VORLESUNG „SOZIALSTRUKTURANALYSE“ 12 Ι HABITUS WS 2016/17 16. Januar 2017 UND (ALLTÄGLICHE) LEBENSFÜHRUNG Prof. Dr. Stephan Lessenich Ι Institut für Soziologie Lehrstuhl „Soziale Entwicklungen und Strukturen“ Sozialstrukturanalyse: Das Vorlesungsprogramm • I – Sozialstrukturanalyse als politische Soziologie sozialer Ungleichheit 1 – Sozialstruktur 2 – Soziale Ungleichheit 3 – Sozial-Politik • II – Sozialstruktur und Strukturkategorien sozialer Ungleichheit 4 – Demographie & 5 – Strukturkategorie Alter (age) 6 – Haushalte & 7 – Strukturkategorie Geschlecht (gender) 8 – Erwerbstätigkeit & 9 – Strukturkategorie Klasse (class) 10 – Bildung & 11 – Strukturkategorie Ethnizität („Rasse“ – race) • III – Reproduktion sozialer Ungleichheit: Strukturen und Mechanismen 12 – Struktur und Handeln I: Habitus und (Alltägliche) Lebensführung 13 – Struktur und Handeln II: Soziale Schließung und Ausbeutung • IV – Sozialstruktur und soziale Ungleichheit jenseits der Nationalgesellschaft 14 – Europäisierung/Transnationalisierung der Sozialstruktur? 15 – Globale soziale Ungleichheiten Ethnizität und „Integration“: Zur Ethnifizierung sozialer Ungleichheit • • „Index zur Messung der Integration (IMI)“ des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung (2009) Studie zur „Lage der Integration in Deutschland“ auf der Basis des Mikrozensus 2005: „Eine unzureichende Integration verursacht brisante Probleme, deren Folgen die Gesellschaft lange ausgeblendet hat. Im Fokus stehen dabei nicht jene Millionen von Migranten, die einer Arbeit nachgehen, ihre Kinder zur Schule schicken und brave Steuerzahler sind. Diese Menschen sind – ob mit oder ohne deutschen Pass – längst normale Bürger des Landes geworden, also tragender Teil der Gesellschaft wie die meisten Einheimischen auch. Es geht vielmehr um jene, die offenkundig (noch) nicht in der neuen Heimat angekommen sind. Oft sind sie schlecht ausgebildet, ohne Glauben an die Zukunft, auf dem Weg in Parallelgesellschaften und im schlimmsten Fall der Gemeinschaft gegenüber feindlich gesonnen. Und es geht um jene, die aus (religiöser) Überzeugung an Werten und Vorstellungen festhalten, die nicht mit den Grundlagen der hiesigen Gesellschaft zu vereinbaren sind. … Der IMI ist dazu konzipiert, bestehende Schwierigkeiten in der bisherigen Zuwanderungssituation offen zu legen und besonders problematische Gruppen zu identifizieren.“ (Berlin-Institut 2009:4-5) • Unterscheidung von 8 Herkunftsgruppen („Aussiedler,“ „Türkei“, „Südeuropa“, „ehemaliges Jugoslawien“, „weitere Länder der EU-25“, „Ferner Osten“, „Naher Osten“, „Afrika“) - Ergebnis: „Die Herkunft entscheidet über den Integrationserfolg“ (Berlin-Institut 2009:7) Lessenich I VL Sozialstrukturanalyse I 11 Strukturkategorie Ethnizität (race) I Folie 9 Ethnizität und „Integration“: Zur Ethnifizierung sozialer Ungleichheit • • • • • • Bildung von 15 Integrationsindikatoren aus den Bereichen „Assimilation“ (z.B. „Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft“), „Bildung“ (z.B. „Akademiker“), „Erwerbsleben“ (z.B. „Beschäftigte im öffentlichen Dienst“) und „Absicherung“ (z.B. „Abhängigkeit von öffentlichen Leistungen“) … … und Bewertung jeweils „auf einer Skala von eins – ‚missglückte Integration‘ – bis acht – ‚gelungene Integration‘“ (Berlin-Institut 2009:28) Vergleich mit „deutschen“ Werten als Maßstab: „Von erfolgreicher oder gelungener Integration wird hier … erst dann gesprochen, wenn Migranten sich in allen Bereichen dem Durchschnitt der Einheimischen annähern.“ (Berlin-Institut 2009:10) „Ethnische Buchführung“ (Bös 2008:66) – mit offensivem Assimilationsimpuls („Herkunft Türkei: Schon lange im Land – und noch immer nicht angekommen“, Berlin-Institut 2009:36) „IMI“ als ein wissenschaftlicher Beitrag zur Ethnifizierung sozialer Ungleichheit … … und politisch ist es von der guten Ethnie („Marrokaner holen auf“, Berlin-Institut 2009:48) zur bösen Ethnie nur ein kleiner Schritt: „Die Menschen wollen klare Antworten auf die Frage, wie der Staat … sie zum Beispiel vor Nafris schützt.“ (Bundesverkehrsminister A. Dobrindt, vgl. faz.net v. 5.1.2017) Lessenich I VL Sozialstrukturanalyse I 11 Strukturkategorie Ethnizität (race) I Folie 10 Struktur und Handeln: Die Reproduktion sozialer Strukturen im sozialen Handeln • Erinnerung: Giddens‘ „Theorie der Strukturierung“ (oder „Strukturation“) als eine Theorie der durch gesellschaftliche Strukturen strukturierten und diese ihrerseits strukturierenden sozialen Praxis „Human societies, or social systems, would plainly not exist without human agency. But it is not the case that actors create social systems: they reproduce or transform them, remaking what is already made in the continuity of praxis.“ (Giddens 1984:171) „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ (Marx 1852:115) • • • Die moderne Gesellschaft lässt sich vor diesem Hintergrund als ein komplexes Arrangement strukturierter und strukturierender Struktur(en) verstehen … … und auch die „unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten“ Strukturen sozialer Ungleichheit werden – in der nie abbrechenden „Kontinuität der Praxis“ – beständig sozial reproduziert bzw. transformiert … … wobei jeweils das - individuell wie kollektiv – „bearbeitet“ wird und werden muss, was in der Vergangenheit sozial „erarbeitet“ worden ist (z.B. die Bildung ethnischer Gruppen bzw. die Zuschreibung ethnischer Gruppenzugehörigkeit) Lessenich I VL Sozialstrukturanalyse I 12 Habitus und (alltägliche) Lebensführung I Folie 1 Vermittlungsinstanzen der Reproduktion sozialer Strukturen • • Lebensführung, Alltägliche Lebensführung und Habitus als zentrale soziologische Konzepte zum Verständnis des praktischen (alltäglichen wie intergenerationalen) Vermittlungsprozesses von Struktur und Handeln „Lebensführung“ bezeichnet „den analytischen und normativen Fluchtpunkt der Soziologie Max Webers“ (Müller 2016:28) – und: „Lebensführung ist das Scharnier zur Relationierung von Individuum und Gesellschaft.“ (Ebd.) • „Alltägliche Lebensführung“ ist ein in den 1980er Jahren empirisch begründetes und seither beständig weiterentwickeltes Konzept der (Münchner) „subjektorientierten Soziologie“ – und: „eine vermittelnde Kategorie zwischen gesellschaftlichen Bedingungen und individuellem Verhalten“ (Müller & Weihrich 1990:45). • „Habitus“ ist ein Zentralbegriff in Pierre Bourdieus Theorie der Praxis, die auf die Erklärung der Konstitution und Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen zielt - und: „Es ist zweifellos der Habitus, der als Vermittler zwischen Struktur und Praxis dieses Kunststück fertig bringt.“ (Müller 2014:42) • Webers klassisches Konzept der „Lebensführung“ wird in der Soziologie „alltäglicher Lebensführung“ eher subjektbezogen, mit der Kategorie des „Habitus“ eher strukturbezogen ausgedeutet Lessenich I VL Sozialstrukturanalyse I 12 Habitus und (alltägliche) Lebensführung I Folie 2 Das Konzept der „Lebensführung“ im Anschluss an Max Weber • Die Frage nach der Lebensführung von Menschen und nach deren gesellschaftlichen Bedingungen als die Leitfrage der Weber‘schen „verstehenden Soziologie“: „Nur eines ergibt sich zweifellos: Ausnahmslos jede, wie immer geartete Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen ist, wenn man sie bewerten will, letztlich auch daraufhin zu prüfen, welchem menschlichen Typus sie, im Wege äußerer oder innerer (Motiv-)Auslese, die optimalen Chancen gibt, zum herrschenden zu werden.“ (Weber 1917:517) • • • Die je spezifische „Ordnung“ (bzw. institutionelle „Einrichtung“) eines bestimmten gesellschaftlichen Lebensbereichs (z.B. die Ordnung des wirtschaftlichen oder politischen Lebens) prämiert die Konstitution und Reproduktion eines bestimmten „Menschentyps“, befördert die „Herrschaft“ bestimmter Formen der Lebensführung Beispiel: Zusammenhang von modernem Kapitalismus (sprich marktgesellschaftlicher Einrichtung der Wirtschaft) und „methodisch-rationaler“ Lebensführung (also einer „verbetrieblichten“ Form der „Führung“ des Lebens in Orientierung an individuellen „Einkommenserzielungschancen“) Die moderne Gesellschaft ist dann ein komplexes Arrangement von unterschiedlichen Lebensordnungen (Religion, Wirtschaft, Politik, Kunst, Liebe, Wissenschaft) und den ihnen jeweils „entsprechenden“, von ihrer jeweiligen Einrichtung nahegelegten Lebensführungsmustern Lessenich I VL Sozialstrukturanalyse I 12 Habitus und (alltägliche) Lebensführung I Folie 3 Das Konzept der „Lebensführung“ im Anschluss an Max Weber • • Allerdings wird die Lebensführung in einem bestimmten Lebensbereich von dessen Ordnung nicht determiniert – diese wirkt (mehr oder weniger) strukturierend und wird ihrerseits von den tatsächlich gelebten Formen der Lebensführung strukturiert Die ihr Leben führenden Menschen sind keine strikt und allein dem jeweiligen Sinn der institutionellen Vorgaben folgenden Automaten, sondern bestehen auf gewissen Freiheitsspielräumen bzw. nehmen sich entsprechende Freiheiten (mehr oder weniger) eigensinnig heraus: „Die Kultur prägt die Struktur mit und die Person folgt nur insoweit der Institution, als sie die gewünschte Lebensführung eröffnet.“ (Müller 2016:35) • Für empirische Analysen gilt es daher, „den Kompaktbegriff ‚Lebensführung‘ zu dekomponieren“ (Müller 2016:36): „Tatsächlich, so der Vorschlag, sollte man die Lebensführung über ein zweidimensionales Modell zu erfassen suchen, das Gesellschaft und Individuum sowie Sozialstruktur und Kultur kombiniert.“ (Ebd.) • „Lebensführung“ bezeichnet dann den sozialen Komplex gesellschaftlicher Anforderungen, denen die Menschen jeweils auf der Grundlage gegebener Ressourcen mit bestimmten Entscheidungen antworten, die sich in Gestalt beobachtbarer Ausgestaltungen ihres Lebens äußern Lessenich I VL Sozialstrukturanalyse I 12 Habitus und (alltägliche) Lebensführung I Folie 4 Das Konzept der „Lebensführung“ im Anschluss an Max Weber Müller 2016:36 Das Konzept der „Lebensführung“ im Anschluss an Max Weber • Die „Trägergruppen“ bestimmter Formen der Lebensführung sind Weber zufolge nicht „Klassen“ im bloß ökonomischen Sinne (wie bei Marx), sondern je eigene Lebensführungsmuster etablierende und „ständische“ Eigenheiten kultivierende Statusgruppen: „Ständische Vergesellschaftung verweist in Abgrenzung zur Klassenbildung auf einen Vorgang, in dem der Einzelne über seine Familie (Geburtsstand) oder durch Leistungsqualifikationen (Berufsstand) Mitglied einer Gruppe wird …. Jeder Stand verpflichtet seine Mitglieder auf einen rechtlich oder konventionell geregelten Kodex gemeinsamer Lebensführung, der über eine standesgemäße Bildung angeeignet und durch die Pflege der gruppenspezifischen Tradition aufrechterhalten wird. Der Lebensstil einer Statusgruppe als expressive Dimension der Lebensführung hat demnach drei Funktionen: Zunächst stiftet er Identität und markiert Zugehörigkeit; sodann leistet er die symbolische Abgrenzung zu anderen Lebensstilen, was durch ‚selektive Assoziation‘ mittels spezifischem Heirats- und Freundschaftsverhalten unterstützt wird; schließlich dient der Lebensstil häufig zur Schließung sozialer Beziehungen und zur monopolistischen Appropriation von Lebenschancen.“ (Müller 2016:33) • Die Individualisierungstheorie Ulrich Becks behauptete für die Bundesrepublik der 1980er Jahre eine Sozialstruktur „jenseits von Stand und Klasse“ (Beck 1983) – eine Diagnose, die schon damals umstritten war und sich jedenfalls aus heutiger Sicht nicht bestätigen lässt Lessenich I VL Sozialstrukturanalyse I 12 Habitus und (alltägliche) Lebensführung I Folie 5 Das Konzept „Alltägliche Lebensführung“ • „Individualisierung“ und „Subjektivierung“ des Konzepts der Lebensführung: Analytisch geht es hier um … „… [eine] individuelle Bewältigungsleistung …, die auf die aktive Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen ausgerichtet ist und zugleich das Bemühen verrät, dem eigenen Tun einen subjektiven Sinn zu verleihen.“ (Müller & Weihrich 1990:45) „… [die] Vereinbarkeit dessen, was man selber möchte, mit dem, was von einem erwartet oder einem zugemutet wird; mit dem, was – gemessen an bestimmten Standards – notwendig ist; und schließlich mit dem, was einem selbst möglich ist.“ (Kudera 1995:345) • Empirisch beziehen sich Untersuchungen zur „alltäglichen Lebensführung“ auf die von den Subjekten zu leistende und geleistete praktische Organisation des Alltags „als eine besondere Form von Arbeit“ („Arbeit des Alltags“, Jurczyk & Rerrich 1993) • „Alltägliche Lebensführung“ ist mithin ein Praxis-Konzept, aus dessen Perspektive in den Blick kommt, wie eine Person ihre alltagspraktischen Tätigkeiten in unterschiedlichen gesellschaftlichen Lebensbereichen arrangiert – und wie sie sich immer wieder neu mit den differierenden Anforderungen in diesen Bereichen arrangiert: „Mehr noch: Alltägliche Lebensführung ist eine Art und Weise, eine Form, wie diese sozialen Einzelarrangements individuell zu einem funktionierenden Gesamtarrangement verbunden werden. Sie ist das Arrangement der einzelnen Arrangements einer Person.“ (Jurczyk et al. 2016:68) Lessenich I VL Sozialstrukturanalyse I 12 Habitus und (alltägliche) Lebensführung I Folie 6 Das Konzept „Alltägliche Lebensführung“ • • Sozialstrukturanalytisch interessant ist dabei nicht nur, dass der kontinuierlich gebotene Prozess des „alltäglichen ‚Arrangierens‘ mit sozialen Anforderungen und Möglichkeiten“ (Jurczyk et al. 2016:69) durch die jeweilige Position der Person in der gesellschaftlichen Ungleichheitsstruktur mitbestimmt wird, … … sondern auch, dass das jeweilige „System“ alltäglicher Lebensführung (die je persönliche „Lebensordnung“) mit der Zeit eine gewisse Eigenlogik entwickelt: „Eine etablierte Lebensführung steht der Person nicht mehr vollkommen frei zur Verfügung, gehört ihr sozusagen nicht mehr ganz und bekommt ihr gegenüber eine Art ‚Eigenleben‘ – ein Eigenleben, von dem die Person selbst wieder mehr oder weniger abhängig wird.“ (Jurczyk et al. 2016:70) • Gesellschaftshistorisches Beispiel: „Schwerkraft“ der individuellen „Lebensordnungen“ im gesamtgesellschaftlichen Umbruch Ostdeutschlands nach 1989 „In der Folge erwies sich die alltägliche Lebensführung als Restriktion und Ressource für die Auseinandersetzung mit den neuen Bedingungen. … Gleichsam hinter dem Rücken der Person sucht sich die alltägliche Lebensführung den Ort, an dem sie weiter funktionieren kann und wird so, neben den ‚harten‘ Faktoren wie Alter, Geschlecht, Qualifikation oder Branche, zu einer ungleichheitsrelevanten Kategorie.“ (Jurczyk et al. 2016:66) • Zeitdiagnostische Dimension: zunehmende Anforderungen an die Person im Sinne der (weiter) fortschreitenden „Verarbeitlichung des Alltags“ (Jurczyk et al. 2016:81) Lessenich I VL Sozialstrukturanalyse I 12 Habitus und (alltägliche) Lebensführung I Folie 7 Pierre Bourdieus Theorie des „Habitus“ • Die Vorstellung einer „Eigenlogik“ alltäglicher Lebensführung verweist auf einen zentralen Aspekt von Bourdieus Theorie des Habitus als vermittelnder Instanz zwischen Struktur und Handeln: „Die gesellschaftliche Welt ist akkumulierte Geschichte.“ (Bourdieu 1983:183) • Bourdieus Sozialtheorie ist eine Theorie der Praxis – oder genauer, in Anschluss an und Erweiterung von Marx‘ Klassentheorie, eine Theorie der Ökonomie der Praxis: • • • • • Ressourcen werden zu „Kapital“ (bzw. Kapitalien) Klassenkämpfe werden zu Kapitalakkumulations- und -verwertungskämpfen (Alltägliche) Lebensführung wird zu (individuellen) Positionierungsstrategien Lebensstile werden zu Praktiken symbolischer Distinktion Die Ökonomie der sozialen Praxis ist für Bourdieu immer auch eine „historische“: „Auf das Kapital ist es zurückzuführen, daß die Wechselspiele des gesellschaftlichen Lebens, insbesondere des Wirtschaftslebens, nicht wie einfache Glücksspiele verlaufen, in denen jederzeit eine Überraschung möglich ist: Beim Roulette z.B. kann in kürzester Zeit ein ganzes Vermögen gewonnen … werden; im nächsten Augenblick kann dieser Gewinn … bereits wieder aufs Spiel gesetzt und vernichtet werden. … Aber die Akkumulation von Kapital … braucht Zeit. Dem Kapital wohnt eine Überlebenstendenz inne; es kann ebenso Profite produzieren wie sich selbst reproduzieren oder auch wachsen. Das Kapital ist eine der Objektivität der Dinge innewohnende Kraft, die dafür sorgt, daß nicht alles gleich möglich oder unmöglich Lessenich I VL Sozialstrukturanalyse I 12 Habitus und (alltägliche) Lebensführung I Folie 8 ist.“ (Bourdieu 1983:183) Pierre Bourdieus Theorie des „Habitus“ • • • Das „Spiel des Lebens“ ist also – nachdem die „Geburtslotterie“ (vgl. Shachar 2009) gelaufen ist – kein Glücksspiel: die (persönliche) Geschichte bleibt bedeutsam und wirkt fort, schreibt sich in die Gegenwart und Zukunft ein Der „Habitus“ ist für Bourdieu insofern Vermittlungsinstanz zwischen Struktur und Handeln, zwischen dem Raum sozialer Positionen und dem Raum der Lebensstile – sowie ein strukturelles Moment der Fortschreibung der Vergangenheit Unter „Habitus“ versteht Bourdieu im Kern ein bestimmtes, relativ kohärentes System von Denk-, Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata: „Habitus (lat.) oder Hexis (griech.) meint wörtlich das ‚Gehabte‘ … und zielt auf die Gewohnheit oder die Disposition. … Der Habitus ist definiert als System von Dispositionen, die im Alltagsleben als Denk-, Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata fungieren. Dispositionen verweisen nicht auf die Rationalität des Akteurs, wie in den Theorien der rationalen Wahl, obwohl sie praktisch vernünftig, weil der Lebenssituation angepasst sein können. Dispositionen sind aber auch nicht das Gleiche wie Handlungen – sie leiten die Praxis an, determinieren sie aber nicht. … Das System von Dispositionen … verweist auf die Kohärenz des Habitus, … [auf] Konfigurationen des Habitus wie den aristokratischen, bürgerlichen oder proletarischen Habitus nach der Klassenlage … oder den künstlerischen, wissenschaftlichen, politischen oder ökonomischen Habitus nach der Stellung im Feld.“ (Müller 2014:38) Lessenich I VL Sozialstrukturanalyse I 12 Habitus und (alltägliche) Lebensführung I Folie 8 Pierre Bourdieus Theorie des „Habitus“ • Fünf analytische Bestimmungsmerkmale des Habitus (vgl. Müller 2014:42f.): • Inkorporation: Habitus als ein Stück über die Sozialisation „einverleibter Gesellschaft“ bzw. „verinnerlichter Sozialstruktur“ • Unbewusstheit: Als ein auf diese Weise generiertes System von Dispositionen leitet der Habitus unbewusst alltägliche soziale Praktiken an • Strategie: Obgleich unbewusst, folgen die Subjekte im habitualisierten Alltagshandeln doch ihren (positions- und situationsgebundenen) Interessen • Stabilität: Das System von Dispositionen bleibt über die Zeit hinweg weitgehend stabil, selbst bei veränderten Umweltbedingungen • Wandel: Dennoch ist der Habitus kein unabänderliches Schicksal, sondern kann sich aufgrund von neuen Erfahrungen – wenn auch nicht vollständig - wandeln • Alltägliches Handeln in Gesellschaft ist, so gesehen, immer ein habituell vermitteltes, soziale Erfahrungen verarbeitendes Handeln – Erfahrungen … • • • • … … … … (relativer) (relativer) (relativer) (relativer) ökonomischer Chancen oder Chancenlosigkeit sozialer Bevorteilung oder Benachteiligung kultureller Privilegierung oder Diskriminierung symbolischer Aufwertung oder Abwertung Lessenich I VL Sozialstrukturanalyse I 12 Habitus und (alltägliche) Lebensführung I Folie 9 Pierre Bourdieus Theorie des „Habitus“ • • • • Entsprechende Machtungleichheiten und soziale Herrschaftsverhältnisse werden im alltäglichen Handeln immer wieder neu reproduziert … … zum Beispiel in der Alltagspraxis im Feld der Bildung, wo es „für die einen [um] die Verteidigung ihrer Privilegien und für die anderen [um] die Verarbeitung ihrer Benachteiligungen“ (Groh-Samberg 2008:167) geht … … oder mit Blick auf die Praxis ethnischer Zugehörigkeitszuschreibungen, wo sich z.B. gesellschaftlich dominante Wahrnehmungen, Deutungen und Bewertungen ‚gelungener‘ oder ‚missglückter‘ Integration im Alltagshandeln fortschreiben Der Habitus spielt somit immer eine soziale Doppelrolle: „Er ist ein generatives Prinzip und somit ‚strukturierende Struktur‘ …, insofern er sozial strukturierte Praxisformen hervorbringt, die im Lauf der Zeit durch individuelle Aneignung oder … ‚Inkorporierung‘ gesellschaftlicher Strukturen und die Ausbildung dauerhafter Dispositionen ermöglicht werden. Der Habitus ist andererseits ein reproduktives Prinzip und somit ‚strukturierte Struktur‘ …, insofern die individuellen Praxisformen den sozial strukturierten Dispositionen gemäß gewählt werden und auf diese Weise zur Aufrechterhaltung der ursprünglichen Konstellation beitragen.“ (Müller 2014:42) Lessenich I VL Sozialstrukturanalyse I 12 Habitus und (alltägliche) Lebensführung I Folie 10 Sozialstrukturanalyse: Das Begleitprogramm • • • Audio- und Videoaufzeichnung (durch LMU UnterrichtsMitschau, videoonline.edu.lmu.de) Übung zur Vorlesung durch Dr. Thomas Barth: Dienstag 16-18 Uhr, M 118 – Musterfragen an [email protected] Tutorien zur Vorlesung: Christian Köning & Marc Ortmann – Mittwoch 12-14, Konradstr. 6, SR 208 Sebastian Felsner & Anton Schmidt – Donnerstag 12-14, Konradstr. 6, SR 208 David Arndt & Manuel Schechtl – Freitag 10-12, Konradstr. 6, SR 108 • • • • Vorlesungsprogramm, Literatur zu Vorlesung/Übung und Tutorien sowie Folien zur Vorlesung auf der Homepage des IfS: www.soziologie.unimuenchen.de (Lehrbereiche > Lessenich > Studium und Lehre > Vorlesung Sozialstrukturanalyse) – PASSWORD: sozstruk1617 Reader zu Vorlesung und Tutorien: Kopiervorlagen im „Digitalzentrum“, Barer Str. 71 (je 16,50 €) Klausur: Donnerstag, 2.3.2017, 10-12 Wiederholungstermin: Freitag, 28.4.2017, 16-18 Einladung zum Forschungskolloquium Prof. Dr. Stephan Lessenich Vorlesung „Sozialstrukturanalyse“ Das war‘s! Vielen Dank. Literatur Beck, Ulrich (1983): „Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten“, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten, Soziale Welt – Sonderband 2, Göttingen: Otto Schwartz, S. 35-74. Bourdieu, Pierre (1982 [frz. 1979]): Die feinen Unterschiede. Kritik der soziologischen Urteilskraft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1983): „Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital“, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt – Sonderband 2. Göttingen: Schwartz, S. 183-198. Bourdieu, Pierre (1985): „Sozialer Raum und ‚Klassen‘“, in: Ders., Sozialer Raum und „Klassen“. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 7-46. Giddens, Anthony (1984): The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration. Cambridge: Polity. Groh-Samberg, Olaf (2008): „Armut, soziale Ungleichheit und die Perspektiven einer ‚Erneuerung der Sozialkritik‘“, in: Rolf Eickelpasch et al. (Hg.), Metamorphosen des Kapitalismus – und seiner Kritik, Wiesbaden: VS, S. 148-170. Jurczyk, Karin; Voß, G. Günter; Weihrich, Margit (2016): „Alltägliche Lebensführung – theoretische und zeitdiagnostische Potenziale eines subjektorientierten Konzepts“, in: Erika Alleweldt, Anja Röcke & Jochen Steinbicker (Hg.), Lebensführung heute. Klasse, Bildung, Individualität, Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 53-87. Jurczyk, Karin; Rerrich, Maria S. (1993): Die Arbeit des Alltags. Beiträge zu einer Soziologie der alltäglichen Lebensführung. Freiburg: Lambertus. Kudera, Werner (1995): „Die Lebensführung von Arbeitern – ein gesamtdeutsches Phänomen“, in: G. Günter Voß & Hans J. Pongratz (Hg.), Subjektorientierte Soziologie, Opladen: Leske + Budrich, S. 183-200. Marx, Karl (1972 [orig. 1852]): „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 8, Berlin (DDR): Dietz, S. 115-123. Literatur Müller, Hans-Peter (2014): Pierre Bourdieu. Eine systematische Einführung. Berlin: Suhrkamp. Müller, Hans-Peter (2016): „Wozu Lebensführung? Eine forschungsprogrammatische Skizze im Anschluss an Max Weber“, in: Erika Alleweldt, Anja Röcke & Jochen Steinbicker (Hg.), Lebensführung heute. Klasse, Bildung, Individualität, Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 23-52. Müller, Hans-Peter; Weihrich, Margit (1990): Lebensweise – Lebensführung – Lebensstile. Eine kommentierende Bibliographie. Forschungsberichte der Fakultät für Pädagogik. Neubiberg: Universität der Bundeswehr München. Shachar, Ayelet (2009): The Birthright Lottery. Citizenship and Global Inequality. Cambridge: Harvard University Press. Weber, Max (1980 [orig. 1922]): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 5., revidierte Auflage (Studienausgabe). Tübingen: J.C.B. Mohr. Weber, Max (1988 [orig. 1917]): „Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften“, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Auflage, Tübingen: J.C.B. Mohr, S. 489-540.