Globalisierung: Chancen und Risiken - IW

Werbung
Nr. 98
Jürgen Matthes
Globalisierung: Chancen und Risiken
Inhalt
1. Globalisierung: Was ist das?
Facetten der Globalisierung
Seite 1
Ursachen der Globalisierung
1
Indikatoren der Globalisierung
2
2. Die Globalisierung auf dem Prüfstand
Wo die Globalisierungskritiker richtig
liegen
4
Wo die Globalisierungskritiker nur
teilweise Recht haben
5
Wo die Globalisierungskritiker falsch
liegen
8
Globalisierung: Temposteigerung
seit Mitte der achtziger Jahre
Die Konjunkturforschungsstelle der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich hat 23 Einzelindikatoren festgelegt, um einen umfassenden
internationalen Globalisierungsindex zu ermitteln.
Dazu wurden über 120 Länder nicht nur auf ihre ökonomischen Faktoren
hin überprüft wie die Intensität der Handels- und Investitionsströme oder
auch der Handelsbeschränkungen. Untersucht wurden ferner soziale
Indikatoren wie die jeweilige Fortentwicklung des Telefon- und Internetverkehrs sowie politische Indikatoren wie die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen oder Missionen des UN-Sicherheitsrates als
Indizien für das Maß der Weltoffenheit. Die zugrunde gelegte Werteskala
reicht von 0 bis 10: Höhere Werte bedeuten über alle Länder hinweg
insgesamt mehr Globalisierung.
2,51
2,4
Globalisierungsindex
2,2
2,0
1,8
1,6
1,4 1,53
1970
1980
1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002
1975
1985 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003
Quelle: Dreher, 2006
Thema Wirtschaft Nr. 98
1. Globalisierung:
Was ist das?
Facetten der Globalisierung
„Global denken, lokal handeln“ – dies könnte
ein Motto des Siegener Unternehmens „Bombardier
Transportation“ sein. Denn die Chefs der Firma wie
auch die 500 Mitarbeiter betrachten die neue Welt der
Globalisierung, was hierzulande ungewöhnlich genug
ist, nicht als Gefahr, sondern als Glücksfall.
Aus gutem Grund: Denn ob für die Straßenbahnen
in Brüssel, Marseille oder Berlin, für die U-Bahnen
in London, Paris oder New York, für den „ICE“ in
Deutschland oder den „Talgo“ in Spanien – rund um
den Globus sind Züge auf Achse, deren „Drehgestelle“
im Siegerland produziert wurden. Mehrere Tausend
Fahrwerke jährlich verlassen den Produktionsbetrieb
von „Bombardier Transportation“. Vieles, was in der
Endmontage-Halle geschieht, ist sehr komplex, so dass
der Laie nicht alles versteht. Doch eines bleibt hängen:
Hier sind wettbewerbsfähige Industrie-Arbeitsplätze
entstanden, mitten in Deutschland, eingebettet in ein
weltweites Netzwerk.
Und das Schöne daran: Der Siegener Betrieb, in dem
das Wort „Globalisierung“ nicht mit Ängsten, sondern
mit Stolz verknüpft wird, ist beileibe kein Einzelfall.
Auch wenn es in Deutschland oft ignoriert wird: In
vielen Branchen, angefangen von der chemischen
Industrie bis hin zum Automobil- und Maschinenbau,
sind einheimische Unternehmen immer noch Welt­
spitze. Dabei sind es nicht nur die großen Konzerne,
die global mithalten, sondern gewiss nicht wenige
Mittelständler, die von Experten sogar als „heimliche
Gewinner“ der Globalisierung bezeichnet werden und
ihre Marktstellung seit langem behaupten.
Allerdings: Es gibt es auch die andere Seite der
Globalisierung – die psychologische, die vor allem
in Deutschland den Menschen zu schaffen macht.
Existenzängste und die Furcht vor Arbeitsplatzverlust
machen sich breit. Und tatsächlich sind die Zeiten
vorbei, in denen ein Arbeitsplatz bei einem der großen
Konzerne wie VW, Bayer oder Hoechst, aber auch im
Mittelstand lebenslange Beschäftigung und Einkommen bis zur frühen Rente bedeutete. Zehntausende
Arbeitsplätze sind mittlerweile verloren gegangen,
und nicht nur die Betroffenen stellen sich die Frage,
wie viele Jobs überhaupt in Deutschland bleiben – und
zu welchen Bedingungen.
Immer mehr sehen sich auf der Verliererstraße der
Globalisierung. Fast jeder Dritte erwartet nach einer
Seite 1
Umfrage des Bundesverbands deutscher Banken eher
Nachteile von moderner Arbeitsteilung und Welthandel. Auch die Richtung, in die der Sozialstaat gleitet,
gefällt den Bundesbürgern immer weniger. So halten
vier von zehn Deutschen die derzeitige Form der
Wirtschaftsordnung für einen Irrweg (Grafik auf der
nächsten Seite).
Die Deutschen sind auf derartige Umbrüche offenbar schlechter vorbereitet als andere. Nach einer
international vergleichenden Studie zum Thema Jugendarbeitslosigkeit entwickeln sie mehr Ängste und
haben ein weit höheres Bedürfnis nach persönlicher
Sicherheit als beispielsweise Spanier, Italiener oder
Griechen. Der Bremer Psychologie-Professor Dr.
Thomas Kieselbach fordert deshalb für die Menschen
hierzulande „sozialen Geleitschutz“: „Wir müssen
sie auf die kritischen Lebensereignisse besser vorbereiten – frühzeitig, schon in der Schule und in der
Universität.“
Ursachen der Globalisierung
Vor allem benötigen sie auch „ökonomischen Geleitschutz“. Denn bevor man eine Sache durchdenkt
und diskutiert, müssen die Fakten klar sein. Das bringt
gleich doppelten Nutzen, wie Umfragen zeigen: Denn
wer über die Globalisierung mehr weiß, steht ihr
aufgeschlossener gegenüber. Und größeres Wissen
baut Ängste ab.
Zunächst: Unter Globalisierung verstehen die
Ökonomen schlichtweg eine Verstärkung der internationalen Verflechtungen zwischen den einzelnen
Volkswirtschaften – vor allem mit Blick auf Handel
und Kapitalverkehr. So ist das Volumen des globalen
Warenhandels seit 1950 mit über 6 Prozent pro Jahr
um zwei Drittel schneller gewachsen als die weltweite
Warenproduktion.
Ermöglicht wurde dies nicht nur durch den Abbau
von Zöllen und Handelsbeschränkungen, sondern vor
allem auch durch die neuen Informations- und Kommunikationstechniken: Computer, Handy, Internet
und Satelliten machen die Menschen an fast jedem
Punkt der Erde für Daten und Gespräche erreichbar.
Lernziel
• Die Globalisierung steht seit langem im Mittelpunkt
hitziger Debatten. Bringt sie vorwiegend Gutes? Oder
müssen wir uns nicht doch vor ihr fürchten, weil immer
mehr Jobs abwandern und uns scheinbar allmählich die
Arbeit ausgeht, die Regierungen gegenüber den Multis
immer mehr an Macht verlieren, die Sozialstandards
unter Druck geraten und die Kluft zwischen Arm und
Reich auf der Welt immer größer wird?
Thema Wirtschaft Nr. 98
Seite 2
TEU sind in Planung. Die Ozeanriesen sind heute trotz des größeren Volumens fast doppelt so
schnell am Ziel wie früher.
Marktwirtschaft:
Deutsche immer skeptischer
So viel Prozent der Deutschen meinten, ...
Indikatoren der Globalisierung
... die Soziale
Marktwirtschaft habe
sich bewährt
1994
73
2000
69
Oktober
2005
59
... die Globalisierung bringe
für Deutschland ...
Vor- und
Nachteile
eher
Vorteile
eher
Nachteile
37
25
24
41
21
30
Telefonische Befragung von 1.528 Personen im Herbst 2005; Globalisierung: Rest zu 100 durch
die Antwort „weiß nicht/keine Angabe“
Quelle: Bundesverband deutscher Banken
Nur so lässt sich ein weltweites Produktions- und
Transportnetzwerk überhaupt vernünftig steuern. Nur
so wird es beispielsweise auch möglich, Ingenieure in
Deutschland, Russland und den USA rund um die Uhr
gemeinsam an einem Projekt arbeiten zu lassen.
Einen wichtigen Beitrag zum intensiveren Welthandel leistete die so genannte Container-Revolution, die
mithalf, die Transportkosten für die weltweiten Warenlieferungen drastisch zu senken und das Liefertempo
erheblich zu steigern. Wurden bis in die sechziger
Jahre hinein hochwertige Waren einzeln in Paketen,
Kisten, Fässern oder als Ballen an Bord der Schiffe gebracht, ermöglichen Container mittlerweile den standardisierten Transport per Lkw, Zug oder Lastkahn.­
In den Häfen werden sie heute mit satellitengestützten
EDV-Lösungen eingelagert und zu den Schiffen geordert. Vollautomatische Terminals sind der letzte Schrei.
Induktionsschleifen im Terminalboden leiten automatisch fahrende Containertragwagen zu den Containerbrücken und von da aus in die Lagerfläche.
Insgesamt wurde auf diese Weise die Transportgeschwindigkeit im Vergleich zum konventionellen
Stückgutumschlag um das 50- bis 150fache erhöht.
Dazu kamen immer größere und schnellere Schiffe,
deren „Stellplatzkapazität“ von wenigen Hundert auf
heute 8.000 TEU (TEU = twenty feet equivalent unit)
wuchs. Weit größere Schiffseinheiten bis zu 15.000
Welche Möglichkeiten sich im Zeitalter der
Globalisierung eröffnen, macht eine Reihe von
Beispielen klar:
• Statt T-Shirts hierzulande teuer zu produzieren,
werden sie billiger in Asien oder Osteuropa eingekauft – und die Kunden haben mehr von ihrem
Geld. Die Grundidee bei alledem ist: Die Güter
werden dort hergestellt, wo dies am günstigsten
geschehen kann. Etwas genauer hat dies schon vor
fast 200 Jahren David Ricardo in seiner Theorie
der komparativen Kostenvorteile formuliert. Das
bedeutet: Jedes Land konzentriert sich auf das,
was es besonders gut und relativ (komparativ)
kostengünstig produzieren kann. So ziehen die
Entwicklungsländer aufgrund niedrigerer Lohnkosten arbeitsintensive Produktion an wie etwa
Bekleidung, Spielzeug oder landwirtschaftliche
Produkte. Hierzulande verlegen sich die Unternehmen dagegen auf Güter, bei denen Wissen
und Know-how gefragt sind wie etwa Spezialmaschinen, moderne elektrotechnische Anlagen oder
forschungsintensive Chemie- und Biotech-Produkte.
Globalisierung ist so grundsätzlich kein Gegenein­
ander, sondern ein Miteinander. Es geht nicht darum,
dem anderen etwas von seinem Kuchen wegzunehmen. Vielmehr bekommen alle Beteiligten durch ihre
Zusammenarbeit größere Stücke – weil der Kuchen
insgesamt wächst.
• Das Gros des internationalen Handels vollzieht sich
allerdings nicht zwischen unterschiedlichen Branchen
und zwischen Industrie- und Entwicklungsländern,
sondern zwischen den Industrieländern und hier innerhalb derselben Wirtschaftszweige wie zum Beispiel
der Automobilbranche.
Dieser intraindustrielle Austausch beschert den
Konsumenten eine größere Auswahl, so dass jeder
das finden kann, was ihm zusagt. Zudem können die
Unternehmen in großen Einheiten produzieren und
rentabler arbeiten. Von den niedrigeren Kosten pro
Stück profitieren ebenfalls die Verbraucher.
• Die Unternehmen erschließen sich durch Exporte
oder Produktion im Ausland neue Absatzmärkte oder
sparen durch Verlagerungen Kosten.
Manche multinationale Konzerne gliedern ihre
Herstellung in viele kleine Einheiten auf, verteilen
sie über den Globus und fügen die Einzelteile erst
am Ende wieder zusammen. Der Handel mit Vor-
Thema Wirtschaft Nr. 98
produkten innerhalb solcher Netzwerke war in den
letzten Jahren eine ganz wichtige Triebfeder für die
Globalisierung.
Will man deren ganzes Ausmaß möglichst genau
bestimmen, stellt sich die Frage, welche Indikatoren
dazu verwendet werden sollen. In einem sehr umfassend angelegten Ansatz hat die Konjunkturforschungsstelle der Eidgenössischen Technischen Hochschule
Zürich insgesamt 23 Einzelindikatoren genutzt und
daraus einen umfassenden Globalisierungsindex entwickelt. Insgesamt zeigt sich, dass die Globalisierung
nach einer Delle in den achtziger Jahren vor allem seit
1985 erheblich an Tempo aufgenommen hat (Grafik
Umschlagseite 1 innen).
In der Folge liegt es nahe, zentrale wirtschaftliche
Indikatoren ab Mitte der achtziger Jahre näher unter
die Lupe zu nehmen. Das sind in erster Linie der
globale Außenhandel sowie der grenzüberschreitende
weltweite Kapitalverkehr in Form von Unternehmens­
investitionen und anderen privaten Finanzanlagen.
Auch hier kann nachgewiesen werden, dass die weltweiten Exporte seit 1985 deutlich schneller gestiegen
sind als die Wirtschaftsleistung (Grafik rechts).
Darüber hinaus wird die enorme Steigerung auf
dem internationalen Kapitalmarkt deutlich: Die langfristig orientierten Auslandsinvestitionen der Unternehmen (Direktinvestitionen) wie auch die privaten
Finanzströme von Milliarden Dollar, Euro, Yen und
Co., die um den Erdball kreisen, sind noch einmal
fast doppelt so schnell angewachsen wie die globalen
Exporte.
Eine richtige Konsequenz immerhin haben immer
mehr Deutsche aus der neuen Entwicklung gezogen:
Nach der Umfrage des Bankenverbandes sagen jetzt
sechs von zehn Befragten, die Wohlstandssicherung
Seite 3
Freier Handel als globaler
Wirtschaftsmotor
Index 1985 =100
1.900
Direktinvestitionen
Private Finanzströme
Weltweite Exporte
Weltweite Wirtschaftsleistung
1.700
1.574
1.500
1.300
1.100
900
700
Jahresdurchschnittliche
Veränderung 2004 gegenüber 1985 in Prozent
Direktinvestitionen
14,4
Private Finanzströme 15,6
Weltweite Exporte
8,6
Weltweite
6,3
Wirtschaftsleistung
1.174
480
500
300
317
100
1985
86
87
88
89
90
91
92
93
94
95
96
97
98
99
01
03
2000 02
04
Alle Angaben: nominale Größen; private Finanzströme: Aktien, festverzinsliche Wertpapiere, Bankgeschäfte, Handelskredite; Weltexporte: Waren und Dienstleistungen; Weltwirtschaftsleistung: Welt-Bruttoinlandsprodukt auf Basis
laufender Wechselkurse; Ursprungsdaten: UNCTAD, IWF
müsse in die eigenen Hände genommen werden. Im
Jahr 1994 war das Volk bei der Frage nach der Eigenverantwortung noch in zwei gleich große Lager
gespalten. Die unverändert hohe Arbeitslosigkeit, die
Krisen des Renten- und Gesundheitssystems sowie
die Behäbigkeit der Politik haben offenbar dazu beigetragen, dass die Bürger stärker bereit sind, auf den
eigenen Antrieb zu setzen, statt auf den Staatszug zu
warten – im Zeitalter der Globalisierung eine überaus
hilfreiche Grundhaltung.
Thema Wirtschaft Nr. 98
Seite 4
2. Die Globalisierungskritik auf dem Prüfstand
Ob Arbeitslosigkeit, Nord-Süd-Gefälle oder Kinderarbeit – die Globalisierung scheint sich mittlerweile
zu einem Mythos aufzuschwingen, der für alle möglichen Fehlentwicklungen herhalten muss. Doch wie
alle Mythen dient auch der Begriff „Globalisierung“
nur allzu oft als einfache Erklärung für komplexe Phänomene, die der Einzelne – auch beim besten Willen
– schwer durchschauen kann.
Für eine differenzierte Betrachtung der Chancen
und Risiken der Globalisierung lassen sich die Kritikpunkte in drei Kategorien einteilen:
• in jene, die weitgehend uneingeschränkt gerechtfertigt sind,
• in jene, in denen die Globalisierungsgegner teilweise Recht haben, aber wichtige positive Seiten
ausblenden und schließlich
• in jene, in denen sie bewusst oder unbewusst überziehen und unnötige Ängste schüren.
Wo die Globalisierungskritiker richtig liegen
1. Behauptung: Die Industrieländer schotten ihre Märk­
te gegenüber den Entwicklungsländern zu stark ab.
Tatsächlich verhindern Industrienationen wie die USA
oder die Länder der Europäischen Union, dass sich die
global nützliche Arbeitsteilung voll entfalten kann.
Sie tun dies einmal durch Zölle und behindern dadurch vor allem den Export arbeitsintensiver Waren,
auf die sich viele Entwicklungsländer spezialisiert
haben. Dies trifft beispielsweise für Textilien und
Bekleidung zu und gilt in noch stärkerem Maße für
die Exporte von Agrargütern, auf die viele Entwicklungsländer besonders angewiesen sind, weil rund zwei
Drittel der Menschen dort von der Landwirtschaft
leben. Gerade diese Produkte aber werden von der EU
und den USA durch teils extrem hohe Zölle von bis zu
mehreren Hundert Prozent geschützt (Tabelle).
Zölle: Industrieländer errichten
hohe Barrieren
So hoch sind die Zölle in Prozent des Warenwertes:
Durchschnittszoll Industrieprodukte
Durchschnittszoll Agrarprodukte
Spitzenzoll Agrarprodukte
EU
4,2
19,0
506,3
USA
4,6
9,9
350,0
Anmerkung: Für die EU liegen die Zölle tatsächlich noch etwas
höher, da 14 Prozent der Agrarprodukte mit relativ hohen Zöllen
in dieser Statistik nicht erfasst sind.
Angewandte WTO-Zölle (Meistbegünstigungszölle)
Quelle: Aksoy, 2005
Hinzu kommen in der EU massive Subventionen
für die Landwirtschaft. Darunter fallen zum einen
Finanzhilfen für EU-Produkte, damit sie auf den heimischen Märkten überhaupt abgesetzt werden können.
Die Konkurrenz aus dem Ausland bleibt zu sehr außen
vor. Dazu zählen aber auch Exportsubventionen, mit
denen die EU ihre Butterberge und Milchseen auf dem
Weltmarkt ablädt. Dort sinken folglich die Preise, was
für viele Bauern in Entwicklungsländern erhebliche
Einkommensverluste mit sich bringt.
Die EU und andere Agrarprotektionisten schädigen damit aber nicht nur die Entwicklungsländer.
Sie schaden auch sich selbst, weil ihre Verbraucher
gleich doppelt zur Kasse gebeten werden: mit höheren
Steuern zur Finanzierung der Subventionen und mit
höheren Preisen für die Agrarprodukte. Zucker zum
Beispiel kostet in Europa dreimal so viel wie auf dem
Weltmarkt. Auf diesem Sektor hat die EU zuletzt allerdings gewisse Reformanstrengungen unternommen.
Wie unangemessen die Agrarsubventionierung
ist, zeigt auch dieser Vergleich: Obwohl die Landund Forstwirtschaft in den 25 EU-Ländern lediglich
2 Prozent der Wirtschaftsleistung und 5 Prozent der
Arbeitsplätze stellt, entfällt mit 49 Milliarden Euro
derzeit knapp die Hälfte des gesamten EU-Haushaltes
auf diesen Posten.
2. Behauptung: Steuer- und Regulierungsoasen sind
eine Gefahr für das internationale Finanzsystem.
Eine Reihe sehr kleiner Staaten – etwa in der Karibik – ist zu gewaltigen Umschlagplätzen für internationale Gelder geworden. Ihre Bedeutung ist so groß,
dass sie das internationale Finanzsystem durchaus ins
Wanken bringen können. Dort agieren unter anderem
hochspekulative Kapitalanlagegesellschaften – so genannte Hedgefonds. Deren vorrangiges Ziel war es
früher, das vorhandene Kapital abzusichern („hedging“
= einhegen, umzäunen). Heute zielen sie oft darauf
ab, abgekoppelt von den „normalen“ internationalen
Aktien- und Rentenmärkten (Renten = festverzinsliche
Wertpapiere wie Staats- oder Unternehmensanleihen
oder Pfandbriefe) möglichst hohe Renditen (Erträge)
zu erzielen. Problematisch ist dabei die mangelnde
staatliche Kontrolle, ob sie auch seriös wirtschaften:
Vornehmlich in den Steuer- und Regulierungsoasen
gibt es keine oder nur unzureichende Finanzmarktaufsichten.
3. Behauptung: Viele Entwicklungsländer kommen
aufgrund von Governance-Defiziten nicht aus der
Armutsfalle.
In vielen sehr armen Staaten bestehen gravierende
Probleme in ihren politischen Steuerungs- und Regelungssystemen. Die so genannten Governance-Defizite
Thema Wirtschaft Nr. 98
Seite 5
Governance-Defizite vor allem in den
ärmsten Ländern
So hoch ist der Governance-Indikator in den einzelnen Regionen:
Frühere Sowjetunion -0,91
-0,67
Subsahara-Afrika
Südasien
-0,63
Lateinamerika
-0,28
Mittlerer Osten/Nordafrika
-0,17
Ostasien
Mittel- und Osteuropa (ohne GUS)
OECD
0,01
0,30
1,44
Anmerkung: Der Governance-Indikator umfasst eine Werteskala
von -2,5 (schlecht) bis +2,5 (gut) und erfasst institutionelle
Rahmenbedingungen des Wirtschaftens wie Rechtssicherheit,
politische Stabilität, politische Mitspracherechte, Regierungseffizienz, Korruptionskontrolle und Regulierungsqualität.
Stand: 2004
Frühere Sowjetunion: ohne Baltikum
Ursprungsdaten: Kaufmann/Kraay/Mastruzzi, 2005
(Governance = Lenkungsformen eines Staates) bedeuten, dass der Staat nicht die optimalen wirtschaftlichen
Rahmenbedingungen schafft, sondern stattdessen
Korruption bis hinauf zur Regierung herrscht, generelle Misswirtschaft betrieben wird oder das Land
unter ständigen Bürgerkriegen leidet.
Dies gilt vor allem in Subsahara-Afrika (Länder
südlich der Sahara; früher: Schwarzafrika) und Südasien sowie in den oft autokratisch regierten Ländern
der früheren Sowjetunion (Grafik oben).
Nicht selten verfügen die Staaten weder über ein
funktionierendes Rechtssystem noch über eine effiziente und korruptionsfreie Verwaltung. Die führenden
Eliten haben zuweilen in erster Linie ihren eigenen
Vorteil im Blick. Mit einem Satz: Es fehlt an einer
Politik, mit der Wachstum gefördert und die Armut der
Bevölkerung wirksam reduziert werden könnte.
Notwendig wären vor allem institutionelle Reformen, die an diesen Mängeln ansetzen. Darüber
hinaus wäre wichtig:
• die Bekämpfung von riesigen Staatsdefiziten und
übermäßiger Inflation, die gerade die ärmsten Menschen am stärksten schädigt, weil diese kaum inflationssicheres Eigentum besitzen,
• die Umlenkung staatlicher Ausgaben – etwa von
Militärausgaben oder Prestigebauten – hin zu Inves­
titionen in Gesundheitsmaßnahmen, Bildung und
bessere Infrastrukturen wie Straßen, Strom- und
Wasserversorgung,
• der Abbau unnötiger Bürokratie und anderer Regulierungen, die vor allem in den ärmsten Ländern oft
ausufern.
Sie machen es den dortigen Unternehmen ungemein
schwer, sich auf neu entstehende Exportbranchen zu
spezialisieren, um so die komparativen Kostenvorteile
des Landes nachhaltig auszunutzen.
Wo die Globalisierungskritiker nur teilweise
Recht haben
1. Behauptung: Internationale Organisationen sind
bloß Handlanger der Industrieländer und der multi­
nationalen Unternehmen.
Eine logische Konsequenz der engeren globalen Vernetzung ist, dass sich die beteiligten Staaten
gemeinsame Regelwerke schaffen müssen. Da ein
weltweit freier Handel und offene Kapitalmärkte ganz
andere Spielregeln verlangen als eine geschlossene
Volkswirtschaft, müssen die zum Teil sehr unterschiedlichen und manchmal sogar widersprüchlichen
Interessen der einzelnen Staaten unter einen Hut
gebracht werden.
Eine der wichtigsten Organisationen, die diese
(undankbare) Aufgabe übernommen haben, ist die
Welthandelsorganisation WTO (World Trade Organization). Sie sorgt unter anderem dafür, dass sich die
Teilnehmer am internationalen Waren- und Dienstleis­
tungsverkehr tatsächlich an die gemeinsam vereinbarten Regeln halten.
Wenn es nach den Globalisierungsgegnern geht, ist
die WTO allerdings eine undemokratische Organisation, die immer mehr Macht an sich reißt. Angeblich
schreibt sie einzelnen Staaten willkürlich ihre Wirtschaftspolitik vor und vertritt dabei „ausschließlich
die Interessen der Großen“.
Richtig daran ist, dass die großen Industrieländer wie
die EU-Staaten und die USA allein wegen ihres wirt­schaftlichen Gewichts in der WTO einen großen
­Einfluss haben. Andererseits gilt auch: Ohne die
WTO wäre die Welthandelspolitik viel ungerechter.
Die Alternative wären zweiseitige Verhandlungen
­jedes einzelnen Entwicklungslands mit den großen
Handelsnationen. Dabei würden die ärmeren Staaten­
Klares Übergewicht der
Entwicklungsländer
So hoch war die Anzahl der WTO-Mitgliedsländer in den
vergangenen Jahren:
1948
1955
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2004
2005
Industrieländer
10
18
18
20
22
22
22
22
22
23
23
23
23
Ursprungsdaten: WTO
Entwicklungsländer
8
16
19
45
54
59
61
66
76
104
117
125
126
Gesamt
18
34
37
65
76
81
83
88
98
127
140
148
149
Thema Wirtschaft Nr. 98
Weltbank bekämpft die Korruption
Eine Offensive gegen die Korruption hat WeltbankPräsident Paul Wolfowitz gestartet: Im Tschad wurde die
Mitfinanzierung einer Pipeline im 4,1-Milliarden-DollarProjekt zur Entwicklung der Ölförderung gestoppt, weil die
Regierung mit den Öleinnahmen nicht wie versprochen die
Armut, sondern angeblich die Rebellen bekämpfen will.
In Kenia blockierte er Kredite über 265 Millionen Dollar
nach Unregelmäßigkeiten. Den erwarteten Schuldenerlass
für den Kongo stoppte er, nachdem ans Licht kam, dass
der kongolesische Präsident bei seinem UN-Besuch im
September 2005 in New York 295.000 Dollar im Hotel
verjubelt und überwiegend bar bezahlt hatte.
Die Weltbank gab nach eigenen Angaben im vergangenen
Jahr 13 Prozent ihrer Kredite, insgesamt 2,9 Milliarden Dollar, für Projekte zur Verbesserung der Regierungsführung
aus – etwa durch Assistenz beim Aufbau rechtsstaatlicher
Systeme und die Förderung unabhängiger Institutionen.
Allerdings: Entwicklungsorganisationen werfen der Bank
vor, willkürlich zu agieren. Die Mitgliedsländer verpflichteten die Weltbank inzwischen, ein Anti-KorruptionsRegelwerk zu erarbeiten – mit Standards und Kriterien,
um mehr Objektivität gegenüber den einzelnen Ländern
zu erreichen.
Quelle: dpa, April 2006
dann aber erst recht den Kürzeren ziehen, weil die Gro­
ßen ihre Übermacht ungezügelt ausspielen könnten.
Die WTO dagegen zwingt die wirtschaftlich mächtigen Staaten in ein Regelkorsett. Sie kann den Einfluss
von EU und USA zwar nicht vollständig in den Griff
bekommen, aber erheblich mindern. Zu ihrem Regelwerk gehört zum Beispiel ein Schiedsgericht, vor dem
sich auch die „Big Player“ zu verantworten haben und
das ihnen Sanktionen auferlegen kann. Vor allem die
Entwicklungsländer profitieren folglich von der WTO.
Der frühere Außenminister Hans-Dietrich Genscher
hat einmal gesagt: „Nicht das Recht des Stärkeren,
sondern die Stärkung des Rechts schützt die Interessen
aller Staaten am besten.“
In der WTO haben die kleinen Staaten nach dem
Prinzip „ein Land, eine Stimme“ genauso viel zu sagen
wie die Großen (vgl. Tabelle Seite 5). Auch verfügen
alle über ein Veto-Recht, so dass kein Land zu Dingen
gezwungen werden kann, die es nicht will.
Im Kreuzfeuer der Kritik der Globalisierungsgegner
stehen mehr noch als die WTO der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank. Zu ihren Aufgaben gehört es, Ländern mit Finanzierungsschwierigkeiten durch kurzfristige Kredite zu helfen und sie bei
Reformen ihres Unternehmens- und Finanzsektors zu
unterstützen. Das sind schwierige Aufgaben, bei denen
der IWF insbesondere während der Finanzkrisen der
neunziger Jahre in Asien, Russland und Lateinamerika
tatsächlich keine gute Figur abgegeben hat. So wurden beispielsweise Bildungssubventionen gestrichen.
Oder es wurden auf Drängen der Weltbank öffentliche
Seite 6
Dienstleistungen wie etwa die Wasserversorgung privatisiert, ohne den Markt so zu regeln, dass auch die
Armen in ausreichendem Maße und zu vertretbaren
Preisen weiterhin versorgt werden konnten.
Seit Ende der neunziger Jahre ist dies anders,
und IWF und Weltbank berücksichtigen stärker den
Armutsaspekt. So werden bei Sparmaßnahmen die
Staatsausgaben für Gesundheit und Bildung oft nicht
gekürzt, sondern eher noch erhöht – zum Beispiel auf
Kosten von Militärausgaben.
Bei aller Kritik an IWF und Weltbank – verzichten
kann die Welt auf die globalen Finanzmakler ohnehin
nicht (vgl. auch den nebenstehenden Textkasten). Wer
sonst als sie hat die Möglichkeit, bei Governance-Defiziten in den einzelnen Ländern zu intervenieren und
dort – auch und gerade gegen die Interessen der herrschenden Eliten – eine Politik zugunsten der breiten
Bevölkerung durchzusetzen?
2. Behauptung: Multinationale Unternehmen beuten
die Entwicklungsländer aus und sind mächtiger als
Regierungen.
Sicherlich gibt es Einzelbeispiele, in denen Multis
mit korrupten und antidemokratischen Regimes zusammengearbeitet haben oder menschenunwürdige
Arbeits- und Sozialbedingungen geboten haben. Doch
handelt es sich dabei um einige wenige schwarze
Schafe.
Wissenschaftlich fundierte Studien geben einen
anderen Trend wieder: Multis, die in Entwicklungsländern aktiv sind, bieten den heimischen Arbeitskräften
in der Regel höhere Löhne und bessere Arbeitsbedin-
Wo die Unternehmen ihr Geld
investieren
So hoch war der Anteil der einzelnen Weltregionen an den
globalen Direktinvestitionen der Unternehmen im Jahr 2005:
59,7
Industrieländer
darunter:
EU-15
45,5
USA
11,8
Japan
1,0
Entwicklungs-, Schwellen40,3
und Transformationsländer
darunter:
Brasilien
1,7
Mexiko
1,9
Hongkong
4,4
Singapur
1,8
2,9
Russische Föderation
Neue EU-Länder
4,2
6,7
China
Afrika
3,2
6,3
Sonstiges Süd- und Ostasien
4,4
Sonstiges Lateinamerika
100,0
Welt
Ursprungsdaten: UNCTAD
Thema Wirtschaft Nr. 98
gungen als die Unternehmen in inländischem Besitz.
Sie investieren schon aus Eigeninteresse weniger in
Ländern mit schwachen demokratischen Rechten
und sozialen Kernarbeitsnormen (wie dem Verbot
von Kinder- und Zwangsarbeit), sondern bevorzugt
in Ländern, in denen das politische und soziale Umfeld „stimmt“. Schließlich ist nichts schädlicher für
das Image und den Verkaufserfolg als eine schlechte
Presse. Tatsächlich geht ein Großteil der weltweiten
Direktinvestitionen – nach den Industrieländern – in
die relativ hoch entwickelten Schwellenländer Mexiko, Brasilien, Russland, Hongkong, Singapur sowie
in die neuen EU-Länder (Tabelle Seite 6).
Gewiss verstehen es die Großkonzerne, im internationalen Geschäft politischen Einfluss zu nehmen und sich
die günstigsten Investitionsstandorte zu sichern. Gleichwohl zeigen beispielsweise die staatlichen Rechtsmittel
gegen zu starke Machtkonzentrationen nach wie vor
Wirkung, wie die kartellrechtlichen Verfahren gegen
Wirtschaftsgiganten wie Microsoft beweisen, das seine
Konkurrenz behinderte, und General Electric, dessen
Fusion mit dem US-Unternehmen Honeywell von der
Europäischen Kommission verboten wurde.
Um die Menschenrechtslage in den Entwicklungsländern zu verbessern, fordern die Globalisierungskritiker Boykotte für mit Kinderarbeit gefertigte Waren.
Viele Familien in armen Ländern sind jedoch auf das
Einkommen der Kinder angewiesen. Brechen die Jobs
in der Exportindustrie weg, dann muss der Nachwuchs
– oft zu noch schlechteren Bedingungen – in der Binnenwirtschaft ran.
3. Behauptung: Schwächen im internationalen Fi­
nanzsystem sind schuld an den Krisen in einigen
Schwellenländern.
In den vergangenen zehn Jahren ist es tatsächlich
zu gravierenden Finanzkrisen gekommen – so etwa
Globaler Devisenmarkt:
Ein Riesenrad wird gedreht
So hoch war der jährliche globale Devisenumsatz
in Billionen US-Dollar:
1995 1998 2001 2004
Devisenspotmarkt
107
139
102
143
Devisenderivate
152
238
229
302
Geschätzte Berichtslücken
11
15
7
25
Summe
270
392
339
470
Devisenspotmarkt: Transaktionen müssen innerhalb von zwei
Tagen abgewickelt sein, Rundungsdifferenzen;
Daten zu den Devisenderivaten beinhalten direkte Geschäfte
zwischen zwei Partnern (over the counter-trade) sowie
börsenbezogene Geschäfte;
Anmerkung: Werte sind um Doppelzählungen korrigiert und um
Wechselkursänderungen bereinigt (Schätzung), Jahreswerte
berechnet auf Basis täglicher Durchschnitte im April 2004 unter
der Annahme von 230 Handelstagen
Ursprungsdaten: Bank für internationalen Zahlungsausgleich
Seite 7
Hilft die Tobin-Steuer gegen
­Finanzkrisen?
Nicht wenige Globalisierungskritiker schlagen als Mittel
gegen Finanzkrisen Kapitalverkehrskontrollen oder eine
neue Steuer auf internationale Finanzgeschäfte, die so genannte Tobin-Steuer, vor. Solche Vorschläge übersehen aber
zwei Dinge: Zum einen unterscheiden diese Maßnahmen
nicht zwischen unerwünschten und – auch in den Augen der
Kritiker – erwünschten Kapitalbewegungen. Letztere würden ebenfalls versteuert. Zum anderen müssten sich auch
die Steueroasen in den Offshore-Zentren, wie den Bahamas,
den internationalen Vereinbarungen fügen – was mehr als
unwahrscheinlich ist. Denn diese oft künstlich geschaffenen
Finanzplätze würden aufgrund von Kapitalverlagerung von
neuen Strafsteuern erst recht profitieren.
in Mexiko, in vielen südostasiatischen Staaten, in
Russland, Brasilien, Argentinien und in der Türkei.
Dabei haben sich zum Teil erhebliche Schwächen im
internationalen Finanzsystem gezeigt – verursacht
vor allem
• durch Mängel in der so genannten Bankenregulierung mit der Folge, dass die Geldinstitute viel zu
großzügig Kredite hergaben, oder auch
• durch die Sprunghaftigkeit und Panikanfälligkeit
der Anleger.
Bei Letzteren kommt im Zuge ihrer riskanten An­
lagen zwangsläufig die Psychologie ins Spiel, die dazu
führen kann, dass Investoren sich wegen bestimmter
Gerüchte oder überzogener Erwartungen wie eine
Herde verhalten und so die Aktienkurse in die Höhe
treiben wie zum Ende der neunziger Jahre in der New
Economy (Unternehmen der Informations- und Kom­
munikationstechnologie). Wenn aber irgendwann die
Erkenntnis durchsickert, dass die Traumschlösser
nur auf Sand gebaut sind, kann die Spekulationsblase
schnell platzen; urplötzlich werden Riesenmengen an
Kapital abgezogen, und die Krise ist da.
Aber es sind nicht nur Mängel im Finanzsystem,
die Krisen herbeiführen können, sondern oft auch die
betroffenen Staaten selbst:
• weil sie eine krisenanfällige Wechselkurspolitik
betreiben, die Renditejäger zum Spekulieren geradezu
herausfordert,
• weil ihre Bankenaufsicht versagt und Kreditinstitute
immer wieder Darlehen an nicht hinreichend kreditwürdige Schuldner vergeben können, und
• weil von Pleite bedrohte Unternehmen oft nur
deshalb noch existieren, weil das Bilanz- und Konkursrecht ihres Landes ihnen Schlupflöcher eröffnet.
Nach den Erfahrungen der neunziger Jahre wurden
die Märkte in den vergangenen Jahren stärker an die
Kandare genommen (vgl. auch den Textkasten oben
„Hilft die Tobin-Steuer ...“) – etwa durch:
Thema Wirtschaft Nr. 98
• Auflagen für Bankgeschäfte und eine Verschärfung
der Bankenregulierung durch Basel II – unter anderem
mit einer realistischeren Abbildung der Risiken in den
Bankbilanzen. Das heißt: Die Bankenaufsicht verlangt
von Finanzkonzernen, die Kreditausfallrisiken genauer
zu bewerten und für den Fall des Falles Finanzpolster
anzulegen;
• zahlreiche Initiativen, um den Informationsstand der
Investoren über die einzelnen Anlageländer zu verbessern, zum Beispiel durch Datenbanken mit vielfältigen
Informationen zur Auslandsverschuldung;
• eine stärkere Überwachung der Finanzmärkte durch
den IWF und eine Ausweitung der Hilfsangebote an
einzelne Staaten, ihre Kapitalmärkte für die Globalisierung fit zu machen.
Bei alldem darf nicht übersehen werden, dass der
IWF und andere Akteure die bisherigen Finanzkrisen
meist wieder schnell in den Griff bekommen haben. In
konzertierten Aktionen sind sie den in die Bredouille
geratenen Schwellenländern zur Seite gesprungen
und haben milliardenschwere Hilfspakete geschnürt
– allerdings meist an strenge Auflagen in Sachen nationale Wirtschaftspolitik gebunden.
Fazit: Alles in allem sind die Vorteile eines wohl
regulierten internationalen Finanzsystems wesentlich
höher einzuschätzen als seine Risiken.
Die Länder mit offeneren Kapitalmärkten, die
vereinzelte Krisen hinnehmen mussten, erzielten längerfristig ein höheres Wachstum (pro Kopf der Bevölkerung) als Staaten, die zwar keine Krisen meistern
mussten, dafür aber nur geringe Kapitalzuflüsse zu
verzeichnen hatten. Wenn nämlich genügend Geld aus
dem Ausland ins Land fließt, kann es für die Anschaf-
Seite 8
fung von Maschinen und Anlagen verwendet werden,
was die Produktivität und somit den Wohlstand auch
der Arbeitnehmer steigert.
Wo die Globalisierungskritiker falsch liegen
1. Behauptung: Im Zuge der Globalisierung geht uns
die Arbeit aus.
Die Globalisierung als Jobkiller? Die in Deutschland verbreitete These vom Ende der Erwerbstätigkeit
widerspricht der Erfahrung anderer Länder. So sind
in den Industrieländern seit 1985 – also in der Phase
beschleunigter Globalisierung – rund 76 Millionen
neue Arbeitsplätze entstanden. Das entspricht einem
Zuwachs von sage und schreibe rund 23 Prozent.
Deutschland konnte nur eine Beschäftigungszunahme
von knapp 11 Prozent erreichen, die USA dagegen
von 32 Prozent.
Man mag einwenden, dass sich ein Hire und Fire
(heuern und feuern) auf dem Arbeitsmarkt wie in
den USA nicht mit den deutschen Wertvorstellungen
verträgt. Doch auch der Blick auf einige kleinere kontinentaleuropäische Staaten hilft weiter. Die Niederlande, Dänemark oder Schweden haben es – wenngleich
jeweils nach tiefen Wirtschaftskrisen – geschafft, ihre
Arbeitsmärkte fit für die Globalisierung und den Technologiefortschritt zu machen. Zu den erfolgreichen
Reformkonzepten der Nachbarn gehören Lohnzurückhaltung, mehr Druck und bessere finanzielle Arbeitsanreize für Arbeitslose sowie ein weniger strikter
Kündigungsschutz, damit die Unternehmen nicht vor
neuen Einstellungen zurückschrecken.
In Dänemark beispielsweise existiert nahezu kein
Kündigungsschutz, dafür ist die Arbeitslosenunter-
Thema Wirtschaft Nr. 98
stützung großzügig. Sie wird jedoch strikt gekürzt,
wenn ein Arbeitsangebot abgelehnt wird. Die aktuelle
Arbeitslosenquote in Dänemark beträgt 4,8 Prozent;
das ist annähernd Vollbeschäftigung.
In Deutschland hat man sich gerade erst vorsichtig
auf den Reformweg begeben und ist nun dabei, das so
genannte Insider-Outsider-Problem am Arbeitsmarkt
zu mindern. Denn in der Vergangenheit hat man zu
sehr auf hohe Löhne und strikten Kündigungsschutz
gesetzt, dabei aber vergessen, dass die Regulierungen
zwar gut für die Arbeitsplatzbesitzer (Insider) sind, für
Arbeitslose (Outsider) aber eine nicht zu unterschätzende Barriere für den Wiedereinstieg bedeuten.
Die Frage, was in einer solchen Situation sozial
gerecht ist, lässt sich nicht einfach beantworten. Der
Blick auf die europäischen Nachbarländer beweist
aber, dass die Zahl der Arbeitslosen keine feste Größe
ist, sondern von den Rahmenbedingungen für Inves­
titionen und Beschäftigung abhängt. Es ist also zu
schaffen, auf die Herausforderungen einer stärkeren
Konkurrenz aus dem Ausland – vor allem aus den
Niedriglohnländern – erfolgreich zu antworten. Die
Grafik auf dieser Seite zeigt zunächst einmal, dass
sich zwischen der Globalisierung und der Höhe der
Arbeitslosigkeit kein Zusammenhang feststellen lässt.
Ein hoher Anstieg der Billigimporte geht eben nicht
automatisch mit hoher Arbeitslosigkeit einher.
Die Erfolgsformel heißt Strukturwandel, denn Tatsache ist: In den Industrieländern werden Arbeitsplätze
im Niedriglohnbereich abgebaut oder ins billigere
Ausland verlagert. Auf der anderen Seite entsteht bei
hinreichend flexiblen Arbeits- und Produktmärkten
aber auch neue Beschäftigung vor allem in wissensund technologieintensiven Branchen. Hier können
aufgrund einer höheren Produktivität auch höhere
Löhne gezahlt werden. Um die nächsten Sprossen
auf der Technologieleiter erklimmen zu können, ist es
für Deutschland und andere Industrienationen entscheidend, die Bildung der Bevölkerung auf höchstem
Niveau zu halten. Die schlechten deutschen PISAErgebnisse sind in dieser Hinsicht allerdings ein
gefährliches Warn­zeichen.
Richtig ist auch: Nicht alle Geringqualifizierten
mögen es schaffen, sich in hinreichendem Maß auf
die neuen Aufgaben der Wissensgesellschaft einzustellen. Doch auch für sie entstehen bei geeigneten
Arbeitsmarktbedingungen Arbeitsplätze. So etwa bei
denjenigen Dienstleistungen, die nicht einem hohen
internationalen Wettbewerbs- oder Rationalisierungsdruck ausgesetzt sind – etwa in den Zukunftsbranchen
Freizeit und Gesundheit, die naturgemäß an den
Standort Deutschland gebunden sind.
Seite 9
Globalisierung ist kein Grund
für steigende Arbeitslosigkeit
So hat sich die jeweilige Arbeitslosenquote eines Landes im Vergleich
zum Anstieg seines Importanteils aus Niedriglohnländern entwickelt:
Luxemburg
Österreich
Irland
Niederlande
Vereinigtes
Königreich
Dänemark
Schweden
Portugal
Belgien
Italien
Finnland
Deutschland
Frankreich
Griechenland
Spanien
Anstieg des Importanteils
aus Niedriglohnländern an
den gesamten Warenimporten von 1995
bis 2004 in Prozent
61,5
46,8
21,5
37,9
44,0
46,4
76,1
13,4
20,8
30,0
57,9
34,5
30,0
58,5
29,4
Standardisierte
Arbeitslosenquote
2004 in Prozent
4,2
4,5
4,5
4,6
4,6
5,4
6,4
6,7
7,8
8,0
8,9
9,6
9,7
10,5
10,9
Niedriglohnländer: Entwicklungs-, Schwellen- und Transformationsländer (alle Länder
außer EU-15, CH, N, USA, CAN, J, AUS, NZ)
Ursprungsdaten: OECD
Dass uns im Zuge der Globalisierung die Arbeit
nicht ausgeht, zeigt auch die positive Bilanz der EUErweiterung. Die Bundesrepublik hat letztes Jahr
einen Export­überschuss von 8,2 Milliarden im Handel
mit den zehn neuen EU-Staaten erzielt – das schlägt
sich auch in Arbeitsplätzen, Steuern und Sozialbeiträgen nieder. Das Problem in Deutschland ist bloß:
Die ermutigenden Effekte der Ost-Erweiterung, ja der
Globalisierung überhaupt, sind immer über die ganze
Fläche verteilt. Die negativen treten lokal auf, sind
spürbarer, und über sie wird (verständlicherweise)
breit berichtet.
2. Behauptung: Die Politik steht der Wirtschaft immer
hilfloser gegenüber.
Richtig ist, dass Kapital heute wesentlich mobiler
geworden ist und eher abwandern kann, wenn ein
Standort nicht mehr attraktiv genug ist. Mit dem
Kapital verschwinden dann auch Beschäftigung und
Steuerquellen ins Ausland. Die auf den ersten Blick
plausible Überlegung der Globalisierungskritiker lautet nun so: Wenn jedes Land mit immer niedrigeren
Steuern um Unternehmen und Anleger buhlt, ist bald
nicht mehr genug Geld da, um Bildung, Infrastruktur
und Sozialhilfe zu finanzieren. Letztlich, so die These,
droht ein ruinöser Steuerwettbewerb nach unten („race
to the bottom“), bei dem der Wohlfahrtsstaat auf der
Strecke bleibt.
Diese Behauptung greift jedoch zu kurz. Denn die
Unternehmen schauen nicht einseitig nur auf die Kos­
Seite 10
Thema Wirtschaft Nr. 98
Gewinnsteuern:
Kein „race to the bottom“
So haben sich die Gewinnsteuern von Kapitalgesellschaften
entwickelt:
OECD
EU-15
in Prozent in Prozent
in Prozent in Prozent
des BIP
des Steuerdes BIP
des Steueraufkommens
aufkommens
1980
2,4
7,6
2,1
5,8
1990
2,7
8,0
2,6
6,7
2003
3,4
9,3
3,2
8,1
Quelle: OECD
tenseite, sondern auch auf das, was ein Land an Bedingungen zu bieten hat, die ihre Produktivität fördern.
Dazu zählt nun einmal gerade eine Reihe staatlicher
Leistungen wie ein hoher Bildungsstand, gute Straßen
und sozialer Friede. Diese Standards aber sind in Niedrigsteuerländern zumeist deutlich geringer.
Auch die Statistik zeigt, dass es ein „race to the
bottom“, also einen internationalen Wettlauf nach
unten, nicht gibt. So sind in den 30 in der Organization
for Economic Cooperation and Development (OECD
= Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit)
zusammengeschlossenen Industrieländern und in den
Ländern der EU-15 die Gewinnsteuern von Kapitalgesellschaften (im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung und
zum gesamten Steueraufkommen) seit den achtziger
Jahren nicht zurückgegangen, wie man anhand der
globalisierungskritischen Thesen erwarten würde,
sondern sogar leicht gestiegen (Tabelle oben).
Auch die Sozialleistungen in der EU sind nicht
durchweg gekürzt, sondern in vielen Ländern noch
erhöht worden, so auch in Deutschland von 28,8
Prozent der Wirtschaftsleistung im Jahr 1980 auf 30,2
Prozent im Jahr 2003.
Im Übrigen ist es ausgerechnet der in Deutschland
viel beklagte Standortwettbewerb, der indirekt für ein
besseres, weil stärker beschäftigungs- und wachstumsförderndes Verhalten der Politiker sorgt. Er zwingt die­
se nämlich dazu, lang notwendige Reformen endlich
zu ergreifen, denen sie vorher immer ausgewichen
sind. Dazu muss man sich klar machen, dass viele
solcher Maßnahmen wie die Lockerung des Kündigungsschutzes oder eine Kürzung von Subventionen,
zum Beispiel der Pendlerpauschale, in aller Regel auf
erbitterten Widerstand der jeweils Betroffenen und
ihrer Interessenverbände wie ADAC oder Gewerkschaften stoßen. Und dass die neue Marschroute gerade jenen Politikern, die jahrzehntelang daran gewöhnt
waren, die Bürgerinnen und Bürger insbesondere vor
Wahlen mit großzügigen Versprechen auf ihre Seite
zu ziehen, besonders schwer fällt – zumal sich die
Früchte solcher Reformen beispielsweise nach den
Erfahrungen in den USA oder Großbritannien erst
nach mehreren Jahren ernten lassen. Bis dahin sind
sie womöglich längst abgewählt und müssen zusehen,
wie ausgerechnet der politische Gegner von ihren
Bemühungen profitiert.
Im Standortwettbewerb müssen alle diese Überlegungen zurückstehen. Die Politiker geraten aktuell
unter stärkeren Druck von außen, weil mit dem Kapital
auch Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten
ihrer Wähler aus dem Land abwandern und schließlich immer weniger zu verteilen ist. Politische Fehler
und Unterlassungen werden somit stärker bestraft als
früher, als die Abwanderungsoption für Unternehmer
und Investoren noch nicht so leicht zu ziehen war.
So zwingt der Standortwettbewerb die Politiker zu
größerer Disziplin.
3. Behauptung: Wir brauchen soziale Mindeststan­
dards gegen die unfaire Konkurrenz aus den Entwick­
lungsländern.
Manche Globalisierungskritiker und auch Gewerkschafter meinen, die Entwicklungsländer würden
uns mit niedrigen Arbeits- und Sozialnormen unfaire
Konkurrenz machen und fordern daher einheitliche
Mindeststandards.
Sie übersehen dabei, dass die niedrigen Löhne und
Sozialleistungen die relativ niedrige Produktivität
(die produzierte Menge pro Arbeitsstunde) in den
Ländern widerspiegeln. Wenn nun die vorgeschriebenen Standards über das hinausgehen, was sich ein
Entwicklungsland leisten kann, steigen seine Kosten
und es verliert seine Wettbewerbsfähigkeit. So ist
es kein Wunder, dass sich die Entwicklungsländer
ihrerseits mit Händen und Füßen gegen diese Art von
neuem Protektionismus zu Wehr setzen.
Kernarbeitsnormen: Viele Länder machen mit
Grundprinzipien der interVereinigungsfreiheit und Recht
nationalen Arbeitsorganisation auf Kollektivverhandlung
Nr. des Übereinkommens
87
98
Anzahl der Länder, die
die jeweilige Konvention
ratifiziert haben
145
154
Quelle: Internationale Arbeitsorganisation (ILO), 2006
Beseitigung der
Zwangsarbeit
29
105
168
165
Verbot der Diskriminierung
in Beschäftigung und Beruf
100
111
162
164
Abschaffung der
Kinderarbeit
138
182
143
158
Thema Wirtschaft Nr. 98
Warum Entwicklungsländer von der
Globalisierung profitieren
Im Zuge der Globalisierung können sich die einzelnen
Länder auf Güter konzentrieren, bei deren Herstellung
sie gegenüber anderen Staaten Vorteile haben. Die Industrieländer beispielsweise verfügen über reichlich Kapital
und Know-how. Daher gehen dort vor allem Produkte vom
Band, die intensive Forschung, gut ausgebildete Mitarbeiter
und komplexe Maschinen benötigen. In den Entwicklungsstaaten dagegen mangelt es derzeit noch an Bildung und
Investitionen – dafür werden relativ geringe Löhne gezahlt.
Dementsprechend lohnt es sich für diese Nationen, insbesondere arbeitsintensive Güter wie Bekleidung, Spielzeug
oder Agrarprodukte auf dem Weltmarkt anzubieten.
Vorteile für alle Beteiligten
Wenn nun jeder das tut, was er am besten kann, holen
alle das meiste aus ihren Möglichkeiten heraus – sprich:
die volkswirtschaftlichen Ressourcen werden so effizient
wie möglich genutzt.
Den in Entwicklungsländern beheimateten Unternehmen
bieten sich vielfach nur sehr eingeschränkte Absatzmöglichkeiten. Zu klein sind die heimischen Märkte, zu arm ist
die Bevölkerung. Gelingt den Firmen dagegen der Sprung
auf den Weltmarkt, können sie mehr produzieren und
dadurch in der Regel ihre Stückkosten reduzieren – was
den Menschen in Afrika, Asien oder Südamerika in Form
fallender Preise zugute kommt und die Wettbewerbsfähigkeit der Firmen erhöht.
Wissen kommt ins Land
Zudem schwappt im Gefolge von Dollar und Euro noch
ein weiterer unverzichtbarer Treibstoff für die Wirtschaft
ins Land: Wissen. Denn große multinationale Firmen führen an ihren Standorten in Asien oder Südamerika vielfach
auch moderne Herstellungsverfahren ein und schulen
das Personal. Zudem zeigen sie ihren Zulieferbetrieben,
wie man hohe Qualitätsstandards erfüllt. Ein solcher
Lernprozess fruchtet allerdings nur in Ländern, in denen
die Menschen bereits einen ausreichenden Bildungsstand
haben, um das neue Wissen anzuwenden.
Ohne Reformen geht gar nichts
Trotz des eindeutigen Plädoyers für die Globalisierung,
das sich sowohl aus den Zahlen als auch aus der Theorie her­
auslesen lässt, wäre es jedoch verfehlt, die wirtschaftliche
Integration in den Weltmarkt als alleinigen Heilsbringer zu
loben. Vielmehr muss sie flankiert werden durch Reformen,
die ein Land fit machen für den grenzenlosen Handel.
So gilt es etwa, hohe Inflationsraten in den Griff zu bekommen, Staatsdefizite abzubauen, die Eigentumsrechte
und Rechtssysteme zu stärken sowie die Korruption zu
bekämpfen und schließlich die Märkte durch Bürokratieabbau und Stärkung des Wettbewerbs flexibler zu machen.
Sinnvoll und zumeist sogar die Produktivität fördernd sind dagegen so genannte Kernarbeitsnormen
wie das Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit. Sie
sind von einer sehr großen Zahl von Ländern ratifiziert
worden (Tabelle auf Seite 10: „Kernarbeitsnormen...“)
und werden von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) überwacht, die zur Not – allerdings nur
relativ milde – Strafen aussprechen kann.
Seite 11
4. Behauptung: Entwicklungsländer sind die Verlierer
der Globalisierung.
Viele Globalisierungskritiker unterstellen, dass die
Entwicklungsländer angesichts der Dominanz der Industrieländer und Multis wirtschaftlich unter die Räder
geraten. In Wirklichkeit gilt: Je stärker sich ein Land in
die internationale Arbeitsteilung einklinkt, desto größer
sind seine Chancen auf mehr Wachstum und höheren
Wohlstand (vgl. Textkasten links und Grafik).
Fest steht nach einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW Köln): Diejenigen Entwicklungsländer, die im Verlauf der achtziger Jahre stärker
an der Globalisierung teilgenommen haben, konnten
ihre Wirtschaftsleistung je Einwohner in den neunziger
Jahren insgesamt um 75 Prozent steigern – die Staatengruppe, die sich dem Weltmarkt weniger zu- oder
gar abgewandt hat, kam demgegenüber nur auf ein
Plus von knapp 30 Prozent.
Mit anderen Worten: Nicht zu viel Globalisierung
schadet den Entwicklungsländern, sondern zu wenig.­
5. Behauptung: Die Armen werden immer ärmer und
die Reichen immer reicher.
Zweifellos leiden auf der Welt viel zu viele Menschen an bitterer Armut und Unterernährung. Die
Frage ist jedoch, ob dies der Globalisierung angelastet
werden kann. Denn – siehe oben – Tatsache ist doch,
dass das wirtschaftliche Zusammenwachsen in der
Welt langfristig die Armut bekämpft.
Die wohlstandsfördernde Wirkung der wirtschaftlichen Integration wird durch Zahlen der Weltbank
untermauert. Die Organisation in Washington schätzt,
dass 2001 rund 21 Prozent der Menschen in den Entwicklungsländern mit weniger als 1 Dollar pro Tag
an Kaufkraft auskommen mussten. Im Jahr 1980,
als die Globalisierung langsam Fahrt aufnahm, lag
die Quote mit über 40 Prozent noch doppelt so hoch.
Entwicklungsländer: Globalisierung
bringt mehr Wachstum
So hat sich von 1990 bis 2000 das reale Bruttoinlandsprodukt
(Summe der jährlichen Produktion und der Dienstleistungen eines
Landes) pro Kopf erhöht, in Prozent:
Globalisierer: Entwicklungsländer,
die sich für den Weltmarkt stark
geöffnet haben
75,0
Nicht-Globalisierer: Entwicklungsländer, die sich für den Weltmarkt
weniger stark geöffnet haben
28,7
OECD-Industrieländer
19,1
Weltmarktöffnung: Messung anhand eines aggregierten Globalisierungsindikators, der die
Veränderungen der Export- und Importquoten, der Importzölle und Direktinvestitionsquoten
im Verlauf der achtziger Jahre misst;
Globalisierer/Nicht-Globalisierer: Entwicklungsländer, die bei einem Ranking gemäß dem
aggregierten Globalisierungsindikator in der obersten/untersten Hälfte des Ländersamples
von 77 Ländern vertreten sind;
Entwicklungsländer: Länder mit einem Pro-Kopf-Einkommen von weniger als rund
9.000 Dollar
Ursprungsdaten: Weltbank
Seite 12
Thema Wirtschaft Nr. 98
Untersuchungen anderer renommierter Wissenschaftler kommen aufgrund abweichender methodischer
Ansätze zwar zu unterschiedlichen (niedrigeren) Ergebnissen – gemeinsam ist ihnen jedoch eine Erkenntnis: Der Anteil der Menschen, die nach Definition der
Weltbank in Armut leben, hat sich seit 1980 mindestens
halbiert (vgl. Grafik rechts).
Zu dieser erfreulichen Entwicklung trugen vor allem
China und Indien bei. In den beiden Staaten lebten
1980 noch rund zwei Drittel der Ärmsten dieser Welt.
Doch seit die Regierungen in Peking und Neu Delhi
marktwirtschaftliche Reformen beschlossen und ihre
Ökonomien Zug um Zug stärker in den Weltmarkt integriert haben, wächst die Wirtschaft kräftig. So legte
das reale Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt in China
zwischen 1980 und 2005 im Jahresdurchschnitt um
8,5 Prozent zu. Indiens Wohlstand wuchs immerhin
mit einer Rate von 3,7 Prozent.
Die Globalisierungsgegner argumentieren, dass die
Wohlstandskluft rund um den Erdball größer werde.
Tatsächlich lässt sich das zeigen, wenn man auf nur
wenige besonders reiche und besonders arme Staaten
schaut. Zahlreiche aufwendige Studien, die nicht nur
solche Extreme beleuchten, sondern einen breiteren
Blickwinkel nutzen, widersprechen der These allerdings. Erstmals seit knapp 200 Jahren belegen sie
von etwa 1980 an sogar einen leichten Rückgang der
weltweiten Ungleichheit.
Darüber hinaus haben sich aber auch andere Indikatoren als das Einkommen positiv entwickelt – wie etwa
die Lebenserwartung oder die Kindersterblichkeit in
den Entwicklungsländern. Damit hat auch diese besonders schreckliche Form von weltweiter Benachteiligung
mit dem Einsetzen der Globalisierung abgenommen.
Globale Armut auf dem Rückzug
Entwicklung der Armutsquote, d.h. des Anteils der Menschen, die
weltweit von weniger als rund 1 Dollar pro Tag leben, 1980=100
100
100
100
69,2
65,6
52,9
51,1
58,4
30,1
1981 1990 2001
1980 1990 1998
1980 1990 2000
nach Schätzung von
Xavier Sala-i-Martin
(Columbia University,
New York)
Surjit Bhalla
(Oxus Research and
Investments, Neu Delhi)
Weltbank
Weltbank, Bhalla: Anteil in Prozent der Bevölkerung in den Entwicklungsländern;
Sala-i-Martin: Anteil in Prozent der Weltbevölkerung; Armutsgrenze von 1 Dollar:
real und auf Basis von Kaufkraftparitäten;
Ursprungsdaten: Chen/Ravallion, Bhalla, Sala-i-Martin
So ist beispielsweise die Zahl der Kinder, die bis zum
Lebensalter von fünf Jahren starben, überall auf der
Welt deutlich kleiner geworden: Kamen 1980 in den
Entwicklungsländern noch 118 Kinder mehr als in den
Industrieländern ums Leben, so ist diese Differenz bis
zum Jahr 2003 auf 81 zurückgegangen. Ähnliches gilt
für sämtliche Entwicklungsländerregionen.
Fazit: Tatsächlich ist das Ausmaß der globalen
Ungleichheit und der weltweiten Armut immer noch
erschreckend groß. Es hilft jedoch nicht, der Globalisierung hierfür pauschal die Schuld zuzuschreiben.
Vielmehr geht es darum, Wege zu finden, damit die
armen Länder und Menschen die Wohlstandslücke
zumindest langsam verringern können.
Wahr ist, dass es der Welt ohne Globalisierung nicht
besser gehen würde, sondern schlechter.
Autor:
Jürgen Matthes, Dipl.-Volkswirt
Studium der Volkswirtschaftslehre in Dortmund;
­Studienaufenthalt in Dublin/Irland; seit Dezember 1995
im „Institut der deutschen Wirtschaft“ als persönlicher
Referent des Direktors; seit 2000 Arbeitsbereich „Neue
Ökonomie“; seit 2003 Arbeitsbereich „Internationale
Wirtschaftspolitik“ innerhalb des Wissenschaftsbereichs
„Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik“.
2/2006
Herausgeber: Institut der deutschen Wirtschaft Köln,
Bundesarbeitsgemeinschaft SCHULEWIRTSCHAFT
Redaktion: Dipl.-Volkswirt Wolfgang Larmann
Telefon: 0221 4981-728 · Fax: 0221 4981-592
[email protected] · www.iwkoeln.de
© 2006 Deutscher Instituts-Verlag GmbH
Gustav-Heinemann-Ufer 84–88, 50968 Köln
Druck: Druckhaus Locher, Köln
ISBN: 3-602-24297-8,
978-3-602-24297-9
Herunterladen