Nr. 98 Jürgen Matthes Globalisierung: Chancen und Risiken Inhalt 1. Globalisierung: Was ist das? Facetten der Globalisierung Seite 1 Ursachen der Globalisierung 1 Indikatoren der Globalisierung 2 2. Die Globalisierung auf dem Prüfstand Wo die Globalisierungskritiker richtig liegen 4 Wo die Globalisierungskritiker nur teilweise Recht haben 5 Wo die Globalisierungskritiker falsch liegen 8 Globalisierung: Temposteigerung seit Mitte der achtziger Jahre Die Konjunkturforschungsstelle der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich hat 23 Einzelindikatoren festgelegt, um einen umfassenden internationalen Globalisierungsindex zu ermitteln. Dazu wurden über 120 Länder nicht nur auf ihre ökonomischen Faktoren hin überprüft wie die Intensität der Handels- und Investitionsströme oder auch der Handelsbeschränkungen. Untersucht wurden ferner soziale Indikatoren wie die jeweilige Fortentwicklung des Telefon- und Internetverkehrs sowie politische Indikatoren wie die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen oder Missionen des UN-Sicherheitsrates als Indizien für das Maß der Weltoffenheit. Die zugrunde gelegte Werteskala reicht von 0 bis 10: Höhere Werte bedeuten über alle Länder hinweg insgesamt mehr Globalisierung. 2,51 2,4 Globalisierungsindex 2,2 2,0 1,8 1,6 1,4 1,53 1970 1980 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 1975 1985 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 Quelle: Dreher, 2006 Thema Wirtschaft Nr. 98 1. Globalisierung: Was ist das? Facetten der Globalisierung „Global denken, lokal handeln“ – dies könnte ein Motto des Siegener Unternehmens „Bombardier Transportation“ sein. Denn die Chefs der Firma wie auch die 500 Mitarbeiter betrachten die neue Welt der Globalisierung, was hierzulande ungewöhnlich genug ist, nicht als Gefahr, sondern als Glücksfall. Aus gutem Grund: Denn ob für die Straßenbahnen in Brüssel, Marseille oder Berlin, für die U-Bahnen in London, Paris oder New York, für den „ICE“ in Deutschland oder den „Talgo“ in Spanien – rund um den Globus sind Züge auf Achse, deren „Drehgestelle“ im Siegerland produziert wurden. Mehrere Tausend Fahrwerke jährlich verlassen den Produktionsbetrieb von „Bombardier Transportation“. Vieles, was in der Endmontage-Halle geschieht, ist sehr komplex, so dass der Laie nicht alles versteht. Doch eines bleibt hängen: Hier sind wettbewerbsfähige Industrie-Arbeitsplätze entstanden, mitten in Deutschland, eingebettet in ein weltweites Netzwerk. Und das Schöne daran: Der Siegener Betrieb, in dem das Wort „Globalisierung“ nicht mit Ängsten, sondern mit Stolz verknüpft wird, ist beileibe kein Einzelfall. Auch wenn es in Deutschland oft ignoriert wird: In vielen Branchen, angefangen von der chemischen Industrie bis hin zum Automobil- und Maschinenbau, sind einheimische Unternehmen immer noch Welt­ spitze. Dabei sind es nicht nur die großen Konzerne, die global mithalten, sondern gewiss nicht wenige Mittelständler, die von Experten sogar als „heimliche Gewinner“ der Globalisierung bezeichnet werden und ihre Marktstellung seit langem behaupten. Allerdings: Es gibt es auch die andere Seite der Globalisierung – die psychologische, die vor allem in Deutschland den Menschen zu schaffen macht. Existenzängste und die Furcht vor Arbeitsplatzverlust machen sich breit. Und tatsächlich sind die Zeiten vorbei, in denen ein Arbeitsplatz bei einem der großen Konzerne wie VW, Bayer oder Hoechst, aber auch im Mittelstand lebenslange Beschäftigung und Einkommen bis zur frühen Rente bedeutete. Zehntausende Arbeitsplätze sind mittlerweile verloren gegangen, und nicht nur die Betroffenen stellen sich die Frage, wie viele Jobs überhaupt in Deutschland bleiben – und zu welchen Bedingungen. Immer mehr sehen sich auf der Verliererstraße der Globalisierung. Fast jeder Dritte erwartet nach einer Seite 1 Umfrage des Bundesverbands deutscher Banken eher Nachteile von moderner Arbeitsteilung und Welthandel. Auch die Richtung, in die der Sozialstaat gleitet, gefällt den Bundesbürgern immer weniger. So halten vier von zehn Deutschen die derzeitige Form der Wirtschaftsordnung für einen Irrweg (Grafik auf der nächsten Seite). Die Deutschen sind auf derartige Umbrüche offenbar schlechter vorbereitet als andere. Nach einer international vergleichenden Studie zum Thema Jugendarbeitslosigkeit entwickeln sie mehr Ängste und haben ein weit höheres Bedürfnis nach persönlicher Sicherheit als beispielsweise Spanier, Italiener oder Griechen. Der Bremer Psychologie-Professor Dr. Thomas Kieselbach fordert deshalb für die Menschen hierzulande „sozialen Geleitschutz“: „Wir müssen sie auf die kritischen Lebensereignisse besser vorbereiten – frühzeitig, schon in der Schule und in der Universität.“ Ursachen der Globalisierung Vor allem benötigen sie auch „ökonomischen Geleitschutz“. Denn bevor man eine Sache durchdenkt und diskutiert, müssen die Fakten klar sein. Das bringt gleich doppelten Nutzen, wie Umfragen zeigen: Denn wer über die Globalisierung mehr weiß, steht ihr aufgeschlossener gegenüber. Und größeres Wissen baut Ängste ab. Zunächst: Unter Globalisierung verstehen die Ökonomen schlichtweg eine Verstärkung der internationalen Verflechtungen zwischen den einzelnen Volkswirtschaften – vor allem mit Blick auf Handel und Kapitalverkehr. So ist das Volumen des globalen Warenhandels seit 1950 mit über 6 Prozent pro Jahr um zwei Drittel schneller gewachsen als die weltweite Warenproduktion. Ermöglicht wurde dies nicht nur durch den Abbau von Zöllen und Handelsbeschränkungen, sondern vor allem auch durch die neuen Informations- und Kommunikationstechniken: Computer, Handy, Internet und Satelliten machen die Menschen an fast jedem Punkt der Erde für Daten und Gespräche erreichbar. Lernziel • Die Globalisierung steht seit langem im Mittelpunkt hitziger Debatten. Bringt sie vorwiegend Gutes? Oder müssen wir uns nicht doch vor ihr fürchten, weil immer mehr Jobs abwandern und uns scheinbar allmählich die Arbeit ausgeht, die Regierungen gegenüber den Multis immer mehr an Macht verlieren, die Sozialstandards unter Druck geraten und die Kluft zwischen Arm und Reich auf der Welt immer größer wird? Thema Wirtschaft Nr. 98 Seite 2 TEU sind in Planung. Die Ozeanriesen sind heute trotz des größeren Volumens fast doppelt so schnell am Ziel wie früher. Marktwirtschaft: Deutsche immer skeptischer So viel Prozent der Deutschen meinten, ... Indikatoren der Globalisierung ... die Soziale Marktwirtschaft habe sich bewährt 1994 73 2000 69 Oktober 2005 59 ... die Globalisierung bringe für Deutschland ... Vor- und Nachteile eher Vorteile eher Nachteile 37 25 24 41 21 30 Telefonische Befragung von 1.528 Personen im Herbst 2005; Globalisierung: Rest zu 100 durch die Antwort „weiß nicht/keine Angabe“ Quelle: Bundesverband deutscher Banken Nur so lässt sich ein weltweites Produktions- und Transportnetzwerk überhaupt vernünftig steuern. Nur so wird es beispielsweise auch möglich, Ingenieure in Deutschland, Russland und den USA rund um die Uhr gemeinsam an einem Projekt arbeiten zu lassen. Einen wichtigen Beitrag zum intensiveren Welthandel leistete die so genannte Container-Revolution, die mithalf, die Transportkosten für die weltweiten Warenlieferungen drastisch zu senken und das Liefertempo erheblich zu steigern. Wurden bis in die sechziger Jahre hinein hochwertige Waren einzeln in Paketen, Kisten, Fässern oder als Ballen an Bord der Schiffe gebracht, ermöglichen Container mittlerweile den standardisierten Transport per Lkw, Zug oder Lastkahn.­ In den Häfen werden sie heute mit satellitengestützten EDV-Lösungen eingelagert und zu den Schiffen geordert. Vollautomatische Terminals sind der letzte Schrei. Induktionsschleifen im Terminalboden leiten automatisch fahrende Containertragwagen zu den Containerbrücken und von da aus in die Lagerfläche. Insgesamt wurde auf diese Weise die Transportgeschwindigkeit im Vergleich zum konventionellen Stückgutumschlag um das 50- bis 150fache erhöht. Dazu kamen immer größere und schnellere Schiffe, deren „Stellplatzkapazität“ von wenigen Hundert auf heute 8.000 TEU (TEU = twenty feet equivalent unit) wuchs. Weit größere Schiffseinheiten bis zu 15.000 Welche Möglichkeiten sich im Zeitalter der Globalisierung eröffnen, macht eine Reihe von Beispielen klar: • Statt T-Shirts hierzulande teuer zu produzieren, werden sie billiger in Asien oder Osteuropa eingekauft – und die Kunden haben mehr von ihrem Geld. Die Grundidee bei alledem ist: Die Güter werden dort hergestellt, wo dies am günstigsten geschehen kann. Etwas genauer hat dies schon vor fast 200 Jahren David Ricardo in seiner Theorie der komparativen Kostenvorteile formuliert. Das bedeutet: Jedes Land konzentriert sich auf das, was es besonders gut und relativ (komparativ) kostengünstig produzieren kann. So ziehen die Entwicklungsländer aufgrund niedrigerer Lohnkosten arbeitsintensive Produktion an wie etwa Bekleidung, Spielzeug oder landwirtschaftliche Produkte. Hierzulande verlegen sich die Unternehmen dagegen auf Güter, bei denen Wissen und Know-how gefragt sind wie etwa Spezialmaschinen, moderne elektrotechnische Anlagen oder forschungsintensive Chemie- und Biotech-Produkte. Globalisierung ist so grundsätzlich kein Gegenein­ ander, sondern ein Miteinander. Es geht nicht darum, dem anderen etwas von seinem Kuchen wegzunehmen. Vielmehr bekommen alle Beteiligten durch ihre Zusammenarbeit größere Stücke – weil der Kuchen insgesamt wächst. • Das Gros des internationalen Handels vollzieht sich allerdings nicht zwischen unterschiedlichen Branchen und zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, sondern zwischen den Industrieländern und hier innerhalb derselben Wirtschaftszweige wie zum Beispiel der Automobilbranche. Dieser intraindustrielle Austausch beschert den Konsumenten eine größere Auswahl, so dass jeder das finden kann, was ihm zusagt. Zudem können die Unternehmen in großen Einheiten produzieren und rentabler arbeiten. Von den niedrigeren Kosten pro Stück profitieren ebenfalls die Verbraucher. • Die Unternehmen erschließen sich durch Exporte oder Produktion im Ausland neue Absatzmärkte oder sparen durch Verlagerungen Kosten. Manche multinationale Konzerne gliedern ihre Herstellung in viele kleine Einheiten auf, verteilen sie über den Globus und fügen die Einzelteile erst am Ende wieder zusammen. Der Handel mit Vor- Thema Wirtschaft Nr. 98 produkten innerhalb solcher Netzwerke war in den letzten Jahren eine ganz wichtige Triebfeder für die Globalisierung. Will man deren ganzes Ausmaß möglichst genau bestimmen, stellt sich die Frage, welche Indikatoren dazu verwendet werden sollen. In einem sehr umfassend angelegten Ansatz hat die Konjunkturforschungsstelle der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich insgesamt 23 Einzelindikatoren genutzt und daraus einen umfassenden Globalisierungsindex entwickelt. Insgesamt zeigt sich, dass die Globalisierung nach einer Delle in den achtziger Jahren vor allem seit 1985 erheblich an Tempo aufgenommen hat (Grafik Umschlagseite 1 innen). In der Folge liegt es nahe, zentrale wirtschaftliche Indikatoren ab Mitte der achtziger Jahre näher unter die Lupe zu nehmen. Das sind in erster Linie der globale Außenhandel sowie der grenzüberschreitende weltweite Kapitalverkehr in Form von Unternehmens­ investitionen und anderen privaten Finanzanlagen. Auch hier kann nachgewiesen werden, dass die weltweiten Exporte seit 1985 deutlich schneller gestiegen sind als die Wirtschaftsleistung (Grafik rechts). Darüber hinaus wird die enorme Steigerung auf dem internationalen Kapitalmarkt deutlich: Die langfristig orientierten Auslandsinvestitionen der Unternehmen (Direktinvestitionen) wie auch die privaten Finanzströme von Milliarden Dollar, Euro, Yen und Co., die um den Erdball kreisen, sind noch einmal fast doppelt so schnell angewachsen wie die globalen Exporte. Eine richtige Konsequenz immerhin haben immer mehr Deutsche aus der neuen Entwicklung gezogen: Nach der Umfrage des Bankenverbandes sagen jetzt sechs von zehn Befragten, die Wohlstandssicherung Seite 3 Freier Handel als globaler Wirtschaftsmotor Index 1985 =100 1.900 Direktinvestitionen Private Finanzströme Weltweite Exporte Weltweite Wirtschaftsleistung 1.700 1.574 1.500 1.300 1.100 900 700 Jahresdurchschnittliche Veränderung 2004 gegenüber 1985 in Prozent Direktinvestitionen 14,4 Private Finanzströme 15,6 Weltweite Exporte 8,6 Weltweite 6,3 Wirtschaftsleistung 1.174 480 500 300 317 100 1985 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 01 03 2000 02 04 Alle Angaben: nominale Größen; private Finanzströme: Aktien, festverzinsliche Wertpapiere, Bankgeschäfte, Handelskredite; Weltexporte: Waren und Dienstleistungen; Weltwirtschaftsleistung: Welt-Bruttoinlandsprodukt auf Basis laufender Wechselkurse; Ursprungsdaten: UNCTAD, IWF müsse in die eigenen Hände genommen werden. Im Jahr 1994 war das Volk bei der Frage nach der Eigenverantwortung noch in zwei gleich große Lager gespalten. Die unverändert hohe Arbeitslosigkeit, die Krisen des Renten- und Gesundheitssystems sowie die Behäbigkeit der Politik haben offenbar dazu beigetragen, dass die Bürger stärker bereit sind, auf den eigenen Antrieb zu setzen, statt auf den Staatszug zu warten – im Zeitalter der Globalisierung eine überaus hilfreiche Grundhaltung. Thema Wirtschaft Nr. 98 Seite 4 2. Die Globalisierungskritik auf dem Prüfstand Ob Arbeitslosigkeit, Nord-Süd-Gefälle oder Kinderarbeit – die Globalisierung scheint sich mittlerweile zu einem Mythos aufzuschwingen, der für alle möglichen Fehlentwicklungen herhalten muss. Doch wie alle Mythen dient auch der Begriff „Globalisierung“ nur allzu oft als einfache Erklärung für komplexe Phänomene, die der Einzelne – auch beim besten Willen – schwer durchschauen kann. Für eine differenzierte Betrachtung der Chancen und Risiken der Globalisierung lassen sich die Kritikpunkte in drei Kategorien einteilen: • in jene, die weitgehend uneingeschränkt gerechtfertigt sind, • in jene, in denen die Globalisierungsgegner teilweise Recht haben, aber wichtige positive Seiten ausblenden und schließlich • in jene, in denen sie bewusst oder unbewusst überziehen und unnötige Ängste schüren. Wo die Globalisierungskritiker richtig liegen 1. Behauptung: Die Industrieländer schotten ihre Märk­ te gegenüber den Entwicklungsländern zu stark ab. Tatsächlich verhindern Industrienationen wie die USA oder die Länder der Europäischen Union, dass sich die global nützliche Arbeitsteilung voll entfalten kann. Sie tun dies einmal durch Zölle und behindern dadurch vor allem den Export arbeitsintensiver Waren, auf die sich viele Entwicklungsländer spezialisiert haben. Dies trifft beispielsweise für Textilien und Bekleidung zu und gilt in noch stärkerem Maße für die Exporte von Agrargütern, auf die viele Entwicklungsländer besonders angewiesen sind, weil rund zwei Drittel der Menschen dort von der Landwirtschaft leben. Gerade diese Produkte aber werden von der EU und den USA durch teils extrem hohe Zölle von bis zu mehreren Hundert Prozent geschützt (Tabelle). Zölle: Industrieländer errichten hohe Barrieren So hoch sind die Zölle in Prozent des Warenwertes: Durchschnittszoll Industrieprodukte Durchschnittszoll Agrarprodukte Spitzenzoll Agrarprodukte EU 4,2 19,0 506,3 USA 4,6 9,9 350,0 Anmerkung: Für die EU liegen die Zölle tatsächlich noch etwas höher, da 14 Prozent der Agrarprodukte mit relativ hohen Zöllen in dieser Statistik nicht erfasst sind. Angewandte WTO-Zölle (Meistbegünstigungszölle) Quelle: Aksoy, 2005 Hinzu kommen in der EU massive Subventionen für die Landwirtschaft. Darunter fallen zum einen Finanzhilfen für EU-Produkte, damit sie auf den heimischen Märkten überhaupt abgesetzt werden können. Die Konkurrenz aus dem Ausland bleibt zu sehr außen vor. Dazu zählen aber auch Exportsubventionen, mit denen die EU ihre Butterberge und Milchseen auf dem Weltmarkt ablädt. Dort sinken folglich die Preise, was für viele Bauern in Entwicklungsländern erhebliche Einkommensverluste mit sich bringt. Die EU und andere Agrarprotektionisten schädigen damit aber nicht nur die Entwicklungsländer. Sie schaden auch sich selbst, weil ihre Verbraucher gleich doppelt zur Kasse gebeten werden: mit höheren Steuern zur Finanzierung der Subventionen und mit höheren Preisen für die Agrarprodukte. Zucker zum Beispiel kostet in Europa dreimal so viel wie auf dem Weltmarkt. Auf diesem Sektor hat die EU zuletzt allerdings gewisse Reformanstrengungen unternommen. Wie unangemessen die Agrarsubventionierung ist, zeigt auch dieser Vergleich: Obwohl die Landund Forstwirtschaft in den 25 EU-Ländern lediglich 2 Prozent der Wirtschaftsleistung und 5 Prozent der Arbeitsplätze stellt, entfällt mit 49 Milliarden Euro derzeit knapp die Hälfte des gesamten EU-Haushaltes auf diesen Posten. 2. Behauptung: Steuer- und Regulierungsoasen sind eine Gefahr für das internationale Finanzsystem. Eine Reihe sehr kleiner Staaten – etwa in der Karibik – ist zu gewaltigen Umschlagplätzen für internationale Gelder geworden. Ihre Bedeutung ist so groß, dass sie das internationale Finanzsystem durchaus ins Wanken bringen können. Dort agieren unter anderem hochspekulative Kapitalanlagegesellschaften – so genannte Hedgefonds. Deren vorrangiges Ziel war es früher, das vorhandene Kapital abzusichern („hedging“ = einhegen, umzäunen). Heute zielen sie oft darauf ab, abgekoppelt von den „normalen“ internationalen Aktien- und Rentenmärkten (Renten = festverzinsliche Wertpapiere wie Staats- oder Unternehmensanleihen oder Pfandbriefe) möglichst hohe Renditen (Erträge) zu erzielen. Problematisch ist dabei die mangelnde staatliche Kontrolle, ob sie auch seriös wirtschaften: Vornehmlich in den Steuer- und Regulierungsoasen gibt es keine oder nur unzureichende Finanzmarktaufsichten. 3. Behauptung: Viele Entwicklungsländer kommen aufgrund von Governance-Defiziten nicht aus der Armutsfalle. In vielen sehr armen Staaten bestehen gravierende Probleme in ihren politischen Steuerungs- und Regelungssystemen. Die so genannten Governance-Defizite Thema Wirtschaft Nr. 98 Seite 5 Governance-Defizite vor allem in den ärmsten Ländern So hoch ist der Governance-Indikator in den einzelnen Regionen: Frühere Sowjetunion -0,91 -0,67 Subsahara-Afrika Südasien -0,63 Lateinamerika -0,28 Mittlerer Osten/Nordafrika -0,17 Ostasien Mittel- und Osteuropa (ohne GUS) OECD 0,01 0,30 1,44 Anmerkung: Der Governance-Indikator umfasst eine Werteskala von -2,5 (schlecht) bis +2,5 (gut) und erfasst institutionelle Rahmenbedingungen des Wirtschaftens wie Rechtssicherheit, politische Stabilität, politische Mitspracherechte, Regierungseffizienz, Korruptionskontrolle und Regulierungsqualität. Stand: 2004 Frühere Sowjetunion: ohne Baltikum Ursprungsdaten: Kaufmann/Kraay/Mastruzzi, 2005 (Governance = Lenkungsformen eines Staates) bedeuten, dass der Staat nicht die optimalen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen schafft, sondern stattdessen Korruption bis hinauf zur Regierung herrscht, generelle Misswirtschaft betrieben wird oder das Land unter ständigen Bürgerkriegen leidet. Dies gilt vor allem in Subsahara-Afrika (Länder südlich der Sahara; früher: Schwarzafrika) und Südasien sowie in den oft autokratisch regierten Ländern der früheren Sowjetunion (Grafik oben). Nicht selten verfügen die Staaten weder über ein funktionierendes Rechtssystem noch über eine effiziente und korruptionsfreie Verwaltung. Die führenden Eliten haben zuweilen in erster Linie ihren eigenen Vorteil im Blick. Mit einem Satz: Es fehlt an einer Politik, mit der Wachstum gefördert und die Armut der Bevölkerung wirksam reduziert werden könnte. Notwendig wären vor allem institutionelle Reformen, die an diesen Mängeln ansetzen. Darüber hinaus wäre wichtig: • die Bekämpfung von riesigen Staatsdefiziten und übermäßiger Inflation, die gerade die ärmsten Menschen am stärksten schädigt, weil diese kaum inflationssicheres Eigentum besitzen, • die Umlenkung staatlicher Ausgaben – etwa von Militärausgaben oder Prestigebauten – hin zu Inves­ titionen in Gesundheitsmaßnahmen, Bildung und bessere Infrastrukturen wie Straßen, Strom- und Wasserversorgung, • der Abbau unnötiger Bürokratie und anderer Regulierungen, die vor allem in den ärmsten Ländern oft ausufern. Sie machen es den dortigen Unternehmen ungemein schwer, sich auf neu entstehende Exportbranchen zu spezialisieren, um so die komparativen Kostenvorteile des Landes nachhaltig auszunutzen. Wo die Globalisierungskritiker nur teilweise Recht haben 1. Behauptung: Internationale Organisationen sind bloß Handlanger der Industrieländer und der multi­ nationalen Unternehmen. Eine logische Konsequenz der engeren globalen Vernetzung ist, dass sich die beteiligten Staaten gemeinsame Regelwerke schaffen müssen. Da ein weltweit freier Handel und offene Kapitalmärkte ganz andere Spielregeln verlangen als eine geschlossene Volkswirtschaft, müssen die zum Teil sehr unterschiedlichen und manchmal sogar widersprüchlichen Interessen der einzelnen Staaten unter einen Hut gebracht werden. Eine der wichtigsten Organisationen, die diese (undankbare) Aufgabe übernommen haben, ist die Welthandelsorganisation WTO (World Trade Organization). Sie sorgt unter anderem dafür, dass sich die Teilnehmer am internationalen Waren- und Dienstleis­ tungsverkehr tatsächlich an die gemeinsam vereinbarten Regeln halten. Wenn es nach den Globalisierungsgegnern geht, ist die WTO allerdings eine undemokratische Organisation, die immer mehr Macht an sich reißt. Angeblich schreibt sie einzelnen Staaten willkürlich ihre Wirtschaftspolitik vor und vertritt dabei „ausschließlich die Interessen der Großen“. Richtig daran ist, dass die großen Industrieländer wie die EU-Staaten und die USA allein wegen ihres wirt­schaftlichen Gewichts in der WTO einen großen ­Einfluss haben. Andererseits gilt auch: Ohne die WTO wäre die Welthandelspolitik viel ungerechter. Die Alternative wären zweiseitige Verhandlungen ­jedes einzelnen Entwicklungslands mit den großen Handelsnationen. Dabei würden die ärmeren Staaten­ Klares Übergewicht der Entwicklungsländer So hoch war die Anzahl der WTO-Mitgliedsländer in den vergangenen Jahren: 1948 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2004 2005 Industrieländer 10 18 18 20 22 22 22 22 22 23 23 23 23 Ursprungsdaten: WTO Entwicklungsländer 8 16 19 45 54 59 61 66 76 104 117 125 126 Gesamt 18 34 37 65 76 81 83 88 98 127 140 148 149 Thema Wirtschaft Nr. 98 Weltbank bekämpft die Korruption Eine Offensive gegen die Korruption hat WeltbankPräsident Paul Wolfowitz gestartet: Im Tschad wurde die Mitfinanzierung einer Pipeline im 4,1-Milliarden-DollarProjekt zur Entwicklung der Ölförderung gestoppt, weil die Regierung mit den Öleinnahmen nicht wie versprochen die Armut, sondern angeblich die Rebellen bekämpfen will. In Kenia blockierte er Kredite über 265 Millionen Dollar nach Unregelmäßigkeiten. Den erwarteten Schuldenerlass für den Kongo stoppte er, nachdem ans Licht kam, dass der kongolesische Präsident bei seinem UN-Besuch im September 2005 in New York 295.000 Dollar im Hotel verjubelt und überwiegend bar bezahlt hatte. Die Weltbank gab nach eigenen Angaben im vergangenen Jahr 13 Prozent ihrer Kredite, insgesamt 2,9 Milliarden Dollar, für Projekte zur Verbesserung der Regierungsführung aus – etwa durch Assistenz beim Aufbau rechtsstaatlicher Systeme und die Förderung unabhängiger Institutionen. Allerdings: Entwicklungsorganisationen werfen der Bank vor, willkürlich zu agieren. Die Mitgliedsländer verpflichteten die Weltbank inzwischen, ein Anti-KorruptionsRegelwerk zu erarbeiten – mit Standards und Kriterien, um mehr Objektivität gegenüber den einzelnen Ländern zu erreichen. Quelle: dpa, April 2006 dann aber erst recht den Kürzeren ziehen, weil die Gro­ ßen ihre Übermacht ungezügelt ausspielen könnten. Die WTO dagegen zwingt die wirtschaftlich mächtigen Staaten in ein Regelkorsett. Sie kann den Einfluss von EU und USA zwar nicht vollständig in den Griff bekommen, aber erheblich mindern. Zu ihrem Regelwerk gehört zum Beispiel ein Schiedsgericht, vor dem sich auch die „Big Player“ zu verantworten haben und das ihnen Sanktionen auferlegen kann. Vor allem die Entwicklungsländer profitieren folglich von der WTO. Der frühere Außenminister Hans-Dietrich Genscher hat einmal gesagt: „Nicht das Recht des Stärkeren, sondern die Stärkung des Rechts schützt die Interessen aller Staaten am besten.“ In der WTO haben die kleinen Staaten nach dem Prinzip „ein Land, eine Stimme“ genauso viel zu sagen wie die Großen (vgl. Tabelle Seite 5). Auch verfügen alle über ein Veto-Recht, so dass kein Land zu Dingen gezwungen werden kann, die es nicht will. Im Kreuzfeuer der Kritik der Globalisierungsgegner stehen mehr noch als die WTO der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank. Zu ihren Aufgaben gehört es, Ländern mit Finanzierungsschwierigkeiten durch kurzfristige Kredite zu helfen und sie bei Reformen ihres Unternehmens- und Finanzsektors zu unterstützen. Das sind schwierige Aufgaben, bei denen der IWF insbesondere während der Finanzkrisen der neunziger Jahre in Asien, Russland und Lateinamerika tatsächlich keine gute Figur abgegeben hat. So wurden beispielsweise Bildungssubventionen gestrichen. Oder es wurden auf Drängen der Weltbank öffentliche Seite 6 Dienstleistungen wie etwa die Wasserversorgung privatisiert, ohne den Markt so zu regeln, dass auch die Armen in ausreichendem Maße und zu vertretbaren Preisen weiterhin versorgt werden konnten. Seit Ende der neunziger Jahre ist dies anders, und IWF und Weltbank berücksichtigen stärker den Armutsaspekt. So werden bei Sparmaßnahmen die Staatsausgaben für Gesundheit und Bildung oft nicht gekürzt, sondern eher noch erhöht – zum Beispiel auf Kosten von Militärausgaben. Bei aller Kritik an IWF und Weltbank – verzichten kann die Welt auf die globalen Finanzmakler ohnehin nicht (vgl. auch den nebenstehenden Textkasten). Wer sonst als sie hat die Möglichkeit, bei Governance-Defiziten in den einzelnen Ländern zu intervenieren und dort – auch und gerade gegen die Interessen der herrschenden Eliten – eine Politik zugunsten der breiten Bevölkerung durchzusetzen? 2. Behauptung: Multinationale Unternehmen beuten die Entwicklungsländer aus und sind mächtiger als Regierungen. Sicherlich gibt es Einzelbeispiele, in denen Multis mit korrupten und antidemokratischen Regimes zusammengearbeitet haben oder menschenunwürdige Arbeits- und Sozialbedingungen geboten haben. Doch handelt es sich dabei um einige wenige schwarze Schafe. Wissenschaftlich fundierte Studien geben einen anderen Trend wieder: Multis, die in Entwicklungsländern aktiv sind, bieten den heimischen Arbeitskräften in der Regel höhere Löhne und bessere Arbeitsbedin- Wo die Unternehmen ihr Geld investieren So hoch war der Anteil der einzelnen Weltregionen an den globalen Direktinvestitionen der Unternehmen im Jahr 2005: 59,7 Industrieländer darunter: EU-15 45,5 USA 11,8 Japan 1,0 Entwicklungs-, Schwellen40,3 und Transformationsländer darunter: Brasilien 1,7 Mexiko 1,9 Hongkong 4,4 Singapur 1,8 2,9 Russische Föderation Neue EU-Länder 4,2 6,7 China Afrika 3,2 6,3 Sonstiges Süd- und Ostasien 4,4 Sonstiges Lateinamerika 100,0 Welt Ursprungsdaten: UNCTAD Thema Wirtschaft Nr. 98 gungen als die Unternehmen in inländischem Besitz. Sie investieren schon aus Eigeninteresse weniger in Ländern mit schwachen demokratischen Rechten und sozialen Kernarbeitsnormen (wie dem Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit), sondern bevorzugt in Ländern, in denen das politische und soziale Umfeld „stimmt“. Schließlich ist nichts schädlicher für das Image und den Verkaufserfolg als eine schlechte Presse. Tatsächlich geht ein Großteil der weltweiten Direktinvestitionen – nach den Industrieländern – in die relativ hoch entwickelten Schwellenländer Mexiko, Brasilien, Russland, Hongkong, Singapur sowie in die neuen EU-Länder (Tabelle Seite 6). Gewiss verstehen es die Großkonzerne, im internationalen Geschäft politischen Einfluss zu nehmen und sich die günstigsten Investitionsstandorte zu sichern. Gleichwohl zeigen beispielsweise die staatlichen Rechtsmittel gegen zu starke Machtkonzentrationen nach wie vor Wirkung, wie die kartellrechtlichen Verfahren gegen Wirtschaftsgiganten wie Microsoft beweisen, das seine Konkurrenz behinderte, und General Electric, dessen Fusion mit dem US-Unternehmen Honeywell von der Europäischen Kommission verboten wurde. Um die Menschenrechtslage in den Entwicklungsländern zu verbessern, fordern die Globalisierungskritiker Boykotte für mit Kinderarbeit gefertigte Waren. Viele Familien in armen Ländern sind jedoch auf das Einkommen der Kinder angewiesen. Brechen die Jobs in der Exportindustrie weg, dann muss der Nachwuchs – oft zu noch schlechteren Bedingungen – in der Binnenwirtschaft ran. 3. Behauptung: Schwächen im internationalen Fi­ nanzsystem sind schuld an den Krisen in einigen Schwellenländern. In den vergangenen zehn Jahren ist es tatsächlich zu gravierenden Finanzkrisen gekommen – so etwa Globaler Devisenmarkt: Ein Riesenrad wird gedreht So hoch war der jährliche globale Devisenumsatz in Billionen US-Dollar: 1995 1998 2001 2004 Devisenspotmarkt 107 139 102 143 Devisenderivate 152 238 229 302 Geschätzte Berichtslücken 11 15 7 25 Summe 270 392 339 470 Devisenspotmarkt: Transaktionen müssen innerhalb von zwei Tagen abgewickelt sein, Rundungsdifferenzen; Daten zu den Devisenderivaten beinhalten direkte Geschäfte zwischen zwei Partnern (over the counter-trade) sowie börsenbezogene Geschäfte; Anmerkung: Werte sind um Doppelzählungen korrigiert und um Wechselkursänderungen bereinigt (Schätzung), Jahreswerte berechnet auf Basis täglicher Durchschnitte im April 2004 unter der Annahme von 230 Handelstagen Ursprungsdaten: Bank für internationalen Zahlungsausgleich Seite 7 Hilft die Tobin-Steuer gegen ­Finanzkrisen? Nicht wenige Globalisierungskritiker schlagen als Mittel gegen Finanzkrisen Kapitalverkehrskontrollen oder eine neue Steuer auf internationale Finanzgeschäfte, die so genannte Tobin-Steuer, vor. Solche Vorschläge übersehen aber zwei Dinge: Zum einen unterscheiden diese Maßnahmen nicht zwischen unerwünschten und – auch in den Augen der Kritiker – erwünschten Kapitalbewegungen. Letztere würden ebenfalls versteuert. Zum anderen müssten sich auch die Steueroasen in den Offshore-Zentren, wie den Bahamas, den internationalen Vereinbarungen fügen – was mehr als unwahrscheinlich ist. Denn diese oft künstlich geschaffenen Finanzplätze würden aufgrund von Kapitalverlagerung von neuen Strafsteuern erst recht profitieren. in Mexiko, in vielen südostasiatischen Staaten, in Russland, Brasilien, Argentinien und in der Türkei. Dabei haben sich zum Teil erhebliche Schwächen im internationalen Finanzsystem gezeigt – verursacht vor allem • durch Mängel in der so genannten Bankenregulierung mit der Folge, dass die Geldinstitute viel zu großzügig Kredite hergaben, oder auch • durch die Sprunghaftigkeit und Panikanfälligkeit der Anleger. Bei Letzteren kommt im Zuge ihrer riskanten An­ lagen zwangsläufig die Psychologie ins Spiel, die dazu führen kann, dass Investoren sich wegen bestimmter Gerüchte oder überzogener Erwartungen wie eine Herde verhalten und so die Aktienkurse in die Höhe treiben wie zum Ende der neunziger Jahre in der New Economy (Unternehmen der Informations- und Kom­ munikationstechnologie). Wenn aber irgendwann die Erkenntnis durchsickert, dass die Traumschlösser nur auf Sand gebaut sind, kann die Spekulationsblase schnell platzen; urplötzlich werden Riesenmengen an Kapital abgezogen, und die Krise ist da. Aber es sind nicht nur Mängel im Finanzsystem, die Krisen herbeiführen können, sondern oft auch die betroffenen Staaten selbst: • weil sie eine krisenanfällige Wechselkurspolitik betreiben, die Renditejäger zum Spekulieren geradezu herausfordert, • weil ihre Bankenaufsicht versagt und Kreditinstitute immer wieder Darlehen an nicht hinreichend kreditwürdige Schuldner vergeben können, und • weil von Pleite bedrohte Unternehmen oft nur deshalb noch existieren, weil das Bilanz- und Konkursrecht ihres Landes ihnen Schlupflöcher eröffnet. Nach den Erfahrungen der neunziger Jahre wurden die Märkte in den vergangenen Jahren stärker an die Kandare genommen (vgl. auch den Textkasten oben „Hilft die Tobin-Steuer ...“) – etwa durch: Thema Wirtschaft Nr. 98 • Auflagen für Bankgeschäfte und eine Verschärfung der Bankenregulierung durch Basel II – unter anderem mit einer realistischeren Abbildung der Risiken in den Bankbilanzen. Das heißt: Die Bankenaufsicht verlangt von Finanzkonzernen, die Kreditausfallrisiken genauer zu bewerten und für den Fall des Falles Finanzpolster anzulegen; • zahlreiche Initiativen, um den Informationsstand der Investoren über die einzelnen Anlageländer zu verbessern, zum Beispiel durch Datenbanken mit vielfältigen Informationen zur Auslandsverschuldung; • eine stärkere Überwachung der Finanzmärkte durch den IWF und eine Ausweitung der Hilfsangebote an einzelne Staaten, ihre Kapitalmärkte für die Globalisierung fit zu machen. Bei alldem darf nicht übersehen werden, dass der IWF und andere Akteure die bisherigen Finanzkrisen meist wieder schnell in den Griff bekommen haben. In konzertierten Aktionen sind sie den in die Bredouille geratenen Schwellenländern zur Seite gesprungen und haben milliardenschwere Hilfspakete geschnürt – allerdings meist an strenge Auflagen in Sachen nationale Wirtschaftspolitik gebunden. Fazit: Alles in allem sind die Vorteile eines wohl regulierten internationalen Finanzsystems wesentlich höher einzuschätzen als seine Risiken. Die Länder mit offeneren Kapitalmärkten, die vereinzelte Krisen hinnehmen mussten, erzielten längerfristig ein höheres Wachstum (pro Kopf der Bevölkerung) als Staaten, die zwar keine Krisen meistern mussten, dafür aber nur geringe Kapitalzuflüsse zu verzeichnen hatten. Wenn nämlich genügend Geld aus dem Ausland ins Land fließt, kann es für die Anschaf- Seite 8 fung von Maschinen und Anlagen verwendet werden, was die Produktivität und somit den Wohlstand auch der Arbeitnehmer steigert. Wo die Globalisierungskritiker falsch liegen 1. Behauptung: Im Zuge der Globalisierung geht uns die Arbeit aus. Die Globalisierung als Jobkiller? Die in Deutschland verbreitete These vom Ende der Erwerbstätigkeit widerspricht der Erfahrung anderer Länder. So sind in den Industrieländern seit 1985 – also in der Phase beschleunigter Globalisierung – rund 76 Millionen neue Arbeitsplätze entstanden. Das entspricht einem Zuwachs von sage und schreibe rund 23 Prozent. Deutschland konnte nur eine Beschäftigungszunahme von knapp 11 Prozent erreichen, die USA dagegen von 32 Prozent. Man mag einwenden, dass sich ein Hire und Fire (heuern und feuern) auf dem Arbeitsmarkt wie in den USA nicht mit den deutschen Wertvorstellungen verträgt. Doch auch der Blick auf einige kleinere kontinentaleuropäische Staaten hilft weiter. Die Niederlande, Dänemark oder Schweden haben es – wenngleich jeweils nach tiefen Wirtschaftskrisen – geschafft, ihre Arbeitsmärkte fit für die Globalisierung und den Technologiefortschritt zu machen. Zu den erfolgreichen Reformkonzepten der Nachbarn gehören Lohnzurückhaltung, mehr Druck und bessere finanzielle Arbeitsanreize für Arbeitslose sowie ein weniger strikter Kündigungsschutz, damit die Unternehmen nicht vor neuen Einstellungen zurückschrecken. In Dänemark beispielsweise existiert nahezu kein Kündigungsschutz, dafür ist die Arbeitslosenunter- Thema Wirtschaft Nr. 98 stützung großzügig. Sie wird jedoch strikt gekürzt, wenn ein Arbeitsangebot abgelehnt wird. Die aktuelle Arbeitslosenquote in Dänemark beträgt 4,8 Prozent; das ist annähernd Vollbeschäftigung. In Deutschland hat man sich gerade erst vorsichtig auf den Reformweg begeben und ist nun dabei, das so genannte Insider-Outsider-Problem am Arbeitsmarkt zu mindern. Denn in der Vergangenheit hat man zu sehr auf hohe Löhne und strikten Kündigungsschutz gesetzt, dabei aber vergessen, dass die Regulierungen zwar gut für die Arbeitsplatzbesitzer (Insider) sind, für Arbeitslose (Outsider) aber eine nicht zu unterschätzende Barriere für den Wiedereinstieg bedeuten. Die Frage, was in einer solchen Situation sozial gerecht ist, lässt sich nicht einfach beantworten. Der Blick auf die europäischen Nachbarländer beweist aber, dass die Zahl der Arbeitslosen keine feste Größe ist, sondern von den Rahmenbedingungen für Inves­ titionen und Beschäftigung abhängt. Es ist also zu schaffen, auf die Herausforderungen einer stärkeren Konkurrenz aus dem Ausland – vor allem aus den Niedriglohnländern – erfolgreich zu antworten. Die Grafik auf dieser Seite zeigt zunächst einmal, dass sich zwischen der Globalisierung und der Höhe der Arbeitslosigkeit kein Zusammenhang feststellen lässt. Ein hoher Anstieg der Billigimporte geht eben nicht automatisch mit hoher Arbeitslosigkeit einher. Die Erfolgsformel heißt Strukturwandel, denn Tatsache ist: In den Industrieländern werden Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich abgebaut oder ins billigere Ausland verlagert. Auf der anderen Seite entsteht bei hinreichend flexiblen Arbeits- und Produktmärkten aber auch neue Beschäftigung vor allem in wissensund technologieintensiven Branchen. Hier können aufgrund einer höheren Produktivität auch höhere Löhne gezahlt werden. Um die nächsten Sprossen auf der Technologieleiter erklimmen zu können, ist es für Deutschland und andere Industrienationen entscheidend, die Bildung der Bevölkerung auf höchstem Niveau zu halten. Die schlechten deutschen PISAErgebnisse sind in dieser Hinsicht allerdings ein gefährliches Warn­zeichen. Richtig ist auch: Nicht alle Geringqualifizierten mögen es schaffen, sich in hinreichendem Maß auf die neuen Aufgaben der Wissensgesellschaft einzustellen. Doch auch für sie entstehen bei geeigneten Arbeitsmarktbedingungen Arbeitsplätze. So etwa bei denjenigen Dienstleistungen, die nicht einem hohen internationalen Wettbewerbs- oder Rationalisierungsdruck ausgesetzt sind – etwa in den Zukunftsbranchen Freizeit und Gesundheit, die naturgemäß an den Standort Deutschland gebunden sind. Seite 9 Globalisierung ist kein Grund für steigende Arbeitslosigkeit So hat sich die jeweilige Arbeitslosenquote eines Landes im Vergleich zum Anstieg seines Importanteils aus Niedriglohnländern entwickelt: Luxemburg Österreich Irland Niederlande Vereinigtes Königreich Dänemark Schweden Portugal Belgien Italien Finnland Deutschland Frankreich Griechenland Spanien Anstieg des Importanteils aus Niedriglohnländern an den gesamten Warenimporten von 1995 bis 2004 in Prozent 61,5 46,8 21,5 37,9 44,0 46,4 76,1 13,4 20,8 30,0 57,9 34,5 30,0 58,5 29,4 Standardisierte Arbeitslosenquote 2004 in Prozent 4,2 4,5 4,5 4,6 4,6 5,4 6,4 6,7 7,8 8,0 8,9 9,6 9,7 10,5 10,9 Niedriglohnländer: Entwicklungs-, Schwellen- und Transformationsländer (alle Länder außer EU-15, CH, N, USA, CAN, J, AUS, NZ) Ursprungsdaten: OECD Dass uns im Zuge der Globalisierung die Arbeit nicht ausgeht, zeigt auch die positive Bilanz der EUErweiterung. Die Bundesrepublik hat letztes Jahr einen Export­überschuss von 8,2 Milliarden im Handel mit den zehn neuen EU-Staaten erzielt – das schlägt sich auch in Arbeitsplätzen, Steuern und Sozialbeiträgen nieder. Das Problem in Deutschland ist bloß: Die ermutigenden Effekte der Ost-Erweiterung, ja der Globalisierung überhaupt, sind immer über die ganze Fläche verteilt. Die negativen treten lokal auf, sind spürbarer, und über sie wird (verständlicherweise) breit berichtet. 2. Behauptung: Die Politik steht der Wirtschaft immer hilfloser gegenüber. Richtig ist, dass Kapital heute wesentlich mobiler geworden ist und eher abwandern kann, wenn ein Standort nicht mehr attraktiv genug ist. Mit dem Kapital verschwinden dann auch Beschäftigung und Steuerquellen ins Ausland. Die auf den ersten Blick plausible Überlegung der Globalisierungskritiker lautet nun so: Wenn jedes Land mit immer niedrigeren Steuern um Unternehmen und Anleger buhlt, ist bald nicht mehr genug Geld da, um Bildung, Infrastruktur und Sozialhilfe zu finanzieren. Letztlich, so die These, droht ein ruinöser Steuerwettbewerb nach unten („race to the bottom“), bei dem der Wohlfahrtsstaat auf der Strecke bleibt. Diese Behauptung greift jedoch zu kurz. Denn die Unternehmen schauen nicht einseitig nur auf die Kos­ Seite 10 Thema Wirtschaft Nr. 98 Gewinnsteuern: Kein „race to the bottom“ So haben sich die Gewinnsteuern von Kapitalgesellschaften entwickelt: OECD EU-15 in Prozent in Prozent in Prozent in Prozent des BIP des Steuerdes BIP des Steueraufkommens aufkommens 1980 2,4 7,6 2,1 5,8 1990 2,7 8,0 2,6 6,7 2003 3,4 9,3 3,2 8,1 Quelle: OECD tenseite, sondern auch auf das, was ein Land an Bedingungen zu bieten hat, die ihre Produktivität fördern. Dazu zählt nun einmal gerade eine Reihe staatlicher Leistungen wie ein hoher Bildungsstand, gute Straßen und sozialer Friede. Diese Standards aber sind in Niedrigsteuerländern zumeist deutlich geringer. Auch die Statistik zeigt, dass es ein „race to the bottom“, also einen internationalen Wettlauf nach unten, nicht gibt. So sind in den 30 in der Organization for Economic Cooperation and Development (OECD = Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit) zusammengeschlossenen Industrieländern und in den Ländern der EU-15 die Gewinnsteuern von Kapitalgesellschaften (im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung und zum gesamten Steueraufkommen) seit den achtziger Jahren nicht zurückgegangen, wie man anhand der globalisierungskritischen Thesen erwarten würde, sondern sogar leicht gestiegen (Tabelle oben). Auch die Sozialleistungen in der EU sind nicht durchweg gekürzt, sondern in vielen Ländern noch erhöht worden, so auch in Deutschland von 28,8 Prozent der Wirtschaftsleistung im Jahr 1980 auf 30,2 Prozent im Jahr 2003. Im Übrigen ist es ausgerechnet der in Deutschland viel beklagte Standortwettbewerb, der indirekt für ein besseres, weil stärker beschäftigungs- und wachstumsförderndes Verhalten der Politiker sorgt. Er zwingt die­ se nämlich dazu, lang notwendige Reformen endlich zu ergreifen, denen sie vorher immer ausgewichen sind. Dazu muss man sich klar machen, dass viele solcher Maßnahmen wie die Lockerung des Kündigungsschutzes oder eine Kürzung von Subventionen, zum Beispiel der Pendlerpauschale, in aller Regel auf erbitterten Widerstand der jeweils Betroffenen und ihrer Interessenverbände wie ADAC oder Gewerkschaften stoßen. Und dass die neue Marschroute gerade jenen Politikern, die jahrzehntelang daran gewöhnt waren, die Bürgerinnen und Bürger insbesondere vor Wahlen mit großzügigen Versprechen auf ihre Seite zu ziehen, besonders schwer fällt – zumal sich die Früchte solcher Reformen beispielsweise nach den Erfahrungen in den USA oder Großbritannien erst nach mehreren Jahren ernten lassen. Bis dahin sind sie womöglich längst abgewählt und müssen zusehen, wie ausgerechnet der politische Gegner von ihren Bemühungen profitiert. Im Standortwettbewerb müssen alle diese Überlegungen zurückstehen. Die Politiker geraten aktuell unter stärkeren Druck von außen, weil mit dem Kapital auch Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten ihrer Wähler aus dem Land abwandern und schließlich immer weniger zu verteilen ist. Politische Fehler und Unterlassungen werden somit stärker bestraft als früher, als die Abwanderungsoption für Unternehmer und Investoren noch nicht so leicht zu ziehen war. So zwingt der Standortwettbewerb die Politiker zu größerer Disziplin. 3. Behauptung: Wir brauchen soziale Mindeststan­ dards gegen die unfaire Konkurrenz aus den Entwick­ lungsländern. Manche Globalisierungskritiker und auch Gewerkschafter meinen, die Entwicklungsländer würden uns mit niedrigen Arbeits- und Sozialnormen unfaire Konkurrenz machen und fordern daher einheitliche Mindeststandards. Sie übersehen dabei, dass die niedrigen Löhne und Sozialleistungen die relativ niedrige Produktivität (die produzierte Menge pro Arbeitsstunde) in den Ländern widerspiegeln. Wenn nun die vorgeschriebenen Standards über das hinausgehen, was sich ein Entwicklungsland leisten kann, steigen seine Kosten und es verliert seine Wettbewerbsfähigkeit. So ist es kein Wunder, dass sich die Entwicklungsländer ihrerseits mit Händen und Füßen gegen diese Art von neuem Protektionismus zu Wehr setzen. Kernarbeitsnormen: Viele Länder machen mit Grundprinzipien der interVereinigungsfreiheit und Recht nationalen Arbeitsorganisation auf Kollektivverhandlung Nr. des Übereinkommens 87 98 Anzahl der Länder, die die jeweilige Konvention ratifiziert haben 145 154 Quelle: Internationale Arbeitsorganisation (ILO), 2006 Beseitigung der Zwangsarbeit 29 105 168 165 Verbot der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf 100 111 162 164 Abschaffung der Kinderarbeit 138 182 143 158 Thema Wirtschaft Nr. 98 Warum Entwicklungsländer von der Globalisierung profitieren Im Zuge der Globalisierung können sich die einzelnen Länder auf Güter konzentrieren, bei deren Herstellung sie gegenüber anderen Staaten Vorteile haben. Die Industrieländer beispielsweise verfügen über reichlich Kapital und Know-how. Daher gehen dort vor allem Produkte vom Band, die intensive Forschung, gut ausgebildete Mitarbeiter und komplexe Maschinen benötigen. In den Entwicklungsstaaten dagegen mangelt es derzeit noch an Bildung und Investitionen – dafür werden relativ geringe Löhne gezahlt. Dementsprechend lohnt es sich für diese Nationen, insbesondere arbeitsintensive Güter wie Bekleidung, Spielzeug oder Agrarprodukte auf dem Weltmarkt anzubieten. Vorteile für alle Beteiligten Wenn nun jeder das tut, was er am besten kann, holen alle das meiste aus ihren Möglichkeiten heraus – sprich: die volkswirtschaftlichen Ressourcen werden so effizient wie möglich genutzt. Den in Entwicklungsländern beheimateten Unternehmen bieten sich vielfach nur sehr eingeschränkte Absatzmöglichkeiten. Zu klein sind die heimischen Märkte, zu arm ist die Bevölkerung. Gelingt den Firmen dagegen der Sprung auf den Weltmarkt, können sie mehr produzieren und dadurch in der Regel ihre Stückkosten reduzieren – was den Menschen in Afrika, Asien oder Südamerika in Form fallender Preise zugute kommt und die Wettbewerbsfähigkeit der Firmen erhöht. Wissen kommt ins Land Zudem schwappt im Gefolge von Dollar und Euro noch ein weiterer unverzichtbarer Treibstoff für die Wirtschaft ins Land: Wissen. Denn große multinationale Firmen führen an ihren Standorten in Asien oder Südamerika vielfach auch moderne Herstellungsverfahren ein und schulen das Personal. Zudem zeigen sie ihren Zulieferbetrieben, wie man hohe Qualitätsstandards erfüllt. Ein solcher Lernprozess fruchtet allerdings nur in Ländern, in denen die Menschen bereits einen ausreichenden Bildungsstand haben, um das neue Wissen anzuwenden. Ohne Reformen geht gar nichts Trotz des eindeutigen Plädoyers für die Globalisierung, das sich sowohl aus den Zahlen als auch aus der Theorie her­ auslesen lässt, wäre es jedoch verfehlt, die wirtschaftliche Integration in den Weltmarkt als alleinigen Heilsbringer zu loben. Vielmehr muss sie flankiert werden durch Reformen, die ein Land fit machen für den grenzenlosen Handel. So gilt es etwa, hohe Inflationsraten in den Griff zu bekommen, Staatsdefizite abzubauen, die Eigentumsrechte und Rechtssysteme zu stärken sowie die Korruption zu bekämpfen und schließlich die Märkte durch Bürokratieabbau und Stärkung des Wettbewerbs flexibler zu machen. Sinnvoll und zumeist sogar die Produktivität fördernd sind dagegen so genannte Kernarbeitsnormen wie das Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit. Sie sind von einer sehr großen Zahl von Ländern ratifiziert worden (Tabelle auf Seite 10: „Kernarbeitsnormen...“) und werden von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) überwacht, die zur Not – allerdings nur relativ milde – Strafen aussprechen kann. Seite 11 4. Behauptung: Entwicklungsländer sind die Verlierer der Globalisierung. Viele Globalisierungskritiker unterstellen, dass die Entwicklungsländer angesichts der Dominanz der Industrieländer und Multis wirtschaftlich unter die Räder geraten. In Wirklichkeit gilt: Je stärker sich ein Land in die internationale Arbeitsteilung einklinkt, desto größer sind seine Chancen auf mehr Wachstum und höheren Wohlstand (vgl. Textkasten links und Grafik). Fest steht nach einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW Köln): Diejenigen Entwicklungsländer, die im Verlauf der achtziger Jahre stärker an der Globalisierung teilgenommen haben, konnten ihre Wirtschaftsleistung je Einwohner in den neunziger Jahren insgesamt um 75 Prozent steigern – die Staatengruppe, die sich dem Weltmarkt weniger zu- oder gar abgewandt hat, kam demgegenüber nur auf ein Plus von knapp 30 Prozent. Mit anderen Worten: Nicht zu viel Globalisierung schadet den Entwicklungsländern, sondern zu wenig.­ 5. Behauptung: Die Armen werden immer ärmer und die Reichen immer reicher. Zweifellos leiden auf der Welt viel zu viele Menschen an bitterer Armut und Unterernährung. Die Frage ist jedoch, ob dies der Globalisierung angelastet werden kann. Denn – siehe oben – Tatsache ist doch, dass das wirtschaftliche Zusammenwachsen in der Welt langfristig die Armut bekämpft. Die wohlstandsfördernde Wirkung der wirtschaftlichen Integration wird durch Zahlen der Weltbank untermauert. Die Organisation in Washington schätzt, dass 2001 rund 21 Prozent der Menschen in den Entwicklungsländern mit weniger als 1 Dollar pro Tag an Kaufkraft auskommen mussten. Im Jahr 1980, als die Globalisierung langsam Fahrt aufnahm, lag die Quote mit über 40 Prozent noch doppelt so hoch. Entwicklungsländer: Globalisierung bringt mehr Wachstum So hat sich von 1990 bis 2000 das reale Bruttoinlandsprodukt (Summe der jährlichen Produktion und der Dienstleistungen eines Landes) pro Kopf erhöht, in Prozent: Globalisierer: Entwicklungsländer, die sich für den Weltmarkt stark geöffnet haben 75,0 Nicht-Globalisierer: Entwicklungsländer, die sich für den Weltmarkt weniger stark geöffnet haben 28,7 OECD-Industrieländer 19,1 Weltmarktöffnung: Messung anhand eines aggregierten Globalisierungsindikators, der die Veränderungen der Export- und Importquoten, der Importzölle und Direktinvestitionsquoten im Verlauf der achtziger Jahre misst; Globalisierer/Nicht-Globalisierer: Entwicklungsländer, die bei einem Ranking gemäß dem aggregierten Globalisierungsindikator in der obersten/untersten Hälfte des Ländersamples von 77 Ländern vertreten sind; Entwicklungsländer: Länder mit einem Pro-Kopf-Einkommen von weniger als rund 9.000 Dollar Ursprungsdaten: Weltbank Seite 12 Thema Wirtschaft Nr. 98 Untersuchungen anderer renommierter Wissenschaftler kommen aufgrund abweichender methodischer Ansätze zwar zu unterschiedlichen (niedrigeren) Ergebnissen – gemeinsam ist ihnen jedoch eine Erkenntnis: Der Anteil der Menschen, die nach Definition der Weltbank in Armut leben, hat sich seit 1980 mindestens halbiert (vgl. Grafik rechts). Zu dieser erfreulichen Entwicklung trugen vor allem China und Indien bei. In den beiden Staaten lebten 1980 noch rund zwei Drittel der Ärmsten dieser Welt. Doch seit die Regierungen in Peking und Neu Delhi marktwirtschaftliche Reformen beschlossen und ihre Ökonomien Zug um Zug stärker in den Weltmarkt integriert haben, wächst die Wirtschaft kräftig. So legte das reale Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt in China zwischen 1980 und 2005 im Jahresdurchschnitt um 8,5 Prozent zu. Indiens Wohlstand wuchs immerhin mit einer Rate von 3,7 Prozent. Die Globalisierungsgegner argumentieren, dass die Wohlstandskluft rund um den Erdball größer werde. Tatsächlich lässt sich das zeigen, wenn man auf nur wenige besonders reiche und besonders arme Staaten schaut. Zahlreiche aufwendige Studien, die nicht nur solche Extreme beleuchten, sondern einen breiteren Blickwinkel nutzen, widersprechen der These allerdings. Erstmals seit knapp 200 Jahren belegen sie von etwa 1980 an sogar einen leichten Rückgang der weltweiten Ungleichheit. Darüber hinaus haben sich aber auch andere Indikatoren als das Einkommen positiv entwickelt – wie etwa die Lebenserwartung oder die Kindersterblichkeit in den Entwicklungsländern. Damit hat auch diese besonders schreckliche Form von weltweiter Benachteiligung mit dem Einsetzen der Globalisierung abgenommen. Globale Armut auf dem Rückzug Entwicklung der Armutsquote, d.h. des Anteils der Menschen, die weltweit von weniger als rund 1 Dollar pro Tag leben, 1980=100 100 100 100 69,2 65,6 52,9 51,1 58,4 30,1 1981 1990 2001 1980 1990 1998 1980 1990 2000 nach Schätzung von Xavier Sala-i-Martin (Columbia University, New York) Surjit Bhalla (Oxus Research and Investments, Neu Delhi) Weltbank Weltbank, Bhalla: Anteil in Prozent der Bevölkerung in den Entwicklungsländern; Sala-i-Martin: Anteil in Prozent der Weltbevölkerung; Armutsgrenze von 1 Dollar: real und auf Basis von Kaufkraftparitäten; Ursprungsdaten: Chen/Ravallion, Bhalla, Sala-i-Martin So ist beispielsweise die Zahl der Kinder, die bis zum Lebensalter von fünf Jahren starben, überall auf der Welt deutlich kleiner geworden: Kamen 1980 in den Entwicklungsländern noch 118 Kinder mehr als in den Industrieländern ums Leben, so ist diese Differenz bis zum Jahr 2003 auf 81 zurückgegangen. Ähnliches gilt für sämtliche Entwicklungsländerregionen. Fazit: Tatsächlich ist das Ausmaß der globalen Ungleichheit und der weltweiten Armut immer noch erschreckend groß. Es hilft jedoch nicht, der Globalisierung hierfür pauschal die Schuld zuzuschreiben. Vielmehr geht es darum, Wege zu finden, damit die armen Länder und Menschen die Wohlstandslücke zumindest langsam verringern können. Wahr ist, dass es der Welt ohne Globalisierung nicht besser gehen würde, sondern schlechter. Autor: Jürgen Matthes, Dipl.-Volkswirt Studium der Volkswirtschaftslehre in Dortmund; ­Studienaufenthalt in Dublin/Irland; seit Dezember 1995 im „Institut der deutschen Wirtschaft“ als persönlicher Referent des Direktors; seit 2000 Arbeitsbereich „Neue Ökonomie“; seit 2003 Arbeitsbereich „Internationale Wirtschaftspolitik“ innerhalb des Wissenschaftsbereichs „Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik“. 2/2006 Herausgeber: Institut der deutschen Wirtschaft Köln, Bundesarbeitsgemeinschaft SCHULEWIRTSCHAFT Redaktion: Dipl.-Volkswirt Wolfgang Larmann Telefon: 0221 4981-728 · Fax: 0221 4981-592 [email protected] · www.iwkoeln.de © 2006 Deutscher Instituts-Verlag GmbH Gustav-Heinemann-Ufer 84–88, 50968 Köln Druck: Druckhaus Locher, Köln ISBN: 3-602-24297-8, 978-3-602-24297-9