Das bessere Bewusstsein und der Wille

Werbung
Das bessere Bewusstsein und der Wille
Eine Einführung in die Philosophie
von Arthur Schopenhauer
Vorlesung von Martin Jandl
im
WS 2011/12
Version: Fast final 23.01.2012
Inhaltsverzeichnis
Erste Vorlesung ................................................................................................................... 1 Eine Schopenhauer-Vorlesung an der SFU – cui bono? ....................................... 1 Schopenhauers Leben in CV-Form ........................................................................... 5 Widersprüche in Schopenhauers Werk .................................................................... 9 Auf dem Weg zum besseren Bewusstsein – Immanuel Kant ............................ 15
Zweite Vorlesung .............................................................................................................. 30 Auf dem Weg zum besseren Bewusstsein – Platon ............................................. 30 Das bessere Bewusstsein ............................................................................................. 35 Die Schrift über Wurzeln, nicht für Apotheker geeignet ................................... 38
Dritte Vorlesung ............................................................................................................... 55 Die Dresdner Geburtssituation ................................................................................. 55 Zu Schopenhauers Verwendung von ›Wille‹......................................................... 57 Gedankengang und Komposition von WWV ....................................................... 65
Vierte Vorlesung ............................................................................................................... 71 Lektüre der WWV: Die Welt als Vorstellung........................................................ 71 Lektüre der WWV: Der Leib als objektivierter Wille .......................................... 73 Lektüre der WWV: Die Objektivationen des Willens ......................................... 76 Lektüre der WWV: Kontemplation & Befreiung.................................................. 85
Fünfte Vorlesung .............................................................................................................. 92 Lektüre der WWV: Bejahung & Verneinung des Willens .................................. 92 Lektüre der WWV: Streben und Leiden ................................................................. 94 Lektüre der WWV: Bejahung und Sexualität ........................................................ 96 Lektüre der WWV: Quietiv des Willens ................................................................. 99 Individueller Charakter und kolossaler Egoismus ............................................. 104
Literaturverzeichnis ...................................................................................................... 113
Siglenverzeichnis ....................................................................................................... 113 Bücher .......................................................................................................................... 113 Erste Vorlesung
Eine Schopenhauer-Vorlesung an der SFU – cui bono?
Die Philosophie von Arthur Schopenhauer stellt im Gegensatz zu Kants Œuvre
keinen Einschnitt in die Philosophiegeschichte dar – es lässt sich nicht stimmig
behaupten, dass es eine Philosophie ›vor Schopenhauer‹ und eine ›nach Schopenhauer‹ gibt, was sehr wohl auf Kants Kritik der reinen Vernunft zutrifft.
Dennoch – Schopenhauer gilt als einer der bedeutendsten Philosophen (nicht
nur des 19. Jahrhunderts), was für sich betrachtet allerdings noch nicht erklärt,
warum gerade sein philosophisches System an der Sigmund Freud Universität
vorgetragen werden soll. Es sind zwei Gründe, die mich dazu motivierten, eine
Vorlesung über Schopenhauer anzubieten.
Der erste Grund liegt auf der Hand – in Freuds Konzeption der Psychoanalyse lassen sich Einflüsse der Welt als Wille und Vorstellung, Schopenhauers
Hauptwerk, feststellen. Dass die Psychoanalyse in wesentlichen Punkten von
Schopenhauer beeinflusst ist, lässt sich problemlos in Freuds Selbstdarstellung
von 1925 finden:
»Die weitgehende Übereinstimmung der Psychoanalyse mit der Philosophie
Schopenhauers – er hat nicht nur den Primat der Affektivität und die überzeugende Bedeutung der Sexualität vertreten, sondern selbst den Mechanismus der
Verdrängung gekannt – lassen sich nicht auf meine Bekanntheit mit seiner Lehre zurückführen. Ich habe Schopenhauer sehr spät in meinem Leben gelesen.
[…] An der Priorität lag mir ja weniger als an der Erhaltung meiner Unbefangenheit.« (Freud 1999:86)
Freud konzediert eine Übereinstimmung in vielen Positionen, weist allerdings
den Gedanken einer direkten Beeinflussung zurück, indem der auf einer späten
Lektüre insistiert. Allerdings ist es nicht von entscheidender Bedeutung, ob wir
Freud quasi beim heimlichen Lesen von Schopenhauer ›erwischen‹; denn Wien
um die Jahrhundertwende ist durch eine spezifische kulturhistorische Situation
gekennzeichnet: Architektur und Kunst, Journalismus und Jurisprudenz, Philosophie und Dichtung, Musik und Theater sind zu Beginn des 20. Jahrhunderts
in Wien keineswegs als »parallele, aber voneinander unabhängige Aktivitäten
[aufzufassen], die sich bloß zufällig zur selben Zeit am selben Ort entfalteten«
(Janik & Toulmin 1989:20). Das Ziehen von Trennlinien entspricht nicht der
historischen Realität.
»In dieser Hinsicht könnten wir leicht irregeführt werden durch die grundlegenden Unterschiede zwischen dem späten habsburgischen Wien – wo künstlerisches und kulturelles Leben die Angelegenheit vergleichsweise eng kommunizierender Gruppen von Künstlern, Musikern und Schriftsteller war – und dem
Seite |
1
heutigen Westeuropa oder Amerika, wo etwa die akademische oder künstlerische Spezialisierung selbstverständlich ist und die verschiedenen Sphären schöpferischer Aktivität in grundsätzlicher Unabhängigkeit voneinander existierten.«
(Janik & Toulmin 1989:21)
In suggestivem Ton stellen Janik & Toulmin dem/der LeserIn folgende Fragen:
»War es einfach Zufall, daß die Anfänge der Zwölftonmusik, der ›modernen‹
Architektur, des Rechtspositivismus, der abstrakten Malerei und der Psychoanalyse – oder auch das Wiederaufleben des Interesses an Schopenhauer und Kierkegaard – alle in der gleichen Zeit entstanden und daß sie so weitgehend auf
Wien konzentriert waren? War es nur eine biographische Merkwürdigkeit, daß
der junge Dirigent Bruno Walter regelmäßig Gustav Mahler zu Einladungen im
Haus der Familie Wittgenstein in Wien begleitete und dabei beide ihr gemeinsames Interesse an der Philosophie Kants entdeckten, was Mahler veranlaßte,
Walter zu Weihnachten 1894 die gesammelten Werke Schopenhauers zu schenken?« (Janik & Toulmin 1989:21)
Es ist eine gut belegte Tatsache, dass in den Wiener Salons um die Jahrhundertwende ein reger intellektueller Austausch gepflegt wird, in dem auch der
›Anti-Philosoph‹ Schopenhauer intensiv diskutiert wird (Janik & Toulmin
1989:37) – neben Nietzsche übrigens. So gesehen müssen sich die Wiener Intellektuellen des Fin-de-siècle-Wien gar nicht die Mühe machen, die Schriften
der gerade ›aktuellen‹ Philosophen zu lesen. Daraus lässt sich ein weiterer
Schluss ziehen: Schopenhauers Werk ist nicht nur Freud bekannt, sondern allen PsychoanalytikerInnen und PsychotherapeutInnen, die während des Fin-desiècle in den Wiener Salons verkehrten. Außerdem (so meine Annahme) wird
Freud seine Schüler und Mitstreiter dazu anreget haben, sich mit Schopenhauer zu beschäftigen.
Wie Pongratz (1984:207) ausführt, sind die Übereinstimmungen zwischen
Schopenhauers Willensmetaphysik und Freuds Psychoanalyse ›in der Tat weitgehend‹. Pongratz charakterisiert Schopenhauers Philosophie wie folgt:
»Der Urkonflikt im Menschen ist durch eine existentielle Frustration hervorgerufen: Des Menschen Wünschen und Wollen ist grenzenlos, seine Ansprüche
maßlos, ein befriedigter Wunsch zeugt einen neuen. ›Keine auf der Welt mögliche Befriedigung könnte hinreichen sein Verlangen zu stillen, seinem Begehr ein
endliches Ziel zu setzen und den bodenlosen Abgrund seines Herzens auszufüllen.‹ Das Angebot der Welt liegt weit unter den Erwartungen menschlichen
Wollens, das macht die grundlegende Frustration aus. Eine zweite Form des
Konfliktes entsteht durch die Widerpartnerschaft des bewußt verneinenden
Willens gegen den Triebwillen. Von der Verneinung, nicht von der Erfüllung des
Triebwollens ist Ruhe, ist Erlösung zu erhoffen. Schließlich steht der Mensch
Seite |
2
von vornherein in einem Sozialkonflikt; denn der Wille Schopenhauers pessimistischer Philosophie ist kraß egoistisch. Streit und Kampf herrscht in der Natur,
entzweit die Menschen. Jeder will Mittelpunkt der Welt sein, und so streitet das
Bedürfnis des einen gegen das gleichgerichtete des anderen, und jeder ist bereit,
›eine Welt zu vernichten, um nur sein eigenes Selbst, diesen Tropfen im Meer,
etwas länger zu erhalten‹. Aus dieser Grundsituation erwachsen die seelischen
Störungen; sie haben ihren Ursprung letztlich in dem Widerstreit, den Freud
durch die Gegensätzlichkeit von Trieb und Abwehr gekennzeichnet hat.« (Pongratz 1984:207)
Zimmer (2010:117) hebt die Erschütterungen besonders hervor, die Schopenhauer auf das Selbstverständnis des Menschen ausübt: »Das angebliche Vernunftwesen Mensch ist in Wahrheit ein Triebwesen, seine Rationalität
schwimmt wie ein kleiner schwankender Kahn auf einem Ozean des Triebhaften, Irrationalen und Unbewussten.« Diese Erschütterung findet sich bei Freud
(1987:133ff) reformuliert als die ›dritte Kränkung‹ des Menschen (neben sich
selbst nennt Freud bekanntlich Kopernikus und Darwin).
Sexualität ist für Schopenhauer kein beliebiges, sondern ein zutiefst metaphysisches Thema; er sieht in der Sexualität einen Schlüssel für das Verständnis
des Menschen, denn in den Triebregungen des Körpers ist der Mensch in unmittelbarem Kontakt zum Willen als dem universalen Lebensantrieb (s. Zimmer 2010:149f). Schopenhauers Traumtheorie dürfte keinen geringen Einfluss
auf Freuds Die Traumdeutung haben (s. Zimmer 2010:216).
»Dass rationales Begreifen und Verstehen und alles das, was die Tradition Bewusstsein nannte, auf einem Kontinent undurchschauter Triebe und Willensregungen ruht, ist eine Entdeckung Schopenhauers, die Freud ausgebeutet und
fruchtbar gemacht hat. […] Schopenhauer kann mit Recht als der erste Philosoph und Entdecker des Unbewussten und Freud als der im Bereich der Psychologie bedeutendste Schopenhauer-Erbe gelten. Freud teilt mit Schopenhauer die
Erkenntnis, dass die Sexualität einen Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Natur liefert und dass die Kanalisierung und Gestaltung des Irrationalen
ein Charakteristikum der menschlichen Kultur ausmacht.« (Zimmer 2010:268)
Allerdings muss man die Wirkung von Schopenhauer auf Freud nicht positiv
sehen, ja es gibt AutorInnen, die Freuds Psychoanalyse im Vergleich zu Schopenhauers Willensmetaphysik als nachgerade barbarisch einstufen. Folgendes
Zitat sei als Beispiel angeführt:
»Fragwürdig erscheint auch die Berufung auf Schopenhauer im Falle Sigmund
Freuds. Dessen monomanischer Pansexualismus beruht offenbar auf einer Mißdeutung der wirklichkeitsgemäßen Feststellung Schopenhauers, daß die Geschlechtsliebe, ›nächst der Liebe zum Leben, sich als die stärkste und thätigste
Seite |
3
aller Triebfedern erweist, die Hälfte der Kräfte auf Gedanken des jüngeren
Theiles der Menschheit fortwährend in Anspruch nimmt, das letzte Ziel fast jedes menschlichen Bestrebens‹ sei. Aus der ›stärksten und thätigsten aller Triebfedern‹ macht der moderne Psychoanalytiker praktisch die einzige Triebfeder;
aus der ›Hälfte der Kräfte und Gedanken des jüngeren Theils der Menschheit‹
ein altersmäßig kaum begrenztes Totales: Dies aufgrund einer rein mechanistischen Vorstellung vom ›Unbewußten‹, die ihrerseits einer Psychologie entspricht, nach der er möglich sein soll, die Psyche aus der Physis zu erklären.
Wohingegen wohl die unangreifbarste aller Einsichten Schopenhauers diese ist
und bleiben wird: daß jede ›physische Erklärung, überhaupt und als solche, noch
einer metaphysischen bedarf, welche den Schlüssel zu allen ihren Voraussetzungen lieferte, eben deshalb aber auch einen ganz anderen Weg einschlagen müßte‹.« (Abendroth 2007:130f)
Es soll nicht darauf eingegangen werden, ob Abendroth Freud nicht missversteht, denn für Freud deckt sich Sexualität »keineswegs mit dem Drang nach
Vereinigung der geschiedenen Geschlechter oder nach Erzeugung von Lustempfind an den Genitalien, sondern weit eher mit dem allumfassenden und alles erhaltenden Eros des Symposions Platons« (Freud 1999:105).
Wie man auch immer das intellektuelle Verhältnis von Schopenhauer und
Freud einschätzen mag – es liegt auf der Hand, dass die Kenntnis von Schopenhauers zentralen Gedanken für PsychotherapiewissenschaftlerInnen nicht
unmaßgeblich ist.
»Schopenhauer hat, fast ein Jahrhundert vor Freud, die das abendländische Denken beherrschende Bewußtseinsphilosophie umgedreht. Bei Schopenhauer gibt
es zum ersten Mal eine ausgeführte Philosophie des Unbewußten und des Leibes. Das Sein bestimmt unser Bewußtsein. Aber das Sein ist nicht, wie bei Marx,
der Gesellschaftskörper, sondern unser wirklicher Körper, der uns allem gleichmacht und doch auch uns mit allem verfeindet, was lebt. […] Aber er war der
›rationalste Philosoph des Irrationalen‹ (Thomas Mann). Er wußte: Man muß
dem Schwächeren beistehen, der Vernunft. Für die Torheit, den Willen, diesen
Riesen, zu sich selbst befreien zu wollen, hatte er nur Verachtung übrig. Er jedenfalls wollte sich nicht dazu hergeben, als Schwanz mit dem Hund zu wackeln.« (Safranski 2010:509f)
Für die Psychotherapiewissenschaft gilt im Speziellen, was Safranski allgemein
festhält:
»Es war nicht lange vor seinem Tode, daß Schopenhauer sagte: ›Die Menschheit
hat Einiges von mir gelernt, was sie nie vergessen wird…‹ Man hat von ihm gelernt, hat aber auch vergessen, daß man von ihm gelernt hat.« (Safranski 2010:
509)
Seite |
4
Damit ist der zweite Grund für diese Vorlesung angesprochen. Psychotherapiewissenschaft bedarf einer philosophischen Basis. Oder anders formuliert:
Das Verständnis von philosophischen Texten und die Bewandertheit in unterschiedlichen philosophischen Denksystemen ist für die Psychotherapiewissenschaft nicht unerheblich – gerade für ihr wissenschaftliches Selbstverständnis.
Die Trennung von der Philosophie, die die Mainstream-Psychologie vollzogen
hat – und zwar nicht unbedingt zu ihrem Vorteil –, sollte in der ›Wissenschaft
vom Subjektiven‹ (wie man es trefflich formuliert hat) nicht dupliziert werden.
Die Einführung in Schopenhauers Denken bringt mit sich, dass auch über Kant
und Platon, über Erkenntnistheorie und Ethik, über Ästhetik und das Leib-Seele
Problem zu reden ist. Schopenhauers Werk ist reich, und es zu verstehen bedeutet zugleich wichtige philosophische Grundlagen zu rezipieren. Oder, anders gesagt: Eine Vorlesung über Schopenhauer ist auch eine Einführung in vielerlei philosophische Themen. Und das ist für die junge Disziplin der Psychotherapiewissenschaft nicht unnötiges Beiwerk.
Das, gemeinsam mit der Bedeutung von Schopenhauers Werk auf die
Entwicklung der Psychoanalyse, sind die beiden Gründe für die Wahl, Schopenhauers Werk als Vorlesung an der SFU vorzutragen.
Schopenhauers Leben in CV-Form
»Schopenhauer ist ein Philosoph des frühen 19. Jahrhunderts. Das vergisst man
leicht, weil seine Wirkung erst so spät eingesetzt hat.« (Safranski 2010:13)
Es ist leider nicht möglich, das Leben des Arthur Schopenhauer hier detailliert
nachzuzeichnen – wie das beispielsweise Safranski (2010), Zimmer (2010) oder
auch Abendroth (2007) in ihren lesenswerten Biografien machen. Für unsere
Zwecke soll ein Kurzüberblick, ein CV sozusagen, genügen. Ich kompiliere die
folgenden Daten aus Abendroth (2007:137ff) und Birnbacher (2009:139f).
1788 Geboren am 22. Februar in Danzig (Heiligengeistgasse 114) als Sohn des
Kaufmanns Heinrich Floris Schopenhauer und dessen Frau Johanna, die
später zu einer weithin bekannten und geschätzten Romanautorin wird;
Taufe am 3. März
1793 Der Vater verlegt sein Geschäft nach Hamburg, um nicht mit der Angliederung Danzigs an Preußen preußischer Untertan zu werden. Arthur
Schopenhauer besucht eine Privatschule für angehende Kaufleute.
1797 Geburt der Schwester Adele; Arthur Schopenhauer fährt zur Erlernung
der französischen Sprache nach Le Havre, wo er im Haus des Geschäfts-
Seite |
5
freunds seines Vater, Grégoire de Blésimaire, zwei (glückliche) Jahre
verbringt und sich mit dem Sohn des Hauses, Anthime Grégoire, befreundet.
1799 Besuch der Rungeschen Privatschule in Hamburg. Arthur Schopenhauer
eignet sich den Lehrstoff sehr (zu) schnell an und bittet daher seinen Vater, ihn aufs Gymnasium zu schicken; der Vater allerdings beharrt auf
einer Ausbildung zum Kaufmann (und hält humanistisches Wissen für
überflüssig). Arthur wird von seinem Vater schließlich vor eine Alternative gestellt: Gymnasium oder mehrjährige Bildungsreise durch Europa
(und dann Kaufmann). Arthur entscheidet sich für die Reise.
1800 Reise mit den Eltern nach Karlsbad und Prag
1803-04
Europareise (England, Frankreich, Schweiz, Österreich) mit den
Eltern. Aufenthalt in England zum Erwerb der englischen Sprache (im
Eagle House zu Wimbledon). Während der ganzen Reise führt Arthur
Schopenhauer Tagebuch; hier finden sich neben den vielfältigen positiven Eindrücken auch frühe pessimistische Empfindungen und Eindrücke.
1805 Kaufmannslehre in der Hamburger Firma Jenisch. Der Vater begeht Suizid.
1806 Die Mutter und Schopenhauers Schwester Adele übersiedeln nach der
Auflösung des väterlichen Geschäfts nach Weimar und lassen Arthur
Schopenhauer in Hamburg allein zurück. Schopenhauer wirft der Mutter in Briefen vor, den Suizid des Vaters durch Lieblosigkeit verschuldet
zu haben; dabei ist er hin und hergerissen zwischen pflichtmäßiger Fortsetzung der Kaufmannslehre und der Neigung zum geistigen Lebensberuf (liest begeistert Matthias Claudius, W.H. Wackenroders und Ludwig
Tiecks).
1807-09
Schopenhauer wird Schüler des ›Gymnasium illustre‹ in Gotha,
das er wegen eines Spottgedichts noch im selben Jahr verlassen muss.
Übersiedlung nach Weimar. Großjährig geworden, bekommt Schopenhauer seinen Anteil am väterlichen Erbe (und hat fortan keine Geldsorgen mehr). Schopenhauer bewältigt das Gymnasialpensum in zwei Jahren.
1809 Aufnahme des Studiums der Medizin, der Naturwissenschaften und der
Philosophie an der Universität Göttingen; Schopenhauer lernt die Werke
von Kant und Platon kennen.
1811 Studium der Philosophie an der Universität Berlin, unter anderem bei
Fichte und Schleiermacher; Schopenhauers ursprüngliche Begeisterung
Seite |
6
für diese Geistesgrößen schlägt schnell in Verachtung und Geringschätzung um, die er Zeit seines Lebens beibehalten wird.
1813 Wegen Kriegsunruhen verlässt Schopenhauer Berlin; kurzer Aufenthalt
in Weimar, wo er sich mit der Mutter streitet, aber immerhin Goethe
kennenlernt, der bei der Mutter gern gesehener Gast ist. Schopenhauer
zieht sich nach Rudolstadt zurück und verfasst in kurzer Zeit seine Dissertation.
1813 Promotion zum Dr. phil. an der Universität Jena mit der Dissertation
Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde; einer
der ersten Leser ist Goethe (oder vielleicht auch nicht…). Durch Friedrich Majer wird Schopenhauer mit der altindischen Philosophie, dem
Brahmaismus, bekannt.
1814 Übersiedlung nach Dresden. Zerwürfnis mit der Mutter
1816 Abschluss der Studien zur Farbenlehre mit der Veröffentlichung der
Abhandlung Über das Sehen und die Farben; Goethe ist nicht wirklich
begeistert und dürfte den transzendentalphilosophischen Ansatz, der
Schopenhauer eigen ist, nicht verstehen.
1819 Die Welt als Wille und Vorstellung. Im Zuge der Abrechnungen beleidigt Schopenhauer seinen Verleger, F. A. Brockhaus; das Buch wird ein
wirtschaftliches Desaster.
1818-19
Italienreise; sie führt über Venedig, Rom Neapel, Paestum, Rom,
Venedig, Mailand; in Venedig verliebt sich Schopenhauer in eine unbekannt gebliebene Dame. Das Bankenhaus L. A. Muhl bricht zusammen,
dort hat Schopenhauer sein Vermögen liegen; die finanzielle Zukunft ist
plötzlich ungewisse, Schopenhauer bemüht sich um eine Professur.
1820 Antrittsvorlesung und Vorlesungstätigkeit als Privatdozent an der Universität Berlin. Da Schopenhauer seine Vorlesungen demonstrativ zu
den Stunden von Hegels Hauptkolleg setzt, bleiben die Hörer aus – zu
diesem Zeitpunkt ist Hegel die unbestrittene Philosophengröße.
Seite |
7
1821 Muhl & Co zahlen Schopenhauer seine Forderungen aus. Die finanzielle
Zukunft ist wieder gesichert.
1822 Zweite Italienreise über die Schweiz, Mailand, Venedig und Florenz
1823 Rückkehr nach Deutschland; in München wird Schopenhauer wegen
mehrerer Krankheiten fast ein Jahr festgehalten; tiefe Depression, gesteigert durch die Ertaubung des rechten Ohrs.
1824 Kur in Gastein
1825-31
Ab April wieder in Berlin, um einen weiteren Anlauf zur
Dozentenkarriere zu übernehmen (Schopenhauers Erwartungen sind
gedämpft); die Resonanzlosigkeit hält allerdings an. In der ›Kleinen Bücherschau‹ erscheint eine positive Besprechung von Die Welt als Wille
und Vorstellung, geschrieben von Jean Paul. Im August 1831 flieht
Schopenhauer aus Berlin, um der Choleraepidemie nicht zum Opfer zu
fallen; Hegel bleibt und stirbt an Cholera.
1832 Abschluss der Übersetzung von Baltasar Graciáns Hand-Orakel und
Kunst der Weltklugheit, veröffentlicht nach Schopenhauers Tod
1833 Übersiedlung nach Frankfurt am Main, wo sich Schopenhauer nun endgültig niederlässt.
1836 Abfassung und Erscheinen der Schrift Über den Willen in der Natur
1837 Schopenhauer greift in die Gestaltung der Kant-Gesamtausgabe ein, indem er erfolgreich für die Aufnahme der ersten Fassung der Kritik der
reinen Vernunft anstatt der zweiten Fassung plädiert.
1838 Tod der Mutter
1839 Preisschrift über die Freiheit des menschlichen Willens, ausgezeichnet
von der Königlichen Norwegischen Societät der Wissenschaften
1840 Preisschrift über das Fundament der Moral, nicht ausgezeichnet von der
Königlichen Dänischen Societät der Wissenschaften. Beide Preisschriften erscheinen 1841 unter dem zusammenfassenden Titel Die beiden
Grundprobleme der Ethik. Mit Julius Frauenstädt tritt der erste von
Schopenhauers in den folgenden Jahren sich ständig mehrenden ›Aposteln und Evangelisten‹ in dessen Gesichtskreis.
1843 Schopenhauer bezieht für die Dauer von 16 Jahren das Haus Schöne
Aussicht Nr. 17.
1844 Die Welt als Wille und Vorstellung, Neuauflage zusammen mit einem
ergänzenden zweiten Band
1847 Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, erweiterte und veränderte Neuauflage
1849 Tod der Schwester Adele, kurz nach dem letzten Wiedersehen
Seite |
8
1851 Parerga und Paralipomena, 2 Bände (Band 2 enthält die Aphorismen zur
Lebensweisheit)
1854 Richard Wagner lässt Schopenhauer seine Dichtung Der Ring der Nibelungen überreichen; dieser meint, Wagner habe mehr Talent zum Dichter als zum Musiker ;-)
1858 Schopenhauer wird zum 70. Geburtstag die Mitgliedschaft in der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin angetragen; er lehnt ab.
1859 Schopenhauer übersiedelt in das Nachbarhaus Schöne Aussicht Nr. 16.
1860 Am 9. September Ausbruch einer Lungenentzündung; letztes Gespräch
mit Wilhelm Gwinner (erster Schopenhauer-Biograf) am 18. September;
Arthur Schopenhauer stirbt am 21. September und wird fünf Tage später auf dem Städtischen Hauptfriedhof beigesetzt.
Widersprüche in Schopenhauers Werk
»Schopenhauer ist der Philosoph der Säkularisierungsschmerzes, der metaphysischen Obdachlosigkeit, des verlorenen Urvertrauens. […] Doch es gibt bei ihm
noch ein metaphysisches Staunen, auch Entsetzen über die gnadenlose Immanenz des Lebenswillens, der kein Jenseits kennt. Er hat mit Ersatzgöttern (Naturvernunft, Geschichtsvernunft, Materialismus, Positivismus) zu einem Zeitpunkt aufgeräumt, als die Flucht in diese neuen ›Religionen‹ des Machbaren erst
so richtig begann.« (Safranski 2010:509)
Es gibt Widersprüche in Schopenhauers Werk, und zwar motivischer und inhaltlicher Art. Der erste liegt wohl darin begründet, dass Schopenhauer ein Philosoph des Übergangs ist.
Birnbach (2009:7) sieht in Schopenhauer einen ›Denker des Übergangs‹:
Sein Denken steht einerseits in der Tradition der neuzeitlichen Philosophie,
vornehmlich von Kants Transzendentalphilosophie, andererseits macht sich in
Seite |
9
Schopenhauers Philosophierens ein gänzlich neuer Typ philosophischen Denkens bemerkbar, für das sich die Bezeichnung ›Existenzphilosophie‹ eingebürgert hat. Søren Kierkegaard, der als der eigentliche Begründer der Existenzphilosophie gilt, gehört der Generation nach Schopenhauer an und ist von diesem
beeinflusst.
Schopenhauer sieht sich als der Nachfolger Kants und nimmt für sich in
Anspruch, dessen Vermächtnis reiner fortzuführen als dies Fichte, Schelling
und Hegel tun. Tatsächlich ist Schopenhauer ein ausgesprochen loyaler Kantianer: »Er wahrte seinem Vorbild nicht nur dadurch die Treue, dass er das Ideal des Selbstdenkens für sich ebenso verbindlich hielt, wie es Kant getan hatte,
sondern auch dadurch, dass er – aus heutiger Sicht gelegentlich bemerkenswert
unkritisch – zentrale Lehrstücke der kantischen Philosophie übernahm.« (Birnbacher 2009:7) In der Erkenntnistheorie übernimmt Schopenhauer die zentralen Elemente der Transzendentalphilosophie, obwohl er Raum, Zeit und Kausalität in einer Weise thematisiert, die Kant wohl nicht recht gewesen wäre; auch
wird Kants ›Affektion‹, die das Kausalitätsprinzip nicht voraussetzt, durchaus
kreativ auf körperliche Vorgänge umgelegt und damit das Kausalitätsprinzip in
die Affektion hereinholt. (Bei Kant wird Kausalität vom erkennenden Subjekt
ins Spiel gebracht und kann nicht zur Erklärung der Beeinflussung der noch
nicht erkannten Welt aufs Subjekt herangezogen werden). In der Ethik übernimmt Schopenhauer Kants Idee, dass für den moralischen Wert einer Handlung ausschließlich die Motive entscheidend sind, nicht die Handlungsfolgen
oder der Handlungstyp, den die jeweilige Handlung exemplifiziert. In der Ästhetik hält sich Schopenhauer schließlich an Kants ›interesseloses Wohlgefallen‹ (s. Birnbacher 2009:8).
»Seinem Vorbild Kant folgt Schopenhauer vor allem aber auch in der Art und
Weise, in der er seine Philosophie insgesamt anlegt, nämlich als ein umfassendes
philosophisches System, das aus einem einzigen zentralen Gedanken heraus
entwickelt ist und diesen in alle Unterdisziplinen der Philosophie hinein sich
entfaltet und ausdifferenziert. Schopenhauer möchte – nicht anders als seine erklärten Gegner, die deutschen Idealisten – das Ganze der Erfahrung in einen
übergreifenden Sinnzusammenhang einordnen und die Vielfalt der Weltstrukturen mit wenigen grundlegenden Kategorien erfassen. Der Maßstab, an dem sich
dieses Denken ausrichtet, ist derselbe, den auch andere Systemdenker für sich
reklamiert haben: größtmögliche Einheit, Geschlossenheit und Vollständigkeit.
Dazu passt, dass sich Schopenhauer in seinen gelegentlichen Reflexionen über
den historischen Standort seiner Philosophie ganz selbstverständlich in die Traditionslinie der großen Systematiker Platon, Aristoteles, Descartes, Spinoza und
Kant einordnet.« (Birnbacher 2009:8f)
Seite |
10
Doch es meldet sich auch etwas Neues zu Wort, eben das Existenzielle. Die
Existenzphilosophie steht in Widerspruch zum Systemdenken, denn während
dieses systematisch vorgeht, ist jene subjektiv und willkürlich; sie spricht aus,
was das denkende Individuum berührt: Existenzphilosophisch versucht das Individuum in Begriffen sich über seine höchstpersönliche Existenz klarzuwerden, sich mit seiner individuellen Erfahrung der Welt auseinander zu setzen
und seiner ureigensten Betroffenheit von den Zumutungen der Welt Ausdruck
zu geben (unter diesen Zumutung die größte: die eigene Endlichkeit) (s. Birnbacher 2009:9).
»Schopenhauers Philosophie gibt nicht nur seinen Gedanken Ausdruck, sondern
auch seinen innersten Gefühlen […]. Kaum ein anderer Philosoph begegnet dem
Leser so unmittelbar als Mensch, und nicht nur als Lehrer oder Gelehrter, wie
Schopenhauer. Nicht ohne Grund wählte Nietzsche für die dritte seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen den Titel ›Schopenhauer als Erzieher‹ und nicht etwa
›Schopenhauer als Lehrer‹. Schopenhauer spricht den Leser direkt an, unverstellt und ohne sich hinter einer Maske zu verstecken. […] Der Leser wird, ob er
will oder nicht, hineingezogen in eine ungewöhnliche freie, aber auch ungewöhnlich von Nöten, Ängsten, Einsamkeit und Depression belastete Existenz.«
(Birnbacher 2009:9f)
Schopenhauer will nicht nur belehren, sondern auch erschüttern, und dazu benutzt er Ausdrucksmittel, die ansonsten eher in der Literatur zu finden sind; er
arbeitet mit suggestiven Bildern, lapidaren Sentenzen, paradoxen Zuspitzungen
und auch mit beißendem Spott (s. Birnbacher 2009:10).
Diese motivische Mischung, die sich aus dem Verharren in der Traditionslinie Kants und der Öffnung der Philosophie für Persönliches ergibt, wird
durch inhaltliche Widersprüche komplettiert – denn Schopenhauer ist auch ein
›Denker der Gegensätze‹ (Birnbacher 2009:18). Schopenhauer versucht eine
idealistische mit einer realistischen Tendenz zu verbinden. Den Idealismus findet Schopenhauer bei Kant, und zwar in dessen Idee, dass die Welt nichts anderes als (m)eine Vorstellung ist, dass also die Welt durch die subjektiven Anschauungs- und Denkformen in ihrer Gegenständlichkeit hervorgebracht (konstituiert) wird. Natürlich kennt Kant das ›Ding an sich‹ und ist damit nicht vorschnell als Idealist einzustufen. Allerdings führt Kants Konstitutionsdenken dazu, dass Schopenhauer die Welt als Vorstellung konzipiert, in der das principium individuationis (und die Kausalität) regiert. Ist die durch dieses Prinzip
gestiftete Individualität durch den Tod außer Kraft gesetzt, bedeutet das zwar
den Verlust des Lebens, aber ein Fortbestehen der Seele – Schopenhauer integriert hier die indische Philosophie mit der Überschreitung der Vorstellungswelt. Gleichzeitig bleibt Schopenhauer als begeisterter Leser der naturwissen-
Seite |
11
schaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit ein robuster Materialist; dies wird deutlich an Schopenhauers Auffassung, dass die Welt ein Produkt der Verarbeitung
innerer und äußerer Reize im Gehirn ist. Schopenhauer fasst in der Folge der
französischen Pioniere der Gehirnforschung, v.a. von Pierre Jean Georges
Cabanis, das Gehirn als ›Denkorgan‹ auf und identifiziert es mit Kants ›Verstand‹. Damit erklärt Schopenhauer die Operationsweise des Verstandes nicht
transzendental, sondern naturalistisch. Dieser argumentative Schachzug verträgt sich allerdings schwer mit der von Schopenhauer ansonsten hochgehaltenen idealistischen Sichtweise der Natur als einer bloßen Erscheinung (s. Birnbacher 2009:18f). Wie unzweifelhaft festzuhalten ist:
»Ein Teil der physischen Welt, das Gehirn, kann unmöglich Erscheinung und
zugleich die Quelle aller Erscheinungen sein. Als Quelle aller Erscheinungen
kann das Gehirn nicht selbst zur Erscheinungswelt gehören. Als Teil der Erscheinungswelt kann es nicht die Quelle seiner selbst sein. Die Frage nach dem
Status des Gehirns wird insofern für Schopenhauer zur metaphysischen Gretchenfrage. […] Aber Schopenhauer gibt auf diese Frage an keiner Stelle eine eindeutige und ausdrückliche Antwort. Seine Philosophie vollzieht sich als ein
fortwährender Drahtseilakt zwischen Idealismus und Realismus als sich gegenüberstehende Polaritäten.« (Birnbacher 2009:19)
In dieser Spannung liegt aber auch ein besonderer Reiz von Schopenhauers
Philosophie – in der Spannung, die zwischen Rationalismus und Mystik besteht. Schopenhauer ist zugleich Aufklärer und Stifter einer eigentümlichen,
zwischen Christentum und Buddhismus angesiedelten Art von Spiritualität.
Schopenhauer kritisiert in der Tradition der französischen Aufklärer die Kirchenfürsten und sieht sich zugleich in der Tradition von Meister Eckhart und
Angelus Silesius; die indischen Veden schätzt er als eine Vorwegnahme seiner
eigenen Lehre (s. Birnbacher 2009:20). Safranski beschreibt die geistesgeschichtliche Situation, in der Schopenhauer sein Denken entfaltet, wie folgt:
»Die alte ›Ordnung der Dinge‹ (Foucault) zerfällt mit Kant und entbindet jene
Modernität, deren Zauber wir zwar verloren haben, aus der wir aber immer
noch nicht heraus sind. An jene mit dem Namen Kants verbundene Zäsur wird
Schopenhauer erst später vorstoßen, doch er ist schon ganz eingehüllt von der
Atmosphäre dieses Umbruchs, bei der Begegnung mit der Romantik hat er es
bereits mit einem Aspekt seiner epochalen Wirkung zu tun. Er wird gewissermaßen schon der zweite oder dritte Akt des großen Spiels gegeben, als Schopenhauer sich anschickt, daran teilzunehmen. Das ist nicht ohne Bedeutung: Im
Krebsgang, über die Romantik, wird er zu Kant kommen, und dort angelangt,
wird er eine Revision des Prozesses vornehmen, den die Nachfolger gegen Kant
angestrengt hatten. Dabei wird er, mit der Schubkraft buddhistischer und mysti-
Seite |
12
scher Esoterik, über Fichte, Hegel und Marx hinausgetrieben, mitten hinein in
eine Transzendenz ohne Himmel, in eine radikal zu Ende geführte ›Analyse der
Endlichkeit‹ (Foucault), die aber das Kunststück fertigbringt, Metaphysik nicht
preiszugeben.« (Safranski 2010:101)
Aber nicht nur in Bezug auf die Polarität von Rationalismus und Mystik, Aufklärung und Romantizismus steht Schopenhauers Philosophie in einem delikaten Spannungsverhältnis. Auf diese Spannungsthematik im Werk von Schopenhauer macht Thomas Mann in seinem Schopenhauer-Essay aufmerksam –
Inhalt und Form bzw. Gegenstand und Darstellungsweise decken sich nicht;
das Schreckliche wird trefflich in Worte gefasst.
»Thema dieser Philosophie ist die Abgründigkeit des Übels und die Aussichtslosigkeit, diesem Übel zu wehren: Die Welt ist die Hölle und keinem ist diese Hölle
zu wünschen. Aber die Hölle wird bei Schopenhauer in der vollendetsten Prosa
beschrieben – ähnlich wie bei Dante in des vollendetsten Versen –, was jene Behauptung ein Stück weit widerlegt; eine Welt, in der solche sprachliche Höhepunkte möglich sind, kann nicht die allerschlechteste sein. In der Tat zählt
Schopenhauers Prosa neben der Nietzsches zu der vollendetsten der deutschsprachigen Philosophie, insbesondere dank ihrer ungewöhnlichen Lebendigkeit.
Wie Platon und Kant seine philosophischen Vorbilder sind, ist Goethe sein
künstlerisches.« (Birnbacher 2009:23)
Schopenhauer hat nicht nur Kants Vernunftkritik fortgeführt, sondern die
deutsche Philosophiesprache, in Goethes Spuren, in den Rang von Weltliteratur
gehoben – so Zimmer (2010:9). Ich möchte in Parenthese anmerken, dass es
keinen namhaften Philosophen gibt, der nicht gut schreibt, dessen Schriften also keine literarischen Qualitäten aufweisen – schließlich ist das schlecht Gesagte lax gedacht, wie das Adorno (1990:29) so trefflich auf den Punkt gebracht
hat.
Schopenhauer ist ein ›philosophischer Weltbürger‹ (Zimmer 2010); Schopenhauers kulturelle Orientierung überschreitet die Grenzen seines Landes, ja
er ist aus den Koordinaten der deutschen Geistesgeschichte nur unzureichend
zu verstehen (s. Zimmer 2010:9). Durch keinerlei sprachliche Barrieren behindert, liest Schopenhauer die englische und französische Philosophie – Locke,
Hume, Voltaire und Rousseau sind ihm bekannt. Nicht zu vergessen ist, dass
Schopenhauer viele Jahre seiner Schulzeit in Frankreich und England verbrachte, daneben spricht er für damalige Gelehrte selbstverständlich Latein und
Griechisch, Spanisch und Italienisch bringt er sich später bei; er liest jeden Tag
die Times, und der Einfluss der romanischen Sprachen auf sein Werk lässt sich
nicht leugnen; Calderón und Gracián waren ihm näher als die deutsche Literatur seiner Zeit; die französischen Moralisten, von La Rochefoucauld bis
Seite |
13
Chamfort, haben Schopenhauers Denken geprägt, ebenso wie Voltaire und
Rousseau (s. Zimmer 2010:11f).
In der Nachfolge von Wolff und Kant setzt Schopenhauer die Anliegen
der Aufklärung, die Tradition der clarté fort, dabei allerdings – und hierin liegt
ja die erstgenannte Spannung – die Metaphysik nicht entthronend. Für Zimmer (2010:10f) ist es kein Zufall, dass Schopenhauer einer der weltweit am
meisten gelesenen deutschen Philosophen ist, denn seine Philosophie verbindet
»stringente Argumentation und Problemdiskussion mit dem Anspruch der
Deutung der großen Sinnfragen«. Und weiter:
»Betrachtet man sein Werk in einem internationalen Kontext, wird der vielseitig
gebildete, weit gereiste, über Zeitläufe und Wissenschaften glänzend informierte
Gelehrte sichtbar. Schopenhauer ist nicht nur der Erbe Kants und Goethes, sondern verbindet auch so gegensätzliche Traditionen wie den Idealismus Platons
und den Empirismus David Humes. Er ist ein erfahrungsorientierter Visionär,
ein Anhänger des Common Sense, der sich einer spirituellen Weltsicht öffnet,
ein leidenschaftlicher Metaphysiker, der nie den Kontakt zur Wissenschaft verliert. Der Aufklärung hat er keineswegs abgeschworen, er hat sie vielmehr ergänzt und über sich selbst aufgeklärt. Schopenhauer bedauerte es zutiefst, dass
die Vernunft sich fest im Griff des irrationalen Willens befand und nicht jene
Kraft hatte, die ihr die Aufklärer des 18. Jahrhunderts zugeschrieben hatten.«
(Zimmer 2010:11)
Der philosophische Weltbürger ist aber auch der Sozialisation ein Grenzgänger.
Während seine älteren Zeitgenossen, die das intellektuelle Klima in Deutschland maßgeblich prägten – Hölderlin, Schelling und Hegel –, ihre intellektuelle
Sozialisation im Milieu des Tübinger Stifts, also in einem auf den Württemberger Pfarrnachwuchs ausgerichteten Theologiestudiums erhalten, wächst Schopenhauer im offenen Milieu von Danzig und Hamburg auf – »Städte mit einem
selbstbewussten Bürgertum, Umschlagplätze für Waren und Ideen« (Zimmer
2010:12). Hinzu kommen die Aufenthalte in Frankreich und England, Schopenhauers Reisen nach Italien und schließlich die Wahl Frankfurts a.M. zu seinem späteren Wohnort, auch dieser eine freie Reichsstadt. Schopenhauer darf
als ein ›wahrer Internationalist der deutschen Philosophie‹ (Zimmer 2010:12)
gelten.
Diese Verortung von Schopenhauers Denken ist mehr als nur eine Hintergrundinformation – in ihr liegt eine Neuinterpretation. Schopenhauer ist
pessimistisch gestimmt – das ist nicht zu leugnen; aber er sollte nicht nur als
Pessimist gelesen werden.
»So tritt uns der Pessimist im Biedermaier-Interieur bei näherem Hinsehen in
einer ganz anderen Gestalt entgegen: als ein Denker mit weitem Blick, der Hori-
Seite |
14
zonte öffnet und kulturelle Grenzen überwindet, ein Denker, der die kritischen
Traditionen der westlichen Philosophie bewahrt und diese gleichzeitig erweitert
und bereichert.« (Zimmer 2010:12)
Auf dem Weg zum besseren Bewusstsein – Immanuel Kant
Am 7. Oktober 1809 macht sich Schopenhauer auf den Weg nach Göttingen,
wo er sein Studium aufnimmt – Goethe hat ihm kein Empfehlungsschreiben
auf den Weg mitgegeben, obwohl ihn Johanna Schopenhauer darum gebeten
hat (s. Safranski 2010:154). Göttingen ist der Fixstern unter den deutschen Universitäten: 1734 gegründet, muss sich diese Universität nicht erst aus der theologischen Umklammerung befreien – die Naturwissenschaften geben seit der
Gründung den Ton an (s. Safranski 2010:155). Während die Studentenschaft
eher zum Lärmenden neigt, zählt sich Schopenhauer zu den ruhigeren Studenten und bildet in Göttingen seinen Lebensrhythmus aus, den er bis ins hohe Alter beibehalten wird: »Die frühen Morgenstunden werden für die anspruchsvolle geistige Arbeit genutzt, er entspannt sich beim Flötenspiel. Nachmittags unternimmt er größere Spaziergänge; abends besucht er das Theater oder gesellige Kreise.« (Safranski 2010:158) Während sich Schopenhauer die ersten drei
Semester für die Naturwissenschaften und Medizin interessiert, inskribiert er
im dritten Semester schließlich Philosophie; sein erster philosophischer Lehrer
ist ein skeptischer Kantianer, Gottlob Ernst Schulze, und dieser macht Schopenhauer mit zwei Philosophen bekannt, die die Leitsterne für sein ganzes Leben bleiben werden: Platon und Kant. Wenden wir uns dem zweitgenannten
zu.
»Kant war die große Zäsur am Ende des 18. Jahrhunderts. Nach seinem Auftreten war im abendländischen Denken nichts mehr wie zuvor.« (Safranski
2010:163)
»Es bleibt uns nichts anderes übrig, als die Philosophiegeschichte in die Zeit ›vor
Kant‹ und ›nach Kant‹ einzuteilen, und wir denken alle, wenn nicht bloß Philosophiehistoriker sein wollen, ›nach Kant‹, d.h. unter Bedingungen, die er ermittelt und zu respektieren gelehrt hat.« (Schnädelbach 2005:8)
Seite |
15
Kant (1724–1804) ist sich seiner Stellung in der Philosophiegeschichte im Klaren. Ähnlich wie Freud greift er auf Kopernikus zurück, um die Bedeutung der
Kritik der reinen Vernunft herauszustreichen, die 1781 in der ersten und 1787
in der zweiten Auflage erscheint:
»Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben
der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände
müssen sich nach unserem Erkenntnis richten […]. Es ist hiermit eben so, als mit
den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärungen der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das
ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in
Ruhe ließ. In der Metaphysik kann man nun, was die Anschauung der Gegenstände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen. Wenn die Anschauung sich
nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten müßte, so sehe ich nicht ein,
wie man a priori von ihr etwas wissen könne; richtet sich aber der Gegenstand
(als Objekt der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens,
so kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen.« (Kant 1988a:25)
Kant will den ›Kampfplatz der endlosen Streitigkeiten‹ befrieden, er will die
Fragen, die Vernunft zwar nicht beantworten kann, aber von denen sie ständig
›bedrängt‹ wird, einer Lösung zuführen, mit einem Wort: Kant will zeigen, dass
Metaphysik als Wissenschaft nicht möglich ist. Für Kant (1988a:7, 338; Fußnote) hat die Metaphysik drei Themen, nämlich Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. In der Metaphysik geht es »um den lebendigen Mensch, der eine letzte
Orientierung und Sinngebung sucht, der daher ›aus der Natur der allgemeinen
Menschenvernunft‹ (B22) Fragen stellt, ›die durch keine Erfahrungsgebrauch
der Vernunft … beantwortet werden können‹ (B21), sondern jenseits aller Erfahrung nur im metaphysischen Glauben an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit
Antwort finden« (Coreth & Schöndorf 1983:98). Diese drei Themen entspre-
Seite |
16
chen der ›metaphysica specialis‹, worin Kant seinem Lehrer Christian Wolff
(1679-1754) folgt. Dieser untergliedert die Metaphysik in ›metaphysica specialis‹ mit den drei Disziplinen Psychologie, Kosmologie und Theologie, und in
›metaphysica generalis‹, die die Grundlagen des Seins klärt und seit Wolff auch
Ontologie genannt wird.
Kants Strategie bei der Klärung des wissenschaftlichen Status der Metaphysik ist durch und durch aufklärerisch: Kant strebt eine ›Selbsterkenntnis der
Vernunft‹ an. Diese Selbsterkenntnis ist durchgeführt als ›Kritik der reinen
Vernunft‹, wobei die Vernunft zugleich Subjekt und Objekt der Kritik ist. Dabei
greift Kant auf die eigentliche Bedeutung von ›Kritik‹ zurück – das griechische
Verb ›krinein‹ heißt so viel wie ›scheiden, unterscheiden, urteilen, beurteilen‹
(s. Schnädelbach 2005:33).
»Ich verstehe aber hierunter nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern
die des Vernunftvermögens überhaupt, in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie, unabhängig von aller Erfahrung, streben mag, mithin die Entscheidung
der Möglichkeit oder Unmöglichkeit eine Metaphysik überhaupt und die Bestimmung so wohl der Quellen, als des Umfanges und der Grenzen derselben,
alles aber aus Prinzipien.« (Kant 1988a:13)
Die erste Frage, die sich hier stellt, lautet, wie Kant überhaupt dazu kommt,
nach Erkenntnissen zu fahnden, die vor der Gegenstandserkenntnis liegen. Warum sollte die Naturwissenschaft dadurch gesichert werden, dass die Vernunft
die Bedingung der Möglichkeit einsieht, nach denen sich die Gegenstände zu
richten haben? Geht Wissenschaft nicht ›objektiv‹ vor? Richtet sich wissenschaftliche Erkenntnis nicht nach den Objekten ihre Forschung? Nun – Kant
betrachtet die Forschungspraxis von Galilei und verneint die letzten beiden
Fragen umstandslos.
Die Großtat von Galileo Galilei (1564-1642) ist: Er formuliert ein Gesetz,
das von der Empirie unabhängig ist – die gleichförmige Bewegung ist der Normalzustand eines Körpers, für den es keines Kraftaufwands bedarf. (Zu dieser
Einsicht gelangt Galilei 1638, begründet damit die Kinematik; später, 1687, wird
Newton diese Einsicht als ›lex prima‹ oder Trägheitsgesetz reformulieren.) Für
Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.) sieht die Sachlage anders aus: In dessen geordnetem Universum hat jeder Körper die innere Tendenz, sich in natürlicher Bewegung dem ihm zukommenden Ort zu nähern: Das Leichte strebt nach oben,
das Schwere nach unten. Folglich sind die Gegenstände, so sie nicht von außen
bewegt werden, in Ruhe. Dieser aristotelische Gedanke ist ›empirisch‹ gewonnen (besser: entspricht unseren lebensweltlichen Erfahrungen); die Ansicht des
Galilei von der uniformen gleichmäßigen Bewegung hingegen nicht: Wir können die Dinge fallen und dann ruhen sehen, wir werden aber nie uniforme
Seite |
17
gleichmäßige Bewegung sehen. Schreibt man den Dingen zunächst die Bewegtheit zu, dann öffnet sich ein weiter Fragenraum, nämlich: warum sehen wir so
wenig Bewegung? Die Antworten darauf sind in der Kinematik, der physikalischen Bewegungslehre, ausgearbeitet (s. Cassirer 1923:157; s. auch Strauss
2005:77ff).
Galilei lässt keinen Zweifel daran, dass seine Gesetze ›mente concipio‹
sind – das Bewegungsgesetz ist nicht aus einer besonderen Klasse empirisch
wirklicher Bewegungen hervorgegangen. Der Begriff der geradlinigen und
gleichförmigen Bewegung wird in abstrakt-phoronomischer Bedeutung eingeführt und ist auf die ideellen Schemata der Geometrie und der Arithmetik bezogen (s. Cassirer 1923:233). Kant kommentiert Galileis Leistung wie folgt:
»Als Galilei seine Kugeln die schiefe Fläche mit einer von ihm selbst gewählten
Schwere herabrollen […] ließ […]: so ging allen Naturforschern ein Licht auf. Sie
begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe
hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müssen, auf ihre Fragen zu antworten, nicht
aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse […]. Die
Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar
um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich
alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die
Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihm vorlegt. […] Hierdurch
ist die Naturwissenschaft allererst in den sicheren Gang einer Wissenschaft gebracht worden, da sie so viel Jahrhunderte durch nichts weiter als ein bloßes
Herumtappen war.« (Kant 1988a:24)
Die Natur ist also vor den ›Richterstuhl der Vernunft‹ zu zitieren. Die empirische Wissenschaft ist deswegen empirisch, weil sie ihre eigenen Entwürfe experimentell überprüft; sie ist nicht deswegen empirisch, weil sie sich einer Nachzeichnung der natürlichen Abläufe und Ereignisse verschreibt. Kant formuliert
damit nicht nur eine bis heute gültige Einsicht der Wissenschaftstheorie, sondern nimmt es auch auf sich, diese Forschungsstrategie auf die Vernunft selbst
anzuwenden – schließlich soll der Kampfplatz der Metaphysik befriedet werden. Trotz aller Hochschätzung der Leistung Kants – die Befriedung ist ihm
nicht gelungen, und sein gelehriger Schüler, Schopenhauer, dient dafür als Beispiel (neben Fichte, Hegel, Schelling und vielen anderen, die sich auf diesem
Kampfplatz tummeln).
Seite |
18
»[S]o klingt es zwar anfangs befremdlich, ist aber nichts desto weniger gewiß,
wenn ich […] sage: der Verstand schöpft seine Gesetze nicht (a priori)
aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.« (Kant 1988b:189)
***
Die Grundfrage der Kritik der reinen Vernunft lautet, wie Metaphysik als Wissenschaft möglich ist bzw. wie synthetische Urteile a priori möglich sind (s.
Kant 1988a:58f). Damit sind zwei Begriffspaare angesprochen, die noch vor der
Zergliederung der Vernunft in ihre Teilbereiche zu diskutieren sind: analytischsynthetisch, a priori/a posteriori. Ein Urteil a priori ist ein Urteil, das nicht empirisch gewonnen ist, das also ›rein‹ von anschaulichem Material ist; ein Urteil a
posteriori ist ein empirisches Urteil. Der Unterschied zwischen apriorischen
und aposteriorischen Urteilen liegt in der Erfahrung: Was aus der Erfahrung
stammt, ist ›a posteriori‹, was ihr zugrunde liegt oder als Bedingung ihrer Möglichkeit vorausgeht, ist ›a priori‹ (s. Coreth & Schöndorf 1983:97). Dass es Kant
um apriorische Urteile geht, also um Urteile vor der Erfahrung, macht die
Grundfragen bereits klar – die Fragen nach Gott und nach der Unsterblichkeit
der Seele sind nun einmal empirisch nicht zu beantworten.
In den berühmten Einleitungsworten der Kritik der reinen Vernunft fasst
Kant die Unterscheidung von apriorischen und aposteriorischen Erkenntnissen,
gemäß den zwei Quellen der Erkenntnis, wie folgt:
»Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt
werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und teils
von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung
bringen […] und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der
Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt? Der Zeit nach geht also keine
Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an.
Wenn aber gleich all unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung. Denn es könnte wohl
sein, daß selbst unsere Erfahrungserkenntnis ein Zusammengesetztes aus dem
sei, was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnisvermögen (durch sinnliche Eindrücke bloß veranlaßt) aus sich selbst hergibt,
welchen Zusatz wir von jenem Grundstoffe nicht eher unterscheiden, als bis lange Übung uns darauf aufmerksam und zur Absonderung desselben geschickt
gemacht hat.
Es ist also wenigstens eine der näheren Untersuchung noch benötigte und
nicht auf den ersten Anschein sogleich abzufertigende Frage: ob es ein dergleichen von der Erfahrung und selbst von allen Eindrücken der Sinne unabhängiges
Erkenntnis gebe. Man nennt solche Erkenntnisse a priori, und unterscheidet sie
Seite |
19
von den empirischen, die ihre Quelle a posteriori, nämlich in der Erfahrung, haben.« (Kant 1988a:45)
Die Frage nach Erkenntnissen a priori ist die Frage nach den Bedingungen der
Möglichkeit von Erkenntnis. Dass es Erkenntnis gibt, ist gewiss – wir machen
sie ständig; aber was ist die Bedingung dafür, dass Erkenntnis möglich ist? Was
ist das Apriori unserer Erkenntnis? Wenn man in dieser Weise fragt, dann betreibt man eben – ›Transzendentalphilosophie‹.
Dabei sollte ›transzendental‹ keineswegs mit ›transzendent‹ verwechselt
werden. Während dieses ›übersteigend‹ bedeutet (in diesem Sinn ist Gott
transzendent – er übersteigt die Welt), bedeutet jenes so viel wie ›erkenntnisstiftend‹. Philosophie, die die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis vor
dem tatsächlichen Erkenntnis-machen formuliert, steht in Kants Schuhen und
ist Transzendentalphilosophie.
»Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a
priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt. Ein System solcher Begriffe würde Transzendental-Philosophie heißen.« (Kant 1988a:63)
Kants Transzendentalphilosophie dient der ›Läuterung unserer Vernunft‹ und
soll sie ›von Irrtümern frei halten‹ (Kant 1988a:63); insofern »ist die Transzendental-Philosophie eine Weltweisheit der reinen bloß spekulativen Vernunft«
(Kant 1988a:65).
Die zweite, oben bereits angesprochene Begriffsunterscheidung ist diejenige von analytischen und synthetischen Urteilen.
»Analytische Urteile sagen im Prädikat nichts, als das, was im Begriffe des Subjekts schon wirklich, obgleich nicht so klar und mit gleichem Bewußtsein gedacht war. Wenn ich sage: alle Körper sind ausgedehnt, so habe ich meinen Begriff vom Körper nicht im mindesten erweitert, sondern ihn nur aufgelöset, indem die Ausdehnung von jenem Begriffe schon vor dem Urteile, obgleich nicht
ausdrücklich gesagt, dennoch wirklich gedacht war; das Urteil ist also analytisch.
Dagegen enthält der Satz: einige Körper sind schwer, etwas im Prädikate, was in
dem allgemeinen Begriffe vom Körper nicht wirklich gedacht wird, er vergrößert
also meine Erkenntnis, indem er zu meinem Begriffe etwas hinzutut, und muß
daher ein synthetisches Urteil heißen.« (Kant 1988b:125)
Analytische Urteile sind Zergliederungsurteile, die im Prädikat das explizieren,
was im Gegenstand bereits enthalten ist. Synthetische Urteile sind Erweiterungsurteile.
Dass analytische Urteile a priori möglich sind, ist leicht einzusehen. Kants
Beispiel aus der Kritik der reinen Vernunft lautet: Der Kreis ist rund. Die Rund-
Seite |
20
heit liegt bereits im Kreisbegriff, daher ist es ohne Empirie möglich, die Rundheit auszusagen. Für Kant sind analytische Urteile auch dann apriorisch, wenn
sie sich auf Empirisches beziehen: »[Z].B. Gold ist ein gelbes Metall; denn um
dieses zu wissen, brauche ich keiner weitern Erfahrung, außer meinem Begriffe
vom Golde, der enthielte, daß dieser Körper gelb und Metall sei.« (Kant
1988b:126) Aber wie sollen Erweiterungsurteile a priori möglich sein? Grundsätzlich gibt es für Kant synthetische Urteile a priori, und zwar in der Mathematik: 7 + 5 = 12.
»Man sollte anfänglich denken: daß der Satz 7 + 5 = 12 ein bloß analytischer
Satz sei, der aus dem Begriffe einer Summe von Sieben und Fünf nach dem Satze
des Widerspruchs erfolge. Allein, wenn man es näher betrachtet, so findet man,
daß der Begriff der Summe von 7 und 5 nichts weiter enthalte, als die Vereinigung beider Zahlen in eine einzige, wodurch ganz und gar nicht gedacht wird,
welches diese einzige Zahl sei, die beide zusammenfaßt. Der Begriff von Zwölf ist
keinesweges dadurch schon gedacht, daß ich mir bloß jene Vereinigung von Sieben und Fünf denke, und, ich mag meinen Begriff von einer solchen möglichen
Summe noch so lange zergliedern, so werde ich doch darin die Zwölf nicht antreffen. Man muß über diese Begriffe hinausgehen […].« (Kant 1988b:127f)
Mit diesen Grundunterscheidungen ausgerüstet, ist es nun gut möglich, die
Struktur der Kritik der reinen Vernunft wiederzugeben. Kant ist vom Grundsatz geleitet, dass alle Erkenntnis ›Synthesis des Mannigfaltigen‹ (B103) ist. Das
ungeordnete Material der Sinneseindrücke muss zur Einheit gebracht werden,
wodurch der Gegenstand konstituiert und damit ›als Gegenstand erkannt‹ wird.
Die ›Dinge an sich‹ affizieren die Sinne und rufen eine vielfältige Fülle von Sinneseindrücken hervor – die Einwirkung der Gegenstände auf die Sinne als
›Affektion‹ (mit dem dazugehörigen Verb ›affizieren‹) zu bezeichnen geht übrigens auf Descartes Büchlein Les passions de l’âme zurück. Diese Fülle muss nun
strukturiert bzw. vereinigt werden, und die Einigung oder ordnende Formung
ist die Leistung des erkennenden Subjekts (=das transzendentale Subjekt, ≠
empirisches Subjekt). Alle Synthesis des Mannigfaltigen setzt ein vorgängiges
Prinzip der Einheit voraus, wodurch und woraufhin die Einigung geschieht. Der
Vollzug der Erkenntnis muss durch apriorische Formen bedingt und bestimmt
sein, denen wesentlich eine synthetische, Einheit-stiftende Funktion zukommt.
Das gilt von beiden Quellen der Erkenntnis, der Sinnlichkeit und des Verstandes, der Rezeptivität und der Spontaneität. Aber auch die Ideen der reinen Vernunft haben synthetische Funktion – wenngleich nicht konstitutiv, so doch regulativ.
Strukturell bedeutet dies zunächst eine Zweiteilung, die Analyse der Sinnlichkeit und eine Analyse des Verstandes. Reine Sinnlichkeit und das Urteilen
Seite |
21
des Verstandes sind die ersten beiden Bereiche, in die sich die Vernunft in ihrer
Kritik/Unterscheidung differenziert. Bezüglich dieser ersten beiden Bereiche
schreibt Kant die berühmten Zeilen:
»Unsre Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die
zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen
(Spontaneität der Begriffe); durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben,
durch die zweite wird dieser im Verhältnis auf jene Vorstellung (als bloße Bestimmung des Gemüts) gedacht. Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unsrer Erkenntnis aus, so daß weder Begriffe, ohne ihnen auf einige
Art korrespondierende Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe, ein Erkenntnis abgeben können.« (Kant 1988a:97)
In der ›Transzendentalen Ästhetik‹ arbeitet Kant die sinnlichen Bedingungen
der Gegenstandserkenntnis heraus. Leitend ist die Frage: Welche sinnliche Eigenschaften lassen sich von keinem Ding wegdenken und kommen daher nicht
den Dingen als solchen zu, sondern der menschlichen Sinnlichkeit? Was ist also
die subjektive Zugabe, die die Bedingung der sinnlichen Affektion ermöglicht?
Kant nennt zwei Formen der Sinnlichkeit, die rein sind, die also »abgesondert
von aller Empfindung« (Kant 1988a:70) betrachtet werden können: Raum und
Zeit bzw. äußere und innere Anschauungsform.
»Vermittelst des äußeren Sinnes (einer Eigenschaft unsres Gemüts) stellen wir
uns Gegenstände als außer uns, und diese insgesamt im Raume vor. Darinnen ist
ihre Gestalt, Größe und Verhältnis gegen einander bestimmt, oder bestimmbar.
Der innere Sinn, vermittelst dessen das Gemüt sich selbst, oder seinen inneren
Zustand anschauet, gibt zwar keine Anschauung von der Seele selbst, als einem
Objekt; allein es ist doch eine bestimmte Form, unter der die Anschauung ihres
inneren Zustandes allein möglich ist, so, daß alles, was zu den innern Bestimmungen gehört, in Verhältnissen der Zeit vorgestellt wird.« (Kant 1988a)
Raum und Zeit sind wichtige Bestimmungsstücke der Erkenntnis. Kant nimmt
eine besondere Zuspitzung vor und bezeichnet die beiden als reine Anschauungsformen, die nicht dem affizierenden Material zukommen, sondern
ausschließlich auf der Seite des (transzendentalen) Subjekts zu verbuchen sind.
Der Raum ist kein empirischer Begriff, der von äußeren Erfahrungen abgezogen wird (s. Kant 1988a:72); der Raum ist subjektiv, eine reine Anschauungsform des transzendentalen Subjekts. Ebenso verhält es sich mit der
Zeit, der inneren Anschauungsform; sie ist subjektiv. Allerdings gilt für Raum
und Zeit, dass sie eben nicht nur subjektiv sind: Weil sie transzendentalsubjektiv sind, sind sie zugleich objektiv. Bezogen auf die Zeit liest sich das bei
Kant wie folgt:
Seite |
22
»Die Zeit ist also lediglich eine subjektive Bedingung unserer (menschlichen)
Anschauungen (welche jederzeit sinnlich ist, d.i. so fern wir von Gegenständen
affiziert werden), und an sich, außer dem Subjekte, nichts. Nichts desto weniger
ist sie in Ansehung aller Erscheinungen, mithin auch aller Dinge, die uns in der
Erfahrung vorkommen können, notwendiger Weise objektiv.« (Kant 1988a:82)
Die Behauptung, dass die Zeit eine subjektive Anschauungsform und zugleich
objektiv von den Erscheinungen gilt, verwirrt zunächst. Allerdings kommt hier
ein Kerngedanke der Kritik der reinen Vernunft zum Ausdruck, nämlich jener,
dass uns ›Dinge-an-sich‹ affizieren, aber dass wir ›Erscheinungen‹ erkennen.
»Wir können nicht sagen: alle Dinge sind in der Zeit […]. Wird nun die Bedingung zum Begriffe hinzugefügt, und es heißt: alle Dinge, als Erscheinungen (Gegenstände der sinnlichen Anschauung), sind in der Zeit, so hat der Grundsatz
seine gute objektive Richtigkeit und Allgemeinheit a priori.« (Kant 1988a:82)
Die Unterscheidung von ›Ding an sich‹ und ›Erscheinung‹ bzw. von ›Dingen an
sich‹ und ›Erscheinungen‹ – das Ding an sich kommt bei Kant meist im Plural
vor (s. Schnädelbach 2005:36) – ist für Kants Philosophie von entscheidender
Bedeutung, und Schopenhauer ist davon fasziniert. Was bei Kant als Erscheinung auftritt, wird bei Schopenhauer zur Vorstellung. Die Dinge an sich sind
»die Gegenstände unserer Erkenntnis, wie sie sein mögen, unabhängig davon,
dass und wie wir sie erkennen können; in diesem Sinn sind sie in der Tat etwas
bloß Gedachtes oder Noumena. Die Gegenstände hingegen, die wir tatsächlich
zu erkennen vermögen, haben wir nicht unabhängig davon vor uns, dass und
wie wir sie erkennen können; sie unterstehen den Bedingungen, unter denen
unsere Erkenntnis allein möglich ist.« (Schnädelbach 2005:36)
Die Ummodelung des Dings an sich zur Erscheinung passiert in zwei
Schritten. Die Dinge an sich affizieren/beeinflussen die Sinne (hier darf keineswegs an eine kausale Beeinflussung gedacht werden!). Modern (und etwas verfälschend) ließe sich sagen: Eine Überfülle an Information bestürzt die sinnlichen Kanäle. Die Information muss gebündelt und strukturiert werden, wobei
im ersten Schritt die Information nach Raum und Zeit gebündelt/strukturiert
wird. Im zweiten Schritt kommen die Begriffe zur Anwendung. Das Vermögen
der Begriffe bzw. die Spontaneität ist die Angelegenheit der zweiten Quelle, aus
der Erkenntnis entspringt, nämlich die des Verstandes. Wie die reine Sinnlichkeit ist der Verstand ein Vermögen der Vernunft.
»Unsre Natur bringt es so mit sich, daß die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann, d.i. nur die Art enthält, wie wir von den Gegenständen affiziert
werden. Dagegen ist das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu
denken, der Verstand. Keine dieser Eigenschaften ist der anderen vorzuziehen.
Seite |
23
Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. […] Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen.« (Kant 1988a:98)
In der ›Transzendentalen Logik‹ legt Kant sein Verständnis des Verstandes dar.
Der Verstand ist ein nichtsinnliches Erkenntnisvermögen (s. Kant 1988a:109),
der sich nicht affizieren lässt, sondern der auf begrifflichen Funktionen beruht.
Kant definiert Funktion als »die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen« (Kant 1988a:109f) Der Verstand vollzieht diese ›Handlungen‹, indem er urteilt. Das Urteil bezieht sich natürlich niemals auf das Ding an sich, sondern auf die Vorstellungen, die das
transzendentale Subjekt durch Form und Zeit für die Beurteilung bereits synthetisiert hat.
»Wir können aber alle Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen, so
daß der Verstand überhaupt als ein Vermögen zu urteilen vorgestellt werden
kann. […] Denken ist das Erkenntnis durch Begriffe. Begriffe aber beziehen sich,
als Prädikate möglicher Urteile, auf irgend eine Vorstellung von einem noch unbestimmten Gegenstande.« (Kant 1988a:110)
Kants Begriffe leitet er aus der Urteilstafel ab, also aus dem systematischen
Überblick über alle Funktionen des Verstandes bzw. aus den Verstandesformen. Alle Urteile lassen sich nach vier Kriterien einteilen, nämlich (i) Quantität,
(ii) Qualität, (iii) Relation und (iv) Modalität. Es gibt, unter (i) subsumiert, allgemeine, besondere und einzelne Urteile, unter (ii) subsumiert, bejahende, verneinende und unendliche Urteile, unter (iii) subsumiert, kategorische, hypothetische und disjunktive Urteile, unter (iv) subsumiert, problematische assertorische und apodiktische Urteile.
Der Verstand urteilt über das mannigfach in der Anschauung Gegebene
mittels dieser Urteilsformen. Kant modelt an den Urteilen noch etwas herum
und gelangt zur Feststellung, dass der Verstand gemäß der ›Verstandesbegriffe‹
oder ›Kategorien‹ seine Funktion erfüllt (Kant 1988a:118). Die Kategorientafel
lässt sich wie folgt veranschaulichen:
Seite |
24
Quantität
Qualität
Einheit
Realität
Vielheit
Negation
Relation
Modalität
der Inhärenz und Subsistenz
Möglichkeit – Un-
(substantia et accidens)
möglichkeit
der Kausalität und Dependenz
(Ursache und Wirkung)
der Gemeinschaft (Wechselwir-
Allheit
Limitation
kung zwischen dem Handelnden
und leidenden)
Dasein – Nichtdasein
Notwendigkeit – Zufall
aus: Kant (1988a:118)
Wie Kant (1988a:121) anmerkt, sind die Kategorien der ersten beiden Abteilungen auf Gegenstände der Anschauung gerichtet, und die Kategorien der anderen beiden Abteilungen auf die Existenz dieser Gegenstände, entweder in Beziehung aufeinander oder auf den Verstand.
Diese Begriffe a priori müssen von empirisch gewonnenen Begriffen unterschieden werden (wie z.B. ›Nadelbaum‹). In den empirischen Begriffen halten wir bestimmte Merkmale von Gegenstandsarten oder -klassen fest, die wir
aus der Erfahrung kennen. Kants These lautet, dass drin immer auch Begriffe
enthalten sind, die nicht aus der Erfahrung stammen. »Haben wir etwa einen
Nadelbaum vor uns, so fassen wir ihn als einen und nur einen Gegenstand auf,
der soundso beschaffen ist, der eine Zeit lang derselbe bleibt und der tatsächlich vor uns steht; wir bringen somit Vorstellungen von Quantität, Qualität,
Substanzialität und Wirklichkeit ins Spiel, die deswegen nicht empirisch sein
können, weil sie Voraussetzungen dafür sind, dass wir überhaupt einen identifizierbaren Gegenstand, also einen Nadelbaum, vor uns haben, und nicht eine
ungeordnete, chaotische Menge von Einzeleindrücken« (Schnädelbach
2005:59)
Safranski (2010:168) bezeichnet die Darstellung der ersten beiden Vermögen der Kantischen Vernunftkritik, reine Sinnlichkeit und Verstand, als »rokokohaft konstruierte Spieluhr unseres Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögens mit den verschiedenen Urteilsarten, an denen dann die Greifarme der jeweils drei Kategorien befestigt sind«. Als Resultat dieser Spieluhr, dieser transzendentalen Mechanik wird das Ding an sich zur Erscheinung bzw. der Gegenstand der Erkenntnis. Der Verstand ist ›gegenstandskonstitutiv‹ (bzw. nur ›konstitutiv‹) – auf Basis des in den Anschauungsformen rezipierten und (anschaulich) synthetisierten Materials nimmt er eine urteilende Synthesis gemäß der
Kategorien vor und lässt somit den Gegenstand entstehen; was die An-
Seite |
25
schauungsformen sinnlich ordnen, bringen die Verstandesformen auf den Begriff. Allerdings: Genau gesprochen konstituiert der Verstand nicht den Gegenstand, sondern die Gegenständlichkeit des Gegenstandes; der Verstand erschafft den Gegenstand nämlich nicht (dieser ist Ding an sich), sondern bloß
die Art und Weise, wie wir ihn erkennen – und wir erkennen die Dinge an sich
als Gegenstände.
Eine besondere Stellung in der Kategorientafel fällt übrigens der Kausalität zu, in der Abteilung ›Relation‹ die zweitgenannte. Um es in aller Kürze anzusprechen: David Hume (1711-1776) hat in Eine Untersuchung über den
menschlichen Verstand (erstmals 1748 erschienen) geleugnet, dass es Kausalität
gibt. Wir neigen zwar dazu, dass wir von einem kausalen Einfluss ausgehen,
wenn eine Billardkugel die andere anstößt und diese dann ins Rollen kommt;
allerdings sehen wir bloß zwei Ereignisse, die nacheinander auftreten, und Hume – als Empirist – besteht darauf, dass nur das zählt, was wir beobachten. Außer Zweifel steht nun, dass sich Kausalität nicht beobachten lässt, woraus Hume den Schluss zieht, dass es keine Kausalität gibt, sondern (bloß) eine zur Gewohnheit stabilisierte Assoziation des menschlichen Verstandes. Diese Ableugnung der Kausalität, auf deren Existenz die moderne Naturwissenschaft beruht,
hat Kant aus seinem dogmatischen Schlummer gerissen. Die Kausalität rettet
Kant als eine Kategorie – das ist die erste Rettung, die die Kritik der reinen
Vernunft anstrebt.
»Ein Vorgang folgt einem anderen, doch können wir niemals eine Bindung zwischen ihnen beobachten; sie scheinen verbunden (conjoinded), doch nie verknüpft (connected). Und da wir keine Vorstellung von etwas haben können, das
sich niemals unseren äußeren oder inneren Wahrnehmung darbot, so scheint
die notwendige Schlußfolgerung zu sein, daß wir überhaupt keine Vorstellung
des Zusammenhanges oder der Kraft haben […].« (Hume 1990:99)
»Als ein Mensch zu ersten Male die Mitteilung der Bewegung durch Stoß beobachtete, etwa beim Aufeinanderprallen zweier Billardbälle, konnte er nicht sagen, daß das eine Ereignis mit dem anderen verknüpft war, sondern nur, daß es
mit ihm verbunden war. Hat er mehrere derartige Fälle beobachtet, erklärt er
sich für verknüpft. […] Sagen wir deshalb, ein Gegenstand sei mit einem anderen
verknüpft, so meinen wir nur, daß sie in unserem Denken eine Verknüpfung erlangt haben und einen Schluß veranlassen, durch den sie zu Beweisen ihres beiderseitigen Daseins werden.« (Hume 1990:100f)
»Das ist alles.« (Hume 1990:100)
»Ich gestehe frei: die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir
vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach […].« (Kant
1988b:118)
Seite |
26
***
Mit den ersten beiden Vernunftvermögen (reine Anschauung und Verstand) ist
Kants Analyse der Vernunft nicht abgeschlossen: Einbildungskraft, Urteilskraft,
der transzendentale Schematismus, die transzendentale Apperzeption ebenso
wie die regulativen Vernunftideen gälte es noch zu erwähnen. Allein – für das
Verständnis von Schopenhauers Denken ist dies nicht notwendig. Schopenhauer ist von Raum, Zeit und der Kausalität angetan – den Rest von Kants Erkenntnisvermögen thematisiert Schopenhauer selten. Aber die Trennung von
Ding an sich und Erscheinung ist das Grundelement in Schopenhauers Philosophie.
Schopenhauer hat in seinen frühen Tagebuchnotizen den Erscheinungsstatus der Gegenstände im Unterschied zum Status als ›ignotum X‹ der ›Dinge
an sich‹ schon früh durchschaut – er sieht darin ein frivoles Spiel. In einer
Randglosse notiert Schopenhauer: »Epikur ist der Kant der praktischen Philosophie, wie Kant der Epikur der spekulativen.« (zit. nach Safranski 2010:162)
Epikur (341-271), dessen hedonistische Lebensweisheit Horaz mit den Worten
›Carpe diem!‹ auf den Punkt gebracht hat, hat die Existenz der Götter auf sich
beruhen lassen. Epikur löst die praktische Sittlichkeit von himmlischen Verpflichtungen und Versprechungen. Das diesseitige Glücksstreben steht für den
Hedonisten im Mittelpunkt einer pragmatischen Lebensweisheit. Göttern wird
kein absoluter, sondern nur ›als-ob‹-Geltung zugebilligt – spielen sie für das
Glück eine Rolle, dann soll man sich ihrer bedienen, ganz im Sinne einer lebensfreundlichen Fiktion. Die Unerkennbarkeit des Dings an sich spielt, so
Schopenhauers Einsicht, bei Kant eine ähnliche Rolle wie bei Epikur die Götter
(s. Safranski 2010:162).
»Das ›Ding an sich‹ ist nun auf eine weitaus radikalere Weise unbekannt, als es
etwas sein kann, das nur ›noch nicht‹ bekannt ist. Das ›Ding an sich‹ ist der Name für jenes Unbekannte, das wir paradoxerweise erst erzeugen, indem wir uns
etwas bekannt machen; es ist der Schatten, den wir werfen. Wir können alles nur
in dem erfassen, was es für uns ist. Was die Dinge ›an sich‹ sind, unabhängig von
den ›Organen‹, mit denen wir sie uns vorstellen, das muß uns immer entgleiten.
Das Sein ist ›Vorgestellt-Sein‹. Mit dem ›Ding an sich‹ war eine neuartige Transzendenz am Horizont erschienen; keine Transzendenz des alten Jenseits, sondern eine Transzendenz, die nicht mehr, aber auch nicht weniger ist als die immer unsichtbare Rückseite aller Vor-Stellungen.« (Safranski 2010:171)
Kant hat ›mit großer Gelassenheit‹ (Safranski 2010:171) am Ding an sich nicht
weiter herumgedeutelt. Er behandelt die Erscheinungen tatsächlich als-ob sie
Dinge an sich sind – und zwar so lange, wie er erkenntnistheoretisch unterwegs
ist; geht es um die Freiheit, dann wird die Unterscheidung von Ding an sich und
Seite |
27
Erscheinung wieder prominent diskursiv eingesetzt. In seinem wohleingerichteten Gebäude hinterlässt Kant mit dem Ding an sich »ein Loch, durch das beunruhigende Zugluft hereinkam« (Safranski 2010:172). Die kantischen Erscheinungen lassen sich als scheinhafte Fassade verstehen, hinter der sich die Dinge
an sich verbergen; hierin liegt nicht nur für manche Romantiker, sondern auch
für viele Esoteriker eine Faszination – hinter der Alltagswirklichkeit, die bloße
Erscheinung ist, liegt eine geheimnisvolle Hinterwelt, das Reich der Dinge an
sich. Schopenhauer wird sich darum bemühen, das Loch im Kantischen Gebäude zu schließen.
Abschließend noch eine Bemerkung zu einem wichtigen Motiv der Kritik
der reinen Vernunft – und damit ist die zweite Rettung angesprochen, die Kant
ins Werk setzt. Kant hat im Zeitalter der aufblühenden Wissenschaft geschrieben, die die Lebenswelt immer stärker in Kausalbeziehungen auflöst. Kants
Grundproblem ist bis heute nicht gelöst, und es lautet: Angesichts der wissenschaftlichen Erkenntnisse – wie lässt sich menschliche Freiheit behaupten?
Frei-Sein bedeutet nämlich, nicht in einer Kausalkette zu stehen. Angesichts
des naturwissenschaftlichen Weltbilds gibt es kein Ereignis, das außerhalb der
kausalen Geschlossenheit steht. In diesem Weltbild ist der Mensch nicht frei;
die Kausalketten sind in seinem Fall nur sehr kompliziert.
Kant will die Freiheit des Menschen retten, ihn als ›Bürger zweier Welten‹
sehen – einerseits als Bürger der Natur, andererseits als Bürger einer noumenalen Welt, die der Kausalität nicht unterworfen ist.
»Die Freiheit im praktischen Verstande ist die Unabhängigkeit der Willkür von
der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit. Denn eine Willkür ist sinnlich, so
fern sie pathologisch (durch Bewegursachen der Sinnlichkeit) affiziert ist; sie
heißt tierisch (arbitrium brutum), wenn sie pathologisch nezessitiert werden
kann. Die menschliche Willkür ist zwar ein arbitrium sensitivum, aber nicht
brutum, sondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Handlung nicht notwendig
macht, sondern dem Menschen ein Vermögen bewohnt, sich unabhängig von
der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen.« (Kant
1988a:489)
Die Vernunft ist also ein Vermögen, das unabhängig von empirischen Bedingungen eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen, »so, daß in ihr
selbst nichts anfängt, sondern sie, als unbedingte Bedingung jeder willkürlichen
Handlung, über sich keine der Zeit nach vorhergehende Bedingungen
verstattet, indessen daß doch ihre Wirkung in der Reihe der Erscheinungen anfängt, aber darin niemals einen schlechthin ersten Anfang ausmachen kann«
(Kant 1988a:503).
Seite |
28
Als körperliches Wesen ist der Mensch den Vernunftbegriffen unterworfen, und in dieser Perspektive lassen sich seine Handlungen nur als kausal verursacht auffassen; gleichzeitig ist der Mensch aber auch Ding an sich, und unter
diesen Vorzeichen ist sein Handeln intelligibel, also nicht nach Kausalgesetzen
gesteuert. Als Ding als sich ist der Mensch frei, Bürger der noumenalen Welt.
Die Kausalität wird durch die Trennung von Ding an sich und Erscheinung von
der Freiheitsfrage abgezogen, und Kant kann die Behauptung aufrecht erhalten,
dass der Mensch frei ist.
Es dürfte sich nicht mehr paradox anlesen, dennoch sind folgende Worte
Kants derart treffend formuliert, dass man sie zumindest zweimal lesen muss:
»Die Vernunft ist also die beharrliche Bedingung aller willkürlichen Handlungen, unter denen der Mensch erscheint. Jede derselben ist im empirischen Charakter des Menschen vorher bestimmt, ehe noch als sie geschieht. In Ansehung
des intelligibelen Charakters, wovon jener nur das sinnliche Schema ist, gilt kein
Vorher, oder Nachher, und jede Handlung, angesehen des Zeitverhältnisses, darin sie mit anderen Erscheinungen steht, ist die unmittelbare Wirkung des
intelligibelen Charakters der reinen Vernunft, welche mithin frei handelt […].«
(Kant 1988a:502)
Seite |
29
Zweite Vorlesung
Auf dem Weg zum besseren Bewusstsein – Platon
Der Korpus von transzendentalen Urteilen, die sich ans Werk machen, wenn
die Anschauungsformen Raum und Zeit das sinnliche Material vor-geformt geliefert haben, und derart die begrifflich-konstitutive Gegenstandserkenntnis
ermöglichen, ist weit davon entfernt, Schopenhauers Wahrheitssuche in Ansätzen zu befriedigen. Kant wird von Schopenhauer als ›Maschinist der Vernunft‹
(Safranski 2010:173) geschätzt und hochgehalten, aber für die Kontemplation,
für das Eintauchen in die Welt der Wahrheit, taugt die Kritik der reinen Vernunft nicht. Schopenhauer geht es »nicht um den Nutzen, sondern um das
Glück der Erkenntnis« (Safranski 2010: 173). Den Weg zur Wahrheit – den
Weg, in der Wahrheit zu stehen – weist ihm Platon, der zweite Philosoph, der
für die Gedankenarchitektur von Die Welt als Wille und Vorstellung von entscheidender Bedeutung ist.
»[D]er junge Schopenhauer will sich mit Kants skeptischer Gelassenheit nicht
zufriedengeben. Auch er will ins Herz der Dinge. Er versucht den Kritizismus
Kants auszubalancieren mit Platon, der, so glaubt er, nicht nur ein Türhüter,
sondern ein Apostel der Wahrheit ist. Kant lehrt nur Tischsitten, kennt auch ein
paar Rezepte; Platon bringt aber die Speise.« (Safranski 2010:173)
Schopenhauer ist von Platons ›Erotik der Wahrheit‹ (Safranski 2010:181) hingerissen; der Platonismus bietet ein Erkennen, das ein anderes Sein bedeutet,
denn »es geht nicht darum, die Gegenstände besser zu sehen, sondern in der
Sonne zu sein« (Safranski 2010:181). Diese letzte Formulierung spielt auf das
berühmte Höhlengleichnis an.
Über Platons Leben und Werk gibt es nur wenig authentische Nachrichten. Einige wichtige Daten sind: Platon wird 428 oder 427 v. Chr. geboren, ist
der bedeutendste Schüler des Sokrates, von dem wir übrigens noch weniger authentische Nachrichten haben, gründet 387 die berühmte Akademie, die erste
Philosophenschule, schreibt, lehrt – einer seiner namhaftesten Schüler ist Aristoteles – und stirbt 347 (s. Suhr 2001:13 & 185f). Die Reihenfolge von Platon
Schriften (Dialogen) musste rekonstruiert werden. Die Schriften sind in neun
Tetralogien (= eine Folge von vier zusammengehörenden künstlerischen Werken, wobei es sich in Athen zu Platons Zeiten dabei um drei Tragödien und ein
erheiterndes Satyrspiel handelt) überliefert, wobei das Einteilungsprinzip philosophisch-systematisch, nicht chronologisch ist. Nach chronologischen Gesichtspunkten lassen sich die Schriften in folgende Gruppen einteilen (s. Suhr
2001:178):
I.
Laches, Charmides, Protagoras, Euthyphron, Lysis, Politeia I, Ion
Seite |
30
II.
III.
IV.
Apologie, Kriton, Gorgias, Menon, Euthydem, Kratylos, Hippias I und II,
Menexenos
Symposion, Phaidon, Politeia II-X, Phaidros
Theaitet, Parmenides, Sophistes, Politikos, Timaios, Kritias, Phiebox,
Nomoi
Raffael, Die Schule von Athen (1510-1511), Vatikan
Im Höhlengleichnis formuliert Platon das Verhältnis von den einzelnen seienden Dingen (i.e. Entitäten) zu demjenigen, was ihnen als Gemeinsames zukommt. Alle Pferde teilen bestimmte Eigenschaften, die sich in den konkreten
Pferden auf sehr unterschiedliche Weise zeigen können; trotz dieser sinnlich
wahrnehmbaren Abweichungen erkennen wir in all den unterschiedlichen
Pferden dasselbe Charakteristikum. Die wahrnehmbaren Eigenschaften der
Pferde haben also etwas gemeinsam, das zwar nicht wahrnehmbar, aber von der
›Seele‹ erfassbar ist. Das, woran die einzelnen Entitäten teilhaben, nennt Platon
ihre Idee bzw. Urbild; jede konkret wahrnehmbare Entität hat an ihrer Idee teil,
wobei ›Teilhabe‹ ›methexis‹ (µετηεξισ) heißt. Eine Wikipedia-Grafik veranschaulicht das Teilhabe-Verhältnis von den vielfältigen, sinnlich wahrnehmbaren Entitäten und deren Ideen/Urbildern wie folgt:
Seite |
31
Platons Höhlengleichnis findet sich im siebenten Buch von Der Staat oder Über
die Gerechtigkeit (Politeia), das nach 377 v. Chr. erschienen ist. Die beiden Gesprächspartner sind Sokrates und Glaukon (so heißt einer der älteren Brüder
des Platon), wobei es sich hier nicht um die Wiedergabe eines tatsächlich geführten Gesprächs handelt, sondern um literarisch-philosophische Fiktion.
»›Und jetzt will ich dir ein Gleichnis für uns Menschen sagen, wenn wir wahrhaft erzogen sind und wenn wir es nicht sind. Denke dir, es lebten Menschen in
einer Art unterirdischer Höhle, und längs der ganzen Höhle zöge sich eine breite
Öffnung hin, die zum Licht hinaufführt. In dieser Höhle wären sie von Kindheit
an gewesen und hätten die Fesseln an den Schenkeln und am Halse, so daß sie
sich nicht von der Stelle rühren könnten und beständig geradeaus schauen müßten. Oben in der Ferne sei ein Feuer, und das gäbe ihnen von hinten her Licht.
Zwischen dem Feuer aber und diesen Gefesselten führe oben ein Weg entlang.
Denke dir, dieser Weg hätte an seiner Seite eine Mauer, ähnlich wie ein Gerüst,
das die Gaukler vor sich den Zuschauern gegenüber, zu errichten pflegen, um
darauf ihre Kunststücke vorzuführen.‹
›Ja, ich denke es mir so.‹
›Weiter denke dir, es trügen Leute an dieser Mauer vorüber, aber so, daß es über
sie hinwegragt, allerhand Geräte, auch Bildsäulen von Menschen und Tieren aus
Stein und aus Holz und überhaupt Erzeugnisse menschlicher Arbeit. Einige dieser Leute werden sich dabei vermutlich unterhalten, andere werden nichts sagen.‹
›Welch seltsames Gleichnis! Welch seltsame Gefangene!‹
›Sie gleichen uns! – Haben nun diese Gefangenen wohl von sich selber und voneinander etwas anderes gesehen als ihre Schatten, die das Feuer auf die Wand
der Höhle wirft, der sie gegenübersitzen?‹
›Wie sollten sie! Sie können ja ihr Leben lang nicht den Kopf drehen!‹
›Ferner: von den Gegenständen, die oben vorübergetragen werden? Doch ebenfalls nur ihre Schatten?‹
›Zweifellos.‹
›Und wenn sie miteinander sprechen können, so werden sie in der Regel doch
wohl von diesen Schatten reden, die da auf ihrer Wand vorübergehen.‹
›Unbedingt.‹
Und wenn ihr Gefängnis auch ein Echo von der Wand zurückwirft, sobald ein
Vorübergehender spricht, so werden sie gewiß nichts anderes für den Sprecher
halten als den vorüberkommenden Schatten.‹
›Entschieden nicht.‹
›Überhaupt werden sie nichts anderes für wirklich halten, als diese Schatten von
Gegenständen menschlicher Arbeit.‹
›Ja, ganz unbedingt.‹
Seite |
32
›Nun denke dir, wie es ihnen ergeht, wenn sie frei werden, die Fesseln abstreifen
und von der Unwissenheit geheilt werden. Es kann doch nicht anders sein als so.
Wenn einer losgemacht wird, sofort aufstehen muß, den Hals wendet, vorwärtsschreiten und hinauf nach dem Licht schauen muß – das alles aber verursacht
ihm natürlich Schmerzen, und das Licht blendet ihn so, daß er die Gegenstände,
deren Schatten er bis dahin sah, nicht erkennen kann –,was wird er dann wohl
sagen, wenn man ihm erklärt: bis dahin habe er nur eitlen Tand gesehen; jetzt sei
er der Wahrheit viel näher und sähe besser; denn die Gegenstände hätten höhere Wirklichkeit, denen er jetzt zugewendet sei! Und weiter, wenn man auf die
einzelnen Gegenstände hinzeigt und ihn fragt, was sie bedeuteten. Es würde
doch keine einzige Antwort geben können und würde glauben, was er bis dahin
gesehen, hätte mehr Wirklichkeit, als was man ihm jetzt zeigt.‹
›Weit mehr.‹
›Und zwingt man ihn, das Licht selber anzusehen, so schmerzen ihn doch die
Augen. Er wird sich umkehren, wird zu den alten Schatten eilen, die er doch ansehen kann, und wird sie für heller halten als das, was man ihm zeigt.‹
›Ja, das wird er tun.‹
›Und zieht man ihn gar den rauhen steilen Ausgang mit Gewalt hinauf und läßt
nicht ab, bis man ihn hervor ins Sonnenlicht gezogen hat, so steht er doch Qualen aus, wehrt sich unwillig, und, ist er oben im Licht, so hat er die Augen voller
Glanz und kann kein einziges von den Dingen sehen, die wir wirklich nennen.‹
›Nein, wenn es plötzlich geschieht, nicht.‹
›Er muß sich an das Licht gewöhnen, wenn er die Gegenstände oben sehen will.
Zuerst wird er wohl am besten die Schatten erkennen, später die Spiegelungen
von Menschen und anderen Gegenständen im Wasser, dann sie selber. Weiter
wird er die Himmelskörper sehen und den Himmel selber, und zwar besser bei
Nacht die Sterne und den Mond als bei Tage die Sonne und ihre Strahlen.‹
›Freilich.‹
›Schließlich wird er die Sonne selber sehen können. […] Wenn er jetzt an die alte
Wohnung zurückdenkt und an die dortige Weisheit und an seine Mitgefangenen, so preist er sich doch glücklich über den Wechsel und bedauert jene.‹
›Gewiß.‹
[…]
›Nun mußt du dies ganze Gleichnis mit unserer voraufgegangenen Darlegung
zusammenhalten, lieber Glaukon. Setze an die Stelle der Gefängniswohnung die
durch den Gesichtssinn offenbarte Welt und an die Stelle des lichtspendenden
Feuers die Kraft der Sonne. Wenn du dir ferner unter dem Aufstieg und dem
Kennenlernen der Oberwelt die Wanderung der Seele zur denkbaren Welt hinauf denkst, so verstehst du meine Meinung, die du ja zu hören wünschst, durchaus richtig. […] Meine Ansicht jedenfalls geht dahin, daß es in der erkennbaren
Welt die Idee des Guten ist, die man zuletzt und mit Mühe gewahr wird. Ist man
Seite |
33
aber ihrer ansichtig geworden, so muß man zu der Überzeugung kommen, daß
alles Rechte und Schöne in der ganzen Welt von ihr ausgeht. In der sichtbaren
Welt schafft sie das Licht und den Herrn des Lichts; in der denkbaren Welt ist
sie selber Herrin und gibt Wahrheit und Vernunft. Und wer mit Vernunft handeln will, in seinem persönlichen Leben oder als Staatsmann, der muß sie sehen
lernen.‹« (Platon 1973:226ff)
Platon spricht in der Folge davon, wie wenige sich aufmachen, die Idee des Guten zu sehen, und davon, dass diese wenigen ausgelacht werden, wenn sie die
Idee des Guten gesehen und davon den anderen berichtet haben, die sich in ihrem Schattendasein eingefunden haben (s. Platon 1973:230f). Der Philosoph hat
also einiges Unbill auf sich zu nehmen, und ausgelacht zu werden ist eines davon. Das Lachen der Magd über Thales, dem ›Philosophen im Brunnen‹, hallt
zumindest zu Platons Zeiten noch sehr hell. Thales von Milet (~624-545 v.Chr.)
gilt als Begründer der Philosophie und als namhafter Astronom und Mathematiker; bei einer seiner nächtlichen Sternenbeobachtung übersieht Thales einen
Brunnen und stürzt hinein, worauf ein thrakische Magd lachend darüber spottet, dass Thales zwar wissen wolle, was am Himmel sei, aber es ihm verborgen
bleibe, was vor ihm und zu seinen Füßen liege. Platon, der diese Geschichte berichtet, zieht daraus einen ernsten Schluss: »Der gleiche Spott trifft alle, die in
der Philosophie leben. Denn in Wahrheit bleibt einem solchen der Nächste und
der Nachbar verborgen […]. Was aber der Mensch im Unterschied von den anderen zukommt, danach sucht er und das zu erforschen müht er sich.« (Platon,
zitiert nach Weischedel 1987:13ff) Wenn es um Gerechtigkeit und Wahrheit
geht, werden sich die Mitbürger fragend an den Philosophen wenden, wenn die
Zeit reif ist – so die Moral dieser Auffassung.
Was den jungen Schopenhauer (und Generationen von PhilosophiestudentInnen) an Platons Höhlengleichnis begeistert: Es ist der/die PhilosophIn,
der/die den Weg hinauf ans Tageslicht bewältigen kann und muss. Weiters: das
Höhlengleichnis steht in der Politeia, in der Platon fordert, dass es die Philosophen (weibliche Philosophen sind für Platon ein Unding) sind, die den Staat regieren sollen – dazu müssen sie aber erzogen werden. Gerechtigkeit können
Philosophen nur ausüben, wenn sie die Idee des Guten erfasst haben. Das Höhlengleichnis ist nicht nur ein Gleichnis bezüglich des Verhältnisses von Entitäten zu ihren Urbildern bzw. des Erkenntnisvollzuges, sondern auch ein Gleichnis für die Notwendigkeit der Charakterbildung von Philosophen bzw. Staatenlenkern.
Der alltägliche Mensch lebt gefangen in Schattenbildern und Echos und
ist nicht fähig, die Dinge selbst zu sehen. Der Alltagsmensch verfehlt das Wesen
der Wirklichkeit, lacht aber über den Philosophen, wenn er das Wesen der
Seite |
34
Dinge erkennen will. Der Philosoph tut sich den Schmerz der Welterkenntnis
an – er öffnet im strahlenden Sonnenlicht die Augen; er will sehen. Das Öffnen
der Augen ist gleichbedeutend mit Vernunfteinsichten zu erlangen. Das letzte
Prinzip, das den ideellen Bereich der Vernunfteinsichten, der Ideen, strukturiert, ist die Idee des Guten. Platons Philosophie ist damit im Grunde praktisch
bzw. politisch ausgerichtet.
Schopenhauer jedenfalls ist fasziniert vom Weg in die Sonne; er will am
Sein teilhaben (s. Safranski 2010:182). Ihn fasziniert der ›Ausstieg aus der Jammerwelt‹ und die Rückkehr in diese (s. Noerr-Schmid 2006:35ff).
Das bessere Bewusstsein
Safranski (2010:201) zitiert folgende Stelle aus Schopenhauers philosophischem
Tagebuch, niedergeschrieben 1813:
»Ich aber sage in dieser Zeitlichen, Sinnlichen, Verständlichen Welt giebt es
wohl Persönlichkeit und Kausalität, ja sie sind sogar nothwendig. – Aber das
bessre Bewußtseyn in mir erhebt mich in eine Welt wo es weder Persönlichkeit
noch Kausalität noch Subjekt und Objekt mehr giebt.«
Aus dieser Tagebucheintragung ist die ›Vermischung‹ von Kant und Platon bereits zu erahnen – einerseits ein Beibehalten der kausalen Welt, andererseits ein
Pochen auf eine Welt, die der Urgrund von Subjekt und Objekt ist, quasi das
Verlassen der Höhle. Die wirkliche Welt will Schopenhauer zu diesem Zeitpunkt bereits auf einen anderen Weltentwurf hin überschreiten, mittels der
Sprache der Vernunft allerdings (s. Safranski 2010:201).
Dass empirisches und ›besseres‹ Bewusstsein auseinanderklaffen, liegt für
Schopenhauer auf der Hand. Die Kluft zwischen den beiden Bewusstseinsformen ist unüberbrückbar, denn während das empirische Bewusstsein der erfahrbare Standardmodus unseres Bewusst-Seins ist, liegt beim besseren Bewusstsein eben kein Bewusstsein-von-etwas vor, kein Denken, dass sich einem
Objekt annähert:
»Das ›bessere Bewußtsein‹ ist […] eine Art der Wachheit, die in sich ruht, nichts
will, nichts befürchtet, nichts hofft. Ichlos und deshalb unbetreffbar, hat das
›bessere Bewußtsein‹ die Welt vor sich, eine Welt allerdings, die, weil sie nicht
mehr auf ein Ich ›wirkt‹, in einem bestimmten Sinn auch aufhört ›wirklich‹ zu
sein.« (Safranski 2010:202)
Schopenhauers besseres Bewusstsein ist ein Zustand des Draußen, der die Urteilsbeziehung zur Welt sistiert. Obwohl Schopenhauer erst später die Ähnlich-
Seite |
35
keit seines frühen Denkansatzes mit den deutschen Mystikern (z.B. Meister
Eckhart), die vom ›nunc stans‹ sprechen, und zu den indischen Weisheitslehren
entdecken wird, zielt Schopenhauer auf eine Auflösung des empirischen Bewusstseins im Zustand des besseren Bewusstseins; Safranski beschreibt dies wie
folgt:
»Wenn ich in einem Augenblick ganz in die Aufmerksamkeit versunken bin,
dann ist tatsächlich die Trennung von Ich und Welt plötzlich aufgehoben. Es
wird gleichgültig, ob ich sage: ich bin draußen bei den Gegenständen oder die
Gegenstände sind in mir, entscheidend ist vielmehr: Ich erleben meine Aufmerksamkeit nicht mehr als eine Funktion meines verkörperten Ichs. Diese
Aufmerksamkeit ist aus den Raum-Zeit-Koordinaten, deren Schnittpunkt unser
verkörpertes Ich ist, herausgelöst: raum-, zeit- und selbstvergessen. Die Mystiker
gaben dieser Erfahrung den Namen ›nunc stans‹, stehendes Jetzt. Die Intensität
dieser Gegenwart ist anfangs- und endlos, und sie kann nur verschwinden, weil
wir aus ihr verschwinden. Die Aufmerksamkeit bricht ab, wenn ich wieder in
mein Subjektsein zurückgetrieben werde, dann sind wieder alle Trennungen da:
Ich und die anderen, dieser Raum, diese Zeit. Hat mich mein empirisches Ich
wieder, so werde ich diesen ›Augenblick der Aufmerksamkeit‹ im Ankerwerk
meiner Individualität, meiner Lebenszeit, meines Ortes fest vertäuen und werde
daher das verloren haben, was diesem Augenblick das Unverwechselbare gegeben hat: sein Nirgendwo und Nirgendwann. Diese Art der Aufmerksamkeit muß
aufgehört haben, wenn ich sie einem Ort und einer Zeit zurechnen kann.« (Safranski 2010:203)
Das bessere Bewusstsein katapultiert das Individuum aus der empirischen Welt
hinaus; das Individuum entzieht sich für einen Augenblick – gemessen an den
Regeln des empirischen Bewusstseins – dem Treiben der Kausalität und ist
über den weltimmanenten Vernunftgebrauch hinaus. Schopenhauer fasst also
die Realität des besseren Bewusstseins und die Wirklichkeit des empirischen
Bewusstseins als zwei voneinander geschiedene Bewusstseinsmodi auf.
Schopenhauer strebt keine Versöhnung der Duplizität von empirischem
und besserem Bewusstsein an, sondern verfolgt ein anderes Projekt – das Unsagbare darf nicht zum Unsäglichen werden (s. Safranski 2010:212). Adorno
wird später schreiben: »An [Philosophie] ist die Anstrengung, über den Begriff
durch den Begriff hinauszugelangen.« (Adorno 1990:27) Das begriffliche Denken weist über sich hinaus und bleibt doch in sich befangen, wobei diese Befangenheit herkömmlicher Weise als Vorrang der begrifflichen Sphäre aufgefasst
wird. Adorno konzediert, dass ohne die begriffliche Sphäre nichts gewusst wird,
doch aus diesem Status darf nicht die Priorität über das Nichtbegriffliche geschlossen werden. »Philosophische Reflexion versichert sich des Nichtbegriffli-
Seite |
36
chen im Begriff. Sonst wäre dieser, nach Kants Diktum, leer, am Ende überhaupt nicht mehr der Begriff von etwas und damit nichtig. Philosophie, die das
erkennt, die Autarkie des Begriffs tilgt, streift die Binde von den Augen.«
(Adorno 1990:23f)
Safranski sieht eine andere Parallele: Schopenhauers doppelte Perspektive
und das Bestreben, das Unsägliche nicht zum Unsagbaren absteigen zu lassen,
findet ihren Widerhall in der Philosophie von Wittgenstein, näherhin im berühmten letzten Satz des Tractatus logico-philosophicus:
»Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.« (Wittgenstein 1963:115)
Die Philosophie soll in diskursiver Sprache sagen, was sich sagen lässt, damit
jener Bereich umgrenzt wird, an den die Sprache nicht herankommt; die Philosophie »soll bis an die Grenzen der möglichen Begriffsarbeit gehen, damit sie
weiß, wovon es keinen Begriff geben kann« (Safranski 2010:212).
***
Schopenhauers Frühphilosophie, jene (unpublizierten) Fragemente aus den Jahren 1812-1814 (s. Malter 1988:5ff), gipfelt in der Idee des besseren Bewusstseins
und macht sich damit auf den Weg zur reifen Willensmetaphysik. Die doppelte
Perspektive begründet ein Janusgesicht der Welt.
»Die Philosophie des ›besseren Bewußtseins‹ zeigt […] bereits das Janusgesicht
der Welt. Wir finden in dieser Philosophie viele der Probleme, die das Hauptwerk auflöst. […] In bewußter Platonnachfolge unterscheidet Schopenhauer zwischen einer sinnlichen und einer übersinnlichen Welt, dem Reich Gottes und
dem Reich der Nichtigkeit, einer zeitlich-hoffnungslosen und einer zeitloserfüllten menschlichen Existenz. Dieses an Platon gewonnene Duplizitätsschema
stellt sich für den zugleich an Kant anknüpfenden jungen Schopenhauer als Bewußtseinsdoppelung dar. Aus der noch gegenständlich gefassten Zwei-WeltenLehre wird eine Duplizitätsphilosophie, die insofern monistischen Charakter hat,
als sie die Doppelbetrachtbarkeit der menschlichen Existenz als Handlung des
einen Bewußtseins ansieht: das Bewußtsein hat in freier Wahl zwei Möglichkeiten seines Verhaltens zum leidenden Subjekt, das mit diesem einen Bewußtsein
identisch ist – der eine Mensch kann sich, als mit Bewußtsein ausgestattetes Individuum, zweifach verwirklichen. Bewußtseinsverdoppelung besagt daher nicht
Spaltung des Bewußtseins, sondern zweifaches Sichverhaltenkönnen des Bewußtseins zu sich selbst als zu dem leidend-reflektierenden Subjekt.« (Malter
1988:5)
Das bessere Bewusstsein steht jenseits aller Bestimmtheit der Objektwelt und
jenseits des der Objektwelt korrespondierenden Erkenntnissubjekt, womit es
sich nicht fassen lässt als ›denkend‹ oder ›erkennend‹; das bessere Bewußtsein
Seite |
37
entzieht sich dem Zugriff durch Erfahrung oder Vernunft. Aussagen über das
bessere Bewusstsein lassen sich folglich nur ex negativo machen – derartige
Aussagen sind beispielsweise im Bereich der Kunst möglich (s. Malter 1988:8).
Schon hier, in den frühen Notizen, sieht Schopenhauer die Bedeutung der
Kunst für die Wahrheit.
Doch die Spaltung ins empirische und bessere Bewusstsein wirft eine Frage auf: Warum und wie kommt es überhaupt zu dem als qualvoll leiderzeugenden empirischen Bewusstsein?
»Von Anfang an ist die Frage nach dem Ursprung des Bösen und des Übels in
der Welt, die Theodizee-Frage, in Schopenhauers Denken präsent; in gewissem
Sinn ist seine Frühphilosophie genauso wie sein reifes Denken der Versuch einer
Antwort.« (Malter 1988:10)
Dabei versteht man unter ›Theodizee‹ »die Rechtfertigung Gottes gegen den
Vorwurf, daß er für das Übel und das Böse in der Welt verantwortlich sei, da es
in seiner Allmacht gestanden haben müßte, es nicht zuzulassen« (Regenbogen
& Meyer 2005:661).
Die Konzeption des besseren Bewusstseins als klar vom empirischen Bewusstsein getrennter Bewusstseinsmodus und der Übergang von diesem zu jenem rückt den Tod in den Vordergrund der Philosophie – hierin liegt u.a. ein
wichtiges Moment für Schopenhauers existenzialistisches Philosophieren.
Doch im Tod liegt für Schopenhauer nicht das Ziel der Aufhebung des empirischen Bewusstseins (s. Malter 1988:11f) – Schopenhauer wird den Selbstmord
weder praktizieren, noch predigen.
Bevor Schopenhauer allerdings die doppelte Perspektive in die Duplizierung der Welt in die Welt als Wille und die Welt als Vorstellung ausformuliert,
beendet er sein Studium und legt seine Dissertation vor, Die vierfache Wurzel
des Satzes vom Grunde.
Die Schrift über Wurzeln, nicht für Apotheker geeignet
1813 greift die Politik in Schopenhauers Leben ein, und zwar in Form von
Deutschlands Kriegserklärung gegen Frankreich: Am 28. März 1813 wird mit
einem Gottesdienst der Krieg gegen Napoleon offiziell eröffnet. Schopenhauer
selbst wird nicht eingezogen, aber zwei Drittel seiner Kommilitonen ziehen in
den Kampf, womit die Berliner Universität verödet. Schopenhauer macht sich
auf die Flucht, verlässt schleunigst Berlin, denn den Krieg hat er schon in Weimar gesehen. Vor seiner Flucht mit Zielort Weimar, wo seine Mutter lebt,
spendet er die Ausrüstung eines Soldaten, »aber schlagen will er sich nicht, Pat-
Seite |
38
riotismus ist ihm fremd« (Safranski 2010:222). Den Weg nach Weimar wird
Schopenhauer in Rudolstadt unterbrechen und in ein Dorfgasthaus einkehren,
eigentlich von Juni bis November 1813 sein Domizil beziehen. Und es kommt
die Zeit der intellektuellen Niederkunft: Schopenhauer beginnt und vollendet in
diesen sechs Monaten seine Dissertation Über die vierfache Wurzel des Satzes
vom zureichenden Grunde. Damit beginnt eine fünfjährige Schaffensphase, die
das ganze Werk in nuce hervorbringen wird. Trotz des guten Gefühls, das
Schopenhauer beim Verfassen und Schaffen hat – es wird noch lange dauern,
bis sein Werk gelesen wird.
»In diesen fünf Jahren werden alle seine wesentlichen Lehrsätze ihre endgültige
Formulierung finden; er wird diese Lebensphase beenden mit dem Bewußtsein,
seine eigentliche Lebensaufgabe erfüllt zu haben. Danach wird er vor das Publikum treten und zu seinem Entsetzen feststellen, daß keiner gekommen ist. Ohne
einen Auftritt gehabt zu haben, tritt er ab.« (Safranski 2010:229)
Schopenhauers herbe Enttäuschung über die Nicht-Rezeption seines Werks
fängt bereits an, als er seine Dissertation, die er auf eigene Kosten publiziert,
seiner Mutter überreicht.
Johanna Schopenhauers Karriere als Schriftstellerin beginnt sich zu diesem Zeitpunkt zwar gerade erst abzuzeichnen, aber die Zeichen sind nicht trügerisch und künden von einer blendenden Zukunft. Johanna Sch. hat die
Kriegswirren von 1806/07 in Briefen ausführlich geschildert, und diese Briefe
werden im Verwandten- und Bekanntenkreis wie literarische Dokumente herumgereicht. Johannas Reiseberichte, die sie bei abendlichen Zusammenkünften
vorträgt, werden gelobt – schließlich beginnt sie, ihre Erlebnisse schriftstellerisch auszuwerten. 1813/14 erscheinen ihre Erinnerungen von einer Reise in
den Jahren 1803, 1804 und 1805. 1817 erscheint Reise durch das südliche
Frankreich, ab 1818 schreibt sie Liebesromane, und bis Ende der 1820er Jahre
bringt ihr Verleger, Brockhaus übrigens, eine zwanzigbändige Werkausgabe
heraus. In diesem Jahrzehnt ist Johanna Schopenhauer eine der berühmtesten
Schriftstellerinnen Deutschlands, eine deutsche Madame de Staël (s. Safranski
2010:250f).
Als Schopenhauer seiner erfolgreich publizierenden Mutter sein Büchlein
in die Hand drückt, entspinnt sich folgendes Gespräch, das Schopenhauer viele
Jahre später seinem Bekannten Wilhelm Gwinner berichtet:
»Die Mutter, indem sie Arthurs Dissertation DIE VIERFACHE WURZEL zur Hand
nimmt: ›Das ist wohl etwas für Apotheker.‹ Arthur: ›man wird sie noch lesen,
wenn von Deinen Schriften kaum mehr ein Exemplar in einer Rumpelkammer
steckt.‹ Die Mutter: ›von den Dingern wird die ganze Auflage noch zu haben
sein.‹« (Safranski 2010:255)
Seite |
39
Tatsächlich markiert dieses Gespräch den Bruch zwischen Mutter und Sohn,
weniger allerdings wegen der abfälligen Bemerkung, sondern mehr deswegen,
weil die Mutter in einer Liaison steht, die der Sohn ganz und gar nicht wohlheißt. Allerdings lässt sich Johann Schopenhauer von ihrem Sohn nicht sagen,
wie sie zu leben hat – und dieser wiederum erträgt nicht, dass sich seine Mutter
nicht von ihm regieren lässt. Doch genug davon – Schopenhauers Buch handelt
nicht von wirklichen Wurzeln und ist somit keine Schrift, die sich für Apotheker eignet.
***
Die Dissertation ist kantisch gehalten. Schopenhauer erwähnt hier mit keinem
Wort das ›bessere Bewusstsein‹, allerdings will er mit seiner Schrift gerade diesem seinen Ort zuweisen – er steckt die Grenzen des empirischen Bewusstseins
ab (s. Safranski 2010:230). »Worauf es ihm ankommt, ist genau das, wovon er
nicht spricht. Er wird auf seine Weise Kantianer, um – wiederum auf seine
Weise – Platoniker bleiben zu können.« (Safranski 2010:231) Das empirische
und das bessere Bewusstsein werden klar geschieden, womit der Kritizismus
(=Kants Transzendentalphilosophie) ein Liebesdienst am ›besseren Bewusstsein‹ ist (s. Safranski 2010:232)
Meistens lesen wir nicht die Schrift von 1813, sondern Schopenhauers ergänzte und erweiterte Ausgabe von 1847, was auch für die Suhrkamp-Ausgabe
gilt, aus der ich zitiere. Die beiden Ausgaben unterscheiden sich v.a. dadurch,
dass Schopenhauer in der Fassung von 1813, die seiner eingereichten Dissertation entspricht, nicht hemmungslos über seine Philosophenkollegen herzieht (s.
z.B. VW:67: die ›Professoren-Philosophie der Philosophie-Professoren‹) und sie
recht unflätig beschimpft (z.B. VW:136: Hegel als ›frecher Unsinnschmierer‹).
Nachdem Schopenhauer in der Einleitung Platon als ›göttlich‹ und Kant
als ›erstaunlich‹ bezeichnet hat, zitiert Schopenhauer Wolffs Version des Satzes
vom zureichenden Grunde mit den Worten:
›Nihil est sine ratione, cur potius sit quam non sit.‹
(›Nichts ist ohne Grund, warum es sei und nicht vielmehr nicht sei.‹)
Schopenhauer sieht im Satz vom Grunde den ›gemeinschaftlichen Ausdruck
mehrerer a priori gegebener Erkenntnisse‹ (VW:15). Schopenhauer sucht also
einen ›Ur-Grundsatz aller Erkenntnis‹ (VW:16), den Platon mit den Worten auf
den Punkt gebracht hat, dass ›alles, was geschieht, notwendig vermöge einer
Ursache geschehen, denn keiner Sache ist es möglich, ohne eine Ursache ins
Dasein zu treten‹ (VW:16). Allerdings riecht schon die Vier-Zahl weniger nach
Platon, als vielmehr nach Aristoteles, der in der Physik (Kapitel II 3) vier Gründe unterscheidet:
Seite |
40
Materialursache (causa materialis): »woraus als etwas schon Vorhandenem
etwas entsteht« (194 b). Gemeint ist der Stoff, aus dem ein Gegenstand besteht, z.B. im Fall einer silbernen Statue das Metall.
Formursache (causa formalis): Die »Form und das Modell« (ebd.) des Gegenstandes, im Fall der Statue die Gestalt eines Pferdes.
Wirkursache (causa efficientis): »woher der anfängliche Anstoß zu Wandel
oder Beharrung kommt« (ebd.). Dies wäre beim Beispiel der Statue der
Bildhauer.
Zweckursache (causa finalis): »das Ziel, d.h. das Weswegen« (ebd.). Der
Zweck der Statue ist, dass sie das Zimmer schmückt.
Schopenhauer selbst zitiert die Analytica posteriora (94a): »Es gibt vier Arten
von Gründen: der erste besteht in dem, was das Wesen der Sache ausmacht;
der zweite in dem, was, wenn er vorhanden ist, notwendig (als Substrat) vorausgesetzt werden muß; der dritte in dem, was etwas zuerst bewegt; der vierte,
um dessentwillen etwas ist.« (Aristoteles, zitiert in VW:17f)
Die aristotelische Ursachenlehre hängt untrennbar mit einer statischen
Ontologie zusammen, die bereits Kant durchbrochen hat; Schopenhauer reformuliert also nicht einfach Aristoteles, sondern ist eher von der Vier-Zahl inspiriert, modelt aber aristotelisches Denken problemlos in Kantische Philosophie um – hierin zeigt sich die kreative Denkkraft des jungen, gerade dissertierenden Schopenhauers.
Die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde fasst Schopenhauer wie folgt:
»Unser erkennendes Bewusstsein, als äußere und innere Sinnlichkeit (Rezeptivität), Verstand und Vernunft auftretend, zerfällt in Subjekt und Objekt und enthält nichts außerdem. Objekt für das Subjekt sein und unsere Vorstellung sein
ist dasselbe. Alle unsere Vorstellungen sind Objekte des Subjekts, und alle Objekte des Subjekts sind unsere Vorstellungen. Nun findet sich, dass alle unsere
Vorstellungen unter einander in einer gesetzmäßigen und der Form nach a priori bestimmbaren Verbindung stehn, vermöge welcher nichts für sich Bestehendes und Unabhängiges, auch nichts Einzelnes und Abgerissenes Objekt für uns
werden kann. Diese Verbindung ist es, welche der Satz vom zureichenden
Grund in seiner Allgemeinheit ausdrückt. […] Die demselben zum Grunde liegenden, im folgenden näher nachzuweisenden Verhältnisse sind es daher, welche ich die Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde genannt habe. Diese
sondern sich […] in bestimmte von einander sehr verschiedene Gattungen, deren Anzahl sich auf vier zurückführen läßt, indem sie sich richtet nach den vier
Klassen, in welche alles, was für uns Objekt werden kann, also alle unsere Vorstellungen zerfallen.« (VW:41)
Seite |
41
Alle Objekte, die Objekte fürs Subjekt und somit unsere Vorstellungen sind,
stehen in gesetzmäßigen Verbindungen a priori; hier merkt man Kants Erbe
überdeutlich. Nach diesen Verbindungen lässt sich in vierfacher Weise fragen –
dass sie in Verbindung stehen, entspricht dem Satz vom Grunde, und dass sich
die Verbindungen in vierfacher Weise befragen lassen, entspricht dessen vierfacher Wurzel. Die vier Wurzel des Satzes vom Grund sind (Safranski 2010:234f):
Bei allem, was in der Körperwelt geschieht, fragen wir nach einem Grund, warum es geschieht. Wir fragen also nach einem Grund des Werdens. Das ist die
Frage nach der Kausalität im engeren Sinn.
Bei allen Urteilen (Erkenntnissen, Begriffen) fragen wir nach dem, worauf sich
dieses Urteil stützt. Wir fragen hier also nicht, warum etwas so sei, sondern wir
fragen, warum wir behaupten, dass es so sei. Wir fragen also nach dem Erkenntnisgrund.
Die dritte Art des Satzes vom zureichenden Grunde bezieht sich auf das Gebiet
der reinen Geometrie und Arithmetik. Hier gilt weder ein Grund des Werdens
noch ein Erkenntnisgrund. Warum auf die Zahl ›1‹ die Zahl ›2‹ folgt oder warum jedes über einem Kreisdurchmesser errichtete Dreieck, mit Eckpunkt auf
der Kreislinie, einen rechten Winkel hat, lässt sich durch das So-Sein des anschaulichen Raumes (Geometrie) und der unmittelbar erfahrenen Zeit (Zählen,
Arithmetik) demonstrieren. Es geht hier um eine nicht weiter hinterfragbare
Evidenz. Für Schopenhauer ist das der ›Satz vom zureichenden Grunde des
Seyns‹.
Die vierte Art des Satzes vom zureichenden Grunde bezieht sich auf das
menschliche Handeln: Wir fragen bei allem, was getan wird, nach dem Motiv,
weshalb es getan wird. In der zweiten, wesentlich erweiterten Auflage der Dissertation wird Schopenhauer dafür den ungemein erhellenden Ausdruck verwenden: ›die Kausalität von innen‹.
Beim Durchgang durch die vierfache Wurzel des Satzes vom Grunde – Schopenhauer widmet jedem Grund/jeder Vorstellungsklasse ein Kapitel mit mehreren Paragrafen – möchte ich ein paar besonders eindringliche Gedanken herausgreifen, sozusagen die ›Gustostückerl‹ der Dissertation diskutieren.
***
Die erste Klasse möglicher Gegenstände unseres Vorstellungsvermögens ist die
der ›anschaulichen, vollständigen, empirischen Vorstellungen‹ – ›anschaulich‹
im Gegensatz zu ›gedacht‹. Die Formen der Anschauung sind Zeit und Raum
(VW:42). Anschauungen sind wahrnehmbar, und wahrnehmbar wiederum ist
die Materie. Daraus entspringt nun die spannende Aufgabe, die Materie aus
den beiden Anschauungsformen zu explizieren – was Schopenhauer mühelos
gelingt.
Seite |
42
»Wäre die Zeit die alleinige Form dieser Vorstellungen; so gäbe es kein Zugleichsein und deshalb nichts Beharrliches und keine Dauer. Denn die Zeit wird
nur wahrgenommen, sofern sie erfüllt ist, und ihr Fortgang nur durch den
Wechsel des sie Erfüllenden. Das Beharren eines Objekts wird daher nur erkannt
durch den Gegensatz des Wechsels anderer, die mit ihm zugleich sind. Die Vorstellung des Zugleichseins aber ist in der bloßen Zeit nicht möglich, sondern zur
andern Hälfte bedingt durch die Vorstellung vom Raum; weil in der bloßen Zeit
alles nacheinander, im Raum aber nebeneinander, ist: dieselbe entsteht also erst
durch den Verein von Zeit und Raum. Wäre andererseits der Raum die alleinige
Form der Vorstellungen dieser Klasse; so gäbe es keinen Wechsel: denn Wechsel
oder Veränderung ist Sukzession der Zustände, und Sukzession ist nur in der
Zeit möglich.« (VW:43)
Zeit ist für Sukzession, Raum für Beharrlichkeit verantwortlich; weder kann es
reine Sukzession geben, noch reine Beharrlichkeit – alles ändert sich, aber das,
was sich ändert, muss davor beharrt haben. Veränderung ist nur vor der Folie
des Bestandes denkbar. Wenn sich ein Zustand verändert, muss dieser Veränderung ein anderer Zustand vorangegangen sein bzw. jede Veränderung ist die
Wirkung einer Ursache (VW:48). Es gibt keine Veränderung außerhalb der Ursachenkette – Veränderungen sind nur in einer geschlossenen ›Kette der Kausalität‹ (VW:49), als ›Kausalnexus‹ (VW:51) denkbar. Diese Kausalitätskette ist
folglich auch ›notwendig anfangslos‹ (VW:49). Dabei gilt zu bedenken – hierin
ist Schopenhauer ein Funktionsdenker wie Kant –, dass nicht Objekte, sondern
Zustände Ursachen sind (VW:50). Aus dieser Überlegung folgt, dass der Begriff
einer ›causa prima‹ oder einer ›causa sui‹ ein Widerspruch in sich, eine ›contradiction in adiecto‹ ist (VW:52).
»Das Gesetz der Kausalität ist also nicht so gefällig, sich brauchen zu lassen wie
ein Fiaker, den man, angekommen, wo man hingewollt, nach Hause schickt.
Vielmehr gleicht es dem von Goethes Zauberlehrling belebten Besen, der, einmal in Aktivität gesetzt, gar nicht wieder aufhört zu laufen und zu schöpfen.«
(VW:53)
Aus dem Gesetz der Kausalität ergeben sich ›zwei wichtige Korollarien‹
(VW:57), die ›über allen Zweifel erhaben‹ sind: das Gesetz der Trägheit und das
der Beharrlichkeit der Substanz.
»Das erstere besagt, daß jeder Zustand, mithin sowohl die Ruhe eines Körpers
als auch seine Bewegung jeder Art unverändert, unvermindert, unvermehrt fortdauern und selbst die endlose Zeit hindurch anhalten müsse, wenn nicht eine
Ursache hinzutritt, welche sie verändert oder aufhebt. – Das andere aber, welches die Sempiternität der Materie ausspricht, folgt daraus, daß das Gesetz der
Kausalität sich nur auf die Zustände der Körper, also auf ihre Ruhe, Bewegung,
Seite |
43
Form und Qualität bezieht, indem es dem zeitlichen Entstehn und Vergehn derselben vorsteht; keineswegs aber auf das Dasein des Trägers dieser Zustände, als
welche man, eben um seine Exemtion von allem Enstehn und Vergehn auszudrücken, den Namen Substanz erteilt hat. Die Substanz verharrt: d.h. sie kann
nicht entstehn noch vergehn, mithin das in der Welt vorhandene Quantum derselben nie vermehrt, noch vermindert werden.« (VW:58)
Wobei ›Substanz‹ ein Synonym von ›Materie‹ (VW:60) ist. Die Kausalkette ist
die Summe der Veränderungen an der Materie, die sich selbst nicht ändert, die
also im Hintergrund der Veränderungen beharrlich bleibt – hier findet man
Kants Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung wieder, wobei Schopenhauer die Dinge an sich als beharrende Substanz/Materie anspricht.
Neben der beharrenden Materie ist noch etwas dem Kausalnexus enthoben, nämlich die Naturkräfte selbst. Die Naturkräfte sind außerhalb der Zeit
und des Raumes, und sie sind ›überall vorhanden, allgegenwärtig und unerschöpflich‹ (VW:60).
»Die Naturkraft […] ist ein Allgemeines, Unveränderliches, zu aller Zeit und
überall Vorhandenes. Z.B. Daß der Bernstein jetzt die Flocke anzieht, ist die
Wirkung: ihre Ursache ist die vorhergegangene Reibung und jetzige Annäherung
des Bernsteins; und die in diesem Prozeß tätige ihm vorstehende Naturkraft ist
die Elektrizität.« (VW:61)
Schopenhauer differenziert hier klar zwischen Ursache-Wirkungs-Relation und
Naturkraft. Die Naturkraft ist keine Wirkung, sie erscheint bloß als solche, und
die Naturkraft ist mit den konkreten Ursache-Wirkungsrelationen durch das
›Band des Naturgesetzes‹ verknüpft (VW:61). Hier kündigt sich bereits ein
wichtiger Gedanke an, den Schopenhauer später ausführt – dass nämlich die
Welt der Erscheinungen durch eine ungreifbare Kraft durchwaltet wird, die
selbst nie Erscheinung ist und sich dennoch in den Erscheinungen manifestiert;
Schopenhauer nennt diese Kraft den Willen (s.u.). In der Dissertation schreibt
er (es liest sich wie ein Versprechen, das er einlösen wird):
»Jede echte, also wirklich ursprüngliche Naturkraft aber, wozu auch jede chemische Grund-Eigenschaft gehört, ist wesentlich qualitas occulta, d.h. keiner physischen Erklärung weiter fähig, sondern nur noch einer metaphysischen, d.h. über
die Erscheinung hinausgehenden.« (VW:61f)
Die Kausalität, ›dieser Lenker aller und jeder Veränderung‹ (VW:62), wird von
Schopenhauer nun dreifach differenziert – in (i) Ursache im engeren Sinn, (ii)
Reiz und (iii) Motiv. Die Kausalität wirkt im unorganischen Reich als Ursache,
im organischen Reich (i.e. im Leben der Pflanzen und im vegetativen, daher
Seite |
44
bewusstlosen Teil des tierischen Lebens) als Reiz und im eigentlichen animalischen Leben als Motiv.
Hier kündigt sich einerseits eine unzeitgemäße Aufwertung des Tieres in
der Philosophie an, denn Schopenhauer spricht den Tieren Erkennen und Vorstellen zu (VW:63); andererseits eine Parallelisierung des Menschen mit dem
Tier, was auf Charles Darwin vorausweist (Darwin publiziert The Origin of
Species by Means of Natural Selection or the Preservation of Favoured Races in
the Struggle for Life 1859). Damit ist der Mensch in seinem Handeln durch
Motive der Kausalität nicht enthoben, vielmehr ist der Mensch gerade dann,
wenn er motiviert handelt, im Kausalnexus gefangen – darin weist Schopenhauer zugleich auf Freud, der die Psychoanalyse explizit als ›Naturwissenschaft‹
auffasst, also nicht ›verstehen‹, sondern ›erklären‹ will.
Schopenhauer fasst die Ausdifferenzierung der Kausalität in Ursache, Reiz
und Motivation wie folgt.
»Der Unterschied zwischen Ursache, Reiz und Motiv ist offenbar bloß die Folge
des Grades der Empfänglichkeit der Wesen; je größer diese, desto leichterer Art
kann die Einwirkung sein: der Stein muß gestoßen werden; der Mensch gehorcht einem Blick. Beide aber werden durch eine zureichende Ursache, also mit
gleicher Notwendigkeit bewegt. Denn die Motivation ist bloß die durch das Erkennen hindurchgehende Kausalität: der Intellekt ist das Medium der Motive,
weil er die höchste Steigerung der Empfänglichkeit ist. Allein hierdurch verliert
das Gesetz der Kausalität schlechterdings nichts an seiner Sicherheit und Strenge. Das Motiv ist eine Ursache und wirkt mit der Notwendigkeit, die alle Ursachen herbeiführen. Beim Tier, dessen Intellekt ein einfacher, daher nur die Erkenntnis der Gegenwart liefernder ist, fällt jene Notwendigkeit leicht in die Augen. Der Intellekt des Menschen ist doppelt: er hat zur anschaulichen auch noch
die abstrakte Erkenntnis, welche nicht an die Gegenwart gebunden ist, d.h. er
hat Vernunft. Daher hat er eine Wahlentscheidung, mit deutlichem Bewußtsein:
nämlich er kann die einander ausschließenden Motive als solche gegen einander
abwägen, d.h. sie ihre Macht auf seinen Willen versuchen lassen, wonach sodann
das stärkere ihn bestimmt und sein Tun mit eben der Notwendigkeit erfolgt wie
das Rollen der gestoßenen Kugel.« (VW:63f)
Diesen Ansatz wird Schopenhauer in seiner Preisschrift über die menschliche
Freiheit weiter verfolgen – ich werde daher die Diskussion des Leib-SeeleProblems auf später verschieben.
***
Schopenhauer verlässt die unmittelbaren Vorstellungen (Zeit und Raum bestimmt) und widmet den § 21 der Apriorität des Kausalitätsbegriffs, näherhin
der Intellektualität der empirischen Anschauung. Schopenhauer folgt hier nun
Seite |
45
völlig Kant, für den die Gegenstandskonstitution im Zusammenspiel von Anschauung und Begriff liegt. Folgende Zeilen können bis heute als das Argument
gegen einen sensualistischen Empirismus gelesen werden – sie haben an Gültigkeit nichts verloren:
»Man muß von allen Göttern verlassen sein, um zu wähnen, daß die anschauliche Welt da draußen, wie sie den Raum in seinen drei Dimensionen füllt, im unerbittlich strengen Gange der Zeit sich fortbewegt, bei jedem Schritte durch das
ausnahmslose Gesetz der Kausalität geregelt wird, in allen diesen Stücken aber
nur die Gesetze befolgt, welche wir vor aller Erfahrung davon angeben können –
daß eine solche Welt da draußen ganz objektiv-real ohne unser Zutun vorhanden wäre, dann aber durch die bloße Sinnesempfindung in unseren Kopf hineingelangte, woselbst sie nun, wie da draußen, noch einmal dastände. Denn was für
ein ärmliches Ding ist doch die bloße Sinnesempfindung! Selbst in den edelsten
Sinnesorganen ist sie nichts mehr als ein lokales, spezifisches, innerhalb seiner
Art einiger Abwechselung fähiges, jedoch an sich selbst stets subjektives Gefühl,
welches als solches gar nichts Objektives, also nichts einer Anschauung Ähnliches enthalten kann. […] Die Empfindung in den Sinnesorganen ist eine durch
den Zusammenfluß der Nervenenden erhöhte, wegen der Ausbreitung und der
dünnen Bedeckung derselben leicht von außen erregbare und zudem irgendeinem speziellen Einfluß – Licht, Schall, Duft – besonders offenstehende: aber sie
bleibt bloße Empfindung.« (VW:68)
Durch die Sinnesorgane affizieren uns die Dinge an sich – doch dann setzen
sich Anschauungsformen und Verstandesformen ins Werk und konstituieren
das Objekt, das immer Objekt-für-ein-Subjekt ist. Die Vorstellungen sind zugleich objektiv und subjektiv. Soweit bleibt Schopenhauer ganz Kantianer.
Doch dann folgt eine interessante Wegbewegung – Schopenhauer will den Erkenntnisvollzug selbst in terms of causality fassen, was Kant ja vermieden hat:
Der Verstand fasst die gegebene Empfindung des Leibes als Wirkung auf, wobei
er unter Zuhilfenahme des äußeren Sinnes, d.i. des Raumes, die Ursache als außerhalb des Organismus auffasst. Der Verstand konstruiert die Affektionen als
Ursachen auf den Körper im Raum (VW:69).
»Bei allen dem geben diese Data durchaus noch keine Anschauung; sondern diese bleibt das Werk des Verstandes. Drücke ich mit der Hand gegen den Tisch, so
liegt in der Empfindung, die ich davon erhalte, durchaus nicht die Vorstellung
des festen Zusammenhangs der Teile dieser Masse, ja gar nichts dem Ähnliches;
sondern erst indem mein Verstand von der Empfindung zur Ursache derselben
übergeht, konstruiert er sich einen Körper, der die Eigenschaft der Solidität, Undurchdringlichkeit und Härte hat.« (VW:72)
Dieser Sachverhalt wird bei Bewegungen noch deutlicher:
Seite |
46
»Läßt man durch seine geschlossene Hand einen Strick laufen; so wird [der Verstand] als Ursache der Reibung und ihrer Dauer bei solcher Lage seiner Hand einen langen, zylinderförmigen, sich in einer Richtung gleichförmig bewegenden
Körper konstruieren. Nimmermehr aber könnte ihm aus jener bloßen Empfindung in seiner Hand die Vorstellung einer Bewegung, d.i. der Veränderung des
Ortes im Raum mittelst der Zeit entstehn: denn so etwas kann in ihr nicht liegen
noch kann sie allein es jemals erzeugen. Sondern sein Intellekt muß vor aller Erfahrung die Anschauungen des Raumes, der Zeit und damit der Möglichkeit der
Bewegung in sich tragen und nicht weniger die Vorstellung der Kausalität, um
nun von der allein empirisch gegebenen Empfindung überzugehn auf eine Ursache derselben und solche dann als einen sich also bewegenden Körper von der
bezeichneten Gestalt zu konstruieren. Denn wie groß ist doch der Abstand zwischen der bloßen Empfindung in der Hand und den Vorstellungen der Ursächlichkeit, Materialität und der durch die Zeit vermittelten Bewegung im Raum!«
(VW:73)
Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Kohäsion, Gestalt, Härte, Weiche, Ruhe
und Bewegung sowie die Grundlage der objektiven Welt können unmöglich
durch die Sinne entstehen. Für Schopenhauer steht fest: Die Grundqualitäten
kommen durch den Verstand in die Welt, der zwar nicht die Dinge an sich erschafft, aber doch die Empfindungen, die von den Dingen an sich auf den Körper einwirken, zu den Erscheinungen ummodelt. Raum, Zeit und das Gesetz
der Kausalität – »das bereits fertige und aller Erfahrung vorhergängige Dasein
dieser Formen macht eben den Intellekt aus« (VW:73). Dem lässt Schopenhauer nun eine völlig unkantische Idee folgen:
»Physiologisch ist [der Verstand] eine Funktion des Gehirns, welche dieses sowenig erst aus der Erfahrung erlernt wie der Magen das Verdauen oder die Leber die Gallenabsonderung.« (VW:73)
Schopenhauer lässt offen, was das bedeuten soll – dass der Verstand eine Funktion des Gehirns ist. Schopenhauer huldigt nicht dem Vulgärmaterialismus,
demgemäß das Denken auf Gehirntätigkeit reduzieren wird; aber er macht
nicht klar, in welcher Beziehung das Gehirn zur transzendentalen Leistung der
Gegenstandskonstitution steht. Außerdem ist hier eine petitio principii eingeschummelt: Das Gehirn als Organ ist in seiner Gegenständlichkeit vom
transzendentalen Verstand konstituiert, und den Verstand als dessen Funktion
zu erklären, heißt, die eigentliche Ursache von ihrer Funktion her zu begreifen.
Wie dem auch sei, diese Passage zeigt, wie sehr Schopenhauer von den
Naturwissenschaften fasziniert ist – und mehr noch, wie gut er sich in diesem
Gebiet auskennt. Davon legen die folgenden Passagen in der Dissertation Zeugnis ab: Im Anschluss an das Postulat vom Verstand als Funktion des Gehirns
Seite |
47
diskutiert Schopenhauer die Leistungen, die der Verstand vollbringt, um aus
den visuellen Empfindungen die ›so unerschöpflich reiche und vielgestaltete
sichtbare Welt‹ (VW:75) hervorzubringen. Zunächst dreht der Verstand das
verkehrte Bild auf der Retina um (VW:75) – dass die Objekte verkehrt auf der
Retina stehen, gilt bis lange ins 20. Jahrhundert als wichtige Erkenntnis. Danach
vereinigt der Verstand die beiden Bilder, die die beiden Augen aufnehmen
(VW:76). Drittens, der Verstand macht aus den Flächen Körper (VW:82). Viertens, der Verstand erkennt die Entfernung der Objekte von uns (VW:83). Schopenhauer betont, dass der rein formale Teil der empirischen Anschauung, also
Raum, Zeit und Kausalität, a priori im Intellekt liegt; dass aber die Anwendung
derselben auf die empirischen Data durch ›Übung und Erfahrung‹ erlangt werden (VW:90).
»Daher kommt es, daß neugeborene Kinder zwar den Licht- und Farbeindruck
empfangen, allein noch nicht die Objekte apprehendieren und eigentlich sehn;
sondern sie sind die ersten Wochen hindurch in einem Stupor befangen, der
sich alsdann verliert, wann ihr Verstand anfägt, seine Funktion an den Datis der
Sinne, zumal des Getasts und Gesichts zu üben, wodurch die objektive Welt allmählich in ihr Bewußtsein tritt.« (VW:90)
Dieses Zitat erinnert an Jean Piagets ›sensu-motorische‹ Intelligenzstufe und ist
markiert zugleich den Standpunkt des Nativismus unter transzendentalphilosophischen Vorzeichen.
Schopenhauer ist sich der Tatsache bewusst, dass seine Kausalitätskonzeption Kant widerspricht (VW:101). Wie ich bereits erwähnt habe, gibt es in
Kants Konzeption das Problem mit der Affektion, die ja nicht ursächlich gedacht werden soll. Dies hat nicht nur Hegel in der 1807 publizierten Phänomenologie des Geistes irritiert und zu Kritik veranlasst, sondern eben auch Schopenhauer, der wohl in Kenntnis von Hegels Werk – er spricht von »Hegelianern und ähnliche Ignoranten« (VW:105) – behauptet, dass er selbst der erste
sei, der diesen Missstand in Kants Konzeption aufdeckt. Schopenhauer kritisiert
an Kant, dass er
»bei der Betrachtung jenes Verhältnisses immer nur den Übergang von der Erscheinung zum Dinge an sich, nicht aber das Entstehen der Anschauung selbst
im Auge gehabt hat. […] Die Wahrnehmung ist nämlich bei Kant etwas ganz
Unmittelbares, welches ohne alle Beihülfe des Kausalnexus und mithin des Verstandes zustande kommt: er identifiziert sie geradezu mit der Empfindung.«
(VW:102)
Und dies ist für Schopenhauer eine ›äußerst fehlerhafte Kantische Ansicht‹
(VW:103). Dem hält er entgegen:
Seite |
48
»Aber immer und immer besteht die Leistung des Verstandes in unmittelbarem
Auffassen der kausalen Verhältnisse: zuerst […] zwischen dem eigenen Leib und
den andern Körpern, woraus die objektive Anschauung hervorgeht: dann zwischen diesen objektiv angeschauten Körpern unter einander, wo nun […] das
Kausalitätsverhältnis unter drei verschiedenen Formen auftritt, nämlich als Ursache, als Reiz und als Motiv, nach welchen dreien sodann alle Bewegung auf der
Welt vorgeht und vom Verstand allein verstanden wird.« (VW:98)
Darin sieht Schopenhauer die alleinige Form und Funktion des Verstandes begründet; es bedarf keineswegs das »komplizierte Räderwerk der zwölf Kantischen Kategorien, deren Nichtigkeit ich nachgewiesen habe« (VW:98).
Für Schopenhauer ist der ›organische Leib‹ das ›unmittelbare Objekt‹,
weil der Leib der Ausgangspunkt für die Anschauung aller anderen Objekte ist
(VW:106). Hier nun thematisiert Schopenhauer die oben genannte petitio principii – als Objekt wird der Leib nämlich ebenso wie alle anderen Objekte mittelbar erkannt, »indem er gleich allen andern Objekten sich im Verstande oder
Gehirn (welche eins ist) als erkennende Ursache subjektiv gegebener Wirkung
und ebendadurch objektiv darstellt« (VW:106). Diese wohl wegen ihrer Widersprüchlichkeit komplizierte Textpassage will Schopenhauer durch die Selbstwahrnehmung erklären – Teile des Leibes erkennen andere Teile desselben
Leibes, wie das Auge sehend die Hand und die Hand tastend den Rumpf etc.
Nicht nur für mich ist die Konzeption reichlich unverständlich; Schopenhauer
dürfte hier sehr unvollständig seine spätere Idee vor-formulieren, die darin
liegt, dass der Leib die erste Objektivation des Wille ist.
***
Im fünften Kapitel kommen die zweite Klasse von Objekten und die spezifische
Ausprägung des Satzes vom zureichenden Grunde auf die Diskussionsliste. Es
handelt sich um den Menschen, der sich vom Tier dadurch unterscheidet, dass
er eine Klasse von Vorstellungen zusätzlich aufweist, nämlich die Begriffe bzw.
die abstrakten Vorstellungen (VW:120). Begriffe sind ›Vorstellungen von Vorstellungen‹ und setzen das voluminöse Gehirn des Menschen voraus (VW:121).
Schopenhauer beschreibt die Begriffsbildung wie folgt (Schopenhauer meint
natürlich ›empirische‹ Begriffe, keineswegs die transzendentalen Begriffe des
Verstandes):
»[B]ei ihrer Bildung zerlegt das Abstraktionsvermögen die […] anschaulichen
Vorstellungen in ihre Bestandteile, um diese abgesondert, jeden für sich, denken
zu können als die verschiedenen Eigenschaften oder Beziehungen der Dinge. Bei
diesem Prozesse nun aber büßen die Vorstellung notwendig die Anschaulichkeit
ein wie Wasser, wenn in seine Bestandteile zerlegt, die Flüssigkeit und die Sichtbarkeit. Denn jede also ausgesonderte (abstrahierte) Eigenschaft läßt sich für
Seite |
49
sich allein wohl denken, jedoch darum nicht für sich allein auch anschauen. Die
Bildung eines Begriffs geschieht überhaupt dadurch, daß von dem anschaulich
Gegebenen vieles fallengelassen wird, um dann das übrige für sich allein denken
zu können: derselbe ist also ein Weniger-Denken, als angeschaut wird.«
(VW:121)
Die Beschreibung der Begriffsbildung, die Schopenhauer hier wiedergibt, ist
durchaus traditionell und entspricht der Auffassung von Begriffsbildung, die
heute vorzuherrschen scheint: Gemeinsame Eigenschaften der Einzeldinge
werden herausgehoben und zu einer Klasse zusammengefasst, die begrifflich
fixiert wird – Begriffe sind ›Inbegiffe‹ von etwas, sie drücken das Wesen bzw.
die Quintessenz der Entitäten aus. Die Überwindung dieser Begriffsauffassung,
die eine statische Ontologie voraussetzt, wird erst von Wittgenstein (1989a:278;
1989b:37ff) durchbrochen, der statt Abstraktion von ›Familienähnlichkeiten‹
spricht und derart philosophischen Verzicht leistet. Schopenhauer folgt der seit
der Antike vertretenen Idee der Begriffsbildung, die darin besteht, vom Besonderen, Zufälligen, Unwesentlichen abzusehen, um das Allgemeine, Notwendige,
Wesentliche zu erhalten (s. Regenbogen & Meyer 2005:9). Hier fehlt Schopenhauer jeder Funktionsgedanke; der Funktionsbegriff ist für den Verstand reserviert.
Darin hat Schopenhauer sicherlich recht: Dem Hund überhaupt, der Farbe überhaupt, der Triangel überhaupt oder der Zahl überhaupt entspricht keine
Vorstellung (VW:126). Die Fähigkeit, zu einen gegebenen anschaulichen Fall
den Begriff (die Regel) oder zum Begriff (zur Regel) den besonderen Fall zu finden, heißt seit Kant ›Urteilskraft‹, die Schopenhauer als ›Vermittlerin zwischen
der anschauenden und der abstrakten Erkenntnis‹ (VW:127) bezeichnet. Das
Denken ist zwar vom Anschauen getrennt, ja denken basiert nicht auf ›blassen
Vorstellungen‹ oder ›Ideen‹ – so die empiristische Auffassung –, aber abstraktes und vorstellendes Denken sind für Schopenhauer nicht völlig geschieden:
»Nur soviel läßt sich behaupten, daß jede wahre und ursprüngliche Erkenntnis,
auch jedes echte Philosophem zu ihrem innersten Kern oder ihrer Wurzel irgendeine anschauliche Auffassung haben muß.« (VW:128)
Im Reich des Denkens im engeren Sinn, also dort, wo nur noch abstrakte Begriffe herrschen, geht es um deren Verbindung oder Trennung im Urteil. Das
Urteil spricht die Erkenntnis aus, womit sich der Satz vom zureichenden Grund
hier als ›principium rationis sufficientis cognoscendi‹ ausdrückt (VW:129).
»Als solcher besagt er, daß, wenn ein Urteil eine Erkenntnis ausdrücken soll, es
einen zureichenden Grund haben muß: wegen dieser Eigenschaft erhält es so-
Seite |
50
dann das Prädikat wahr. Die Wahrheit ist also die Beziehung eines Urteils auf
etwas von ihm Verschiedenes, das sein Grund genannt wird.« (VW:129)
Schopenhauer unterscheidet in weitere Folge (VW:129ff) (i) die logische Wahrheit – ein Urteil hat ein anderes Urteil zum Grunde (Satz von der Identität, Satz
vom ausgeschlossenen Dritten und Satz vom zureichenden Grunde des Erkennens) –, (ii) die empirische oder materiale Wahrheit (gründet unmittelbar in
der Erfahrung), (iii) die transzendentale Wahrheit (das Urteil gründet auf den
in uns gelegenen Bedingungen) und (iv) die metalogische Wahrheit (die sich
von der transzendentalen Wahrheit nicht recht unterscheiden lässt, aber nicht
auf den Verstand, sondern die Vernunft zielt).
Das Verhältnis von Vernunft zur Empirie fasst Schopenhauer wie folgt
zusammen:
»Also alles Materielle in unserer Erkenntnis, d.h. alles, was sich nicht auf subjektive Form, selbst-eigene Tätigkeitsweise, Funktion des Intellekts zurückführen
läßt, mithin der gesamte Stoff derselben kommt von außen, nämlich zuletzt aus
der von der Sinnesempfindung ausgehenden objektiven Anschauung der Körperwelt. Diese anschauliche und dem Stoffe nach empirische Erkenntnis ist es,
welche sodann die Vernunft, die wirkliche Vernunft zu Begriffen verarbeitet, die
sie durch Worte sinnlich fixiert und dann an ihnen den Stoff hat zu ihren endlosen Kombinationen mittelst Urteilen und Schlüssen, welche das Gewebe unserer
Gedankenwelt ausmachen. Die Vernunft hat also durchaus keinen materiellen,
sondern bloß einen formellen Inhalt, und dieser ist der Stoff der Logik, welche
daher bloße Formen und Regeln zu Gedankenoperationen enthält. Den materiellen Inhalt muß die Vernunft bei ihrem Denken schlechterdings von außen
nehmen, aus den anschaulichen Vorstellungen, die der Verstand geschaffen hat.
An diesen übt sie ihre Funktion an aus, indem sie, zunächst Begriffe bildend, von
den verschiedenen Eigenschaften der Dinge einiges fallen läßt und anderes behält und es nun verbindet zu einem Begriff. Dadurch aber büßen die Vorstellungen ihre Anschaulichkeit ein, gewinnen dafür jedoch an Übersichtlichkeit und
Leichtigkeit der Handhabung […] – Dies also und dies allein ist die Tätigkeit der
Vernunft: hingegen Stoff aus eigenen Mitteln liefern kann sie nimmermehr.– Sie
hat nichts als Formen: sie ist weiblich, sie empfängt bloß, erzeugt nicht. Es ist
nicht zufällig, daß sie sowohl in den lateinischen wie den germanischen Sprachen als weiblich auftritt, der Verstand hingegen als männlich.« (VW:141)
***
Im sechsten Kapitel wendet sich Schopenhauer der dritten Klasse von Objekten
zu, den a priori gegebenen Anschauungen und spürt der spezifischen Ausprägung des Satzes vom zureichenden Grunde unter diesen Vorzeichen nach. Hier
die Definition:
Seite |
51
»Das Gesetz nun, nach welchem die Teile des Raumes und der Zeit in Absicht
auf jene Verhältnisse einander bestimmen, nenne ich den Satz vom zureichenden Grunde des Seins, principium rationis essendi.« (VW:158)
Dieses Kapitel widmet sich vornehmlich der Begründung von Geometrie und
Arithmetik, weswegen ich es hier überspringen werde.
Das siebente Kapitel ist der vierten Klasse von Objekten gewidmet, nämlich dem Subjekt des Wollens, »welchem für das erkennende Subjekt Objekt ist,
und zwar nur dem inneren Sinn gegeben« (VW:168). Es handelt sich also um
uns selbst, womit diese Klasse »für jeden nur ein Objekt, nämlich das unmittelbare Objekt« (VW:168) umfasst. Schopenhauer thematisiert die Selbsterkenntnis nicht als ›Erkennen von Erkenntnis‹, sondern als ›Erkennen von Wollen‹.
»Jede Erkenntnis setzt unumgänglich Subjekt und Objekt voraus. Daher ist auch
das Selbstbewußtsein nicht schlechthin einfach; sondern zerfällt eben wie das
Bewußtsein von andern Dingen […] in ein Erkanntes und Erkennendes. Hier
tritt nun das Erkannte durchaus und ausschließlich als Wille auf. Demnach erkennt das Subjekt sich selbst nur als ein Wollendes, nicht aber als ein Erkennendes. Denn das vorstellende Ich, das Subjekt des Erkennens, kann, da es als notwendiges Korrelat aller Vorstellungen Bedingung derselben ist, nie selbst Vorstellung oder Objekt werden […].« (VW:168)
Das Bewusstsein erkennt sich selbst nicht als erkennendes, sondern hinsichtlich
seiner Bestimmtheit als Wille. Schopenhauer versteht in seiner Dissertation
›Wille‹ noch in den Bahnen der herkömmlichen philosophischen Begriffsverwendung. Dieser gemäß erlebt sich der Mensch im Wollen als bewusstes einheitliches Ichzentrum (s. Regenbogen & Meyer 2005:734). Folgende Stelle sei
als Beleg dafür zitiert:
»Der Wille des Individuums aber ist es, der das ganze Getriebe in Tätigkeit versetzt, indem er dem Interesse, d.h. den individuellen Zwecken der Person gemäß
den Intellekt antreibt […]. Die Tätigkeit des Willens hiebei ist jedoch so unmittelbar, daß sie meistens nicht ins deutliche Bewußtsein fällt; und so schnelle, daß
wir uns bisweilen nicht einmal des Anlasses zu einer also hervorgerufenen Vorstellung bewußt werden.« (VW:171)
Es gibt Stellen, wo man wohl die beiden Ausgaben von 1813 und 1847 vergleichen muss, um festzustellen, was Schopenhauer als Dissertant geschrieben hat.
Folgende Stelle könnte durchaus aus den frühen Jahren stammen:
»Wenn wir in unser Inneres blicken, finden wir uns immer als wollend. Jedoch
hat das Wollen viele Grade vom leisesten Wunsche bis zur Leidenschaft […].«
(VW:171)
Seite |
52
Bei der nächsten Passage allerdings dürfte die Entdeckung, dass das Ding an
sich mit dem Willen zu identifizieren ist, aus der späteren Perspektive hinzugesetzt sein. Hier lesen wir:
»Die Identität nun aber des Subjekts des Wollens mit dem erkennenden Subjekt,
vermöge welcher (und zwar notwendig) das Wort ›Ich‹ beide einschließt und
bezeichnet, ist der Weltknoten und daher unerklärlich. Denn nur die Verhältnisse der Objekte sind uns begreiflich […]. Hier hingegen, wo vom Subjekt die Rede
ist, gelten die Regeln für das Erkennen der Objekte nicht mehr, und eine wirkliche Identität des Erkennenden mit dem als wollend Erkannten, also des Subjekts
mit dem Objekte, ist unmittelbar gegeben. Wer aber das Unerklärliche dieser
Identität sich recht vergegenwärtigt, wird sie mit mir das Wunder nennen.«
(VW:171)
Der Satz vom zureichenden Grunde erfährt damit eine besondere Zuspitzung
bezogen auf diese Klasse von Objekten. Da der Mensch nicht nur Erscheinung,
sondern auch Ding an sich ist und in diesem Ding-an-sich-Sein nicht gegenständlich erkannt, sondern unmittelbar erfahren wird (von jedem Mensch für
sich selbst), wird das Motiv quasi spiegelhaft gebrochen. Das Motiv ist für
Schopenhauer ja eine Ursache – es ist gültig für die erste Klasse der Objekte,
die Anschauungen. Der Mensch ist nun eine Anschauung für andere Menschen, aber zugleich ist er Ding an sich, und in diesem Modus wird das Motiv
nicht als Ursache gesehen, sondern als ›Kausalität von innen‹ erlebt und der
Satz vom zureichenden Grund ist eben das Gesetz der Motivation bzw. principium rationis sufficientis agendi (VW:173)
»Die Einwirkung des Motivs also wird von uns nicht bloß wie die aller andern
Ursachen von außen und daher nur mittelbar, sondern zugleich von innen, ganz
unmittelbar und daher ihrer ganzen Wirkungsart nach erkannt. Hier stehn wir
gleichsam hinter den Kulissen und erfahren das Geheimnis, wie dem innersten
Wesen nach die Ursache die Wirkung herbeiführt; denn hier erkennen wir auf
einem ganz andern Wege, daher in ganz andrer Art. […] Die Motivation ist die
Kausalität von innen gesehen.« (VW:173)
Wenn Schopenhauer dann noch hinzusetzt, dass diese Einsicht der »Grundstein meiner ganzen Metaphysik« (VW:173) ist, dann lesen wir sicherlich den
späten Schopenhauer.
***
In seiner Dissertation nimmt Schopenhauer den Faden auf, den Kant ihm in die
Hand gibt: Wie ist Metaphysik möglich, wenn die Welt der Objekte durch den
Satz vom zureichenden Grunde in seiner vierfachen Ausprägung regiert wird,
gleichzeitig auf der Subjektseite die Wesenserkenntnis durch die Unerkennbarkeit des Erkenntnissubjekts erschwert bzw. vereitelt wird? Mit der Identität
Seite |
53
vom Subjekt der Erkenntnis und dem Subjekt des Wollens scheint sich eine Lösung anzubieten, doch Schopenhauer betreibt, hier in krassem Gegensatz zu
Kant, nicht eine affirmative Einschätzung des Willens, sondern verlagert in der
Welt als Wille und Vorstellung das Wesen des Menschen ganz vom erkennenden Subjekt weg hin in das Wollen (s. Malter 1988:21). Diese Verschiebung ist
eine kreative, originale Leistung.
»Angesichts der abendländischen Metaphysiktradition ereignet sich bei Schopenhauer eine Umkehrung alles bislang Gekannten. Das Wesen des Menschen
ist nicht der Geist, nicht die Materie, sondern der Wille – und dieses Wesen
wird nicht (analog zur Bejahung des Wesens in den überlieferten idealistischen
oder materialistischen Positionen) als das, was sein soll, erkannt und anerkannt,
es wird vielmehr, weil es nicht sein soll, negiert. Die Ethik, die aus Schopenhauers Metaphysik folgt, steht darin, daß sie dem Wesen des Menschen absagt,
in scharfem Gegensatz zu allen anderen metaphysikbedingten Ethiken, die für
die menschliche Praxis realisieren, was als Wesen theoretisch erkannt wurde.«
(Malter 1988:21)
In der Dissertation ist davon allerdings noch nichts zu spüren; hier ist Schopenhauer noch sehr von Kants Intelligibilität des Willens eingenommen.
»In der Tat geht Schopenhauers Denken in der Frühzeit ein Stück in die Kantisch-Fichtesche Richtung: nicht in der gegebenen, unter dem Satz vom Grund
stehenden Vorstellungswelt, nicht in der Sphäre des Subjekts der theoretischen
Vernunft, sondern in der Fähigkeit zu wollen eröffnet sich das, was der Mensch
unabhängig von der Zeitlichkeit, in die er durch das im Satz vom Grund sich
ausdrückende Gesetz aller Erscheinungen gebunden ist, an sich selbst ist. Auf
diese Art der Ermöglichung metaphysischen Wissens deutet die Dissertation
von 1813.« (Malter 1988:22)
Seite |
54
Dritte Vorlesung
Die Dresdner Geburtssituation
Mit der Dissertation ist Schopenhauer trotz seines Hochgefühls nicht der entscheidende Durchbruch geglückt; doch Schopenhauer hat ein starkes Vorgefühl, dass er es schaffen wird, die Philosophie in wesentlichen Punkten voranzubringen und sich selbst auf die Liste der ›großen‹ Philosophen zu setzen (s.
Safranski 2010:242). Der Durchbruch lässt sich benennen: Er findet in dem
Moment statt, in dem Schopenhauer Kants ›Ding an sich‹ mit dem ›Willen‹
gleichsetzt – und das passiert 1815, zwei Jahre nach Fertigstellung der Dissertation, in der er bereits das Subjekt des Erkennens und das Subjekt des Wollens
als vereinigt in dem einen Individuum thematisierte. In Schopenhauers Manuskriptbuch findet sich der lakonische Satz:
»Der Wille ist Kants Ding an sich: und die Platonische Idee ist die völlig adäquate und erschöpfende Erkenntnis des Dings an sich.« (Schopenhauer zit. nach
Safranski 2010:242)
Das bessere Bewusstsein, das sich über das transzendental abgesteckte Feld des
empirischen Bewusstseins erhebt, ist Schopenhauer richtungweisend. Mit dem
Verschwinden des Satzes vom Grunde eröffnet sich ein Grund, der jenseits von
Zeit, Raum und Kausalität angesiedelt ist – ein Abgrund. Mit der Entdeckung
des Willens findet Schopenhauer den Ausdruck für diese Einsicht, mit der er
sich vom philosophischen Zeitgeist und damit den von ihm verachteten Idealisten Fichte, Schelling und Hegel absetzt (s. Safranski 2010: 243).
»Man suchte das Warum, statt das Was zu betrachten; man strebte nach der
Ferne, statt das überall Nahe zu ergreifen; man gieng nach Außen in allen Richtungen, statt in sich zu gehen, wo jedes Räthsel zu lösen ist.« (Schopenhauer zitiert nach Safranski 2010:245)
Nach dem Zerwürfnis mit der Mutter kommt Schopenhauer 1814 nach Dresden, in eine Stadt, die von den Franzosen verwüstet und ausgehungert darniederliegt. Schopenhauer bezieht Quartier in der Großen Meißenschen Gasse 35,
übrigens in der Nähe des ›Schwarzen Tores‹, aus dem E.T.A. Hoffmann im
Goldenen Topf den Anselmus herausrennen lässt. Schopenhauer meidet das
gesellige Leben, ist aber bald in der Oper bekannt – allerdings steht er Carl Maria von Webers Musik ablehnend gegenüber, der zu dieser Zeit das Dresdner
Opernhaus leitet. Schopenhauer macht keine Freunde, und es stört ihn nicht (s.
Safranski 2010:289ff). »Arthur Schopenhauer spielt in Dresden die Rolle des
wenig geliebten, meist respektierten, manchmal bewunderten, oft gefürchteten
Sonderlings, der, wie man sagte, die ›ganze Philosophie umwerfen wolle‹. Was
Seite |
55
er denn positiv zu lehren beabsichtigte, wusste man nicht, wollte es auch nicht
so genau wissen, war doch in Dresden mit Schellings WELTSEELE der philosophische Hunger gestillt.« (Safranski 2010:292)
Die vier Dresdner Jahre bezeichnet Schopenhauer im Rückblick als die
produktivsten seines Lebens – hier arbeitet er die Metaphysik des Willens aus.
Trotz seiner Zurückgezogenheit lässt sich feststellen: »Und doch: Schopenhauers geselliger Umgang, seine öffentliche Existenz verbergen mehr, als sie
zum Vorschein bringen. In der Hauptsache lebte er […] mit seinen Büchern
und Studien fast gänzlich isoliert und ziemlich einförmig. Hinter den Verschanzungen der Einförmigkeit und Isolation aber ereignet sich das große
Abenteuer im Leben Arthur Schopenhauers: die ›Wollust der Konzeption‹ und
die schließliche Vollendung des großen Werks.« (Safranski 2010:295)
Das Ergebnis der Dresdner Jahre ist Die Welt als Wille und Vorstellung,
die Schopenhauer mit folgenden Worten seinem Verleger ankündigt:
»Mein Werk also ist ein neues philosophisches System: aber neu im ganzen Sinn
des Worts: nicht neue Darstellung des schon Vorhandenen: sondern eine im
höchsten Grade zusammenhängende Gedankenreihe, die bisher noch nie in irgend eines Menschen Kopf gekommen.« (Schopenhauer in Safranski 2010:296)
In den Tagebüchern fahndet Safranski nach dem Grund, warum Schopenhauer
bei seinem Durchbruch darauf kommt, das Was der Welt als Wille zu titulieren. Das Wollen bzw. der Wille tritt in den Notizen dieser Entwicklungszeit
durchaus negativ auf, und zwar als dasjenige, was die Welt regiert und aus dem
das bessere Bewusstsein Erlösung verschafft (s. Safranski 2010:298f). Der Wille
ist in dieser Zeit noch nicht das ›Zauberwort für die Entschlüsselung der Welt‹,
aber er ist schon der Name für alles Feindliche. Schopenhauers Entfaltung der
Metaphysik des Willens wird auch darauf hinauslaufen, dass er den Willen verneint und darin eine Erlösungsfigur sieht. Schopenhauer leidet zuerst am Willen, der die Welt regiert und von dem er sich durch das bessere Bewusstsein zu
lösen versucht; danach erkennt er den Willen als das Ding an sich, womit der
Wille die universelle Wirklichkeit ist, die allen Erscheinungen zu Grunde liegt
(s. Safranski 2010:200).
»In der Darstellung des Hauptwerkes kommt Schopenhauer von der Entdeckung
des Willens als Wesen der Welt zu seiner Verneinung; existentiell aber kommt
er von der Verneinung des Willens (›besseres Bewußstsein‹) zu der Einsicht, dass
es der Wille ist, der in allem Wirklichen erscheint. Indem Schopenhauer also im
Namen seines ›besseren Bewußtseins‹ von diesem ›Willen‹ loskommen möchte,
entdeckt er in ihm den Einheitspunkt des ganzen Seins. Mit dieser Bewegung,
die das Feindliche in den Kern der Welt setzt, die den als quälend erlebten Wil-
Seite |
56
len mit dem ›Ding an sich‹ identifiziert, ereignet sich die Geburt der
Schopenhauerschen Metaphysik des Willens.« (Safranski 2010:299)
Nachdem die Welt der Erscheinungen erklärt werden kann, die Welt des Willens aber das zu Grunde liegende Substratum ausmacht, kann der Wille nicht
›erklärt‹ werden. Tatsächlich ist sich Schopenhauer der Differenz von ›erklären‹
und ›verstehen‹ bewusst und strebt das ›Verstehen‹ des Willens an; im Verstehen wird nicht das Objekt Wille hinsichtlich eines kausalen Grundes erfasst,
sondern nach der eigentlichen Bedeutung des Objekts gefragt, das sich dem reflektierenden Individuum in seinem So-sein darbietet. Folglich ist Schopenhauers Metaphysik des Willens eine ›Hermeneutik des Daseins‹ (s. Safranski
2010:305f).
Den Willen erkennt man nicht, den Willen kann der Mensch nur unmittelbar erleben, und zwar am eigenen Leib. Als Leib ist der Mensch objektivierter Wille, und als Leib erfährt der Mensch nicht nur die Perspektive der Objekte, sondern ist zugleich ein Objekt – der Mensch kennt an sich das ›Ding an
sich‹. Im Menschen fallen ›Ding an sich‹ und ›Erscheinung‹ zusammen, wobei
die Dimension der Willenserfahrung niemals ein Erkennen ist (Erkennen ist auf
die Erscheinungen beschränkt). Safranski verweist hier auf folgende ›kühne‹
Wendung in den Notizbüchern, die sich allerdings auch in Die Welt als Wille
und Vorstellung findet (Seitenzahlen von mir in eckiger Klammer eingefügt):
»›Spinoza sagt daß der durch Stoß bewegt Stein, wenn er Bewußtseyn hätte,
meinen würde sich aus seinem Willen zu bewegen. Ich setze hinzu daß der Stein
Recht hätte.‹ [WWV:191] Wir sind verkörperter Wille, der sich außerdem noch
seiner selbst bewußt wird. Nur das Bewußtsein, nicht aber das Wille-Sein unterscheidet uns beispielsweise vom Stein.« (Safranski 2010:308)
Was ist dieser Wille, den Schopenhauer der Welt als Vorstellung gegenübersetzt – und zwar als das Ding an sich, das ›hinter‹ den Erscheinungen liegt bzw.
die wahre Quintessenz der Welt ausmacht?
Zu Schopenhauers Verwendung von ›Wille‹
Schopenhauer weiß, dass er den Begriff ›Wille‹ anders gebraucht, als dies üblich
ist – und diese Abweichung trägt nicht nur zu einem erschwerten Verständnis
von Schopenhauers Philosophie bei, sondern gar zu Missverständnissen. Üblicher Weise wird der Willensbegriff mit ›Absicht‹, ›Zweck‹ und/oder ›Ziel‹ verbunden: Wenn ich etwas will, dann strebe ich etwas an, und dieses angestrebte
Etwas ist zuvor vorgestellt, ausgedacht, ersehnt etc.; das Gewollte ist im Geist,
ehe es zur Aktion des Wollens kommt – der Wille ist, mit einem Wort, intel-
Seite |
57
lektualisiert. Dieses übliche Willensverständnis findet sich bei Schopenhauer
eben nicht (s. Safranski 2010:307) – Schopenhauer will nicht die intellektualisierte Willensauffassung auf die Natur übertragen und demgemäß die Natur
vergeistigen, sondern umgekehrt den Geist naturalisieren.
»Schopenhauer muß gegen den Strom der spontanen Assoziationen zum Begriff
›Wille‹ ankämpfen. […] Wille ist eine primäre, vitale Strebung und Bewegung,
die sich im Grenzfall auch noch ihrer selbst bewußt werden kann und dann erst
das Bewußtsein eines Zieles, einer Absicht, eines Zweckes gewinnt.« (Safranski
2010:307)
Birnbacher (2009:28ff) widmet der adäquaten Bestimmung des Willens einige
Seiten seines Schopenhauer-Büchleins, denn es ist entscheidend, Schopenhauers Begriffsverwendung von ›Willen‹ von Anfang an richtig zu verstehen.
Schopenhauer verwendet ›Wille‹ als Bezeichnung für das Was der Welt – die
Welt ist Wille. Unter Welt sind Menschen, Tiere, Pflanzen und natürlich auch
Mineralien oder Gewässer zu verstehen, woraus sich leicht das Missverständnis
ableitet, dass Schopenhauer natürlich ablaufende Prozesse illegitimer Weise aus
den bewusst ablaufenden Willensakten herleitet. Was Safranski als falsche
Intellektualisierung der Welt anspricht, ist für Birnbacher zwar um nichts weniger richtig, aber immerhin ›nicht ganz unbegründet‹.
»Spricht Schopenhauer […] von einem ›Willen in der Natur‹, dann scheint es,
als anthropomorphisiere er die Natur und projiziere charakteristisch menschliche Regungen in bewusstseinslose Wesen wie Tiere, Bäume und Dinge hinein.
Indem er den Begriff ›Wille‹ auch – und sogar primär – auf psychische Prozesse
im Menschen anwendet, deren sich das Subjekt nicht bewusst ist oder nicht
einmal bewusst werden kann, erzeugt er den Eindruck, als lege er in den Menschen eine Art Homunkulus hinein, der unabhängig vom bewussten Ich wollen
und dessen bewusste Willensregungen sogar konterkarieren kann. Sind das lediglich poetisierende Sprechweisen oder sollte sich Schopenhauer tatsächlich ins
Märchenland verirrt haben, wo Tiere, Bäume und Dinge nicht nur wollen und
handeln, sondern auch denken und sprechen können?« (Birnbacher 2009:28)
Das ist natürlich eine rhetorische Frage, denn die Redeweise vom ›Willen‹ lässt
sich wesentlich un-märchenhafter verstehen. Schopenhauer operiert mit offenkundigen Analogien, die zwischen bewusstem menschlichen Wollen und anderen Prozessen einer gerichteten Dynamik in der äußeren Natur bestehen; diese
Analogien rechtfertigen die Verwendung eines Wortes, eben des ›Willens‹. Was
in der Alltagssprache ›Wollen‹ heißt, was wir also üblicherweise unter ›Wille‹
verstehen, kommt mitnichten ein Sonderstatus zu – der menschliche Wille ist
vielmehr eine Dimension der in der Welt herrschenden Dynamik (s. Birnbacher
2009:28f).
Seite |
58
Triebdruck und verschiedene Formen eines ›dunklen Drangs‹, den wir
beizeiten verspüren, lassen sich trefflich mit Prozessen in der Natur vergleichen. In dieser Feststellung liegt ein Affront verborgen, den Schopenhauer gegen die abendländische Philosophietradition begeht, der uns Heutigen aber
schon in Fleisch und Blut übergegangen ist: Traditioneller Weise wird auf das
charakteristisch unterscheidende Merkmal des Menschen vis-à-vis der Natur
(Dinge, Pflanzen, Tiere) fokussiert, das in der Vernunftbegabung des Menschen
liegt: Kraft seines rationalen Denkens und seiner vernünftig-ethischen Entscheidungen nimmt der Mensch eine ontologische Sonderstellung ein. Doch
Schopenhauer will die Kluft zwischen Mensch und dem Rest der Welt nicht
länger bestehen lassen, er richtet den Blick auf die Gemeinsamkeiten aller Entitäten. Das Wesentliche ist ihm nicht länger das Unterschiedene, sondern das
Gemeinsame. Natürlich leugnet Schopenhauer nicht die bislang als wesentlich
angesehenen Eigenschaften des Menschen, doch eine einseitige Betonung dieser Eigenschaften korrigiert er (s. Birnbacher 2009:29). Der Mensch ist ein Wesen dieser Welt.
»Diesem und keinem anderen Zweck dient der Aufweis der Gemeinsamkeiten
zwischen menschlicher und natürlicher Dynamik im Zeichen des ›Willens‹. Was
der Mensch in sich als Wollen erfährt, ist lediglich eine – durch ihre unmittelbare Erfahrbarkeit herausgehobene – Facette eines übergreifenden, die Natur in ihrer Gesamtheit durchherrschenden Prozesses.« (Birnbacher 2009:29)
Zu diesem ersten Punkt – die strukturelle Ähnlichkeiten zwischen bewusstem
Wollen und anderen Formen natürlicher Dynamik – gesellt sich ein weiterer
Punkt hinzu, der die unübliche Verwendungsweise von ›Wille‹ rechtfertigt.
Schopenhauer will durchaus darauf hinweisen, dass menschliches Wollen und
tierische Instinkte, pflanzliche Entwicklungsprinzipien und kosmischen Bewegungsgesetze auf dieselbe Quelle zurückgehen. Die Entstehung des menschlichen Wollens ist nicht aus einer vermeintlichen Sonderstellung des Menschen
im Kosmos abzuleiten (s. Birnbacher 2009:30).
Trotz dieser guten Gründe, die Schopenhauer wohl zu der unüblichen
Verwendung von ›Wille‹ motivieren, bleibt ein Restrisiko, nämlich die fälschliche Personifizierung von natürlichen Prozessen. Darüber hinaus unterscheidet
Schopenhauer nicht immer hinreichend zwischen verschiedenen Stufen der
Ausweitung von ›Wille‹, von denen er implizit ausgeht – es gibt nicht nur den
Willen im alltagssprachlichen Sinn und den Weltwillen im Sinne übergreifender Entwicklungsdynamiken, sondern eine Reihe von Zwischenstufen (s.u.) (s.
Birnbacher 2009:30) (s. Birnbacher 2009:30).
***
Seite |
59
Schopenhauers Wille hat zwei über den Alltagssinn hinausgehende Bedeutungen:
i. Im ersten Sinn meint ›Wille‹ die Summe aller psychischen Phänomene, die
man der Sphäre der Antriebe und Gefühle zurechnen kann. Hier gibt es für
Schopenhauer Motive, Wünsche, Strebungen, Gefühle, Stimmungen und
gefühlshaft betonte Einstellungen, Lust- und Unlustempfindungen. Diese
Phänomene sind für die Verhaltensmotivation wichtig und derart Vorbereitungen zu Willensakten (s. Birnbacher 2009:31).
ii. In der zweiten Bedeutung meine ›Wille‹ so etwas wie ›Triebenergie‹ oder
›psychische Energie‹. Dieser Begriff erinnert an den Begriff ›conantus‹, den
Spinoza eingeführt hat. ›Conatus‹ meint einen ohne Zutun des Bewusstseins
ablaufenden und auf Selbsterhaltung und Fortpflanzung gerichteten Prozess
(s. Birnbacher 2009:31). (›Conatus‹, lat. ›Anlauf‹, ›Unterfangen‹, die eingeschlagene Richtung, das Streben, die Tendenz)
In beiden Bedeutungen ist ›Wille‹ etwas von der jeweiligen Person Unabhängiges und Autonomes. Die motivationalen und emotionalen Phänomene, für die
›Wille‹ in seiner ersten Bedeutung steht, sind zumindest teilweise dem Bewusstsein zugänglich; mehr noch, sie sind uns unmittelbar bekannt und vertraut. Aber der so verstandene Wille ist nur zu einem verschwindenden Teil
›unser‹ Wille. Der Wille wirkt zwar in uns, ist und bleibt aber nur in Grenzen
steuerbar. Oder, anders ausgedrückt: Der Mensch ist dem Willen in seiner ersten Bedeutung ausgesetzt – die Mehrzahl der Motivationen, Emotionen, Stimmungen, Lust- beziehungsweise Unlustempfindungen entzieht sich einem willentlichen Zugriff und stellt sich dem bewussten Willen mitunter auch entgegen (als übermächtiges Gefühl, unwiderstehliches Verlangen oder unüberwindbare Hemmung) (s. Birnbacher 2009: 31f).
»Den Großteil der Willensphänomene in Schopenhauers erster Bedeutung machen Widerfahrnisse aus, denen gegenüber wir nur in engen Grenzen souverän
sind. Bezeichnend dafür ist, dass Schopenhauer gerade das sexuelle Verlangen
zum Paradigma des Willens macht. Dieser ›Wille‹ ist anders als der Wille im alltagssprachlichen Sinn nichts, was aktiv und autonom in die Welt eingreift, sondern eine passio, etwas Erlittenes. Er ist darüber hinaus etwas hochgradig Unpersönliches, Überindividuelles, Ursprüngliches.« (Birnbacher 2009:32)
Wendet man sich der zweiten Bedeutung von ›Wille‹ als Triebenergie zu, so
lässt sich auch hier feststellen, dass der Wille unpersönlich ist. Schopenhauer
bezieht sich auf den Willen in dieser Bedeutung in hydraulischen Metaphern:
Der Trieb verhält sich wie eine Flüssigkeit in einem Röhrensystem, die
›anflutet‹, ›abebbt‹, ›Druck erzeugt‹ und das Bewusstsein gelegentlich ›über-
Seite |
60
schwemmt‹; der Strom psychischer Energie bewegt sich in einem ›beständigen
Ebben und Fluten‹; solange dieser Energiefluss ungehindert fließt, verspüren
wir Lust, sobald er gehemmt wird, treten Unlustgefühle auf (s. z.B. Zürcher
Ausgabe, Band VI: 52). Freud favorisiert übrigens ebenfalls eine hydraulische
Redeweise (s. Birnbacher 2009:32).
Pointiert zusammenfassend lässt sich festhalten:
»Mit seinem erweiterten Willensbegriff gibt Schopenhauer der Einsicht Ausdruck, dass wir meistenteils von Strebungen geleitet sind, die dauerhaft unbewusst bleiben und dennoch insofern gerichtet sind, als sie auf die Herstellung
bestimmter Zustände zielen. Diese Strebungen nehmen eine Zwischenstellung
zwischen autonomen Prozessen im Nervensystem und bewussten Vorgängen
ein. Die Eigenschaft, dem Bewusstsein unzugänglich zu sein, haben sie mit den
im Nervensystem ablaufenden autonomen Prozessen gemeinsam, die Eigenschaft, gerichtet zu sein, mit den intentional auf bestimmte Handlungen bezogenen Willensakte im Alltagssinn. Am ehesten ähneln sie den auf die Erreichung
bestimmter vorgegebener Gleichgewichtszustände gerichteten physiologischen
Prozessen, die seit Claude Bernard ›homöostatisch‹ genannt werden, unterscheiden sich von ihnen jedoch dadurch, dass sie, obwohl selbst dauerhaft unbewusst, mit Bewusstseinsvorgängen in engem Zusammenhang stehen. Anders
als rein physiologische, auf die Herstellung von Gleichgewichten gerichtete Systeme wie der ›Wärmehaushalt‹ des Körpers lassen sich die psychischen Gleichgewichte und Ungleichgewichte aus dem, was im Bewusstsein vorgeht, zumindest teilweise erschließen, so wie diese umgekehrt das, was sich im Bewusstsein
abspielt, zumindest teilweise erklären.« (Birnbacher 2009:32f)
Ein Beispiel für eine gerichtete und insofern willensähnliche, aber gegen das
Bewusstsein abgeschirmte Aktion des ›Willens‹ ist die ›Verdrängung‹ (Birnbacher 2009:33) unerwünschter Bewusstseinsinhalte. Schopenhauer schreibt:
»Wir können Jahre lang einen Wunsch hegen, ohne ihn uns einzugestehn, oder
auch nur zum klaren Bewußsteyn kommen zu lassen; weil der Intellekt nicht davon erfahren soll; indem die gute Meinung, welche wir von uns selbst haben, dabei zu leiden hätte: wird er aber erfüllt, so erfahren wie an unserer Freude, nicht
ohne Beschämung, daß wie Dies gewünscht haben: z.B. den Tod eines nahen
Anverwandten, den wir beerben. Und was wir eigentlich fürchten, wissen wir
bisweilen nicht; weil uns der Muth fehlt, es uns zum klaren Bewßtseyn zu bringen.« (Zürcher Ausgabe, Band III: 244 zitiert nach Birnbacher 2009:33f)
Die Inhalte, die aus dem Bewusstsein getilgt oder erst gar nicht zur Kenntnis
genommen werden, weil sie die Selbstachtung durchaus beeinträchtigen und
das seelische Gleichgewicht aus dem Lot bringen, sind für Schopenhauer also
unerwünschte Wünsche, oder Motive wie Todeswünsche gegen nahe Ver-
Seite |
61
wandte, oder Motive wie Schadenfreude und Rache; diese sind nicht nur öffentlich tabuisiert, sondern durchaus vor einem selbst zu verheimlichen (s. Birnbacher 2009:33).
Schopenhauer interpretiert die Schizophrenie als Verdrängungszustand
(s. Birnbacher 2009:34): In seiner Berliner Zeit interessiert er sich für diese Erkrankung und strebt eine empirische Erklärung an, was im Gegensatz zu der
damaligen psychiatrischen Herangehensweise steht. Schopenhauer besucht in
der Berliner Charité zwei Patienten und beschäftigt sich eingehend mit ihnen.
Er kommt zum Resultat, dass Schizophrenie – vornehmlich aufgrund der
Symptome Realitätsverlust und Rückzug in die Privatwelt von Halluzinationen
– eine Reaktion des Organismus auf unerträgliche biografische Erfahrungen ist:
Der Geist tilgt, weil er die seelischen Qualen nicht ertragen kann, und füllt die
Erinnerungslücken mit Wahngebilden (s. auch Zentner 1995).
Die Sexualität wird von Schopenhauer ebenfalls als unbewusste Dynamik
mit schwerwiegenden Folgen für das bewusste Erleben konzeptualisiert. Sexualität ist ein gerichteter Vorgang, der vom Subjekt in seiner biologisch programmierten Zielrichtung nicht notwendiger Weise und auch nur bruchstückhaft erkannt wird. Die Sexualität ermöglicht Schopenhauer übrigens eine beeindruckende Demonstration der These, dass bewusste und unbewusste Absichten in verschiedene Richtungen gehen und wir uns über die ›Quasiabsichten‹, die die Natur mit unserem Gefühlsleben verfolgt, nachhaltig täuschen.
Dem Individuum geht es um den Liebenspartner, der Natur geht es allein um
das Wohl der Gattung (s. Birnbacher 2009:35). Schopenhauer schreibt:
»Was […] den Menschen hiebei leitet, ist wirklich ein Instinkt, der auf das Beste
der Gattung gerichtet ist, während der Mensch selbst bloß den erhöhten eigenen
Genuß zu suchen wähnt.« (Zürcher Ausgabe, Band IV: 631 zitiert nach Birnbacher 2009:35)
Damit, so Birnbacher (2009:35), antizipiert Schopenhauer neueste Forschungsergebnisse der evolutionären Psychologie, deren paradigmatischen Grundhaltungen gegenüber ich höchst skeptisch bin. Birnbacher sieht darin etwas Positives; doch diese Parallele ist wohl überstrapaziert.
Wichtiger scheint die Parallele zur Biologie des 19. Jahrhunderts – weniger zu Charles Darwin (der erst nach Schopenhauer seine Evolutionstheorie
formuliert, s.o.), sondern mehr zu den französischen Materialisten und JeanBaptiste Lamarck. Die Abstammung des Menschen vom Affen steht für Schopenhauer außer Frage; die Vernunft fasst er durchaus als ein Produkt der Evolution auf, die sich wie die physischen Fähigkeiten als ein Mittel der blinden
Natur zur Erhaltung und Fortpflanzung ihrer Wesen entwickelt hat. Das Bewusstsein ist eine Errungenschaft, die die Natur nicht von Anfang an besitzt
Seite |
62
(womit sich Schopenhauer gegen die christliche Gottesvorstellung wendet); die
Vernunft tritt auf, wenn sie für die Erhaltung einer Gattung unerlässlich ist. Das
Bewusstsein entsteht aus dem Unbewussten, i.e. aus natürlichen Vorgängen der
Fortpflanzung und Arterhaltung, bzw. es emergiert aus diesen (s. Birnbacher
2009:37). Schopenhauer fasst diesen Vorgang wie folgt:
»Der Wille, der bis hieher im Dunkeln, höchst sicher und unfehlbar, seinen
Trieb verfolgte, hat sich auf dieser Stufe ein Licht angezündet.« (Zürcher Ausgabe, Band I: 202 zitiert nach Birnbacher 2009:37)
Dass der hier angesprochene Weltwille nicht personifiziert zu denken ist, sollte
klar sein – Schopenhauer identifiziert den Willen nicht mit Gott, sondern immer mit einem blinden Drängen. Daher darf der Wille nicht als tätiges Subjekt
verstanden werden – Schopenhauers nette Formulierung sollte ausschließlich
metaphorisch verstanden werden.
Schopenhauer sieht in der Entwicklung des Bewusstseins, das aus dem
Gehirn entspringt, allerdings keinen Fortschritt zum Besseren oder Höheren,
sondern eine Verschärfung und Intensivierung der dem Prozess inhärenten
Sinnlosigkeit und Absurdität:
»Da der ›Weltwille‹ lediglich Selbsterhaltung und Fortpflanzung als Zwecke
kennt, dreht sich die durch ihn angetriebene Entwicklung fortwährend im Kreis.
Mit dem Bewusstsein verschärft sich diese Sinnlosigkeit, denn mit ihm tritt das
Leiden in die Welt, zunächst bei den Tieren in Gestalt von Schmerz, Angst und
Frustration, dann im Menschen in der verschärften Form des Leidens an der
Unerfülltheit von Hoffnungen, der Heimsuchung durch Bosheit und Grausamkeit und des Leidens an der Sinnlosigkeit der Welt. Der ›Weltwille‹ ist, metaphorisch gesprochen, ein Egoist. Er will seine eigene Erhaltung, nicht das Glück seiner Geschöpfe. Vernunft und Bewusstsein des Menschen sind für ihn lediglich
Mittel, nicht Zweck.« (Birnbacher 2009:38)
Die Vernunft bleibt dem Affekt ›dienstbar‹ (Birnbacher 2009:38).
»Gegen die mächtige Stimme der Natur vermag die Reflexion wenig.«
(WWV:388f)
Selbst dort, wo sich das Individuum autonom und souverän erlebt, ist die Vernunft als evolutionäres Produkt des Willens ein willfähriges Werkzeug unbewusster Willensstrebungen. Der Primat des Affektiven zeigt sich in einer Allgegenwart des Gefühlshaften, das nach dem Ermüden des Intellekts sofort aufscheint – erkennend verhalten wir uns eben nur zeitweilig (s. Birnbacher
2009:39). Aufgrund der Tatsache, dass dem Menschen das Denken große Mühe
bereitet, schließt Schopenhauer, dass uns Menschen das rationale Denken nicht
wirklich liegt. Und sollte es das den Menschen auszeichnende Charakteristikum
Seite |
63
sein – dafür ist es ausgesprochen fehleranfällig (s. Birnbacher 2009:39). Die
›Anthropologie des Primats des Willens‹, die hier bloß angedeutet ist und die
ich später noch eingehender diskutieren werde, steht in Zusammenhang mit
Schopenhauers Auffassung von der Identität des Bewusstseins mit körperlichen
Prozessen. Birnbacher (2009:40) bezeichnet dies als ›bahnbrechende Auffassung‹; ich sehe hierin eher die eben angesprochene Fehleranfälligkeit des
menschlichen Denkens...
***
Ich möchte noch einmal zu Schopenhauers Weltwillen zurückkehren, dessen
Ähnlichkeit zum personalen christlichen Schöpfergott oben kurz angesprochen
wurde. Hierzu formuliert Birnbacher folgende Überlegung:
»Könnte es nicht sein, dass Schopenhauers nihilistische Metaphysik eines blinden ›Weltwillens‹ ganz ebenso als Illusion abgetan werden müsste, gewissermaßen als Antithese zur optimistisch orientierten Metaphysik der Ideen, Götter
und Geiser – mit dem einzigen Unterschied, dass in diesem Fall nicht Wünsche
und Hoffnungen, sondern Ängste und Enttäuschungen den Ton angeben? Ist eine Metaphysik, auch wenn sie die Vorzeichen umkehrt, nicht ebenfalls eine unbewusste oder halbbewusste Projektion des konkret Erfahrenen in eine aller Erfahrung entrückte Welt jenseits von Raum und Zeit? Betätigt sich nicht auch
Schopenhauer, indem er etwa den Weltwillen mit dem außerhalb von Raum und
Zeit existierenden kantischen ›Ding an sich‹ identifiziert, als ›Zauberer‹, der seinen Lesern etwas vorgaukelt – so wie es ihm Ludwig Marcuse mit folgender
Bemerkung unterstellte: ›Schopenhauer […] zauberte noch einmal – ein letztes
Mal – mit der Entzauberung‹? Diese Frage lässt sich zuspitzen, indem man darauf hinweist, dass auch Schopenhauers Metaphysik des ›Weltwillens‹ nicht
konsequent pessimistisch ist, sondern eine ganze Reihe der lebensbejahenden
Funktionen übernimmt, die er der abendländischen Metaphysiktradition zum
Vorwurf macht. Denn eigentümlicherweise wird der ›Weltwille‹ bei Schopenhauer nicht durchwegs dämonisiert. In seiner Ethik ist die Einsicht in die Einheit
des Willens in allen bewusstseinsfähigen Wesen das Eingangstor zur wahren
Moralität; in seiner Ästhetik ist die Musik die höchste unter den Künsten, weil
sie das Wesen des Willens am adäquatesten zur Darstellung bringt; in seiner Erlösungslehre und Todeskonzeption wird die Auflösung des individuellen Willens
in den Gesamtwillen keineswegs als Verschärfung von Abhängigkeit und
Verfallenheit, vielmehr wird sie im Gegenteil als Befreiung und Erlösung aufgefasst – so, als wäre das Eingehen in den Ursprung aller Dinge auch hier eine Art
›Eingehen in Gott‹. Muss sich Schopenhauer nicht insofern dieselbe Art projektiven und illusionistischen Denkens vorhalten lassen, die er an seinen Widersachern, den deutschen Idealisten, zu kritisieren nicht müde wird?« (Birnbacher
2009:47f)
Seite |
64
Die Antworten werden letztlich auf Ja lauten. Schopenhauer ist der letzte große
Metaphysiker und Systemdenker. Nach ihm wird sich die Einsicht durchsetzen,
dass die Welt nur noch in fragmentarischen Brocken zu erfassen ist. Die ›große
Erzählung‹ wird untergehen – nicht erst in der Postmoderne.
Gedankengang und Komposition von WWV
Folgendes Zitat soll in aller Kürze an Kontinuität und Bruch zwischen Frühwerk und reifem Werk erinnern:
»Die Schopenhauersche Frühphilosophie bereitet die Explikation dieser Gedankenbewegung insofern vor, als sie ständig von einem Prozeß handelt, dessen
Struktur im Hauptwerk explizit als Prozeß zwischen Erkenntnis- und Willenssubjekt abläuft. Wie nämlich in der Frühphilosophie das zur Einheit des Ichs
vereinigte empirische und bessere Bewußtsein sich gegenläufig zueinander sich
verhalten und das Bewußtsein selbst auf Überwindung seiner empirischen Gestalt drängt, so werden in der ›Welt als Wille und Vorstellung‹ […] Wollen und
Erkennen, die beide ein und demselben Subjekt angehören (›Ich‹), in eine Bewegung gebracht, in der das Wollen (das Wesen des Ichs) durch seine eigene Erscheinung (das Erkennen) überwunden und darin Erlösung erreicht wird. Schopenhauers Philosophie stellt sich so von Anfang an als eine Befreiungs(Erlösungs-)Philosophie dar. Erlösung kommt durch Weltaufhebung. Wie sie erfolgt, ist zunächst vage, mehr und mehr jedoch konkretisiert sich der Modus der
Weltaufhebung bis zu dem Punkt, an dem endgültig feststeht, was das Aufzuhebende (›Welt‹) an sich ist (nämlich Wille) und wer die Aufhebung leistet (das
Subjekt des Erkennens).« (Malter 1988:28f)
Schopenhauers Denken entzündet sich an der Frage: Was ist die Welt, der solches Dasein angehört? Natürlich behauptet Schopenhauer, auf diese Frage eine
Antwort gegeben zu haben – nicht eine, sondern die Antwort. Er hat also das
Was der Welt gefunden, womit sich Schopenhauer zugleich affirmativ zur Metaphysik bekennt, zu jener Art des Philosophierens also, die Kant als ›Kampfplatz‹ bezeichnet. Doch Schopenhauer will das Was beantworten, er will nicht
bloß von den Erscheinungen handeln, sondern von den Dingen an sich; er will
sich an der Wahrheit berauschen. »›Die Welt als Wille und Vorstellung‹ ist die
literarische Fixierung der schon Jahre vor ihrem Erscheinen gefundenen Auflösung des Rätsels ›Welt‹.« (Malter 1988:30).
Wenn die Welt für eine erkennende Instanz da ist, die identisch mit dem
Subjekt des Wollens ist, so bieten sich am Leitfaden der Frage nach dem Was
der Welt zwei Betrachtungsarten der Welt an: Zum einen die Betrachtung der
Welt, insofern sie für das erkennende Subjekt ist – die Betrachtung der Welt als
Seite |
65
Vorstellung; zum anderen insofern, als demselben Subjekt des Erkennens als
leiblich-individuell Erkennendes die Welt in ihrem Charakter als Wollen aufgeht; das Subjekt des Erkennens erfasst unmittelbar seine Identität mit dem
Wollenssubjekt – die Betrachtung der Welt als Wille (s. Malter 1988:32f).
Schopenhauer eröffnet Die Welt als Wille und Vorstellung mit dem Hinweis darauf, dass sein Werk – in der Suhrkamp-Ausgabe immerhin 558 Seiten,
mit Anhang gar 715 Seiten stark – die Darstellung eines Gedankens ist.
»Was durch [dieses Buch] mitgeteilt werden soll, ist ein einziger Gedanke. […]
Ich halte jenen Gedanken für dasjenige, was man unter dem Namen der Philosophie sehr lange gesucht hat […]. Je nachdem man jenen einen mitzuteilenden
Gedanken von verschiedenen Seiten betrachtet, zeigt er sich als das, was man
Metaphysik, das, was man Ethik und das, was man Ästhetik genannt hat; und
freilich müsste er auch dieses alles sein, wenn er wäre, wofür ich ihn, wie schon
eingestanden, halte. […][E]in einziger Gedanke muß, so umfassend er auch sein
mag, die vollkommene Einheit bewahren.« (WWV:7)
Weil sein Werk ›organisch, nicht kettenartig‹ gebaut ist, empfiehlt Schopenhauer dem/r LeserIn »das Buch zweimal zu lesen, und zwar das erste Mal mit
vieler Geduld, welche allein zu schöpfen ist aus dem freiwillig geschenkten
Glauben, daß der Anfang das Ende beinahe so sehr voraussetze als das Ende
den Anfang […]« (WWV:8). Nach diesem Tipp hat Schopenhauer weitere Forderungen an den/die LeserIn parat: Man muss seine Dissertation ›Über die
vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde‹ gelesen haben –
»[o]hne Bekanntschaft mit dieser Einleitung und Propädeutik ist das eigentliche
Verständnis gegenwärtiger Schrift ganz und gar nicht möglich« (WWV:9). Außerdem sollte der/die LeserIn von Die Welt als Wille und Vorstellung auch mit
Kants Schriften vertraut sein; die epochale Zeitenwende durch die Kritik der
reinen Vernunft und der folgenden kritischen Schriften fasst Schopenhauer in
folgendem Bild:
»Die Wirkung, welche [die Hauptschriften Kants] in dem Geiste, zu welchem sie
wirklich reden, hervorbringen, finde ich in der Tat […] der Staroperation am
Blinden gar sehr zu vergleichen: und wenn wir das Gleichnis fortsetzen wollen,
so ist mein Zweck dadurch zu bezeichnen, daß ich denen, an welchen jene Operation gelungen ist, eine Starbrille habe in die Hand geben wollen, zu deren Gebrauch also jene Operation selbst die notwendige Bedingung ist.« (WWV:10)
Außer der Lektüre des ›großen Kant‹ empfehlen sich intime Kenntnisse des
›göttlichen Platon‹. Und Schopenhauer fordert auch Kenntnisse der indischen
Veden, was ›vorteilshaft‹ sei (WWV:11).
Seite |
66
Koketterie ist Schopenhauer nicht völlig fremd; nach dem finanziellen
Debakel seiner Dissertation, die sich als Buch nicht wirklich verkaufte, formuliert er gegen Ende der Einleitung folgende Worte:
»Welcher Gebildete dieser Zeit […] könnte es ertragen, fast auf jeder Seite Gedanken zu begegnen, die dem, was er doch selbst ein für allemal als wahr und
ausgemacht festgesetzt hat, geradezu widersprechen? […] Daher mein Rat ist,
das Buch nur wieder wegzulegen. Allein ich fürchte selbst so nicht loszukommen. Der bis zur Vorrede, die ihn abweist, gelangte Leser hat das Buch für bares
Geld gekauft und frägt, was ihn schadlos hält? – Meine letzte Zuflucht ist jetzt,
ihn zu erinnern, daß er ein Buch, auch ohne es gerade zu lesen, doch auf mancherlei Art zu benutzen weiß. Es kann, so gut wie viele andere, eine Lücke seiner
Bibliothek ausfüllen, wo es sich, sauber gebunden, gewiß gut ausnehmen wird.
Oder auch er kann es seiner gelehrten Freundin auf die Toilette oder den Teetisch legen. Oder endlich er kann ja, was gewiß das beste von allem ist und ich
besonders rate, es rezensieren.« (WWV:13)
Dennoch, diese Koketterie ist nicht das Ende der Einleitung; diese beendet
Schopenhauer vielmehr mit einem gewichtigeren Gedanken, der dann wieder
voller Ernst ist:
»Aber das Leben ist kurz und die Wahrheit wirkt ferne und lebt lange: sagen wir
die Wahrheit.« (WWV:13)
***
Die Welt als Wille und Vorstellung untergliedert sich in vier Bücher:
Erstes Buch
Der Welt als Vorstellung erste Betrachtung: Die Vorstellung, unterworfen dem Satz vom Grunde: Das Objekt der
Erfahrung und Wissenschaft
Zweites Buch
Der Welt als Wille erste Betrachtung: Die Objektivation
des Willens
Drittes Buch
Der Welt als Vorstellung zweite Betrachtung: Die Vorstellung, unabhängig vom Satz des Grundes: Die Platonische Idee: Das Objekt der Kunst
Viertes Buch
Der Wille zweite Betrachtung: Bei erreichter Selbsterkenntnis, Bejahung und Verneinung des Willens zum
Leben
Besonders schön sind die Motti zum ersten und zum vierten Buch. Dem ersten
Buch stellt Schopenhauer folgende Worte von Jean-Jacques Rousseau (aus La
Nouvelle Héloise) voran:
Seite |
67
»Sors de l’enfance, ami, réveille-toi! [Laß hinter dir die Kindheit, Freund, erwache!]« (WWV:29)
Dem vierten Buch wird eine Weisheit aus den Upanishaden vorangestellt:
»Tempore, quo cognitio simul advenit, amor e medio supersurrexit. [Zur Zeit,
da sich die Erkenntnis einstellte, hat die Begierde sich von dannen gehoben.]«
(WWV:371)
Das erste Buch der WWV handelt vom Unterworfensein der Welt als Vorstellung unter das Grundprinzip (i.e. die vierfache Wurzel vom Satz des zureichenden Grundes). Das zweite Buch hat als Thema die Betrachtung des sich selbst
in unterschiedlichen Gestalten entfaltenden Willens; es handelt vom Willen in
seinem Wollen. Hier legt Schopenhauer seine Metaphysik und die aus ihr resultierende Naturphilosophie dar. Dem Willen in seinem Wollen ist der Satz vom
Grund nicht inhärent, gleichwohl die Objektivation des Willens den Satz vom
Grund insofern aktiviert, als diese Objektivation für das erkennende Subjekt ist
und die Objektbestimmtheit durch das Grund-Prinzip kommt (s. Malter 1988:
33). Das Unterworfensein der Vorstellung (im Sinne des erkannten Objekts)
unter den Satz vom Grunde ist eine transzendente Frage, deren Beantwortung
Schopenhauer im dritten Buch nachgeht; hier wird nun Platon in Anschlag gebracht. Nicht in gleichem Ausmaß transzendent, aber eben doch, ist die Frage
nach der Befreiung des Individuums aus der Unterworfenheit unter dem Satz
vom Grunde und damit von der mit dem Satz vom Grunde synthetisch verbundenen Willensherrschaft; hiervon handelt das vierte Buch (s. Malter 1988:
34).
Die beiden ersten Bücher stellen Schopenhauers ›Elementarlehre‹ dar und
nennen die Momente der negativen Bewusstseinsverfassung: Wille und Satz
vom Grunde. Die beiden hinteren Bücher lassen sich als Schopenhauers ›Freiheitslehre‹ bezeichnen und nennen die Voraussetzungen für die Überwindung
der theoretischen Resultate der Elementarlehre: Durchschauen des Satzes vom
Grunde und Verneinung des Willens, beides ermöglicht durch Erkenntnis (s.
Malter 1988:34).
»Auf den Punkt gebracht, kann man die Hauptthematik der beiden großen Hälften (Erstes/Zweites – Drittes/Viertes Buch), wenn man sie in ihrem prozessualen Charakter kennzeichnen will, so formulieren: ›Von der Unfreiheit des Subjekts des Wollens zur Freiheit des Subjekt des Erkennens‹.« (Malter 1988:34)
Dank der Identität von Erkenntnis- und Wollenssubjekt spielt sich der Weltprozess zwischen den beiden Polen Unfreiheit des Subjekts des Wollens und
Freiheit des Subjekt des Erkennens ab; dabei sind die beiden Pole und ihre Iden-
Seite |
68
tität Faktizitäten, der Weltprozess mithin nicht erschlossen durch Begriffe (s.
Malter 1988:35). In diesem Sinn notiert Schopenhauer in seinem Notizbuch:
»Meine Philosophie wird nie im Mindesten das Gebiet der Erfahrung, d.h. des
Wahrnehmbaren, im ganzen Umfang des Begriffs, überschreiten. Denn sie wird,
wie jede Kunst, bloß die Welt wiederholen.« (Schopenhauer in Malter 1988:35)
***
Die ›Reflexionsphilosophie‹, i.e. die philosophischen Systeme von Kants Nachfolgern Fichte, Schelling und Hegel, hat auf das Ding an sich in das Denken gesetzt (daher: ›Deutscher Idealismus‹ – was im Geist ist, ist real). Schopenhauer
entdeckt das Ding an sich im Willen – die ›Rück-Seite der Vor-Stellung‹ ist
nicht Geist, der sich bei der Arbeit zuschaut, sondern Natur. Dabei handelt es
sich um die erlebte Natur in uns, nicht um die Natur als äußeres Objekt (s. Safranski 2010:301).
»Der Wille, der allem zugrunde liegt, ist eben nicht Geist, der sich verwirklicht,
sondern ein blindes, wucherndes, ziellos, sich selbst zerfleischendes Treiben,
ohne Transparenz auf etwas Gemeintes, auf etwas Sinnvolles hin. Das Wirkliche
wird nicht von Vernunft, sondern von solchem ›Willen‹ durchherrscht.« (Safranski 2010:310f)
Als Beispiel für dieses blinde, ziellos-wuchernde und sich selbst zerfleischende
Treiben nennt Schopenhauer Napoleon, dessen ansichtig Hegel in Jena 1806
vom ›Weltseele zu Pferde‹ (bzw. ›Weltgeist zu Pferd‹) gesprochen hat. Dergleichen ist für Schopenhauer nachgerade lächerlich – Napoleon hat das von
Schopenhauer so geliebte Dresden in Schutt und Asche gelegt.
»Bonaparte ist wohl eigentlich nicht schlechter als viele Menschen, um nicht zu
sagen die meisten. Er hat eben den ganz gewöhnlichen Egoismus sein Wohl auf
Kosten Anderer zu suchen. Was ihn auszeichnet ist bloß die größere Kraft diesem Willen zu genügen. Dadurch daß ihm diese seltne Kraft gegeben ist, hat er
die ganze Bosheit des menschlichen Willens offenbart: und die Leiden seines
Zeitalters, als die nothwendige andre Seite davon, offenbarten den Jammer der
mit dem bösen Willen, dessen Erscheinung im Ganzen diese Welt ist, unzertrennlich verknüpft ist.« (Schopenhauer in Safranski 2010:311)
Verbindung und Bruch zwischen Frühwerk und reifem Werk liegt für Safranski
(2010:323) übrigens darin, dass Schopenhauer vom ›Willensdrang‹ zum ›Willensschauspiel‹ übergeht. Schließlich ist die Selbsterfahrung des eigenen Leibes
»der einzige Punkt, wo ich erfahren kann, was die Welt ist, außer daß sie meine
Vorstellung ist« (Safranski 2010:317).
Mit der unmittelbaren Selbsterfahrung des Willens taucht das Individuum
in eine Dimension ein, die unter dem ›principium individuationis‹ angesiedelt
Seite |
69
ist. Damit ist zugleich Schopenhauers großes Problem angesprochen: Weil jeder von uns das Ding an sich ist, können wir es nicht von außen sehen – ebenso
wenig wie sich das Auge selbst sehen kann. Von welchem Ort kann man den
Willen, i.e. das Ding an sich erfassen, ohne selbst Wille zu sein? Die Individualität muss abgestreift werden, weil sonst das Erfassen im Gestrüpp der Erscheinung hängen bleibt. Die Lösung dieses Problem bezeichnet Safranski (2010:324)
als Schopenhauers ›pfiffige Wendung‹ und beschreibt sie wie folgt:
»Das Subjekt des Wollens, als das unterindividuelle ›Ding an sich‹, kann nur angeschaut werden vom Über-individuellen, nämlich vom reinen Subjekt der Erkenntnis; ›rein‹ heißt hier: gelöst vom Willen und damit von den empirischen
Interessen des Individuums. Also: willenlose Anschauung des Willens. Zwischen
dem Unterindividuellen und dem Überindividuellen vollzieht sich eine heikle
Transaktion: Der metaphysische Charme des Willens (seine Raum-Zeit-Grundlosigkeit) soll in den Anschauungsakt hinüberwandern, nicht aber die Substanz
dieses Willens, sein Begehren, Drängen, Treiben. Schopenhauer jongliert mit
Begriffen. Es wird nun alles darauf ankommen, ob es ihm gelingt, […] die Existenz einer solchen Anschauung aufzuweisen. Es geht nicht darum, ob solches
Anschauen denkbar ist, sondern ob es das gibt. Und um zu wissen, ob es das
gibt, muß man es bei sich selbst kennengelernt haben. Schopenhauer hat es kennengelernt, und er will in Begriffen davon reden. Seine ganze Philosophie redet
davon.« (Safranski 2010:324)
Seite |
70
Vierte Vorlesung
Lektüre der WWV: Die Welt als Vorstellung
Das erste Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung diskutiert die Welt als
Vorstellung; hier thematisiert Schopenhauer die Kantische Philosophie in der
von ihm selbst vorgenommenen Variation.
»Keine Wahrheit ist also gewisser, von allen andern unabhängiger und eines Beweises weniger bedürftig als diese, daß alles, was für die Erkenntnis daist, also die
ganze Welt, nur Objekt in Beziehung auf das Subjekt ist, Anschauung des Anschauenden, mit einem Wort: Vorstellung.« (WWV:31)
So wahr diese Betrachtung auch sein mag – Schopenhauer hält fest, dass diese
Betrachtung ›einseitig‹ (WWV:32) ist; schließlich hat die Welt noch eine andere Seite, nämlich die Rückseite zur Vor-Stellung. Schopenhauers thematisiert
hier die Welt explizit als ›für die Erkenntnis daseiend‹, und in dieser Hinsicht
ist die Welt Vorstellung, wobei zur Gegenstandskonstitution zwei Instanzen
gehören, nämlich Subjekt und Objekt; die subjektive Idealität ist objektiv real.
Diese kantische Position wirft für Schopenhauer die Frage auf, ob zwischen Traum und Wachzustand zu unterscheiden ist. Darauf antwortet Schopenhauer:
»Das allein sichere Kriterium zur Unterscheidung des Traumes von der Wirklichkeit ist in der Tat kein anderes als das ganz empirische des Erwachens, durch
welches allerdings der Kausalzusammenhang zwischen den geträumten Begebenheiten und denen des wachen Lebens ausdrücklich und fühlbar abgebrochen
wird.« (WWV:48)
In diesem ersten Buch entfaltet Schopenhauer auf ca. 120 Seiten (gemäß der
Suhrkamp-Ausgabe) seine Erkenntnistheorie, die uns bereits aus der Dissertation bekannt ist. Malter (1988:35ff) untergliedert Schopenhauers Argumentationsstrategie in diesem ersten Buch in fünf Schritte, die hier allerdings nicht
wiedergegeben werden, weil von der Erkenntnistheorie hinreichend ausführlich
die Rede war. Es sei hier in aller Kürze die Verbindung von Zeit, Raum und
Kausalität erinnert.
Schopenhauer hält fest, dass Sukzession das ›ganze Wesen‹ der Zeit ist,
während die Lage bzw. die wechselseitige Bestimmtheit seiner Teile das ›ganze
Wesen‹ des Raumes ist (WWV:37f). Neben Zeit und Raum, die Kantischen Anschauungsformen, ist für Schopenhauer eine Kantische Kategorie von Bedeutung – die Kausalität. Die Kausalität ist ›das ganze Wesen‹ der Materie. Aus
dieser Erklärung resultiert eine nette Fassung dessen, was ›Wirklichkeit‹ heißt:
Seite |
71
»[Materie] ist durch und durch nichts als Kausalität, welches jeder unmittelbar
einsieht, sobald er sich besinnt. Ihr Sein nämlich ist ihr Wirken: kein anderes
Sein derselbe ist auch nur zu denken möglich. Nur als wirkend füllt sie den
Raum, füllt sie die Zeit: ihre Einwirkung auf das unmittelbare Objekt (das selbst
Materie ist) bedingt die Anschauung, in der sie allein existiert: die Folge der
Einwirkung jedes andern materiellen Objekts auf ein anderes wird nur erkannt,
sofern das letztere jetzt anders als zuvor auf das unmittelbare Objekt einwirkt,
besteht nur darin. Ursache und Wirkung ist also das ganze Wesen der Materie:
ihr Sein ist ihr Wirken […]. Höchst treffend ist daher im Deutschen der Inbegriff
alles Materiellen Wirklichkeit genannt, welches Wort viel bezeichnender ist als
Realität.« (WWV:38)
Zeit und Raum werden von der Materie vorausgesetzt, beide sind ohne Materie
vorstellbar, allerdings nicht die Materie ohne jene (WWV:38). Die Materie ist
aber mehr, sie ist die Vereinigung von Zeit und Raum (WWV:39). Wenn das
Wesen der Materie ihr Wirken, i.e. Kausalität ist, dann führt sie Zeit und Raum
zusammen.
»Alle gedenkbaren, unzähligen Erscheinungen und Zustände nämlich könnten
im unendlichen Raum, ohne sich zu beengen, neben einander liegen, oder auch
in der unendlichen Zeit, ohne sich zu stören, auf einander folgen; daher dann eine notwendige Beziehung derselben auf einander und eine Regel, welche sie dieser gemäß bestimmte, keineswegs nötig, ja nicht ein Mal anwendbar wäre: folglich gäbe es alsdann, bei allem Nebeneinander im Raum und allem Wechsel in
der Zeit, so lange jede dieser beiden Formen für sich, und ohne Zusammenhang
mit der andern ihren Bestand und Lauf hätte, noch gar keine Kausalität, und da
diese das eigentliche Wesen der Materie ausmacht, auch keine Materie. – Nun
aber erhält das Gesetz der Kausalität seine Bedeutung und Notwendigkeit allein
dadurch, daß das Wesen der Veränderung nicht im bloßen Wechsel der Zustände an sich, sondern vielmehr darin besteht, daß an demselben Ort im Raum jetzt
ein Zustand ist und darauf ein anderer, und zu einer und derselben bestimmten
Zeit hier dieser Zustand und dort jener: nur diese gegenseitige Beschränkung der
Zeit und des Raums durch einander gibt einer Regel, nach der die Veränderung
vorgehn muß, Bedeutung und zugleich Notwendigkeit. Was durch das Gesetz
der Kausalität bestimmt wird, ist also nicht die Sukzession der Zustände in der
bloßen Zeit, sondern diese Sukzession in Hinsicht auf einen bestimmten Raum,
und nicht das Dasein der Zustände an einem bestimmten Ort, sondern an diesem Ort zu einer bestimmten Zeit. Die Veränderung, d.h., der nach dem Kausalgesetz eintretende Wechsel, betrifft also jedesmal einen bestimmten Teil des
Raumes und einen bestimmten Teil der Zeit zugleich und im Verein. Demzufolge vereinigt die Kausalität den Raum mit der Zeit.« (WWV:39)
Seite |
72
Dass die Materie Wirken und Wirken nur als kausale Wirkung aufzufassen ist,
mag etwas verwirrend klingen. Tatsächlich liegt der Verwirrung das Zusammenziehen mehrerer Kantischer Kategorien in die eine der Kausalität zu Grunde – durchaus nach dem Motto, dass die Philosophie »ein Ungeheuer mit vielen Köpfen« (WWV:151) ist. Die Verwirrung soll hier nicht zerstreut werden,
indem diese Zusammenführung der Kantischen Kategorien, vornehmlich diejenigen der Abteilung Relation, nachgezeichnet wird, sondern durch folgenden
Hinweis: Schopenhauers Realität der Materie ist durch und durch dynamisch;
sie ist Wirklichkeit, weil sie wirkt.
Schopenhauers Schachzug liegt bereits im ersten Buch, in dem es um die
Welt als Vorstellung geht, darin, das Wirken zur alleinigen Kategorie zu stilisieren, die die Anschauungsformen Zeit und Raum synthetisiert. Das Wirken
bringt zusammen, was ansonsten getrennt vorgestellt wird. Schopenhauer hält
gegen Materialismus und Idealismus im Streit um die Realität der Außenwelt
fest,
»…erstlich, daß Objekt und Vorstellung dasselbe sind; dann, daß das Sein der
anschaulichen Objekte eben ihr Wirken ist, daß eben in diesem des Dinges
Wirklichkeit besteht und die Forderung des Daseins des Objekts außer der Vorstellung des Subjekts und auch eines Seins des wirklichen Dinges, verschieden
von seinem Wirken, gar keinen Sinn hat und ein Widerspruch ist; daß daher die
Erkenntnis der Wirkungsart eines angeschauten Objekts eben auch es selbst erschöpft, sofern es Objekt, d.h. Vorstellung ist, da außerdem für die Erkenntnis
nichts an ihm übrigbleibt.« (WWV:45)
Von diesem Wirklichkeitsbegriff ist es nur ein kleiner Schritt zu einem An-sich,
das das Wirken von seinem ursächlichen Status befreit und in ein blindes Treiben mutiert. Schopenhauer macht diesen Schritt im zweiten Buch.
Lektüre der WWV: Der Leib als objektivierter Wille
Im zweiten Buch geht es um den Willen. Der §18 macht klar, dass der Mensch
eine Doppelstellung hat, die ihm das Reich des Willens eröffnet.
»In der Tat würde die nachgeforschte Bedeutung der mir lediglich als meine
Vorstellung gegenüberstehende Welt […] zu dem, was sie noch außerdem sein
mag, nimmermehr zu finden sein, wenn der Forscher selbst nichts weiter als das
rein erkennende Subjekt (geflügelter Engelskopf ohne Leib) wäre. Nun aber wurzelt er selbst in jener Welt, findet sich nämlich in ihr als Individuum, d.h. sein
Erkennen, welches der bedingende Träger der ganzen Welt als Vorstellung ist,
Seite |
73
ist dennoch durchaus vermittelt durch einen Leib, dessen Affektionen […] dem
Verstande der Ausgangspunkt der Anschauung jener Welt sind.« (WWV:156f)
Dem als Individuum erscheinenden Subjekt des Erkennens ist ›ein Wort‹ als
Rätsel aufgegeben – »und dieses Wort heißt Wille« (WWV:157). Das Rätsel löst
sich, indem der Leib als Vorstellung und Wille zugleich gedacht wird, womit
der sichtbare Leib der objektivierte Wille, d.h. der in die Anschauung getretene
Akt des Willens ist (WWV:158).
»Ich werde daher den Leib […] die Objektivität des Willens nennen. Auch kann
man daher in gewissem Sinne sagen: der Wille ist die Erkenntnis a priori des
Leibes und der Leib die Erkenntnis a posteriori des Willens. […] In der Reflexion
allein ist Wollen und Tun verschieden: in der Wirklichkeit sind sie eins. Jeder
wahre, echte, unmittelbare Akt des Willens ist sofort und unmittelbar auch erscheinender Akt des Leibes; und diesem entsprechend ist andererseits jede Einwirkung auf den Leib sofort und unmittelbar auch Einwirkung auf den Willen.«
(WWV:158)
Schopenhauer hält fest, dass ›mein Leib und mein Wille‹ eins sind, dass ›mein
Leib die Objektivität meines Willens‹ ist (WWV:161).
Es ist die Eigenart von Schopenhauers Metaphysik, dass sie weder das
Subjekt noch die Objektwelt überschreitet, wenn sie nach dem Wesen der
Rück-Seite der Vor-Stellung fragt. Schopenhauer geht vom erkennenden Subjekt aus und befragt das fragende Subjekt danach, was es außer Erkennen noch
ist. Die derart gestellte Frage ist leicht zu beantworten, denn das fragende Subjekt erlebt unmittelbar, was es außer Erkennen noch ist – eben Leib. Auf den
Leib kann sich das Subjekt als erkennendes richten; unter dieser Perspektive ist
der Leib Objekt unter Objekten. Aber der Leib kann auch unter der Perspektive
des Erlebens erkundet werden – das Individuum muss sich darauf besinnen,
dass und wie es leiblich erlebt. Das subjektive leibliche Erleben ist Wille (s. Malter 1988: 51f). »Der Wille wird hierdurch nicht etwa auf die Vorstellung (Anschauung) ›Leib‹ reduziert (was den Willen selbst zur Modifikation der Welt als
Vorstellung machen hieße), es soll vielmehr gesagt werden, daß im Horizont
des Vorstellens ein Nichtvorstellungshaftes auf unmittelbare Weise auftaucht.
Das Leiberleben ist zwar auch ein Vorstellen, es unterscheidet sich jedoch von
allem anderen Vorstellen dadurch, daß es sich in ihm das gänzlich von der Vorstellung Geschiedene, das Lust- und Unlusthafte, das sich qualitativ nicht auf
Erkennen reduzieren läßt, kund gibt. Der Philosoph kann die Wesensfindung
nicht demonstrieren, er kann den Fragenden nur auf diese Andersartigkeit der
Einstellung des fragenden Subjekts zu sich selbst hinweisen. Bestreiten könnte
das Nicht-nur-erkennend-sein nur derjenige, welcher die Absurdität behaupten
würde, er sei ›geflügelter Engelskopf ohne Leib‹.« (Malter 1988:53)
Seite |
74
Der §18 beruft sich auf unmittelbares Erleben: Das erkennende Subjekt
erkennt, dass es, insofern es unmittelbar Lust-Unlust-Erleben ist, noch etwas
anderes als Erkennen ist – es ist Erkennen und Wollen. Mit der wichtigen Differenz: Dass das Subjekt erkennend ist, weiß es nur mittelbar, vermittelt über
das Objekthaben; dass es will, weiß es unmittelbar objekthaft am Leibsein. Dass
diese Subjektidentität zweier absolut verschiedener Funktionen möglich ist,
liegt nicht bloß im Bereich des Denkbaren, sondern wird in seiner Wirklichkeit
erlebend vollzogen (s. Malter 1988:54).
»Metaphysik, die sich auf die erlebte Identität von Erkenntnis- und Willenssubjekt gründet, braucht die gegebene Welt nicht zu verlassen. Sie handelt nicht von
anderen Welten, sie redet von dem, was das erkennende Subjekt außer seinem
Erkennen-sein noch ist. Sie existiert von einer alltäglichen Einsicht, an der die
Philosophen, wenn sie das Wesen suchen, vorbeizulaufen pflegen: Es bedarf, um
das Wesen der Welt zu erkennen, nur der Aktivierung des unmittelbaren, jederzeit vollziehbaren Leiberlebens für die Wesensfrage, um schon die Antwort zu
haben. Und hat die fragende Vernunft das sie selbst tragende Leibsubjekt als das
objektivierte Wesen entschlüsselt, so ist die gesamte Natur in ihrem Willenscharakter offenbar.« (Malter 1988:54)
Der Wille, der einen Menschen zu einer bestimmten Tat treibt, ist nicht mit
der Motivation zu verwechseln. Die Akte des Willens haben einen ›Grund außer sich‹, in den Motiven (WWV:165), und Motive sind, gemäß der Dissertation von 1813, Formen der Kausalität, also bestimmte Ausprägungen des Satzes
vom Grunde, der die Vorstellungswelt regiert. Der Wille ist das Wesen des
Menschen, dessen sichtbare Handlungen durch Motive begründet sind. Der
Wille objektiviert sich in den Motiven – so ließe sich dieser feine Unterschied
fassen. Schopenhauer erklärt ihn wie folgt:
»[Die Motive bestimmen] nie mehr als das, was ich zu dieser Zeit, an diesem
Ort, unter diesen Umständen will; nicht aber daß ich überhaupt will, noch was
ich überhaupt will, d.h. die Maxime, welche mein gesamtes Wollen charakterisieren. Daher ist mein Wollen nicht seinem ganzen Wesen nach aus den Motiven zu erklären; sondern diese bestimmen bloß seine Äußerung im gegebenen
Zeitpunkt, sind bloß der Anlaß, bei dem sich mein Wille zeigt: dieser selbst hingegen liegt außerhalb des Gebietes des Gesetzes der Motivation: nur seine Erscheinung in jedem Zeitpunkt ist durch dieses notwendig bestimmt.« (WWV:
166)
Wenn jede Aktion des Leibes Erscheinung eines Willensaktes ist, so ist die Bedingung sine qua non der Aktion Erscheinung des Willens; und jene Bedingung
ist der Leib selbst (WWV:166). Daraus resultiert für Schopenhauer eine ›teleologische Erklärbarkeit des Leibes‹:
Seite |
75
»Die Teile des Leibes müssen deshalb den Hauptbegehrungen, durch welche der
Wille sich manifestiert, vollkommen entsprechen, müssen der sichtbare Ausdruck derselben sein: Zähne, Schlund und Darmkanal sind der objektivierte
Hunger; die Genitalien der objektivierte Geschlechtstrieb; die greifenden Hände,
die raschen Füße entsprechen dem schon mehr mittelbaren Streben des Willens,
welches sie darstellen. Wie die allgemeine menschliche Form dem allgemeinen
menschlichen Willen, so entspricht dem individuell modifizierten Willen, dem
Charakter des einzelnen die individuelle Korporisation.« (WWV:168)
Lektüre der WWV: Die Objektivationen des Willens
Die Lektüre des zweiten Buches von Die Welt als Wille und Vorstellung ist damit gerade erst eröffnet. Im Weiteren geht es Schopenhauer um den Willen,
und wie er sich in auf mannigfaltige Weise objektiviert.
Die unmittelbare Einsicht in das, was das Subjekt außer Erkennen noch
ist, eröffnet zugleich die Einsicht in das, was die Natur in ihrem Gestaltenreichtum ist: Die Welt ist nichts als Wille.
»Ding an sich […] ist allein der Wille: als solcher ist er durchaus nicht Vorstellung, sondern toto genere von ihr verschieden: er ist es, wovon alle Vorstellung,
alles Objekt, die Erscheinung, die Sichtbarkeit, die Objektivität ist. Er ist das Innerste, der Kern jedes Einzelnen und ebenso des Ganzen: er erscheint in jeder
blindwirkenden Naturkraft: er auch erscheint im überlegten Handeln des Menschen; welcher beide große Verschiedenheit doch nur den Grad des Erscheinens,
nicht das Wesen des Erscheinenden trifft.« (WWV:170)
Daraus resultiert nun mitnichten eine monotone Einheit und Ungeschiedenheit: Das Ding an sich, i.e. der Wille (Schopenhauer singularisiert hier den Kantischen Plural von den ›Dingen an sich‹), ist nur präsent in der Gestalt der Erscheinungen, d.h. unter bestimmten Formen, die alle nur die Form schlechthin,
also den Satz vom zureichenden Grund, ausdrücken. »Die Natur, die diese Erscheinungen darstellt, enthält, bedingt durch die Herrschaft des ›principium
individuationis‹ (Zeit und Raum), eine unermeßliche Vielheit von Individuen,
die infolge der (aus Zeit und Raum sich ergebenden) Kausalität in den Nexus
des Entstehens und Vergehens gebunden sind. Da der Wille nicht unter dem
Satz vom Grund steht, bleibt er vom Kommen und Gehen der Individuen unberührt; gleichwohl ist er es, der in allen Individuen zur Erscheinung kommt –
in ihnen sich objektiviert.« (Malter 1988:55).
»Ob aber die dem Individuo nur als Vorstellungen bekannten Objekte dennoch
gleich seinem eigenen Leibe Erscheinungen eines Willens sind; dies ist […] der
Seite |
76
eigentliche Sinn der Frage nach der Realität der Außenwelt: dasselbe zu leugnen
ist der Sinn des theoretischen Egoismus, der ebendadurch alle Erscheinungen
außer seinem eigenen Individuum für Phantome hält. […] Der theoretische Egoismus ist zwar durch Beweise nimmermehr zu widerlegen: dennoch ist er zuverlässig in der Philosophie nie anders denn als skeptischer Sophisma, d.h. zum
Scheine gebraucht worden.« (WWV:163)
Es lässt sich für Schopenhauer nicht sinnvoll leugnen, dass in den anderen Individuen derselbe Wille zum Ausdruck kommt. Dabei bleibt Schopenhauers Begriff ›Individuum‹ nicht bei Menschen und Tieren stehen, sondern schließt alle
Entitäten ein.
»Nicht allein in denjenigen Erscheinungen, welche seiner eigenen ganz ähnlich
sind, in Menschen und Tieren wird [der Leser] als ihr innerstes Wesen jenen
nämlichen Willen anerkennen; sondern die fortgesetzte Reflexion wird ihn dahin
leiten, auch die Kraft, welche in der Pflanze treibt und vegetiert, ja die Kraft,
durch welche der Kristall anschießt, die, welche den Magnet zum Nordpol wendet, die, deren Schlag ihm aus der Berührung heterogener Metalle entgegenfährt,
die, welche in den Wahlverwandtschaften der Stoffe als Fliehn und Suchen,
Trennen und Vereinen erscheint, ja zuletzt sogar die Schwere, welche in aller
Materie so gewaltig strebt, den Stein zur Erde und die Erde zur Sonne zieht –
diese alle nur in der Erscheinung für verschieden, ihrem innern Wesen nach
aber als dasselbe zu erkennen, als jenes ihm unmittelbar so intim und besser als
alles andere Bekannte, was da, wo es am deutlichsten hervortritt, Wille heißt.«
(WWV:170)
Man muss eine Erweiterung des Begriffs ›Wille‹ vollziehen, um nicht im ›immerwährenden Missverständnis‹ gefangen zu bleiben (WWV:171); gegen die
Vermutung, dass dieser neue Willensbegriff eine neue, okkulte Kraft anspricht,
setzt Schopenhauer folgende Worte:
»Nun aber bezeichnet das Wort Wille, welches uns wie ein Zauberwort das innerste Wesen jedes Dinges in der Natur aufschließen soll, keineswegs eine unbekannte Größe, ein durch Schlüsse erreichtes Etwas; sondern ein durchaus unmittelbar Erkanntes und so sehr Bekanntes, daß wir, was Wille sei, viel besser
wissen und verstehn als sonst irgend etwas, was immer es auch sei. – Bisher subsumierte man den Begriff Wille unter den Begriff Kraft: dagegen mache ich es
gerade umgekehrt und will jede Kraft in der Natur als Wille gedacht wissen.«
(WWV:172)
Der Wille entzieht sich der Individuation, er ist als Ding an sich von seinen Erscheinungen gänzlich verschieden (WWV:173); zwischen dem Willen und den
individuierten Objekten der Erscheinungswelt klafft der Graben der ontologischen Differenz.
Seite |
77
Der Wille ist grundlos, und aus dieser Grundlosigkeit folgt auch, dass der
Mensch frei ist – am Menschen, besser: im Menschen stellen wir den Willen zu
allererst fest. Obgleich der Mensch frei ist, sind seine Handlungen mitnichten
frei, denn die Handlungen sind in der objektivierten Welt sichtbar und derart
dem Satz vom Grunde unterworfen, und zwar in dessen erster Gestalt, der
Kausalität. Jede Handlung ist motiviert, und Motive sind die Weise, in der Kausalität auf menschlichem Niveau auftreten. Schopenhauer trennt scharf zwischen dem Grund als Ding an sich und dem Begründeten als durch Zeit, Raum
und Kausalität Individuiertem:
»Die Grundlosigkeit des Willens hat man auch wirklich da erkannt, wo er sich
am deutlichsten manifestiert, als Wille des Menschen, und diesen frei, unabhängig genannt. Sogleich hat man aber auch über die Grundlosigkeit des Willens
selbst die Notwendigkeit, der seine Erscheinung überall unterworfen ist,
übersehn und die Taten für frei erklärt, was sie nicht sind, da jede einzelne
Handlung auf der Wirkung des Motivs auf den Charakter mit strenger Notwendigkeit folgt. […] Weil aber im Selbstbewußtsein der Wille unmittelbar und an
sich erkannt wird, so liegt auch in diesem Bewußtsein das der Freiheit. Allein es
wird übersehn, daß das Individuum, die Person, nicht Wille als Ding an sich,
sondern schon Erscheinung des Willens ist […].« (WWV:174)
Schopenhauer lässt den Willen auch da wirken, wo keine Erkenntnis ihn leitet
(WWV:175). Er erweitert damit den üblichen Gebrauch von ›Willen‹ (s.o.).
»Allein daß der Wille auch da wirkt, wo keine Erkenntnis ihn leitet, sehen wir zu
allernächst an dem Instinkt […] der Tiere. […] [S]o werden wir das Wirken des
Willens nun auch leichter in Fällen wiedererkennen, wo es weniger augenfällig
ist, und dann z.B. sowenig das Haus der Schnecke einem ihr selbst fremden, aber
von Erkenntnis geleiteten Willen zuschreiben, als das Haus, welches wir selbst
bauen, durch einen andern Willen als unsern eigenen ins Dasein tritt; sondern
wir werden beide Häuser für Werke des in beiden Erscheinungen sich objektivierenden Willens erkennen, der in uns nach Motiven, in der Schnecke aber
noch blind als nach außen gerichteter Bildungstrieb wirkt. Auch in uns wirkt
derselbe Wille vielfach blind: in allen den Funktionen unsers Leibes, welche keine Erkenntnis leitet, in allen seinen vitalen und vegetativen Prozessen, Verdauung, Blutumlauf, Sekretion, Wachstum, Reproduktion. […] [A]lles, was [im Leib]
vorgeht, muß daher durch Wille vorgehn, obwohl hier dieser Wille […] blind
[wirkt].« (WWV:176)
Die Natur ist folglich die Sichtbarkeit bzw. die Objektivität des Willens. Die
Willensobjektivationen erfolgen in festgelegten Stufen, (i) anorganische Natur,
(ii) Pflanzen, (iii) Tiere und (iv) Mensch. Es bleibt eigentlich nur noch die Natur, die noch nicht thematisiert wurde. Hierzu ist in der WWV zu lesen:
Seite |
78
»Wir müssen also den Schlüssel zum Verständnis des Wesens an sich der Dinge,
welchen uns die unmittelbare Erkenntnis unsers eigenen Wesens allein geben
konnte, auch an diese Erscheinungen der unorganischen Welt legen, die von allen im weitesten Abstande von uns stehn. – Wenn wir sie nun mit forschendem
Blicke betrachten, wenn wir den gewaltigen, unaufhaltsamen Drang sehn, mit
dem die Gewässer der Tiefe zueilen, die Beharrlichkeit, mit welcher der Magnet
sich immer wieder zum Nordpol wendet, die Sehnsucht, mit der das Eisen zu
ihm fliegt, die Heftigkeit, mit welcher die Pole der Elektrizität zur Wiedervereinigung streben […]; wenn wir den Kristall schnell und plötzlich anschießen
sehn, mit so viel Regelmäßigkeit der Bildung […] – so wird es uns keine große
Anstrengung der Einbildungskraft kosten, selbst aus so großer Entfernung unser
eigenes Wesen wiederzuerkennen, jenes Nämliche, das in uns beim Lichte der
Erkenntnis seine Zwecke verfolgt, hier aber in den schwächsten seiner Erscheinungen nur blind, dumpf, einseitig und unveränderlich strebt.« (WWV:180f)
An die Kräfte der Natur, die bestimmte Wirkungsart der Dinge, die Qualität,
der Charakter der Erscheinung, das Grundlose – daran darf sich keine Erklärung wagen (WWV:185). Die Naturwissenschaften bleiben beschränkt, bzw.
der Naturwissenschaften Erklärungsmodelle müssen metaphysisch untermauert werden.
»Mechanik, Physik, Chemie lehren die Regeln und Gesetze, nach denen die
Kräfte der Undurchdringlichkeit, Schwere, Starrheit, Flüssigkeit, Kohäsion, Elastizität, Wärme, Licht, Wahlverwandtschaften, Magnetismus, Elektrizität usw.
wirken, d.h. das Gesetz, die Regel, welche diese Kräfte in Hinsicht auf ihren jedesmaligen Eintritt in Zeit und Raum beobachten: die Kräfte selbst aber bleiben
dabei […] qualitates occultae. Denn es ist eben das Ding an sich, welches, indem
es erscheint, jene Phänomene darstellt.« (WWV:185)
Der Wille steht außer Zeit und Raum (natürlich auch außerhalb der Kausalität)
und ist daher nicht dem principium individuationis unterworfen; dieses bestimmt über die Vereinzelung bzw. darüber, dass die Vorstellungen aus einzelnen Entitäten bestehen; diese Einzelheit setzt gleichzeitig Vielheit voraus, denn
nur wenn es mehrere Entitäten gibt, können die einzelnen erkannt werden. Der
Wille entzieht sich der Vielheit und muss daher einer sein. Diese Einheit unterscheidet sich von derjenigen, die durch das principium individuationis geschaffen wird:
»[Der Wille liegt] außer der Zeit und dem Raum und kennt demnach keine Vielheit, ist folglich einer; doch […] nicht wie ein Individuum, noch wie ein Begriff
eins ist; sondern wie etwas, dem die Bedingung der Möglichkeit der Vielheit, das
principium individuationis, fremd ist. […] Nicht etwa ist ein kleinerer Teil [vom
Willen] im Stein, ein größerer im Menschen: da das Verhältnis von Teil und
Seite |
79
Ganzem ausschließlich dem Raume angehört und daher keinen Sinn mehr hat,
sobald man von dieser Anschauungsform abgegangen ist.« (WWV:193)
An anderer Stelle, nämlich im §27, erläutert dies Schopenhauer mit folgender
Metapher:
»Wie eine Zauberlaterne viele und mannigfaltige Bilder zeigt, es aber nur eine
und dieselbe Flamme ist, welche ihnen allen die Sichtbarkeit erteilt; so ist in allen
mannigfaltigen Erscheinungen, welche nebeneinander die Welt füllen oder
nacheinander als Begebenheiten sich verdrängen, doch nur der eine Wille das
Erscheinende […]: er allein ist das Ding an sich.« (WWV:226)
Wenn der Wille auf der einen Seite die unbändige Grundkraft ohne Grund und
außerhalb von Zeit, Raum und Kausalität steht, dann muss es andererseits so
etwas wie ein Scharnier geben, das den Willen mit den Vorstellungen zusammenbringt. Außer dem Erlebnis des Willens als das Ding an sich, das der
Mensch an seinem Leib macht, führt der Schluss dahin, dass es derselbe Wille
ist, der als Ding an sich hinter den Vorstellungen waltet – also benötigt es einen
Link. Wie ver-äußert sich der Wille in die Vielheit der Dinge-an-sich und dann
in die einzelnen Vorstellungen?
Zur Lösung dieses Problems greift Schopenhauer nun auf Platon zurück.
Die Objektivationen des Willens sind ›abgestuft‹ (WWV:194) – natürlich nicht
der Wille selbst. Die Abstufung bezieht sich zuallererst auf die ›zahllosen Individuen‹ vs. die ›unerreichten Musterbilder‹ (WWV:195), womit Platons Ideenreich unvermittelt angesprochen ist.
»Ich verstehe also unter Idee jede bestimmte und feste Stufe der Objektivation
des Willens, sofern er Ding an sich und daher der Vielheit fremd ist, welche Stufen zu den einzelnen Dingen sich allerdings verhalten wie ihre ewigen Formen
oder ihre Musterbilder.« (WWV:195)
Auf der niedrigsten Stufe der Objektivation des Willens lokalisiert Schopenhauer die allgemeinen Kräfte der Natur, also Schwere, Undurchdringlichkeit,
Starrheit, Flüssigkeit, Elastizität, Elektrizität, Magnetismus, chemische Eigenschaften und Qualitäten jeder Art (WWV:196). Diese sind unmittelbare Erscheinungen des Willens, und es ist ›unverständig‹, nach einer Ursache der
Schwere, der Elektrizität etc. zu fragen, denn es sind ursprüngliche Kräfte, »deren, Äußerungen zwar nach Ursache und Wirkung vor sich gehen […]; keineswegs aber ist die Kraft selbst Wirkung einer Ursache noch auch Ursache einer
Wirkung« (WWV:196).
Auf den oberen Stufen der Objektivität des Willens lokalisiert Schopenhauer die Individualität ›deutlich hervortreten, besonders beim Menschen‹
(WWV:197). Die große Verschiedenheit der individuellen, menschlichen Cha-
Seite |
80
raktere führt, gemäß der Verbindung von Wille und dessen Objektivation, zu
großen Unterschieden in der Physiognomie. Die menschliche Individualität
übertrifft ›bei weitem‹ diejenige eines jeden Tieres:
»[N]ur die oberen Tiere haben einen Anstrich [von Individualität], über den jedoch der Gattungscharakter noch ganz und gar vorherrscht, ebendeshalb auch
nur wenig Individualphysiognomie. Je weiter abwärts, desto mehr verliert sich
jede Spur von Individualcharakter in den allgemeinen Spezies […].« (WWV:197)
Die starke Ausprägung des Individualcharakters im Menschen führt Schopenhauer dahin, jedes menschliche Individuum als ›besonders bestimmte und charakterisierte Erscheinung des Willens‹ zu bestimmen – ja so weit zu gehen, jeden Menschen gewissermaßen als ›eine eigene Idee anzusehn‹ (WWV:198). Im
unorganischen Reich ist von Individualität dann nichts mehr festzustellen, mit
einer Ausnahme – den Kristallen.
»Bloß der Kristall ist noch gewissermaßen als Individuum anzusehen: er ist eine
Einheit des Strebens nach bestimmten Richtungen, von der Erstarrung ergriffen,
die dessen Spur bleibend macht.« (WWV:198)
Das Verhältnis von Naturkraft und Naturgesetz, das bereits in der Dissertation
von 1813 angesprochen wurde, fasst Schopenhauer im §26 wie folgt:
»Jede allgemeine ursprüngliche Naturkraft ist also in ihrem innern Wesen nichts
anderes als die Objektivation des Willens auf einer niedrigen Stufe: wir nennen
eine jede solche Stufe eine ewige Idee in Platons Sinn. Das Naturgesetz aber ist
die Beziehung der Idee auf die Form ihrer Erscheinung. Diese Form ist Zeit,
Raum und Kausalität, welche notwendigen und unzertrennlichen Zusammenhang und Beziehung auf einander haben. Durch Zeit und Raum vervielfältigt
sich die Idee in unzählige Erscheinungen: die Ordnung aber, nach welcher dies
in jene Formen der Mannigfaltigkeit eintraten, ist fest bestimmt durch das Gesetz der Kausalität: dieses ist gleichsam die Norm der Grenzpunkte jener Erscheinungen verschiedener Ideen.« (WWV:201)
Ein Naturgesetz ist und bleibt ›bloß die Natur abgemerkte Regel‹ (WWV:210).
***
Schopenhauer diagnostiziert in der Natur ݟberall Streit, Kampf und Wechsel
des Sieges‹ (WWV:218) – wieder eine Stelle, die sich in Verbindung zu Darwins
›struggle for life‹ setzen ließe. Interessant daran ist, wie Schopenhauer diesen
Negativ-Befund argumentiert, denn hier wird der Unterschied von Materie und
Wille ebenso wie die Idee der Höher- bzw. Weiterentwicklung des Willens in
seinen Objektivationen deutlich.
»Wenn von den Erscheinungen des Willens auf den niedrigeren Stufen seiner
Objektivation, also im Unorganischen, mehrere unter einander in Konflikt gera-
Seite |
81
ten, indem jede am Leitfaden der Kausalität sich der vorhandenen Materie bemächtigen will; so geht aus diesem Streit die Erscheinung einer höheren Idee
hervor, welche die vorhin dagewesenen unvollkommeneren alle überwältigt, jedoch so, daß sie das Wesen derselben auf eine untergeordnete Weise bestehn
läßt, indem sie ein Analogon davon in sich aufnimmt; welcher Vorgang eben nur
aus der Identität des erscheinenden Willens in allen Ideen und aus seinem Streben zu immer höheren Objektivationen begreiflich ist.« (WWV:215)
Diesen Gedanken formuliert Schopenhauer, um eine ›Verirrung‹ in den Naturwissenschaften den richtigen Weg zu weisen (WWV:212). Es handelt sich
hierbei um die richtig angesetzte ›Aitiologie‹ (i.e. Ätiologie, Lehre von den Ursachen): Schopenhauer bekämpft den Reduktionismus der Naturkräfte auf immer niedrigere Formen, d.h. die Vitalität auf die Chemie, die Chemie auf die
Physik etc. Schopenhauer formuliert mit seiner Konflikt-Theorie eine Erklärung, warum das naturwissenschaftliche inspirierte Reduktionismusprogramm
überhaupt angedacht werden kann: Die siegreiche Idee nimmt von der besiegten Idee ein Analogon in sich auf.
»Die aus solchem Siege über mehrere niedere Ideen oder Objektivationen des
Willens hervorgehende vollkommenere gewinnt eben dadurch, daß sie von jeder
überwältigten ein höher potenziertes Analogon in sich aufnimmt, einen ganz
neuen Charakter: der Wille objektiviert sich eine neue deutlichere Art: es entsteht […] nachher durch Assimilation an den vorhandenen Keim organischer
Saft, Pflanze, Tier, Mensch. Also aus dem Streit niedrigerer Erscheinungen geht
die höhere, sie alle verschlingende, aber auch das Streben aller in höhere, sie alle
verwirklichende hervor.« (WWV:216)
Im Organismus lassen sich folglich die Spuren chemischer und physischer Wirkungsarten nachweisen; er wird sich aus diesen aber nie erklären lassen,
»weil [der Organismus] keineswegs ein durch das vereinigte Wirken solcher
Kräfte, also zufällig hervorgebrachtes Phänomen ist, sondern eine höhere Idee,
welche sich jene niedrigeren durch überwältigende Assimilation unterworfen
hat; weil der in allen Ideen sich objektivierende eine Wille, indem er zu
höchstmöglichen Objektivation strebt, hier die niedern Stufen seiner Erscheinung, nach einem Konflikt derselben, aufgibt, um auf einer höhern desto mächtigeren zu erscheinen.« (WWV:216)
Diesen Sieg trägt die höhere Idee oder Willensobjektivation nicht kampflos davon; die höhere Idee erleidet den Widerstand der niederen, die dann immer
noch strebt, zur unabhängigen und vollständigen Äußerung ihres Wesen zu gelangen – obgleich sie ›zur Dienstbarkeit gebracht‹ wurde (WWV:216f). Schopenhauer verortet damit nicht nur das Reduktionismusprogramm innerhalb
seiner Metaphysik, sondern gibt gleichzeit auch einen Grund dafür an, warum
Seite |
82
sich höhere Willensobjektivationen wieder den niedrigeren angleichen, warum
z.B. das Leben wieder dem anorganischen Prozess verfällt, sobald der Organismus gestorben ist.
»Daher also überhaupt die Last des physischen Lebens, die Notwendigkeit des
Schlafes und zuletzt des Todes, indem endlich, durch Umstände begünstigt, jene
unterjochten Naturkräfte dem selbst durch den steten Sieg ermüdeten Organismus die ihnen entrissene Materie wieder abgewinnt und zur ungehinderten Darstellung ihres Wesens gelangt. Man kann daher auch sagen, daß jeder Organismus die Idee, deren Abbild er ist, nur darstellt nach Abzug des Teiles seiner
Kraft, welche verwendet wird auf Überwältigung der niedrigeren Ideen, die ihm
die Materie streitig machen.« (WWV:217)
Je höher die Objektivation des Willens in der von Schopenhauer nicht weiter
erläuterten Hierarchie stehen, desto mehr niedrigere Kräfte müssen überwunden und niedergehalten werden, denn die Willensobjektivationen kämpfen um
dieselbe Materie, die sie zu ihrer Objektivierung benötigen. Die Objektivationen
streiten um Materie, worin zugleich auch eine wesentliche Entzweiung des Willens mit sich selbst (WWV:218) zum Ausdruck kommt.
»So sehn wir in der Natur überall Streit, Kampf und Wechsel des Sieges und
werden ebendarin weiterhin die dem Willen wesentliche Entzweiung mit sich
selbst deutlicher erkennen. Jede Stufe der Objektivation des Willens macht der
andern die Materie, den Raum, die Zeit streitig. Beständig muß die beharrende
Materie die Form wechseln, indem am Leitfaden der Kausalität mechanische,
physische, chemische, organische Erscheinungen, sich gierig zum Hervortreten
drängen, einander die Materie entreißen, da jede ihre Idee offenbaren will.
Durch die gesamte Natur läßt sich dieser Streit verfolgen, ja sie besteht eben
wieder nur durch ihn.« (WWV:218)
Dieser Streit als Offenbarung der dem Willen wesentlichen Entzweiung wird
am deutlichsten in der Tierwelt sichtbar, die die Pflanzenwelt zur Nahrung hat
und in der jedes Tier Beute eines anderen werden kann – die Materie, in der
eine Idee sich darstellt, muss an eine andere Idee abgetreten werden
(WWV:218). Der ›Wille zum Leben‹ zehrt an sich selbst und ist ›in verschiedenen Gestalten seine eigene Nahrung‹ (WWV:218).
Im Tier entdeckt Schopenhauer den Willen zum Leben ›nackter‹ als im
Menschen, weil er hier von Erkenntnis ›überkleidet‹ wird und durch die Fähigkeit zur Vorstellung ›umhüllt‹ wird. Allerdings muss das Tier, um seiner Idee
nach erkannt zu werden, bereits in seinem Tun und Treiben beobachtet werden; das Tier ist also wesentlich weniger nackt als die Pflanze – hier zeigt sich
der Wille zum Leben als ›bloßer, blinder Drang zum Dasein ohne Zweck‹
(WWV:230).
Seite |
83
»[Die Pflanze] offenbart ihr ganzes Wesen dem ersten Blick und mit vollkommener Unschuld, die nicht darunter leidet, daß sie die Genitaliten, welche bei allen Tieren den verstecktesten Platz erhalten haben, auf ihrem Gipfel zur Schau
trägt. Diese Unschuld der Pflanze beruht auf ihrer Erkenntnislosigkeit: nicht im
Wollen, sondern im Wollen mit Erkenntnis liegt die Schuld. Jede Pflanze zählt
von ihrer Heimat, dem Klima derselben und der Natur des Bodens, dem sie entsprossen ist. Daher erkennt selbst der wenig Geübte leicht, ob eine exotische
Pflanze der tropischen oder der gemäßigten Zone angehöre und ob sie im Wasser, im Sumpfe, auf Bergen oder auf der Heide wachse. Außerdem aber spricht
jede Pflanze noch den speziellen Willen ihrer Gattung aus und sagt etwas, das
sich in keiner andern Sprache ausdrücken läßt.« (WWV:230f)
Der Wille zum Leben ist auf der Stufe des Menschen durch Erkenntnis umkleidet; während sich auf pflanzlichem Niveau ein dumpfer Drang objektiviert, ist
dies im Menschen eben durch Motive gebrochen – von der dreifachen Auffächerung der Kausalität war bereits die Rede (s.o.). Beim Menschen objektiviert
sich der Wille u.a. im Organ Gehirn, das nichts als eine Objektivation des Willens ist, d.i. eine besondere Strategie im Kampf um die Materie. Durch die Erkenntnis kann der Mensch Oberhand über die im untertänige Pflanzen- und
Tierwelt erlangen. Die Erkenntnis ist als Willensobjektivation nicht Selbstzweck
(s. Malter 1988:59).
»Der Wille, der bis hieher im Dunkeln höchst sicher und unfehlbar seinen Trieb
verfolgte, hat sich auf dieser Stufe ein Licht angezündet.« (WWV:223)
Wie sehr Schopenhauers Objektivationen des Willens und der Kampf um die
Materie an die Schöpfungsgeschichte im ersten Buch Mose erinnern, muss hier
nicht ausgeführt werden; selbst die Erkenntnis als spezifisches Kennzeichen des
Menschen, das ihn zum Bösen fähig macht, wird ausgesprochen. Schopenhauer
selbst erwähnt zeitweise die Verwandtschaft zur Bibel und zu anderen religiösen Schriften, obwohl er die Fixierung von religiösen Ideen durch Kirchen stets
ablehnt.
Als abschließende Bemerkung für besondere LiebhaberInnen von Begriffsableitungen: Wittgensteins Sprachauffassung geht ab von der Abstraktionstheorie hin zu der Auffassung, dass im Begriff nicht das Wesentliche der Entitäten ausgesprochen wird, das zu erfassen eine Ideenwelt oder dergleichen
postulieren hieße, sondern bloß bestimmte, lebensweltlich relevante Charakteristika herausgehoben und derart die Entitäten aufgrund von Familienähnlichkeiten einem Begriff zugeordnet werden. Der Begriff der ›Familienähnlichkeit‹
findet sich expressis verbis bei Schopenhauer, dessen Schriften, wie anfangs erwähnt, im Wien des fin-de-siècle bekannt sind – und wohl vom jungen Wittgenstein, einem Philosophiestudenten, eifrig gelesen werden. Schopenhauer
Seite |
84
bringt den Begriff ›Familienähnlichkeit‹ in Anschlag, um Analogien auszudrücken – darin Wittgenstein nicht völlig entfernt.
»[D]ie Erkenntnis der Einheit des Willens als Dinges an sich [gibt] in der unendlichen Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit der Erscheinungen allein den wahren Aufschluß über jene wundersame, unverkennbare Analogie aller Produktionen der Natur, jene Familienähnlichkeit, die sie als Variationen desselben nicht
mitgegebenen Themas betrachten läßt […].« (WWV:227f)
Lektüre der WWV: Kontemplation & Befreiung
Schopenhauer sieht im Willen etwas Negatives. Der Wille ist jene Macht, die
sich in der Welt objektiviert, die ein Jammertal ist. Für Schopenhauer ist »das
An-sich des Lebens, der Wille, das Dasein selbst, ein stetes Leiden und teils
jämmerlich, teils schrecklich« (WWV:372).
»Alles Wollen entspringt aus Bedürfnis, also aus Mangel, also aus Leiden. Diesem macht die Erfüllung ein Ende; jedoch gegen einen Wunsch, der erfüllt wird,
bleiben wenigstens zehn versagt: ferner, das Begehren dauert lange, die Forderungen gehen ins unendliche [sic]; die Erfüllung ist kurz und kärglich bemessen.
[…] Dauernde, nicht mehr weichende Befriedigung kann kein erlangtes Objekt
des Wollens geben: sondern es gleicht immer nur dem Almosen, das, dem Bettler zugeworfen, sein Leben heute fristet, um seine Qual auf Morgen zu verlängern.« (WWV:279)
Es gilt, aus diesem Jammertal auszubrechen; doch diesen Befreiungsschlag lässt
der Wille nicht zu. Einerseits ist das Individuum Subjekt der Erkenntnis und
damit in der Vorstellungswelt verfangen; andererseits ist das Individuum Subjekt des Wollens und derart in den Kampf der Objektivationen eingebunden.
Im dritten Buch nun zeigt Schopenhauer die Befreiung, die für ihn in der Erkenntnis liegt, wenngleich einer etwas anderen Erkenntnis als derjenigen, die
die Vorstellungswelt liefert. Daher der Untertitel des dritten Buches: ›Die Vorstellung, unabhängig vom Satze des Grundes: die Platonische Idee: Das Objekt
der Kunst.‹
»Die Befreiung gelingt nur, wenn das Weltgesetz, vermittels dessen der Wille in
Individuen zeitlich-räumlich und unter dem Kausalnexus zur Erscheinung
kommt, außer Kraft gesetzt wird. Solange der Wille mit dem Satz vom Grund
zusammengeht, steht auch das Erkennen, dessen Objektseite durch den Satz
vom Grund determiniert wird, im Dienst des Willens.« (Malter 1988:60)
Seite |
85
Das Erkennen, das Ausdruck des Willens ist und auf seiner Objektseite durch
den Satz vom Grund bestimmt wird, muss sich vom Willen lösen. Die Möglichkeit dieser Lösung liegt darin, indem man das Wollen und das Vorstellungsobjekt in seiner Satz-vom-Grunde-Bestimmtheit beiseitelässt und nur auf
das fokussiert, was übrig bleibt – das Subjekt des Erkennens.
»Das Subjekt des Erkennens will nicht, und es ist vom Satz des Grundes nicht
bestimmt. Schopenhauer redet daher von einer ›Veränderung‹, die im Subjekt
vor sich gehen müsse, wenn die Leidensexistenz überwunden werden soll.«
(Malter 1988:60)
Es gibt Phänomene innerhalb der durch den Satz vom Grund beherrschten
Willenswelt, die Zeichen für eine weltbefreiende Veränderung im Subjekt sind
– und diese Phänomene sind Kunstwerke. Sie gehen aus einem besonderen Akt
des Subjekts hervor – aus dem Akt der ›ästhetischen Kontemplation‹. In dieser
reißt sich das Subjekt von seiner Bezogenheit auf das einzelne Ding los, das ihm
in der Anschauung begegnet; durch die Vergessenheit der Einzelheit des Objekts durch das völlige Eintauchen in dasselbe tritt das Weltwesen in Form der
platonischen Idee hervor, und das Subjekt wird zum ›reinen, willenlosen,
schmerzlosen, zeitlosen Subjekt des Erkennens‹ (s. Malter 1988:61).
Diese Argumentation verdient eine genauere Betrachtung. Schopenhauer
benötigt eine Erkenntnis der Ideen, nicht der Vorstellungen. Das spricht er klar
im §33 aus:
»Da wir nun also als Individuen keine andere Erkenntnis haben, als die dem Satz
vom Grunde unterworfen ist, diese Form aber die Erkenntnis der Ideen ausschließt; so ist gewiß, daß, wenn es möglich ist, daß wir uns von der Erkenntnis
einzelner Dinge zu der der Ideen erheben, solches nur geschehn kann dadurch,
daß im Subjekt eine Veränderung vorgeht, welche jenem großen Wechsel der
ganzen Art des Objekts entsprechend und analog ist und vermöge welcher das
Subjekt, sofern es eine Idee erkennt, nicht mehr Individuum ist.« (WWV:254)
Die Erkenntnis der Idee löst das Individuum von seiner Individualität – das ist
der Plot von Schopenhauers Argumentationsstrategie. Das Subjekt löst sich
vom Dienst des Willens los und hört auf, ein bloß individuelles Subjekt zu sein,
wenn es sich in eine feste Kontemplation des dargebotenen Objekts begibt
(WWV:256). In dieser ›festen Kontemplation‹ verliert sich die Relation des
Subjekts zum Willen und wird zum reinen Subjekt der Erkenntnis. Schopenhauer fasst dies wie folgt in Worte:
»Wenn man, durch die Kraft des Geistes gehoben, die gewöhnliche Betrachtungsart der Dinge fahrenläßt, […] also nicht mehr das Wo, das Wann, das Warum und das Wozu an den Dingen betrachtet; sondern einzig und allein das
Seite |
86
Was; auch nicht das abstrakte Denken, die Begriffe der Vernunft, das Bewußtsein einnehmen läßt; sondern statt alles diesen die ganze Macht seines Geistes
der Anschauung hingibt, sich ganz in diese versenkt und das ganze Bewußtsein
ausfüllen läßt durch die ruhige Kontemplation des gerade gegenwärtigen natürlichen Gegenstandes […], sich gänzlich in diesen Gegenstand verliert, d.h. eben
sein Individuum, seinen Willen vergißt und nur noch als reines Subjekt, als klarer Spiegel des Objekts bestehen bleibt; so daß es ist, als ob der Gegenstand allein dawäre, ohne jemanden, der ihn wahrnimmt, und man also nicht mehr den
Anschauenden von der Anschauung trennen kann, sondern beide eines geworden sind, indem das ganze Bewußtsein von einem einzigen Bilde gänzlich gefüllt
und eingenommen ist; wenn also solchermaßen das Objekt aus aller Relation zu
etwas außer ihm, das Subjekt aus aller Relation zum Willen getreten ist; dann ist,
was also erkannt wird, nicht mehr das einzelne Ding als solches; sondern es ist
die Idee, die ewige Form, die unmittelbare Objektität des Willens auf dieser Stufe: und ebendadurch ist zugleich der in dieser Anschauung Begriffene nicht
mehr Individuum; denn das Individuum hat sich eben in solche Anschauung
verloren; sondern er ist reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der
Erkenntnis.« (WWV:257)
Das Korrelat des reines Subjekts der Erkenntnis ist die Idee, und beide sind aus
den Verstrickungen des Satzes vom Grunde herausgelöst (WWV:258). Diese
›tiefere Einsicht in das Wesen der Welt‹ (WWV:261), das sich durch und in der
Kontemplation darbietet, ist mitnichten in den Wissenschaften zu finden, die
für Schopenhauer den Relationen nachspürt; die tiefere Einsicht in das Wesen
der Welt liegt in der Kunst.
»Während die Wissenschaft, dem rast- und bestandlosen Strom vierfach gestalteter Gründe und Folgen nachgeht, bei jeden erreichten Ziel immer wieder weiterverwiesen wird und nie ein letztes Ziel […] finden kann […]; so ist dagegen die
Kunst überall am Ziel. Denn sie reißt dem Objekt ihrer Kontemplation heraus
aus dem Strome des Weltlaufs und hat es isoliert vor sich: und dieses Einzelne,
was in jenem Strom ein verschwinden kleiner Teil war, wird ihr ein Repräsentant des Ganzen […]: sie bleibt daher bei diesem Einzelnen stehn.« (WWV:265)
Die Kunst ist damit die ›Betrachtungsart der Dinge, unabhängig vom Satze des
Grundes‹ (WWV:265).
Diese Betrachtungsart ist nicht jedem möglich, schon gar nicht dem gewöhnlichen Menschen, den Schopenhauer abschätzig als ›Fabrikware der Natur, wie sie solche täglich zu Tausenden hervorbringt‹ (WWV:268) bezeichnet.
Nein, es braucht schon Genie, um als ›rein erkennendes Subjekt, als klares
Weltauge‹ (WWV:266) übrigzubleiben.
Seite |
87
»[D]urch die […] reine Kontemplation werden Ideen aufgefaßt, und das Wesen
des Genius besteht eben in der überwiegenden Fähigkeit zu solcher Kontemplation: da nun diese ein gänzliches Vergessen der eigenen Person und ihrer Beziehungen verlangt; so ist Genialität nichts anderes als die vollkommenste Objektivität, d.h. objektive Richtung des Geistes, entgegengesetzt der subjektiven, auf
die eigene Person, d.i. den Willen gehende. Demnach ist Genialität die Fähigkeit,
sich rein anschauend zu verhalten, sich in die Anschauung zu verlieren und die
Erkenntnis, welche ursprünglich nur zum Dienste des Willens daist, diesem
Dienste zu entziehen.« (WWV:266)
Dabei ist ein wesentlicher Bestandteil des Genius ›Phantasie‹ (WWV:267).
Dennoch muss Schopenhauer konzedieren, dass diese Fähigkeit allen Menschen innewohnt, wenngleich in unterschiedlichen Graden – ansonsten wäre
nicht erklärlich, wie diese sonst fähig sind, die Werke der Kunst zu genießen
(WWV:278). Aber der Geniale hat diese Fähigkeit in ausgezeichneterem Maße,
und wiederholt er seine Erkenntnisart, so ist das Kunstwerk geschaffen (WWV:
278).
»Der Künstler läßt uns durch seine Augen in die Welt blicken.« (WWV:278)
In der willenlosen Anschauung liegt für Schopenhauer Seligkeit (WWV:283).
Die subjektive Seite des ästhetischen Wohlgefallens ist der Eindruck des
Erhabenen (WWV:284). Das Gefühl des Erhabenen stellt sich ein, weil beim
Schönen das reine Erkennen ›ohne Kampf‹ die Oberhand gewinnt – man ist
über dem verlassenen Gegenstand im eigentlichen Sinn des Wortes erhaben
(WWV:287). Die Erhebung muss mit Bewusstsein nicht nur gewonnen, sondern auch erhalten werden, womit die Erinnerung an den Willen nicht völlig
verblasst ist. An einem netten Beispiel beschreibt das Schopenhauer wie folgt:
»Sehn wir nun im strengen Winter bei der allgemeinen Erstarrung der Natur die
Strahlen der niedrigstehenden Sonne von steinernen Massen zurückgeworfen,
wo sie erleuchten, ohne zu wärmen, also nur der reinsten Erkenntnisweise, nicht
dem Willen günstig sind; so versetzt die Betrachtung der schönen Wirkung des
Lichtes auf diese Massen uns wie alle Schönheit in den Zustand des reinen Erkennens, der jedoch hier durch die leise Erinnerung an den Mangel der Erwärmung durch ebenjene Strahlen, also des belebenden Prinzips schon ein gewissen
Erheben über das Interesse des Willens verlang.« (WWV:289)
Angesichts einer Gegend, die die Natur in stürmischer Bewegung zeigt, notiert
Schopenhauer:
»Unsere Abhängigkeit, unser Kampf mit der feindlichen Natur, unser darin gebrochener Wille tritt uns jetzt anschaulich vor Augen: solange aber nicht die
persönliche Bedrängnis die Oberhand gewinnt, sondern wir in ästhetischer Be-
Seite |
88
schauung bleiben, blickt durch jenen Kampf der Natur, durch jenes Bild des gebrochenen Willens das reine Subjekt des Erkennens durch und faßt ruhig, unerschüttert, nicht mitgetroffen (unconcerned) an eben den Gegenständen, welche
dem Willen drohend und furchtbar sind, die Ideen auf. In diesem Kontext eben
liegt das Gefühl des Erhabenen.« (WWV:291)
Schopenhauers Theorie des Erhabenen ist, wie so vieles, von der Kritik der Urteilskraft beeinflusst; diese Kritik ist Kants ästhetisches Hauptwerk, in dem u.a.
das Schöne und das Erhabene diskutiert werden; in beiden Punkten ist Schopenhauer Kantianer – allerdings einer, der etwas von Kunst versteht. Drei Zitate sollen diese Behauptung plausibel machen, wenngleich nicht erschöpfend erklären:
»Geschmack ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen, oder Mißfallen, o h n e a l l e s I n t e r e s s e .
Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt s c h ö n .« (Kant 1989:124)
»Schön ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt.« (Kant 1989:134)
»Schön ist das, was in der bloßen Beurteilung (also nicht vermittelst der Empfindung des Sinnes nach einem Begriffe des Verstandes) gefällt. Hieraus folgt von
selbst, daß es ohne alles Interesse gefallen muß. Erhaben ist das, was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt. […] Man
kann das Erhabene so beschreiben: es ist ein Gegenstand (der Natur), dessen
Vorstellung das Gemüt bestimmt, sich die Unerreichbarkeit der
Natur als Darstellung von Ideen zu denken.« (Kant 1989:193)
***
Für Schopenhauer variiert die Quelle des ästhetischen Genusses; sie oszilliert
zwischen der Auffassung der erkannten Idee und »der Seligkeit und Geistesruhe des von allem Wollen und dadurch von aller Individualität und der aus ihr
hervorgehenden Pein befreiten reinen Erkenntnis« (WWV:301).
Schopenhauer widmet mehrere Paragraphen der Diskussion einzelner
Kunstrichtungen; er fängt im §43 mit der Baukunst an, gefolgt von der Gartenkunst, der Tiermalerei und der Tierbildhauerei im §44, gefolgt von Historienmalerei und Skulptur (»Menschliche Schönheit ist ein objektiver Ausdruck,
welcher die vollkommenste Objektivität des Willens auf der höchsten Stufe seiner Erkennbarkeit bezeichnet, die Idee des Menschen überhaupt, vollständig
ausgedrückt in der angeschauten Form.« – WWV:311); daran schließt er Überlegungen zur Allegorie (§50), zur Poesie (§51) und gelangt schließlich zur Musik
(§52).
Die Musik ist für Schopenhauer eine ›so große und überaus herrliche
Kunst‹, die mächtig auf das Innerste des Menschen wirkt; diesem Wirken liegt
Seite |
89
eine ganz allgemeine Sprache zugrunde, deren Deutlichkeit ›sogar die der anschaulichen Welt selbst übertrifft‹; der Musik ist eine ›ernstere und tiefere, sich
auf das innerste Wesen der Welt beziehende Bedeutung‹ zu attestieren
(WWV:357). Die herausragende Stellung der Musik argumentiert Schopenhauer wie folgt:
»Die adäquate Objektivation des Willens sind die (Platonischen) Ideen; die Erkenntnis dieser durch Darstellung einzelner Dinge […] anzuregen […] ist der
Zweck aller anderen Künste. Sie alle objektivieren also den Willen nur mittelbar,
nämlich mittelst der Ideen: und da unsere Welt nichts anderes ist als die Erscheinung der Ideen in der Vielheit mittelst Eingang in das principium individuationis […]; so ist die Musik, da sie die Ideen übergeht, auch von der erscheinenden Welt ganz unabhängig, ignoriert sie schlechthin, könnte gewissermaßen,
auch wenn die Welt gar nicht wäre, doch bestehn: was von den andern Künsten
sich nicht so sagen läßt. Die Musik ist nämlich eine so unmittelbare Objektivation und ein Abbild des ganzen Willens, wie die Welt selbst es ist, ja wie die Ideen
es sind […]. Die Musik ist also keineswegs gleich den andern Künsten das Abbild
der Ideen; sondern Abbild des Willens selbst […]: deshalb eben ist die Wirkung
der Musik so sehr viel mächtiger und eindringlicher als die der andern Künste:
denn diese reden nur vom Schatten, sie aber vom Wesen.« (WWV:359)
Die Musik kündet den Willen selbst. Schopenhauer hört den Willen wie folgt:
»Ich erkenne in den tiefsten Tönen der Harmonie, im Grundbaß, die niedrigsten
Stufen der Objektivation des Willens wieder, die unorganische Natur, die Masse
des Planeten. Alle die hohen Töne, leicht beweglich und schneller verklingen,
sind bekanntlich anzusehn als entstanden durch die Nebenschwingungen des
tiefen Grundtones […]. Dieses ist nun dem analog, daß die gesamten Körper und
Organisationen der Natur angesehn werden müssen als entstanden durch die
stufenweise Entwickelung aus der Masse der Planeten. […] Die Tiefe hat eine
Grenze, über welche hinaus kein Ton mehr hörbar ist: dies entspricht dem, daß
keine Materie ohne Form und Qualität wahrnehmbar ist […]: also wie vom Ton
als solchem ein gewisser Grad der Höhe unzertrennlich ist, so von der Materie
ein gewisser Grad der Willensäußerung. […] Nun ferner in den gesamten die
Harmonie hervorbringenden Ripienstimmen, zwischen dem Basse und der leitenden, die Melodie singenden Stimme, erkenne ich die gesamte Stufenfolge der
Ideen wieder, in denen der Wille sich objektiviert.« (WWV:360)
Das Streben des Willens, das kurzzeitig von Befriedigung unterbrochen wird,
um weiterzustreben, findet sein musikalisches Pendant in der Melodie, deren
Wesen in der steten Abweichung, Abirren vom Grundton und dem Zurückkehren zum Grundton liegt (WWV:363). Die Erfindung der Musik bedarf naturgemäß eines besonderen Menschen:
Seite |
90
»Der Komponist offenbart das innerste Wesen der Welt und spricht die tiefste
Wahrheit aus, in einer Sprache, die seine Vernunft nicht versteht […]. Daher ist
in einem Komponisten mehr als in irgendeinem andern Künstler der Mensch
vom Künstler ganz getrennt und geschieden.« (WWV:363)
Die Musik drückt das innere Wesen, das An-sich der Erscheinungen, den Willen selbst aus. Sie drückt nicht diese Freude, diese Betrübnis oder diesen
Schmerz aus, »sondern die Freude, die Betrübnis, den Schmerz, das Entsetzen,
den Jubel, die Lustigkeit, die Gemütsruhe selbst« (WWV:364).
»[Ü]berall drückt die Musik nur die Quintessenz des Lebens und seiner Vorgänge aus, nie diese selbst. […] Gerade diese ihr ausschließlich eigene Allgemeinheit
bei genauester Bestimmtheit gibt ihr den hohen Wert, welchen sie als Panakeion
[Allheilmittel] aller unserer Leiden hat.« (WWV:365)
Folglich spricht Schopenhauer gleichermaßen von der Welt als ›verkörperte
Musik‹ und ›verkörpertem Willen‹ (WWV:366). Die Musik öffnet die Tore zu
einem fernen Paradies.
»Das unaussprechlich Innige aller Musik, vermöge dessen sie als ein so ganz vertrautes und doch ewig fernes Paradies an uns vorüberzieht, so ganz verständlich
und doch so unerklärlich ist, beruht darauf, daß sie alle Regungen unsers innersten Wesens wiedergibt, aber ganz ohne die Wirklichkeit und fern von ihrer
Qual.« (WWV:368)
Diese Passage macht die Verbindung von Kontemplation und Befreiung abschließend überdeutlich. Die Wandlung des Subjekts und die Fixierung des paradiesischen Befreiungserlebnisses lassen sich wie folgt abschließend zusammenfassen.
»Das mit dem Wollenssubjekt identische Erkenntnissubjekt kann sich, solange
diese Identität besteht – und das heißt in letzter Instanz: solange das Individuum
leibhaft lebt –, dem Drang des Wollens nicht entziehen. Das Wollen gewinnt
wieder die Herrschaft über das Bewußtsein, die Individualität meldet sich mit
mächtigem Anspruch auf Triebbefriedigung; im gleichen Zuge verhüllt das Netz
der Relationen die Objekte, und an die Stelle der Ideen treten die vielfach bestimmten vielen Einzelobjekte: Wille und Satz vom Grunde holen das in seine
Freiheit geflüchtete Subjekt des Erkennens wieder ein. Das Leben geht seinen
gewöhnlichen Leidensgang weiter.
Gänzlich aber muß das in der ästhetischen Kontemplation Erfahrene nicht untergehen. Es besteht die Möglichkeit, das (durch Vergessen der Satz-vomGrund-Determination) erschaute Wesen der Dinge auch unter den Bedingungen der inadäquaten Objektivität des Willens, der gewöhnlichen Welt, im nachhinein zu fixieren. Das Phänomen, welches innerhalb der durch Wille (Was) und
Satz vom Grund (Wie) bestimmten Welt die ästhetische Kontemplation fort-
Seite |
91
setzt und ihre vergängliche Schau fest bewahrt, ist die Kunst. Ihre Werke machen das Gefüge aus Wille und Satz vom Grund, den Stoff, durchsichtig für die
Idee – sie wiederholen die Idee im Stoff.« (Malter 1988:72)
Fünfte Vorlesung
Lektüre der WWV: Bejahung & Verneinung des Willens
Mit dem §53 fängt Schopenhauer das vierte und letzte Buch an, das er als das
›ernsteste‹ bezeichnet. Es geht hier, bei erreichter Selbsterkenntnis, um Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben; damit geht es zugleich um praktische Philosophie, wenngleich sie den theoretischen Boden nicht völlig verlassen wird (WWV:375) – der eine Gedanke wird also auf das Handeln des Menschen angewendet. Sollte diese Ankündigung es insinuieren, so wehrt Schopenhauer gleich ab – er wird keine Pflichtenlehre und kein Moralprinzip liefern
(WWV:376), denn der Wille ist nicht nur frei, »sondern sogar allmächtig: aus
ihm ist nicht nur sein Handeln, sondern auch seine Welt; und wie er ist, so erscheint sein Handeln, so erscheint seine Welt« (WWV:377). Der eine Gedanke
trägt auch hier:
»Die echte philosophische Betrachtungsweise der Welt, d.h. diejenige, welche
uns ihr inneres Wesen erkennen lehrt und so über die Erscheinungen hinausführt, ist gerade die, welche nicht nach dem Woher und Wohin und Warum,
sondern immer und überall nur nach dem Was der Welt frägt […].« (WWV:379)
In der Welt als Vorstellung begegnet sich der Wille quasi wie in einem Spiegel
und erkennt sich mit zunehmender Deutlichkeit – etwas unscharf beim Tier,
wesentlich präziser beim Menschen (WWV:379).
Der Wille, dieser ›dumpfe, blinde und unaufhaltsame Drang‹ (WWV:380)
will eines, nämlich das Leben, weil dieses »nichts weiter als die Darstellung jenes Wollens für die Vorstellung ist« (WWV:380). Statt ›Wille‹ lässt sich auch
sagen ›Wille zum Leben‹; beides ist synonym. Der Unterschied zwischen Ding
an sich und Vorstellung, zwischen Wille und Leben, führt zu einer interessanten Pointe: der Wille stirbt nicht, selbst wenn das Individuum stirbt.
»Dem Wille zum Leben ist also das Leben gewiß, und solange wir von Lebenswillen erfüllt sind, dürfen wir für unser Dasein nicht besorgt sein, auch nicht
beim Anblick des Todes. Wohl sehn wir da Individuum entstehn und vergehn:
aber das Individuum ist nur Erscheinung […]: für diese freilich empfängt es sein
Leben wie ein Geschenk, geht aus dem Nichts hervor, leidet dann durch den
Tod den Verlust jenes Geschenks und geht ins Nichts zurück. Aber wir wollen ja
eben das Leben philosophisch […] betrachten, und da werden wir finden, daß
Seite |
92
weder der Wille, das Ding an sich in allen Erscheinungen, noch das Subjekt des
Erkennens, der Zuschauer aller Erscheinungen, von Geburt und Tod irgend berührt werden. Geburt und Tod gehören eben zur Erscheinung des Willens, also
zum Leben, und es ist diesem wesentlich, sich in Individuen darzustellen, welche
entstehn und vergehn […].« (WWV:380)
Es ist sicherlich nicht Schopenhauers Absicht, mit diesen Worten Trost auszusprechen. Allerdings führt dieser Gedanke nicht unweit an die Unsterblichkeit
der Seele hin, wie sie in vielen Religionen bekannt ist und hier sehr wohl tröstlich sein soll – sowohl für den Sterbenden als auch für die Hinterbliebenen.
Doch der Ernst der Thematik des vierten Buches ist klargestellt.
Schopenhauer argumentiert gemäß der Idee, die er bereits in der Dissertation von 1813 formuliert hat, dass die Materie Substanz ist und als solche in der
Menge keiner Änderung fähig ist – die Substanz bleibt immer gleich, mögen
sich auch die erscheinenden Entitäten ändern; Substanz ist das beharrende
Moment. Ebenso gehören Zeugung und Tod zum Leben bei Konstant-Haltung
der Materie.
»[Das Leben] ist durch und durch nichts anderes als ein steter Wechsel der Materie unter festen Beharren der Form: und ebendas ist die Vergänglichkeit der
Individuen bei ihrer Unvergänglichkeit der Gattung.« (WWV:382)
Dem hängt Schopenhauer die ernstgemeinte, aber doch abstrus-witzig anmutende Bemerkung an:
»Die beständige Ernährung und Reproduktion ist nur dem Grade nach von der
Zeugung und die beständige Exkretion nur dem Grade nach vom Tode verschieden. […] Wie wir nun hiebei allezeit zufrieden sind, die Form zu erhalten,
ohne die abgeworfene Materie zu betrauern; so haben wir uns auf gleiche Weise
zu verhalten, wenn im Tode dasselbe in erhöhter Potenz und im ganzen geschieht, was täglich und stündlich im einzelnen bei der Exkretion vor sich geht
[…].« (WWV:383)
Den menschlichen Metabolismus bzw. den Stuhlgang mit dem Tod qualitativ,
wenngleich nicht quantitativ gleichzusetzen, ist gleichermaßen sonderlich wie
dem einen Gedanken entsprechend.
Wer handelt, will, und wer will, will das Leben: Darin liegt die Bejahung
des Willens. Bejahung des Willens heißt schlicht: leben wollen. Vor der Folie
der Bejahung des Willens, also vor der Folie des Leben-wollens stellt sich die
Angst vor dem Tod besonders bedrohlich dar. Denn im Tod geht das Individuum unter; Schmerz ist da schon fast ein Begleitphänomen.
»Was wir im Tode fürchten ist keineswegs der Schmerz: denn teils liegt dieser
offenbar diesseits des Todes; teils fliehn wir oft vor dem Schmerz zum Tode
Seite |
93
ebensowohl als wir auch umgekehrt bisweilen den entsetzlichsten Schmerz
übernehmen, um nur dem Tode, wiewohl er schnell und leicht wäre, noch eine
Weile zu entgehn. Wir unterscheiden also Schmerz und Tod als zwei ganz verschiedene Übel: was wir im Tode fürchten, ist in der Tat der Untergang des Individuums, und da das Individuum der Wille zum Leben selbst in einer einzelnen Objektivation ist, sträubt sich sein ganzes Wesen gegen den Tod.«
(WWV:391)
Der Wille als solcher entsteht und vergeht nicht; darin ist er nicht allein – das
Weltauge öffnet und schließt sich ebenso wenig (um das poetisch auszudrücken).
»[A]uch dem reinen Subjekt des Erkennens, dem ewigen Weltauge, kommt so
wenig ein Beharren als ein Vergehn zu, da dieses in der Zeit allein gültige Bestimmungen sind, jene aber außer der Zeit liegen.
Schopenhauer fasst die Bejahung und die Verneinung des Willens wie folgt:
»Der Wille bejaht sich selbst, besagt: indem in seiner Objektität, d.i. der Welt
und dem Leben, sein eigenes Wesen ihm als Vorstellung vollständig und deutlich gegeben wird, hemmt diese Erkenntnis sein Wollen keineswegs; sondern
ebendieses so erkannte Leben wird auch als solches von ihm gewollt, wie bis dahin ohne Erkenntnis als blinder Drang, so jetzt mit Erkenntnis, bewußt und besonnen. – Das Gegenteil hievon, die Verneinung des Willens zum Leben, zeigt
sich, wenn auf jene Erkenntnis das Wollen endet, indem sodann nicht mehr die
erkannten einzelnen Erscheinungen als Motive des Wollens wirken, sondern die
ganze durch Auffassung der Ideen erwachsene Erkenntnis des Wesens der Welt,
die den Willen spiegelt, zum Quietiv des Willens wird und so der Wille frei sich
selbst aufhebt.« (WWV:393)
Lektüre der WWV: Streben und Leiden
Im §56 wendet sich Schopenhauer der Bestimmung des Willens als Streben und
den daraus entspringenden Korollarien zu. Ein weiteres Mal betont Schopenhauer, dass der Wille auf allen Stufen seiner Erscheinung »eines letzten Zieles
und Zweckes ganz entbehrt, immer strebt, weil Streben sein alleiniges Wesen
ist« (WWV:423). Dieses Streben erfährt allerdings da und dort seine Hindernisse, und diese Hemmung ist nichts anderes als Leiden; das Streben erreicht auch
gesetzte Ziele (im Bereich der Objektivationen des Willens), und dann tritt Befriedigung ein (WWV:425). Doch den letztgenannten Zustand sieht Schopenhauer nur selten.
Seite |
94
»Das Streben sehn wir überall vielfach gehemmt, überall kämpfend; so lange also
immer als Leiden; kein letztes Ziel des Strebens, also kein Maß und Ziel des Leidens.« (WWV:425)
Weil im Menschen der Wille immer deutlicher hervortritt, tritt auf der Stufe
des Menschen auch das Leiden deutlich hervor (WWV:425). Diese Stufenfolge
des Leidens erklärt sich wie folgt:
»In der Pflanze ist noch keine Sensibilität, also kein Schmerz: ein gewiß sehr geringer Grad von Leiden wohnt den untersten Tieren […] ein: sogar in den Insekten ist die Fähigkeit zu empfinden und zu leiden noch beschränkt: erst mit dem
vollkommenen Nervensystem der Wirbeltiere tritt sie in hohem Grade ein, und
in immer höherem, je mehr die Intelligenz sich entwickelt. In gleichem Maße also, wie die Erkenntnis zur Deutlichkeit gelangt, das Bewußtsein sich steigert,
wächst auch die Qual, welche folglich ihren höchsten Grad im Menschen erreicht […].« (WWV:425)
Alles Leben ist Leiden – so bringt Schopenhauer den einen Gedanken an dieser
Stelle auf den Punkt (WWV:426).
Beim Menschen lässt sich auch feststellen, dass sein Wollen beizeiten auf
Objekte und Ziele gerichtet ist, die sehr leicht zu erreichen sind. Sind sie erreicht, ist die Befriedigung der Bedürfnisse auch schon wieder vorbei, und eine
›furchtbare Leere und Langeweile‹ befällt den Menschen. Schopenhauer sieht
den Menschen zwischen den beiden Polen Leid und Langeweile hin und her
pendeln.
»Sein Leben schwingt also gleich einem Pendel hin und her zwischen dem
Schmerz und der Langeweile.« (WWV:428)
»[Es ist] sehr bemerkenswert, daß einerseits die Leiden und Qualen des Lebens
leicht so anwachsen können, daß selbst der Tod […] wünschenswert wird […];
und andererseits wieder, daß, sobald Not und Leiden dem Menschen eine Rast
vergönnen, die Langeweile gleich so nahe ist, daß er des Zeitvertreibes notwendig bedarf.« (WWV:429)
Der menschliche Leib ist der objektivierte Wille zum Leben, ja die vollkommenste Objektivation des Willens. Damit ist der Mensch zugleich das bedürftigste unter allen Wesen – er ist ›konkretes Wollen und Bedürfen durch und
durch, ist ein Konkretem von tausend Bedürfnissen‹ (WWV:428).
Die Befriedigung der Wünsche ist nur ein scheinbares Quietiv, denn mit
der Erreichung des Ziels bricht schon der nächste Wunsch auf und bestätigt
einmal mehr, dass Leben Leiden ist – der Wunsch ist daher seiner Natur nach
Schmerz (WWV:430). Was am meisten Befriedigung verspricht, sind intellektuelle Genüsse, doch die sind ›dem bei weitem größten Teile der Menschen‹
Seite |
95
nicht zugänglich (WWV:431) – dass Schopenhauer von seinen Mitmenschen
nicht unbedingt das Beste denkt, darauf habe ich bereits verwiesen; diese Misanthropologie spricht Schopenhauer auch in der folgenden Passage aus:
»Es ist wirklich unglaublich, wie nichtssagend und bedeutungsleer, von außen
gesehn, und wie dumpf und besinnungsleer, von innen empfunden, das Leben
der allermeisten Menschen dahinfließt. Es ist ein mattes Sehnen und Quälen, ein
träumerisches Taumeln durch die vier Lebensalter hindurch zum Tode, unter
Begleitung einer Reihe trivialer Gedanken.« (WWV:441)
Das Glück entpuppt sich niemals als schlussendliche Befriedigung; es ist nur ein
kurzzeitiges Überpinsel des unmittelbar gegebenen Mangels bzw. Leidens. Man
kann die Sache drehen und wenden, wie man will – »[d]ie unaufhörlichen Bemühungen, das Leiden zu verbannen, leisten nichts weiter, als daß es seine Gestalt verändert« (WWV:432).
»Aber was auch Natur, was auch das Glück getan haben mag; wer man auch sei
und was man auch besitze; der dem Leben wesentliche Schmerz läßt sich nicht
abwälzen.« (WWV:431)
Die elementaren Grundzüge des Menschlebens liegen ergo darin, dass dieses
der ›ganzen Anlage nach keiner wahren Glückseligkeit fähig‹ ist (WWV:443).
Diese Betrachtung ist ›niederschlagend‹ (WWV:432). Und der Optimismus erscheint Schopenhauer »als eine wahrhaft ruchlose Denkungsart […], als ein bitterer Hohn über die namenlosen Leiden der Menschheit« (WWV:447).
Lektüre der WWV: Bejahung und Sexualität
Die Erkenntnis steht im Dienste des Willens – und das gilt in besonderem Maße von der Sexualität, »die als überindividuelle Macht das Individuum zappeln
lässt« (Safranski 2010:338). Obwohl die WWV der Sexualität nur wenige Seiten
widmet, legt Schopenhauer hier die Wurzel für seine späteren, umfangreichen
Studien zur Sexualität in den Parerga und Paralipomena, wo er den sexuellen
Antrieben »in entlegeneren Lebensbereichen, wo man sie nicht vermuten würde« (Safranski 2010:338), nachspürt (womit Schopenhauer Nietzsche und
Freud vorarbeitet).
»Die Bejahung des Willens ist das von keiner Erkenntnis gestörte beständige
Wollen selbst, wie es das Leben des Menschen im allgemeinen ausfüllt. Da schon
der Leib des Menschen die Objektität des Willens, wie er auf dieser Stufe und in
diesem Individuo erscheint, ist; so ist sein in der Zeit sich entwickelndes Wollen
gleichsam die Paraphrase des Leibes, die Erläuterung der Bedeutung des Ganzen
Seite |
96
und seiner Teile, ist eine andere Darstellungsweise desselben Dinges an sich,
dessen Erscheinung auch schon der Leib ist. Daher können wir statt Bejahung
des Willens auch Bejahung des Leibes sagen.«(WWV:447f)
Der Mensch ist von Anfang an wollend (nur so tritt er in den Fokus der Selbsterkenntnis); die Erkenntnis sieht Schopenhauer ›in der Regel‹ in dieser Beziehung zum Willen verharren – der Mensch sucht die Objekte seines Wollens
und prüft die Mittel, die zu deren Erreichung notwendig sind. Die Erkenntnis
steht also ganz unter dem Primat des Wollens.
»So ist das Leben fast aller Menschen: sie wollen, wissen, was sie wollen, streben
danach mit so vielem Gelingen, als sie vor Verzweiflung, und so vielem Mißlingen, als sie vor Langerweile und deren Folgen schützt. Daraus geht eine gewisse
Heiterkeit, wenigstens Gelassenheit hervor […]. Sie treibt vorwärts, mit vielem
Ernst, ja mit wichtiger Miene: so treiben auch die Kinder ihr Spiel.« (WWV:449)
Der Mensch bejaht den Willen nicht nur in der Erhaltung seines Leibes, sondern erhält seinen Leib auch über seine je individuelle Existenz hinaus – Schopenhauer ist beim ›Geschlechtstrieb‹ gelandet. In dessen Befriedigung liegt die
Bejahung des Lebens ›über den Tod des Individuums in eine unbestimmte Zeit‹
(WWV:449) hinaus. Im Sexualakt darf folglich die ›entschiedenste Bejahung
des Willens zum Leben‹ gesehen werden, und diese Bejahung fällt ›rein und
ohne weiteren Zusatz‹ aus (WWV: 449).
Die Bestätigung dafür, dass der Geschlechtstrieb die stärkste Bejahung des
Lebens ist, liegt auch darin, dass er für Mensch und Tier ›der letzte Zweck, das
höchste Ziel‹ (WWV:451) ist. Schopenhauer antizipiert moderne biologische
Paradigmen, wenn er notiert:
»Selbsterhaltung ist [des Menschen] erstes Streben, und sobald er für diese gesorgt hat, strebt er nur nach Fortpflanzung des Geschlechts: mehr kann er als
bloß natürliches Wesen nicht anstreben.« (WWV:451)
Schopenhauer hat ja bereits im zweiten Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung die Genitalien als Objektivation des Willens hinsichtlich des Geschlechtstriebes bestimmt. Hier nun, im vierten Buch, entdeckt Schopenhauer
in den Genitalien den ›eigentlichen Brennpunkt‹ (WWV:452) des Willens, der
dem Erkenntnisstreben am entferntesten ist; im Gegensatz zum Gehirn, wo
sich er Wille hinsichtlich seiner Erkenntnisfunktion objektiviert.
»Die Genitalien sind viel mehr als irgendein anderes äußeres Glied des Leibes
bloß dem Willen und gar nicht der Erkenntnis unterworfen: ja der Wille zeigt
sich hier fast so unabhängig von der Erkenntnis wie in den auf Anlaß bloßer Reize, dem vegetativen Leben, der Reproduktion dienenden Teilen, in welchen der
Wille blind wirkt wie in der erkenntnislosen Natur.« (WWV:452)
Seite |
97
Die Sexualität ist für Schopenhauer das Modell des als quälend empfundenen
Willensgeschehens; im Sexualakt – in der Be-Gattung – wird der Mensch zum
Gattungswesen, geht also seiner Individualität verlustig; und der Mensch hat
dabei das Pech, dass ihm dies bewusst wird. Der Mensch erfährt, wie gleichgültig er als Individuum der Natur ist, und das erzeugt Qualen (s. Safranski
2010:338f).
Schopenhauers Sicht der Sexualität dürfte auf Jean-Paul Sartre gewirkt
haben; dieser notiert in Das Sein und das Nichts:
»Der Mensch, sagt man, sei ein geschlechtliches Wesen, weil er ein Geschlecht
besitzt. Und wenn es umgekehrt wäre? Wenn das Geschlecht nur das Instrument und gleichsam das Bild einer fundamentalen Sexualität wäre? Wenn der
Mensch ein Geschlecht nur besäße, weil er ursprünglich und fundamental ein
geschlechtliches Wesen ist als Wesen, das in der Welt in Verbindung mit anderen Menschen existiert?« (Sartre 1994:671)
In Sartres Überlegungen zur Obszönität klingt Schopenhauer schwach nach,
und zwar der Schopenhauer, der viel Wert auf die Individualität des Menschen
legt. Sartre bestimmt Anmut als »das objektive Bild eines Seins, das Grund seiner selbst, um zu…« (Sartre 1994:699) ist; das Individuum ist dann anmutig,
wenn es sich durch und durch bestimmt zu sein, der/die es sein will.
»Bei der Anmut ist der Körper das Instrument, das die Freiheit manifestiert.«
(Sartre 1994:699)
Wo diese individuelle Determination fehlt, tritt das Obszöne auf. Wo der Körper von der determinierten Bewegung zum wabbelnden Fleisch wird, realisiert
sich das Obszöne.
»Das Obszöne erscheint, wenn der Körper Stellungen einnimmt, die ihn seiner
Akte völlig entkleiden und die Inertheit seines Fleisches enthüllen. Der Anblick
eines nackten Körpers von hinten ist nicht obszön. Aber ein gewisses unwillkürliches Wabbeln des Pos ist obszön.« (Sartre 1994:701)
Verliert eine Körperpartie ihre individuelle Bestimmtheit, trägt sie zur Handlung nichts mehr bei, dann gibt ihre Bewegung keine Auskunft über die Intention des Individuums und jener Körperteil verfällt der Obszönität. Dabei ist
Sartre nicht zimperlich und subsumiert unter das ›Wabbeln‹ jede Form des
Übergewichts.
Seite |
98
Lektüre der WWV: Quietiv des Willens
Das Ziel von Die Welt als Wille und Vorstellung ist das ›große Nein‹ (Safranski
2010:347), das Schopenhauer dem Willen entgegnet. Wie die Willensverneinung allerdings möglich sein soll, angesichts der nicht zu leugnenden Macht
des Willens über den Menschen, ist nicht auf den ersten Blick zu erfassen –
auch nach der Bekanntschaft mit den Möglichkeiten, die die Kunst aufgezeigt
hat. Die Verneinung des Willens ist ein Geschehen des Willens selbst, denn die
radikale Immanenz der Willensmetaphysik verbietet es Schopenhauer, eine höhere Macht eingreifen zu lassen, die dem Menschen die Verneinung ermöglicht
(s. Safranski 2010:348).
»Schopenhauer wird die Verneinung des Willens primär nicht als Erkenntnisgeschehen, sondern als Seinsgeschehen begreiflich machen müssen. Weil Wille alles ist, wird der Wille nicht von etwas anderem als er selbst verneint werden
können. Für den Metaphysiker des Willens kann die Verneinung des Willens
nur als Selbstaufhebung des Willens denkbar.« (Safranski 2010:348)
(Es sei erwähnt, dass Safranski nicht nur hier Schopenhauers Denken in jenen
Begriffen fasst, die Dieter Henrich auf Hegel angewandt hat. Safranski schlägt
also implizit vor, Schopenhauer in den Bahnen des deutschen Idealismus zu
verstehen, was zwar Schopenhauers Selbstverständnis, nicht aber den Tatsachen widerspricht.)
Das Verständnis der Mystik der Willensverneinung bereitet Schopenhauer mit der Theorie des Mitleids vor (s. Safranski 2010:349). Das Mitleid ist
weniger eine moralische Forderung, als vielmehr eine Erfahrung, die gelegentlich aufblitzt – »die Erfahrung nämlich, daß alles außer mir ebenso Wille ist
und alle Schmerzen und alle Qual ebenso leidet wie ich selbst« (Safranski
2010:349).
»Wenn uns nun aber als eine seltene Ausnahme ein Mensch vorkommt, der etwan ein beträchtliches Einkommen besitzt, von diesem aber nur wenig für sich
benutzt und alles übrige den Notleidenden gibt, während er selbst viele Genüsse
und Annehmlichkeiten entbehrt, und wir das Tun dieses Menschen uns zu verdeutlichen suchen; so werden wir […] als den einfachsten allgemeinen Ausdruck
und als den wesentlichen Charakter seiner Handlungsweise finden, daß er weni-
ger, als sonst geschieht, einen Unterschied macht zwischen sich und den anderen.« (WWV:506)
In diesem ›weniger-Unterschied-machen‹ liegt begründet, dass das principium
individuationis nicht länger seine volle Macht über den Menschen ausübt – der
Mitleidende, den Schopenhauer den ›Edlen‹ (WWV:507) nennt, befängt nicht
länger die Vereinzelung, sondern das Leiden, das er an anderen sieht, das ihm
Seite |
99
aber so nah geht, als litte er selbst. Darin ereignet sich die Erkenntnis des Willens, der ich selbst bin, auch im anderen.
»[Der Edle] erkennt unmittelbar und ohne Schlüsse, daß das An-sich seiner eigenen Erscheinung auch das der fremden ist, nämlich jener Wille zum Leben,
welcher das Wesen jeglichen Dinges ausmacht und in allem lebt; ja daß dieses
sich sogar auf die Tiere und die ganze Natur erstreckt: daher wird er auch kein
Tier quälen.« (WWV:507)
Es ist nicht unbedeutend zu bemerken, dass Schopenhauer im obigen Zitat von
einer ›unmittelbaren‹ Erkenntnis spricht, die ›ohne Schlüsse‹ aufblitzt. In dieser
Unmittelbarkeit liegt die Selbsterfahrung des Willens, nicht eine langwierig
durch das Denken vermittelte Überlegung. Es ist kein abstrakter Schluss, sondern der Wille erfährt sich selbst in den anderen Entitäten waltend.
Der, der Mitleid empfindet, wird die ›Werke der Liebe‹ tun; ihm ist der
Schleier der Maja durchsichtig geworden:
»[J]enem, der die Werke der Liebe übt, ist der Schleier der Maja durchsichtig
geworden, und die Täuschung des principii individuationis hat ihn verlassen.
Sich, sein Selbst, seinen Willen erkennt er in jedem Wesen, folglich auch in dem
Leidenden. Die Verkehrtheit ist von ihm gewichen, mit welcher der Wille zum
Leben, sich selbst verkennend, hier in einem Individuo flüchtige, gauklerische
Wollüste genießt, und dafür dort in einem andern leidet und darbt und so Qual
verhängt und Qual duldet, nicht erkennend, daß er wie Thyestes sein eigenes
Fleisch gierig verzehrt und dann hier jammert über unverschuldetes Leid und
dort frevelt ohne Scheu vor Nemesis […].« (WWV:507f)
In der uneigennützigen Liebe gegen andere wird dem Menschen der andere
gleichwertig, womit das principium individuationis partiell außer Kraft gesetzt
wird; diese reine Liebe ist ihrer Natur nach Mitleid (WWV:511). Aus derselben
Quelle nun, aus der Güte, Liebe, Tugend und Edelmut entspringen, geht auch
dasjenige hervor, »was ich die Verneinung des Willens zum Leben nenne«
(WWV:514).
Safranski (2010:351) weist darauf hin, dass Schopenhauer auf die christliche Terminologie der ›Gnadenwahl‹ zurückgreift, um das Mysterium der Verneinung nicht als Resultat einer Entschiedenheit, sondern als Widerfahrnis zu
denken ist. Dies bemerkt man bereits, wenn Schopenhauer das ›Quietiv alles
und jedes Wollens‹ das erste Mal thematisiert:
»Der Wille wendet sich nunmehr vom Leben ab; ihn schaudert jetzt vor dessen
Genüssen, in denen er die Bejahung desselben erkennt. Der Mensch gelangt zum
Zustande der freiwilligen Entsagung, der Resignation, der wahren Gelassenheit
und gänzlichen Willenlosigkeit.« (WWV:515)
S e i t e |100
Welche Rolle dabei die Erkenntnis spielt, ist durchaus widersprüchlich (s. Safranski 2010:351): Einerseits bezeichnet es Schopenhauer immer wieder als Erkenntnis, die den Schleier der Maja lüftet; andererseits ist es der Wille selbst,
der sich vom Leben abwendet. Dem obigen Zitat gehen die Wort voran, dass es
die ›Erkenntnis des Ganzen, des Wesens der Dinge an sich‹ ist, die zum Quietiv
alles und jedes Wollen werden (WWV:515).
»Vergleichen wir das Leben mit einer Kreisbahn aus glühenden Kohlen mit einigen kühlen Stellen […]; so tröstet den im Wahn Befangenen die kühle Stelle, auf
der er jetzt eben steht oder die er nahe vor sich sieht, und er fährt fort, die Bahn
zu durchlaufen. Jener aber, der, das principium individuationis durchschauend,
das Wesen der Dinge an sich und dadurch das Ganze erkennt, ist solchen Trostes nicht mehr empfänglich: er sieht sich an allen Stellen zugleich und tritt heraus. – Sein Wille wendet sich, bejaht nicht mehr sein eigenes sich in der Erscheinung spiegelndes Wesen, sondern verneint es.« (WWV:516)
***
Die Verneinung des Willens zeigt sich im Übergang von der Tugend zur Askese. Es ist für den Edlen nicht länger ausreichend, die anderen rein zu lieben und
für sie so viel zu tun wie für sich selbst; nein, es entsteht eine Abscheu vor dem
Wesen, dessen Erscheinung er ist, also eine Abscheu vor dem Willen zum Leben (WWV:516).
»Sein Leib, gesund und stark, spricht durch Genitalien den Geschlechtstrieb aus,
aber er verneint den Willen und straft den Leib Lügen: er will keine Geschlechtsbefriedigung, unter keiner Bedingung. Freiwillig vollkommene Keuschheit ist der erste Schritt zur Askese oder der Verneinung des Willens zu Leben.«
(WWV:517)
Im Geschlechtstrieb ist der Wille zum Leben in besonderem Maße zum Ausdruck gekommen, weil es hier nicht nur um das Individuum geht, sondern auch
um dessen Nachkommen, mithin um das Bestehen der Gattung. So ist der erste
asketische Schritt, die freiwillig Keuschheit, nicht nur eine Verneinung des Willens zum Leben auf individueller Basis, sondern auf Gattungsebene.
Die Askese zeigt sich dann in ›freiwilliger und absichtlicher‹ Armut; sie
entsteht nicht, weil der Reichtum weggegeben wird, um das Leid anderer zu
mildern, sondern um ihrer selbst; sie ist sich Zweck an sich (WWV:518). Diese
beiden Schritte der Askese findet Schopenhauer sowohl bei christlichen Heiligen als auch bei den Heiligen, wie sie in den Werken der Sanskritsprache geschildert werden (WWV:518ff).
»In der Ethik der Hindus […] auf das mannigfaltigste und kräftigste ausgesprochen finden in den Veden, Puranas, Dichterwerken, Mythe, Legenden ihrer Hei-
S e i t e |101
ligen, Denksprüche und Lebensregeln, sehn wir vorgeschrieben: Liebe des
Nächsten mit völliger Verleugnung aller Selbstliebe; die Liebe überhaupt nicht
auf das Menschengeschlecht beschränkt, sondern alles Lebende umfassend;
Wohltätigkeit bis zum Weggeben des täglich sauer Erworbenen; grenzlose Geduld gegen alle Beleidiger; Vergeltung alles Bösen, so arg es auch sein mag, mit
Gutem und Liebe; freiwillige und freudige Erduldung jeder Schmach; Enthaltung
aller tierischen Nahrung; völlig Keuschheit und Entsagung aller Wollust für den,
welcher eigentliche Heiligkeit anstrebt; Wegwerfung alles Eigentums, Verlassung
jedes Wohnorts, aller Angehörigen, tiefe gänzliche Einsamkeit, zugebracht in
stillschweigender Betrachtung, mit freiwilliger Buße und schrecklicher, langsamer Selbstpeinigung zur gänzlichen Mortifikation des Willens, welche zuletzt bis
zum freiwilligen Tode geht durch Hunger, auch durch Entgegengehen den Krokodilen, durch Herabstürzen vom geheiligten Felsengipfel des Himalaja, durch
lebendig Begrabenwerden […].« (WWV:527)
Eine ähnliche Liste von asketischen Selbstkasteiungen schlägt Schopenhauer
implizit den gegenwärtigen Willens-Verneinern vor, wobei Schopenhauer den
Selbstmord explizit ausnimmt. Schopenhauer empfiehlt niemandem, einem
Krokodil entgegenzuwaten und derart den sicheren Tod findet. Für Schopenhauer ist der Selbstmord »ein Phänomen starker Bejahung des Willens«
(WWV:541). Die Verneinung des Willens »hat ihr Wesen nicht darin, daß man
die Leiden, sondern daß man die Genüssen des Lebens verabscheut«
(WWV:541). Daher ist der aus Askese gewählte Hungertod für Schopenhauer
durchaus in Ordnung (WWV:544).
Der Preis dafür, so Schopenhauer, sind unerschütterlicher Friede, tiefe
Ruhe und innige Heiterkeit.
»[D]er, in welchem die Verneinung des Willens zum Leben aufgegangen ist, so
arm, freudlos und voll Entbehrung sein Zustand von außen gesehn auch ist, [ist]
voll innerer Freudigkeit und wahrer Himmelsruhe. Es ist nicht mehr der unruhige Lebensdrang, die jubelnde Freude, welche heftiges Leiden zur vorhergegangenen oder nachfolgenden Bedingung hat […]; sondern es ist ein unerschütterlicher Friede, eine tiefe Ruhe und innige Heiterkeit, ein Zustand, zu dem wir,
wenn er uns vor die Augen oder die Einbildungskraft gebracht wird, nicht ohne
die größte Sehnsucht blicken können […].« (WWV:530)
»Wahres Heil, Erlösung vom Leben und Leiden ist ohne gänzliche Verneinung
des Willens nicht zu denken. Bis dahin ist jeder nichts anderes als dieser Wille
selbst […].« (WWV:540)
Es gibt drei Lebensstrategien, die zum Heil führen: (i) die von strenger Askese
begleitete mystische Versenkung, (ii) die philosophische Kontemplation und
S e i t e |102
(iii) die Begegnung mit dem Schönen und Erhabenen in Kunst und Natur; die
Askese preist Schopenhauer aber am höchsten (s. Birnbacher 2009:108).
Schopenhauer schließt Die Welt und Wille als Vorstellung mit den Worten:
»Wir bekennen es vielmehr frei: was nach gänzlicher Aufhebung der Willens übrigbleibt, ist für alle die, welche noch des Willens voll sind, allerdings nicht. Aber
auch umgekehrt ist denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat,
diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen –
nichts.« (WWV:558)
Safranski (2010:352) hält mit spitzer Feder gegen Schopenhauer fest, dass dieser
bei der ›Verneinungsekstase‹, der die letzten Paragrafen der WWV gewidmet
sind, Zaungast bleibt. Schopenhauer ist weder Heiliger noch Asket, der Umgang mit schönen Frauen, das gemütliche, sukkulente Essen und auch Geiz sind
ihm durchaus eigen.
»Leben ›als ob‹ und Verneinen ›als ob‹: In dieser Balance hält sich der ganz
unasketische, ganz unheilige Schopenhauer. Bevor der gefräßige Arthur sein
opulentes Mittagsmahl im Gasthaus verzehrt, spielt er eine Stunde lang auf der
Flöte: die ›Himmelsmusik‹ Rossinis. Das ›bessere Bewußtsein‹ Schopenhauers
kennt nur die befristete Ekstase. Die Heiligkeit oder andere Dauerekstasen hält
er sich vom Leibe.« (Safranski 2010:353)
***
Birnbacher (2009:104) stellt die Frage, ob man Schopenhauers pessimistische
Diagnose der aufs äußerte begrenzten Glücksmomente zustimmen kann.
Wenngleich sich einige psychologische Momente in Schopenhauers Analysen
durchaus aus der Sicht der modernen Psychologie und Soziologie bestätigen
lassen, ist Schopenhauers durchweg negative Bewertung des unerfüllten Wollens ›fragwürdig‹. Dem sei entgegenzuhalten:
»[Schopenhauer] scheint vorauszusetzen, dass nicht nur unsere Wünsche, sondern auch unsere Strebungen so weit über die real verfügbaren Befriedigungsmöglichkeiten hinausschießen, dass sie überwiegend enttäuscht werden. Die
meisten Menschen leiden aber weniger an der Unerfülltheit oder Unerfüllbarkeit
ihrer Wünsche als an den vergeblichen Versuchen, ihre zur Verwirklichung ausgewählten Wünsche aktiv zu realisieren. […] Außerdem ist es keinem zu wünschen, dass allzu viele oder sämtliche seiner Wünsche erfüllt werden: Ein Horizont der Unerfülltheit scheint eine wesentliche Voraussetzung des Glücks zu
sein. […] Es gibt auch ›selige Sehnsucht‹.« (Birnbacher 2009:105)
S e i t e |103
Ob man dieser Gegendiagnose nun zustimmen mag oder nicht – fest steht,
dass nicht jeder Zustand der Unbefriedigtheit als Leid gelten kann. Es gilt auch
nicht die Vorfreude vor der Erfüllung eines Wunsches außer Acht zu lassen.
Schopenhauers Alternative zum Leiden ist allerdings mehr als nur zweifelhaft. Der Quietiv des Wollens zielt auf die Schwächung, ja auf die Abtötung
der Leidenschaften und der mit ihnen einhergehenden Wünsche und Strebungen – und das widerspricht wohl der Grundidee, die wir von unseren Mitmenschen haben.
»Was Schopenhauer pompös ›Willensverneinung‹ nennt, ist bei Licht besehen
keineswegs eine Schwächung oder Abtötung sämtlicher Formen des ›Willens‹ –
also aller emotional getönten psychischen Phänomene. Sie richtet sich vielmehr
auf die heftigen, mit Unruhe und Erregtheit einhergehenden Strebungen und
Zustände, die Leidenschaften und Affekte. ›Willensverneinung‹ ist bei Schopenhauer insofern das Pendant zu Epikurs Ataraxie, dem Zustand, in dem die Seele
nicht mehr durch heftige Affekte und Begierden erschüttert wird, und nicht das
Gegenstück zur Apathie der Stoiker, dem Zustand völligen Verschwindens von
Befühlen und gefühlsgetönten Befindlichkeiten.« (Birnbacher 2009:106)
Schopenhauer ist also nicht immer wörtlich zu nehmen; er wettert im Grund
gegen die mit heftiger Erregtheit verbundenen Affekte, die durch ruhigere Gestimmtheiten abgelöst werden sollen (s. Birnbacher 2009:107). Schopenhauer
dürfte nicht für eine Zustand der Abstumpfung und Unlebendigkeit, sondern
für Gelassenheit plädieren.
»Die pessimistische Beurteilung der menschlichen Existenz und der Existenz im
ganzen steht im Dienst des Denkens, das dort, wo es dem Pessimismus Raum
gibt, schon umgeschlagen ist in das Bewußtsein der Erfüllung, die sich von dem
Leben, das durch den Pessimismus kritisiert und in Frage gestellt wird, nicht
mehr versteht, sondern nur noch in der Abwendung von ihm vollziehen läßt.
Pessimismus ist die Haltung, die der Weltentsagende gegenüber der Welt einnimmt. Die Negativität dieser Haltung ist daher nicht mehr ihr primäres Kennzeichen; was sie freilich positiv ausmacht, entzieht sich der Kenntnis der noch
Weltzugewandten. Ihre Chance besteht nach Schopenhauer allein darin, so zu
werden wie der, dem die Weltzugehörigkeit bloß noch Gegenstand der Kritik
ist.«(Malter 1988:115)
Individueller Charakter und kolossaler Egoismus
Im Jahr 1837 nimmt sich Schopenhauer des Problems der Freiheit an. 1837
stößt er auf die in der Hallischen Literaturzeitung ausgeschriebene Preisfrage
S e i t e |104
der Königlich-Norwegischen Gesellschaft der Wissenschaft zur Drontheim, die
lautet: ›Lässt sich die Freiheit des menschlichen Willens aus dem Selbstbewusstsein beweisen?‹ Bevor Schopenhauer noch seine Schrift fertig gestellt hat,
erfährt er von einem weiteren Ausschreiben; die Königlich Dänische Societät
der Wissenschaft will wissen: ›Ist die Quelle der Grundlage der Moral in einer
unmittelbar im Bewusstsein (oder Gewissen) liegenden Idee der Moralität und
ihrer Analyse zu suchen?‹ Schopenhauer arbeitet fleißig und schickt die erste
Schrift Ende 1838 ab; er erhält im Jänner 1839 den ersten Preis, worüber er sich
›wie ein Kind‹ freut. Die Antwort auf die zweite Preisfrage schickt er im Frühsommer 1839 ab, siegessicher; doch diese Schrift wird nicht mit einem Preis gekrönt, obgleich sie die einzig Schrift ist, die auf das Ausschreiben hin eingegangen ist. Der empörte Schopenhauer lässt die beiden Abhandlungen unter dem
Gesamttitel Die beiden Grundprobleme der Ethik, behandelt in zwei Akademischen Preisschriften 1841 bei einer kleinen Frankfurter Verlagsbuchhandlung
erscheinen – und vergisst dabei weder zu erwähnen, dass die erste Preisschrift
Über die Freiheit des Willens gekrönt ist, noch, dass die zweite Preisschrift
Über die Grundlage der Moral nicht gekrönt ist (s. Safranski 2010:465ff).
Beide Schriften gelten als ›Ergänzungsschriften‹ (s. Malter 1988:116) zu
Die Welt als Wille und Vorstellung – Schopenhauer entwickelt hier nicht einen
neuen Ansatz der Freiheitsproblematik und der Ethik, sondern führt seine Gedanken systematisch unter dem Gesichtspunkt der leitenden Fragestellung zusammen. Beide Schriften setzen die Kenntnis des Hauptwerks voraus und
zeichnen die Hauptthesen getreu nach.
Man ist nicht erstaunt, wenn Schopenhauer das Selbstbewusstsein als die
Erkenntnis seiner selbst als Wollenden definiert (GE:529), wenn er die Gerichtetheit des Willens auf äußere Gegenstände hervorhebt und dies als Motiv auffasst (GE:531) – das Motiv ist seit der Dissertation von 1813 die Ausprägung
der ersten Wurzel des Satzes vom zureichenden Grund, der Kausalität, auf der
Ebene des Menschen. Auch der Primat des Affekts vor der Vernunft, i.e. die
Vorgängigkeit des Willens vor dem Selbstbewusstsein (GE:532ff), ist nichts
Neues und soll daher nicht weiter behandelt werden. Ich werde aus den beiden
Preisschriften zwei besondere Glanzstücke herausgreifen, Schopenhauers Diskussion des Charakters aus der ersten und die Mitleidsethik aus der zweiten
Preisschrift, und füge dem an, dass sich beides in Die Welt und Wille als Vorstellung nachlesen lässt.
***
Aus der ersten Preisschrift mit dem Titel Über die Freiheit des Willens wähle
ich die Thematik ›Motive und Charakter‹ als das ›Gustostückerl‹ aus, auf das
ich einzig näher eingehe.
S e i t e |105
Die Motivation ist die Form der Kausalität, die durch das Medium der Erkenntnis hindurchgeht (GE:567). Aber die Ursachen bestimmen »nichts weiter
als das Wann und Wo der Äußerung ursprünglicher unerklärlicher Kräfte«
(GE:567) – und die ursprüngliche, nicht weiter zu erklärende Kraft beim Menschen ist der Wille. Dieser, so betont Schopenhauer auch hier, ist dem Individuum nicht nur von außen, sondern auch von innen bekannt (man erinnere
sich an die Dissertation von 1813, wo Schopenhauer den Begriff der ›Kausalität
von innen‹ eingeführt hat, ebenso die ›qualitates occultae‹).
Der Wille ist bei jedem Menschen unterschiedlich objektiviert. Aus dieser
›speziell und individuell bestimmten Beschaffenheit des Willens‹ (GE:568) resultiert, dass die Reaktionen der Individuen auf dieselben Motive unterschiedlich sind. Die individuelle Beschaffenheit des Willens und die unterschiedlichen
Reaktionen nennt Schopenhauer den Charakter bzw. den ›empirischen Charakter‹ (GE:568).
»Durch [den empirischen Charakter] ist zunächst die Wirkungsart der verschiedenartigen Motive auf den gegebenen Menschen bestimmt. Denn er liegt allen
Wirkungen, welche die Motive hervorrufen, so zum Grunde wie die allgemeinen
Naturkräfte den durch Ursachen im engsten Sinn hervorgerufenen Wirkungen
und die Lebenskräfte den Wirkungen der Reize. Und wie die Naturkräfte, so ist
auch er ursprünglich, unveränderlich, unerklärlich.« (GE:568)
Der Charakter zeichnet sich durch folgende Merkmale aus (GE:568ff): Er ist (i)
individuell, (ii) empirisch, (iii) konstant und (iv) angeboren.
Die Individualität des Charakters ist aufgrund der obigen Bestimmungen
selbstverständlich. Was die Empirie des Charakters betrifft, hält Schopenhauer
interessanter Weise fest, dass man nicht nur den Charakter der anderen durch
Erfahrung kennen lernen muss, sondern auch den eigenen. Man muss sich und
die anderen kennen lernen, was bedeutet, dass man im Vorhinein nicht mit Bestimmtheit zu sagen vermag, wie ein anderer oder man selbst handeln wird
(auch ein Gedanke, der auf Sartres Existenzialismus vorausweist).
»Daher […] kann keiner wissen, wie ein anderer, und auch nicht, wie er selbst in
irgendeiner bestimmten Lage handeln wird, ehe er darin gewesen: nur nach bestandener Probe ist er des andern und erst dann auch seiner selbst gewiß. Dann
aber ist er es: erprobte Freunde, geprüfte Diener sind sicher. […] Wer einmal etwas getan, wird es vorkommendenfalls wieder tun, im Guten wie im Bösen. […]
Gleichermaßen erwächst erst aus der Erfahrung, und wenn die Gelegenheit
kommt, die Bekanntschaft mit uns selbst […].« (GE:569)
Wenn man sich in vielen Lebenslagen als so und so handelnd erlebt, dann erhält der eigene Charakter die Eigenschaft der Erworbenheit. Das Individuum
S e i t e |106
mit einem ›erworbenen Charakter‹ kennt seine Handlungen dann fast im Vorhinein, unabhängig davon, ob der jeweilige Handlungsstil gut oder böse ist
(GE:570).
Aus dem erworbenen Charakter folgt unmittelbar dessen Konstanz; der
Mensch ist charakterlich fixiert ›wie ein Krebs in seiner Schale‹ – der »Mensch
ändert sich nie« (GE:570). Daher kann man sich auf den erprobten Freund ja
verlassen, denn dieser ändert sich nicht. Muss man allerdings die (suboptimale)
Erfahrung machen, dass sich eine Person, deren Charakter man sehr gut zu
kennen vermeinte, anders verhält, als man von ihr annahm, dann neigt man
laut Schopenhauer nicht zum Gedanken, dass sich diese Person geändert hat,
sondern man wird vielmehr konstatieren, dass man diese Person falsch eingeschätzt hat (GE:571) – womit die Konstanz des Charakters einer Person zu unseren lebensweltlichen Grundüberzeugungen gehört. Dennoch gesteht Schopenhauer dem konstanten Charakter ein wenig Plastizität zu, dann nämlich,
wenn es um Erziehung geht. Die Plastizität bzw. Formbarkeit ergibt sich aus der
Intellektualität der Motive.
»Der Charakter ist unveränderlich, die Motive wirken mit Notwendigkeit: aber
sie haben durch die Erkenntnis hindurchzugehn, als welche das Medium der
Motive ist. Diese aber ist der mannigfaltigsten Erweiterung, der immerwährenden Berichtigung in unzähligen Graden fähig: dahin arbeitet alle Erziehung. Die
Ausbildung der Vernunft durch Kenntnisse und Einsichten jeder Art ist dadurch
moralisch wichtig, daß sie Motiven, für welche ohne sie der Mensch verschlossen bliebe, den Zugang öffnet. Solange er diese nicht verstehen konnte, waren sie
für seinen Willen nicht vorhanden.« (GE:572)
Die moralische Einwirkung erstreckt sich nicht weiter als auf die Berichtigung
der Erkenntnis; Charakterfehler der Menschen lassen sich durch ›Reden und
Moralisieren‹ nie und nimmer verbessern (GE:573). Dennoch, Schopenhauer
räumt relativ viel Elastizität des ach so konstanten Charakters ein, wobei er diese vornehmlich bei Leuten mit guter Bildung realisiert sieht. Beides, die Anwendung der Tugendlehre des Aristoteles mit der Verbindung des Bildungsgedanken, der im 19. Jahrhundert mehr und mehr zu dominieren beginnt, ist beachtlich pointiert.
Aus diesen Überlegungen folgt die letzte Bestimmung wie von selbst –
oder umgekehrt, die vierte Bestimmung, dass der Charakter angeboren ist, stellt
eigentlich die Grundlage für die drei anderen Bestimmungen dar.
»Daher legen bei der allergleichesten Erziehung und Umgebung zwei Kinder den
grundverschiedensten Charakter auf deutlichste an den Tag: es ist derselbe, den
sie als Greise tragen werden. Er ist sogar, in seinen Grundzügen, erblich, aber
nur vom Vater, die Intelligenz hingegen von der Mutter […].« (GE:573)
S e i t e |107
Die Bestimmungen des empirischen Charakters, wie Schopenhauer sie vornimmt, führen natürlich dorthin, dass es die Willensfreiheit nicht gibt. Tugenden und Laster sind angeboren: Der Mensch wird sich in einer bestimmten Situation nicht aufgrund der postulierten Willensfreiheit verhalten, sondern aufgrund determinierter Prozesse, die in der Wechselwirkung von Motiven und
Charakter ablaufen.
»Woraus hingegen unter der Annahme der Willensfreiheit Tugend und Laster
oder überhaupt die Tatsache, daß zwei gleich erzogene Menschen unter völlig
gleichen Umständen und Anlässen ganz verschieden, ja entgegengesetzt handeln, eigentlich entspringen soll, ist schlechterdings nicht abzusehn. Die tatsächliche, ursprüngliche Grundverschiedenheit der Charaktere ist unvereinbar mit
der Annahme einer solchen Willensfreiheit, die darin besteht, daß jedem Menschen in jeder Lage entgegengesetzte Handlungen gleich möglich sein
soll.«(GE:575)
Für Schopenhauer gibt es die Willensfreiheit, das ›liberum arbitrium indifferentiae‹, nicht; jede Tat eines Menschen ist »das notwendige Produkt seines
Charakters und des eingetretenen Motivs« (GE:577).
»Die Willensfreiheit bedeutet, genau betrachtet, eine existentia ohne essentia;
welches heißt, daß etwas sei und dabei doch nichts sei, welches wiederum heißt,
nicht sei, also ein Widerspruch ist.« (GE:579)
Widerspruch hin oder her: Es wird ein Kennzeichen der Existenzphilosophie
des 20. Jahrhunderts sein, das Wesen des Menschen in der Existenz zu sehen
und ohne eine Essenz auszukommen; die Existenz wird zur Essenz des Menschen. Dabei ist es nicht nötig, allzu viele Verschiebungen in Schopenhauers
Argumentationslogik vorzunehmen; man streiche den Willen als die Essenz der
Welt, i.e. das allen Erscheinungen zugrundeliegende Was weg und interpretiere
den folgenden Satz vor der entstehenden Essenz-losigkeit:
»Durch das, was wir tun, erfahren wir bloß, was wir sind.« (GE:581)
In diesem Zitat ist nur das ›bloß‹ zu streichen und das ›was wir sind‹ durch ein
›wer wir sind‹ zu ersetzen, und Schopenhauer hat die Grundformel für Heidegger und Sartre ausgesprochen – aber das ist eine andere Geschichte ☺.
***
Aus der zweiten Preisschrift mit dem Titel Über die Grundlage der Moral wende ich mich der Frage des kolossalen Egoismus und der Mitleidsethik zu. Bezüglich der Ethik besteht zwischen Schopenhauer und dem ›erstaunlichen‹
Kant ein fundamentaler Unterschied, für dessen Grundlegung der Ethik Schopenhauer nur Kritik übrig hat (GE:655ff). Schopenhauer entdeckt im kategorischen Imperativ eine Gehorsamkeitsaufforderung, i.e. das implizite Motto dem
S e i t e |108
Gesetz zu gehorchen, was immer es auch besagt (GE:662); und das geht Schopenhauer gegen den Strich. Übrigens hat auch Günther Anders im kategorischen Imperativ die Grundlage für die Befehlserfüllung im Dritten Reich gesehen – hier wohl in Kenntnis von Schopenhauers Kant-Kritik.
Schopenhauer schlägt folgenden Weg vor, um das Fundament der Ethik
zu finden:
»Daher bleibt zur Auffindung des Fundaments der Ethik kein anderer Weg als
der empirische, nämlich zu untersuchen, ob es überhaupt Handlungen gibt, denen wir echten moralischen Wert zuerkennen müssen – welches die Handlungen freiwilliger Gerechtigkeit, reiner Menschenliebe und wirklichen Edelmuts
sein werden.« (GE:726)
Gegen Kant und gegen die von ihm verhassten deutschen Idealisten formuliert
Schopenhauer das Programm einer empirischen Ethikbegründung. Die Bedeutung des empirischen Nach-vollziehens aller Grundsätze, die er in Die Welt
und Wille und Vorstellung ausgesprochen hat, findet sich auch hier – der eine
Gedanke trägt noch.
Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Dingfestmachung der Grundtriebfeder ›im Menschen wie im Tiere‹ – und das ist der Egoismus (GE:727).
Alle Handlungen entspringen ›in der Regel‹ aus Egoismus. Diese Grundtriebfeder ist naturgemäß ›antimoralisch‹; nicht auf ihr, sondern sie überwindend wird
Schopenhauer seine Ethik fundieren.
»Der Egoismus also ist die erste und hauptsächlichste, wiewohl nicht die einzige
Macht, welche die moralische Triebfeder zu bekämpfen hat.«(GE:730)
Der Egoismus ist durch zwei Charakteristika ausgezeichnet; er ist grenzenlos
und kolossal.
»Der Egoismus ist seiner Natur nach grenzenlos: der Mensch will unbedingt sein
Dasein erhalten, will es von Schmerzen […] unbedingt frei, will die größtmögliche Summe von Wohlsein und will jeden Genuß, zu dem er fähig ist, ja such wo
möglich noch neue Fähigkeiten zum Genusse in sich zu entwickeln. Alles, was
sich dem Streben seines Egoismus entgegenstellt, erregt seinen Unwillen, Zorn,
Haß: er wird es als seinen Feind zu vernichten suchen.« (GE:727)
Der Egoismus ist kolossal: er überragt die Welt. Denn wenn jedem einzelnen die
Wahl gegeben würde zwischen seiner eigenen und der übrigen Welt Vernichtung; so brauche ich nicht zu sagen wohin sie bei den allermeisten ausschlagen
würde. Demgemäß macht jeder sich zum Mittelpunkte der Welt, bezieht alles
auf sich […]. Keinen größeren Kontrast gibt es als den zwischen dem hohen und
exklusiven Anteil, den jeder an seinem eigenen Selbst nimmt, und der Gleichgül-
S e i t e |109
tigkeit, mit der in der Regel alle andern eben jenes Selbst betrachten; wie er ihres.« (GE:728)
Das beste Zeichen für ein ›schlechtes Herz‹ und ›tiefe moralische Nichtswürdigkeit‹ sieht Schopenhauer in der ›reinen, herzlichen‹ Schadenfreude (GE:
731). Sie geht weiter über das Übelwollen geringeren Grades und auch über den
Neid hinaus und ist die theoretische Grausamkeit, während Grausamkeit die
praktische Schadenfreude ist (GE:732).
Angesichts dieser Grundtriebfeder – wie ist es denkmöglich, dass es
›wahrhaft ehrliche Leute‹ gibt? Z.B. Leute, die helfen, ohne sich davon etwas zu
erwarten – was Schopenhauer als Handlungen mit moralischem Wert bezeichnet (GE:735).
»Die Abwesenheit aller egoistischen Motivation ist also das Kriterium einer
Handlung von moralischem Wert.« (GE:736)
Wenn jede Handlung moralisch gut sein soll, dann muss sie vom eigenen
›Wohl und Wehe‹ absehen und das ›Wohl und Wehe‹ eines anderen bezwecken; der andere wird damit zum letzten Zweck meiner Handlung. Man will
das Wohl des anderen so unmittelbar wie das eigene. Das setzt naturgemäß
Mitleid voraus.
»Dies erfordert aber, daß ich auf irgendeine Weise mit ihm identifiziert sei, d.h.
daß jener gänzliche Unterschied zwischen mir und jedem andern, auf welchem
gerade mein Egoismus beruht, wenigstens in einem gewissen Grade aufgehoben
sei. […] Dieses Mitleid ganz allein ist die wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und aller echten Menschenliebe. Nur sofern eine Handlung aus ihm entsprungen ist, hat sie moralischen Wert.« (GE:740)
Doch wie kann man in der Welt, die dem Satz vom zureichenden Grunde und
damit dem principium individuationis unterworfen ist, mit dem anderen mitleiden im Sinne eines unmittelbaren Fühlens von dessen Schmerzen? Schopenhauer bezeichnet die Möglichkeit des Mitleides daher als ›mysteriös‹, ja als das
›Mysterium der Ethik‹, als ihr ›Urphänomen und Grenzstein‹ (GE:741). Wie
lässt sich die ›Scheidewand‹ zwischen den Individuen aufheben, wie wird das
Nicht-Ich zum Ich?
»Dies […] setzt voraus, daß ich mit dem andern gewissermaßen identifiziert habe und folglich die Schranke zwischen Ich und Nicht-Ich für den Augenblick
aufgehoben sei; nur dann wir die Angelegenheit des andern, sein Bedürfnis, seine
Not, sein Leiden unmittelbar zum meinigen; dann erblicke ich ihn nicht mehr,
wie ihn doch die empirische Anschauung gibt, als ein mir Fremdes, mir Gleichgültiges, von mir gänzlich Verschiedenes; sondern in ihm leide ich mit, trotzdem
daß seine Haut meine Nerven nicht einschließen.« (GE:763)
S e i t e |110
Ein mysteriöser Vorgang, der allerdings aus Die Welt als Wille und Vorstellung
bereits bekannt ist. Der tugendhafte Mensch, der Menschenlieber bzw. der Mitleid-volle, blickt hinter den Vorhang der Maja; er erkennt, dass in allen Individuen derselbe Wille steckt. Bezüglich des mitleidenden Charakters stellt Schopenhauer fest:
»Gehen wir aber auf das Wesentliche eines solchen Charakters zurück; so finden
wir es unleugbar darin, daß er weniger als die übrigen einen Unterschied zwischen sich und andern macht. Dieser Unterschied ist in den Augen des boshaften Charakters so groß, daß ihm fremdes Leid unmittelbar Genuß ist, den er
deshalb ohne weitern eigenen Vorteil, ja selbst diesem entgegen sucht. Derselbe
Unterschied ist in den Augen des Egoisten noch groß genug, damit er, um einen
kleinen Vorteil für sich zu erlangen, großen Schaden anderer als Mittel gebrauche.« (GE:803)
Wobei anzumerken ist, dass Schopenhauer drei Grundtriebfedern des Handelns kennt, eben (i) Egoismus, (ii) Bosheit und (iii) Mitleid (GE:742).
In der Selbsterkenntnis erkennt sich das Individuum als wollend, und ihm
geht darin auf, dass es derselbe Wille ist, der die ganze Welt durchwaltet und
damit auch den anderen. Die Unterschiede zwischen den Individuen wird nichtig, auch übrigens der Unterschied zwischen Tier und Mensch – der mitleidige
Charakter quält nie und nimmer Tiere.
»Mein wahres inneres Wesen existiert in jedem Lebenden so unmittelbar, wie es
in meinem Selbstbewußtsein sich nur mir selber kundgibt.« (GE:809)
Schopenhauer identifiziert das Mysterium der ethischen Grundlegung als
›praktische Mystik‹ und notiert:
»Denn daß einer auch nur ein Almosen gebe, ohne dabei auf die entfernteste
Weise etwas anderes zu bezwecken, als daß der Mangel, welcher den andern
drückt, gemindert werde, ist nur möglich, sofern er erkennt, daß er selbst es ist,
was ihm jetzt unter jener traurigen Gestalt erscheint, also daß er sein eigenes
Wesen an sich in der fremden Erscheinung wiedererkenne.« (GE:811)
Die Grundlagen der Ethik liegen in der Überwindung der je eigenen Individualität; nur wenn man unmittelbar das Wohl des anderen will, ohne dabei sein eigenes Wohl mitzuwollen, handelt man ethisch gut. Für Schopenhauer stellt
sich diese Begründung wie die Kantische Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis dar – denn dass es gute Handlung gibt, steht für Schopenhauer von Anfang an fest; nur wie es gute Handlungen geben kann, ist von
Interesse. Gute Handlungen gibt es, weil der Mensch das principium individuationis überwinden kann, weil er immer schon die Kausalität von innen kennt,
S e i t e |111
weil er in seinem Leib unmittelbar den Willen erfährt, weil er hinter den Schleier der Maja blicken kann.
»Gehört demnach Vielheit und Geschiedenheit allein der bloßen Erscheinung an
und ist es ein und dasselbe Wesen, welches in allem Lebenden sich darstellt; so
ist diejenige Auffassung, welche den Unterschied zwischen Ich und Nicht-Ich
aufhebt, nicht die irrige: vielmehr muß die ihr entgegengesetzte dies sein. Auch
finden wir diese letztere von den Hindus mit dem Namen Maja, d.h. Schein,
Täuschung, Gaukelbild, bezeichnet.« (GE:808)
***
Ein letztes Zitat zum Abschluss
»Je heftiger der Wille, desto greller die Erscheinung seines Widerstreites: desto
größer also das Leiden. Eine Welt, welche die Erscheinung eines ungleich heftigeren Willens zum Leben wäre als die gegenwärtige, würde um soviel größere
Leiden aufweisen: sie wäre also eine Hölle.« (WWV:537)
Versprechen: Ich plane, eine sechste Vorlesung zu schreiben, die sich mit dem
Verhältnis von Schopenhauer und Freud auseinandersetzt. Dieses Vorhaben
möchte ich bis Mitte Februar 2012 realisiert haben.
Ich freue mich über jedeN LeserIn.
S e i t e |112
Literaturverzeichnis
Siglenverzeichnis
VW = »Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde« = Schopenhauer (1986a)
WWV = »Die Welt als Wille und Vorstellung« = Schopenhauer (1986b)
GE = »Die beiden Grundprobleme in der Ethik = Schopenhauer (1986c)
Bücher
Abendroth, Walter (2007). Arthur Schopenhauer. (21. Auflage) Reinbek bei Hamburg:
Rowohlt.
Adorno, Theodor W. (1990). Negative Dialektik (6. Aufl.). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Birnbacher, Dieter (2009). Schopenhauer. Stuttgart: Reclam.
Cassirer, Ernst (1923). Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchung über die
Grundfragen der Erkenntniskritik. Berlin: Verlag Bruno Cassirer.
Coreth, Emerich & Schöndorf, Harald (1983). Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts.
Stuttgart: Kohlhammer.
Freud, Simund (1987). Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. In ders., Darstellungen der
Psychoanalyse (130-138). Frankfurt a.M.: Fischer.
Freud, Sigmund (1999). Selbstdarstellung. In ders., Gesammelte Werke. Vierzehnter Band:
Werke aus den Jahren 1925–1931 (31-97). Frankfurt a.M.: Fischer.
Hume, David (1990). Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand [An Enquiry
Concerning Human Understanding]. Stuttgart: Reclam.
Janik, Allan, & Toulmin, Stephen (1989). Wittgensteins Wien. (2. Auflage) München: Piper.
Kant, Immanuel (1988a). Kritik der reinen Vernunft [herausgegeben von Wilhelm Weischedel] (10. Auflage). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Kant, Immanuel (1988b). Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. In: Schriften zur Metaphysik und Logik 1 [Band V
der Werkausgabe in 12 Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel] (113-264). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Kant, Immanuel (1989). Kritik der Urteilskraft (10. Auflage) [Werkausgabe in 12 Bänden,
herausgegeben von Wilhelm Weischedel]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Malter, Rudolf (1988). Der eine Gedanke: Hinführung zur Philosophie Arthur Schopenhauers. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Noerr Schmid, Gunzelin (2006). Geschichte der Ethik. Grundwissen Philosophie. Reclam:
Leipzig.
Platon (1973). Der Staat [deutsch von August Horneffer]. Stuttgart: Kröner.
Pongratz, Ludwig J. (1984). Problemgeschichte der Psychologie (2. Aufl.). München: Franke.
S e i t e |113
Regenbogen, Arnim & Meyer, Uwe (Hrsg.).(2005). Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg: Meiner.
Safranski, Rüdiger (2010). Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie. Eine Biographie. München: Hanser.
Sartre, Jean-Paul (1994). Das Sein und das Nichts. [Gesammelte Werke, Philosophische Schriften I, Band 3]. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Schnädelbach, Herbert (2005). Kant. Leipzig: Reclam.
Schopenhauer, Arthur (1986a). Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden
Grunde. In ders., Kleinere Schriften. Sämtliche Werke Band III (7-192). Frankfurt
a.M.: Suhrkamp.
Schopenhauer, Arthur (1986b). Die Welt als Wille und Vorstellung. Sämtliche Werke
Band I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Schopenhauer, Arthur (1986c). Die beiden Grundprobleme der Ethik. In ders., Kleinere
Schriften. Sämtliche Werke Band III (483-816). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Spierling, Volker (2003). Schopenhauer-ABC. Leipzig: Reclam.
Strauss, Daniёl Francois Melherbe (2005). Paradigmen in Mathematik, Physik und Biologie
und ihre philosophischen Wurzeln [ins Deutsche übertragen von M.J. Jandl]. Frankfurt a.M.: Peter Lang.
Suhr, Martin (2001). Platon. (2., vollständig überarbeitete Auflage) Frankfurt a.M.: Campus.
Weischedel, Wilhelm (1987). Die philosophische Hintertreppe. 34 große Philosophen in
Alltag und Denken. (15. Auflage) München: dtv.
Wittgenstein (1963). Tractatus logico-philosophicus [erste Auflage]. Frankfurt a.M.: edition suhrkamp.
Wittgenstein, Ludwig (1989a). Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe in acht
Bänden, Band 1 (225-618). (6. Aufl.) Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Wittgenstein, Ludwig (1989b). Das blaue Buch. Werkausgabe in acht Bänden, Band 5. (6.
Aufl.) Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Zentner, Marcel (1995). Die Flucht ins Vergessen. Die Anfänge der Psychoanalyse Freuds
bei Schopenhauer. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Zimmer, Robert (2010). Arthur Schopenhauer. Ein philosophischer Weltbürger. München: dtv.
S e i t e |114
Herunterladen