung auf die Erreichung messbarer Ziele oder Kompetenzerweiterung in selbstbestimmten Bereichen, Psychoedukation hinsichtlich der Depression und ihrer Behandlung Selbstbeobachtung und Registrierung von Zielaktivitäten und Befindlichkeiten durch die Jugendlichen Vermittlung sozialer Beziehungs- und Kommunikationsfertigkeiten Verhaltensaktivation zur Verbesserung der Stimmung Ungenügende längerfristige Stabilität Weisz et al. (2006), McCarthy & Weisz (2007); Pössel & Hautzinger (2006) 8 Depression PPT Gemäss Meta-Analysen moderate Wirksamkeit bei Jugendlichen ES = 0.19 in älteren Studien mit Trizyklika im prä-post-Vergleich Günstigere Effekte unter SSRI (ES bisher nicht berechenbar) Michael & Crowley (2002), Cohen et al. (2004), Cheung et al. (2005) Depression TADS Treatment of Adolescent Depression Study (TADS) Kurzfristige (12 Wochen) und langfristige (36 Wochen) Wirksamkeit von vier Behandlungen für MDD Fluoxetin (FLX); N=109 Kognitive-Verhaltenstherapie (KVT); N=111 FLX und KVT kombiniert (KOMB); N=107 Klinische Behandlung mit Placebo (PL); N=112 Ergebnisse KOMB und FLX waren nach 12 Wochen Akutbehandlung hinsichtlich der Reduktion der Depression effektiver als KVT und PL. TADS (2004) JAMA 292,807-820 Depression TADS ○ Placebo ▲ KVT allein ● Fluoxetin allein ■ Fluoxetin mit KVT 9 Depression TADS Effektstärken nach 12 Wochen KOMB (0.98) > FLX (0.68) > KVT (-0.03) KOMB überlegen vs. PL in 15 von 16 Endpunkten KVT in 14 von 16 Endpunkten FLX in 8 von 16 Endpunkten FLX überlegen vs. KVT in 14 von 16 Endpunkten PL in 7 von 16 Endpunkten Suizidalität verbesserte sich deutlich unter allen Behandlungen, war aber unter FLX doppelt so häufig wie unter KOMB oder KVT. Nutzen-Risikoanalyse: KOMB ist jeder Monotherapie überlegen March et al.(2006) JAACAP 45, 1393-1403 Depression TADS Remissionsraten nach 12 Wochen N=102 (23%) von 439 Jugendlichen KOMB (37%) > FLX (23%), KVT (16%), PL (17%) 71% der Teilnehmenden insgesamt erfüllten die Kriterien für eine MDD nicht mehr. 50% hatten weiterhin Residualsymptome (z.B. Störung von Schlaf, Stimmung, Konzentration oder Erschöpfung) Schlussfolgerung KOMB ist beiden Monotherapien und PL überlegen. Die Gesamtraten der Remission sind niedrig und Residualsymptome sind häufig. Kennard et al.(2006) JAACAP 45, 1404-1411 Depression TADS Langfristige Wirksamkeit und Sicherheit Nach 36 Wochen beschleunigen Therapie mit FLX allein oder KOMB die Besserung. Zusätzliche KVT erhöht die Sicherheit der Medikation. Bei einer Risiko-Nutzen-Analyse ist KOMB beiden Monotherapien in der Behandlung der MDD bei Jugendlichen überlegen. The TADS Team (2007) Arch Gen Psych 64, 1132-44 10 Zusammenfassung und Implikationen Depression • • KVT ist wirksam, aber wahrscheinlich nicht dauerhaft genug (bei einer Störung mit Rezidiven und Persistenz) Erst mit den SSRI stellt PPT eine Indikation dar. Kombinations- und medikamentöse Behandlungen sind hinsichtlich Sicherheit und Wirkungseintritt möglicherweise dem ausschliesslichen Einsatz von KVT überlegen. Im längerfristigen Einsatz verschwinden die Wirksamkeitsunterschiede der einzelnen Interventionen. Zwangsstörungen Zwangsstörungen KVT Etablierte Behandlungsform, speziell ExpositionsReaktions-Verhinderung (ERP) Studien zur Wirksamkeit vielfach durch gleichzeitige PPT konfundiert Ungenügende symptomatische Besserung bei zahlreichen Patienten wegen Komplexität der Störung (Chronifizierung, komorbide Störungen, fehlende Compliance, familiäre Rahmenbedingungen) 11 Zwangsstörungen PPT Indikation für Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Clomipramin und SSRI Augmentationsbehandlung mit Antipsychotika Zwangsstörungen POTS Pediatric OCD Treatment Study (POTS) 112 Patienten im Alter von 7-17 Jahren aus drei USamerikanischen Universitätszentren erhielten entweder KVT , den SSRI Sertralin , die Kombination dieser beiden Interventionen oder Placebo Alle drei aktiven Interventionen waren der Placebo-Bedingung signifikant überlegen. Die Kombinationsbehandlung war signifikant besser als KVT und Medikation jeweils allein (aber nur 15 % besser!). Die klinische Remissionsrate betrug für die Kombinationsbehandlung 53.6 %, für KVT 39.3 %, für Sertralin 21.4 % und für Placebo 3.6 %. Unterschiede der Remissionsraten für die Kombinationsbehandlung und die KVT waren nicht signifikant. Franklin et al. (2003), JCAPsychopharm ; Team (2004), JAMA Zwangsstörungen POTS 12 Zwangsstörungen Cochrane Review zur KVT 4 Studien mit 222 Pbn. POTS –Ergebnisse als beste Quelle für die Wirksamkiet von KVT Auf der Basis der gemeinsamen Daten von 2 Studien gibt es keine sign. Unterschiede zwischen VT/KVT und PPT KOMB ist isolierter PPT überlegen, aber nicht VT/KVT O‘Kearney et al.(2006) Cochrane Database of Systematic Reviews, Issue 4 Zusammenfassung und Implikationen Zwangsstörungen Als Start der Behandlung werden KOMB oder KVT empfohlen. Umsetzbarkeit in der Praxis? PPT wird bei jungen Kindern nur zurückhaltend praktiziert. Negative Einstellung der Familien zu PPT kann den Einsatz in der Praxis begrenzen. Schlussfolgerungen VT und PPT haben für einige psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters überzeugende Wirksamkeitsnachweise erbracht. Zu ihnen liegen als einzigen Therapieformen für diese Störungen auch Studien zur differenziellen Wirksamkeit vor. Diese Befunde liefern wertvolle Grundlagen für klinische Behandlungsentscheidungen. Deren Umsetzung hängt wesentlich von der Verfügbarkeit kompetenter Therapeuten und ihrer Kooperationsbereitschaft ab. 13