Norm und Differenz

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Norm und Differenz
Jürgen Jaspers
Das Verhältnis von „Norm“ und „Differenz“ im menschlichen Sprachgebrauch hat Sprachwissenschaftler
immer schon fasziniert. Wer sich mit Sprache beschäftigt, wird grundsätzlich mit einer unvorstellbaren
sprachlichen Vielfalt konfrontiert: Es gibt keine zwei Sprecher, die auf exakt die gleiche Weise sprechen
oder dieselben Erfahrungen mit Sprache gemacht haben. Dennoch gelingt es Menschen, mittels Sprache
relativ stabile Bedeutungen auszutauschen und miteinander zu kommunizieren (→ Intersubjektive
Kommunikation). Bei genauerer Betrachtung ist sogar festzustellen, dass der menschliche
Sprachgebrauch durch eine Systematik gekennzeichnet ist, die oft über das hinausgeht, was für eine
effiziente Kommunikation erforderlich ist, wie insbesondere eine unregelmäßige Morphologie und andere
unlogisch erscheinende sprachliche Strukturen veranschaulichen. Genau diese bemerkenswerte
Kombination aus Vielfalt und Systematik hat im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert den Anstoß zu
einer blühenden sprachwissenschaftlichen Disziplin gegeben (→ Person und Sprache). Inzwischen weist
jedoch vieles darauf hin, dass ein ausschließlicher Fokus auf einen kontextunabhängigen Sprachgebrauch
einer adäquaten Erklärung von Norm und Differenz im Weg steht und ein stärker integrierender,
multidisziplinärer Ansatz erforderlich ist (vgl. Harris 1998).
1 Die Hintergründe
Im 19. Jahrhundert versuchten Sprachwissenschaftler wie zum Beispiel Rask (1818), Bopp (1816),
Grimm (1819-1837) und Verner (1877) vor allem historische sprachliche Gesetzmäßigkeiten
aufzudecken. Beeindruckt von der offensichtlichen Verwandtschaft zwischen unterschiedlichen Sprachen,
wie beispielsweise dem Deutschen, Niederländischen und Englischen, bemühten sich diese
Sprachwissenschaftler ein minimales Repertoire universeller Lautgesetze zu erarbeiten, welche
regelmäßig auftretende Lautveränderungen einer bestimmten Sprache zu einem bestimmten Zeitpunkt
erfassen. Auf diese Weise versuchten sie, frühere Entwicklungsstufen der Sprache und sogar eine
europäische Ursprache zu rekonstruieren. Ausschlaggebend war dabei, Differenzen und Ausnahmen zu
derartigen Lautgesetzen weitestgehend zu vermeiden. Diese Differenzen sollten vielmehr untersucht
werden, um Regelmäßigkeiten zwischen ihnen aufzudecken.
Dieser bloße Vergleich verschiedener isolierter sprachlicher Elemente wurde jedoch von den so
genannten Strukturalisten stark kritisiert (de Saussure 1972 [i. O. 1916]). Ihnen zufolge ist Sprache keine
Ansammlung einzelner sprachlicher Tatsachen, sondern ein durch und durch strukturiertes System, in dem
alle Elemente in geordneten Beziehungen zueinander stehen. Demnach kann ein Laut aus der einen
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Sprache nicht einfach mit einem ähnlichen Laut aus einer anderen Sprache verglichen werden, da die
Position dieser beiden Laute im jeweiligen sprachlichen System, in dem sie eine Rolle spielen, nicht
zwingend dieselbe ist. Folglich müssen nicht individuelle Lautveränderungen untersucht werden, sondern
sprachliche Systeme und Veränderungen zwischen diesen. De Saussure unterscheidet dabei zwischen
dem „Sprachsystem“ (langue) und dem individuellen, veränderlichen „Sprachgebrauch“ (parole), welcher
ihm zufolge auf dem Sprachsystem basiert. Seiner Auffassung nach sollten sich Sprachwissenschaftler
aus diesem Grund vor allem dem Studium der langue widmen, auch wenn sich dieser nur über die
Unregelmäßigkeiten der parole angenähert werden kann (→ Sprache und Sprechen). Eine Systematik
wurde dabei ausschließlich der Sprache und nicht dem Sprachgebrauch zugesprochen, welcher eine Form
menschlichen Handelns darstellt. Diese Art Strukturalismus brachte eine vorübergehende Neuorientierung
mit sich: Kontemporäre sprachliche Elemente wurden nicht mehr, wie noch im 19. Jahrhundert, mit
älteren Sprachelementen in einen diachronen (den historischen Entwicklungsverlauf betrachtenden)
Zusammenhang gestellt, sondern synchron (den zeitgleichen, gegenwärtigen Stand betrachtend) in
Beziehung zu anderen zeitgenössischen Elementen derselben Sprache gesetzt. Das heißt, anstelle einer
Entstehungsgeschichte wurde eine Art sprachliche Momentaufnahme erstellt. Im Prinzip ist diese jedoch
bereits zu dem Zeitpunkt, in dem sie gemacht wird, Vergangenheit. Um dieses Problem zu lösen,
abstrahierten die Strukturalisten die tatsächliche Zeit und fixierten die zu untersuchende Sprache für einen
kurzen Moment – was ihnen später als Installation eines statischen, undynamischen Sprachkonzeptes
vorgeworfen wurde.
Chomsky (1965) nahm in seinen Arbeiten zur Generativen Grammatik eine vergleichbare Idealisierung
des konkreten sprachlichen Kontextes vor. Er war der Ansicht, dass eine effiziente Beschreibung der
sprachlichen Struktur nur ohne den „Rausch“ und die Restriktionen möglich sei, die der konkrete
Sprachgebrauch (→ Sprache und Sprechen) in einem spezifischen sozio-kulturellen Kontext mit sich
bringt. Darum gründete er seine Untersuchungen auf „ideale Sprecher und Hörer in einer vollständig
homogenen Sprachgemeinschaft“ (Chomsky 1965, 3). Heterogenität und Differenz wurden zwar nicht
geleugnet, jedoch lediglich als Oberflächenerscheinungen betrachtet, die für die Erklärung der tieferen
sprachlichen Systematik irrelevant seien. Auch hier ist Systematik oder Normativität ein sprachinhärentes
(und kognitives) Phänomen. Der tatsächliche Sprachgebrauch stellt lediglich eine sekundäre und variable
Materialisation des ihm zugrunde liegenden sprachlichen Systems dar.
Diese Idealisierung wird jedoch seit den 1960er-Jahren in Disziplinen wie der Soziolinguistik (Labov
1966, 1972), der Sprachsoziologie (Fishman 1972) und der linguistischen Anthropologie (Hymes 1972)
stark kritisiert. Man wies darauf hin, dass sprachliche Homogenität weder in einer Sprachgemeinschaft
noch innerhalb der individuellen Grammatik existiert. Des Weiteren lässt das Arbeiten mit diesem
theoretischen Konstrukt die Systematik des Sprachwandels unbeleuchtet. Durch die Abstraktion von der
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wirklichen Zeit kann sprachliche Evolution nicht erklärt werden – es sei denn auf Kosten eines
diskontinuierlichen Wechsels von einem zum anderen intern strukturierten System (vgl. Meeuwis &
Brisard 1993, 15ff.). In der linguistischen Anthropologie betonte man zudem, dass der Sprachgebrauch
immer vom soziokulturellen Kontext durchdrungen ist, in dem er verwendet wird. Um „kompetent“
kommunizieren zu können, genügt nicht allein die (kognitive) Kenntnis des sprachlichen Systems,
sondern ist auch eine soziokulturelle, kommunikative Kompetenz sowie die Kenntnis sozialer
Verhaltensregeln erforderlich, ohne die syntaktische Regeln nahezu sinnlos sind.
Neu und von zentralem Interesse war, dass Labov und andere nachweisen konnten, dass der
Sprachgebrauch durch eine strukturierte und nicht durch eine willkürliche Variation gekennzeichnet ist.
In seiner Untersuchung (Labov 1966) zum postvokalischen r des New Yorker Englisch (wie in far oder
fourth) wurden Verkäufer gefragt, wo sich bestimmte, in der vierten Etage erhältliche Artikel befinden:
„Excuse me, where are the women’s shoes?“, worauf der Verkäufer „fourth floor“ antwortete. Es stellte
sich heraus, dass Verkäufer in Kaufhäusern mit hohem Prestige das postvokalische r (→ Hören und
Sprechen) mit einer hohen Frequenz produzierten, hingegen in Kaufhäusern, die vornehmlich von
durchschnittlich verdienenden oder ärmeren Kunden besucht wurden, die Aussprachefrequenz des [r]
geringer oder sehr gering war. Des Weiteren zeigte Labov auf, dass Menschen, die gewöhnlich kein
postvokalisches r produzieren, dies sehr wohl in Situationen tun, die als formell empfunden werden und
sie sich auf diese Weise symbolisch mit einem höheren Prestige oder Status schmücken. Es scheint
demnach eine systematische Korrelation zwischen sozialen Variablen (Kaufkraft, Geschlecht) und
sprachlichen Variablen (der Realisierung eines bestimmten Lautes) des Sprechers zu bestehen, die zudem
dynamische soziolinguistische Muster aufweist: Der Gebrauch bestimmter, mit höheren sozialen
Schichten korrelierender Laute durch weniger kaufkräftige Gruppen kann zunehmen, einen Einfluss auf
andere Laute ausüben und auf diese Weise sprachliche Veränderungen herbeiführen. Labov konnte durch
diese Ergebnisse nachweisen, dass der konkrete Sprachgebrauch (parole), der zuvor lediglich als
Oberflächenerscheinung des ihm zugrundeliegenden Sprachsystems (langue) betrachtet wurde, nicht nur
strukturiert ist, sondern sogar einen Einfluss auf eben dieses System ausübt.
Die „korrelationale Soziolinguistik“ Labovs ist bis heute sehr weit verbreitet. Trotz seines Bestrebens hat
sie die synchron und sprachsystematisch ausgerichtete Linguistik jedoch nicht ersetzt. Dennoch stellt sie
eine unverkennbare Nische der Forschung dar, innerhalb derer die Untersuchung strukturierter
sprachlicher Heterogenität, des Zusammenhanges zwischen Sprache und sozialer Bedeutung und die
Frage, wie dieser Zusammenhang (durch die Übernahme prestigereicher Formen) sprachlichen Wandel
hervorbringen kann, im Vordergrund stehen. Die Übernahme prestigereicher Formen geschieht jedoch
nicht zwangsläufig und manche Gruppen bevorzugen weiterhin den Gebrauch eigener, weniger
prestigereicher Formen. Aus diesem Grund wird in der Soziolinguistik zwischen Formen mit „offenem“
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Prestige (von jedem als Form mit hohem Status anerkannt) und Formen mit „verborgenem“ Prestige
(innerhalb einer spezifischen, lokal begrenzten Gemeinschaft) unterschieden. Mit anderen Worten: Zur
Erklärung von Differenz bezieht man sich in der Regel auf das Konzept der sozialen Norm oder
Gruppennorm.
2 Soziale Normen
In
der
korrelationalen
Linguistik
–
sowie
in
älteren
linguistisch-anthropologischen
und
sprachsoziologischen Studien – werden soziale Normen im Allgemeinen als Konsens einer
Sprachgemeinschaft definiert, was als normaler, angemessener oder gewünschter Sprachgebrauch
empfunden wird. Die einzelnen Mitglieder solcher Gemeinschaften hegen in der Regel eine gewisse
Loyalität gegenüber diesen Gewohnheiten – es sei denn, sie streben nach negativen Sanktionierungen. Je
stabiler eine Gemeinschaft, desto stärker ist auch das Festhalten an Gruppennormen (→ Behinderung und
Vulnerabilität) und der Wunsch, sich an den gemeinsamen Sprachgebrauch anzupassen, bzw. desto
größer ist die Chance, dass bestimmte Formen ein verborgenes Prestige besitzen. In loseren Netzwerken
haben exogene Formen mit offenem Prestige eine große Chance auf Übernahme und Verbreitung. Aus
dieser Perspektive werden mehrsprachige (→ Interkulturalität und Mehrsprachigkeit) oder multidialektale
Gruppen als Gemeinschaften betrachtet, in denen sich individuelle Sprecher an verschiedene Normen in
unterschiedlichen Bereichen anpassen und auf diese Weise eine vielfältige kommunikative Kompetenz
entwickeln. In westlich geprägten Städten kommen beispielsweise Mitglieder anderssprachiger
Minderheiten meistens mit Normen des häuslichen Sprachgebrauchs innerhalb familiärer Kontexte oder
während religiöser Aktivitäten in Berührung, während sie sich in der Schule oder am Arbeitsplatz an die
Standardsprache anpassen. Veränderungen in diesem stabilen System entstehen, wenn der Wert einer
bestimmten Varietät durch externe Faktoren verändert wird und sich innerhalb der mehrsprachigen
Gemeinschaft neue Evaluationsmuster entwickeln. So zeigte Gal (1979) in einer ethnographischen Studie,
dass die problemlose Koexistenz des Ungarischen und des Deutschen in der österreichischen Oberwart –
jede Sprache mit ihrem eigenen lokalen Prestige und ihrer eigenen Funktion – sich unter dem Einfluss der
industriellen Entwicklung zu einer diglossischen (zweisprachigen) Situation entwickelte, in der dem
Deutschen ein hoher und dem Ungarischen ein niedriger Status zugesprochen wurde, was die
Marginalisierung und allmähliche Verdrängung des Ungarischen innerhalb dieser mehrsprachigen
Gemeinschaft zur Folge hatte.
Viele dieser Erklärungen gestalten sich dennoch als problematisch, weil sie unter anderem von der
grundlegenden Annahme ausgehen, dass Gruppen klar voneinander abgegrenzt werden können und ihre
jeweiligen Mitglieder mehr oder weniger gleich gestellt sind: Aufgrund ihrer Mitgliedschaft in einer
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spezifischen Gruppe produzieren die Mitglieder quasi automatisch und auf gleiche Weise einen
Sprachgebrauch, der die Identität dieser Gruppe widerspiegelt bzw. signalisiert; oder aber diese
Gewohnheit wurde durch Sozialisierung verinnerlicht. Zusätzlich werden Differenz und Abweichung von
der Norm meist als vorübergehende Erscheinungen betrachtet: Auf die Einführung einer sprachlichen
Abweichung – wie beispielsweise eine neue Bedeutung eines bereits existierenden Wortes – folgt eine
Periode der relativen Unsicherheit über das, was der Norm entspricht, welche jedoch schließlich in einen
neuen Konsens und in eine allgemeine Akzeptanz dieses neuen Gebrauchs übergeht (vgl. Milroy 1992) –
es sei denn, die Variation wird als symptomatisch für eine andere, bisher unbeachtete Subgruppe
innerhalb dieser Sprachgemeinschaft betrachtet, wie dies oft bei der Jugendsprache der Fall ist (vgl. 5).
Auf diese Weise schleicht sich jedoch die, in den Arbeiten der Strukturalisten kritisierte Homogenität
erneut in soziolinguistische und ethnographische Erklärungen von Norm und Differenz ein.
Sprachgemeinschaften werden zwar als heterogen betrachtet, aber ihre verschiedenen Teile als homogene
(oder homogen handelnde und denkende) Gruppen, innerhalb derer ein Konsens herrscht oder aber sich
ihre Mitglieder auf dem Weg zu einem solchen Konsens befinden. Variation und Konflikt werden vor
allem zwischen homogenen Gruppen bemerkt, aber innerhalb dieser Gruppen werden sie regularisiert,
idealisiert oder zumindest nicht weiter beachtet (Rampton 1998, 18).
Nach Cameron (1995, 15) führten all diese Bemühungen schließlich zu zwei vorherrschenden
Erklärungsansätzen für das Verhältnis von Norm und Differenz:
1. Der Sprachgebrauch ist ein Spiegel von Gruppe(n) oder eines sprachlichen Netzwerkes, dem man
angehört (aus diesem Grund können Korrelationen zwischen sprachlichen und sozialen Variablen
gezogen werden); oder
2. Menschen signalisieren ihre Mitgliedschaft zu einer bestimmten sozialen, geschlechtlichen,
ethnischen, religiösen oder altersspezifischen Gruppe durch ihren Sprachgebrauch.
Problematisch an diesen beiden Erklärungsansätzen ist, dass der Sprachgebrauch als bloße Reflexion oder
Signalisierung bereits bestehender Identitäten betrachtet wird (→ Person und Sprache). So wird
Sprachgebrauch im Hinblick auf eine primäre, in diesem Fall soziale Systematik, erneut als sekundär
betrachtet. Schwieriger gestaltet sich jedoch die Tatsache, dass diese Erklärungen auf einer
deterministischen Auffassung von sozialer Normativität beruhen. Obwohl in soziolinguistischen Arbeiten
die theoretischen Prämissen, auf denen die Bezugnahme auf soziale Normen gründet, nie besonders
expliziert werden (und sogar versucht wird, einer öffentlichen Interaktion mit soziologischer
Theoriebildung konsequent auszuweichen; vgl. Hudson 1996, 4; Williams 1992) sind diese Prämissen
zumindest teilweise durch den Sozialfunktionalimus Parsons (1937) inspiriert, der soziale Normen als
verinnerlichte Sozialisierungsprozesse betrachtet. Soziale Handlungen und psychologische Profile sind in
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dieser Hinsicht isomorph (strukturgleich). Garfinkel et al. (1967) weisen jedoch darauf hin, dass eine
solche Auffassung eine Reduzierung der Menschen auf so genannte „judgemental dopes“ bedeutet, das
heißt, auf Wesen ohne eigene Rationalität und Reflexivität, welche lediglich ausführen, was sie
verinnerlicht haben (vgl. Heritage 1984). Bewusste Variation oder Widerstand sind in diesem Rahmen
nur schwer erklärbar, weil diese gerade das Beurteilungsvermögen voraussetzen, welches den Individuen
zur Erklärung ihres normativen Verhaltens abgesprochen wird.
Die vorangegangenen Ausführungen verdeutlichen, dass eine Erklärung von normativem und variablem
Sprachgebrauch trotz der Wichtigkeit der sozialen Bedeutung sprachlicher Phänomene und ihres
unverkennbaren Zusammenhanges mit Normativität, nicht ohne eine angemessene Erklärung des
normativen menschlichen Verhaltens auskommt. Soziale Phänomene wie Normen können also nicht
lediglich als Mittel dienen, um Muster im Sprachgebrauch zu erklären, sondern müssen selbst Gegenstand
der Untersuchung sein. Die Frage, woher Normen kommen und wie diese „in“ den Menschen
„hineingeraten“ und feste soziale Muster hervorbringen, ist daher keineswegs überflüssig. Eine relativ
aktuelle, aber fundamental „poststrukturalistische“ Reorientierung der Annahmen, auf denen
wissenschaftliche Untersuchungen beruhen (vgl. Foucault 1970), beschäftigt sich mit exakt denselben
Fragen. In Disziplinen wie der Philosophie, Soziologie und Kulturtheorie werden Konzepte wie
Normativität und Identitäten, soziale Schicht oder Geschlecht immer häufiger als relativ instabile
Konstrukte betrachtet (→ Behinderung und Vulnerabilität), die selbst erst einer Erklärung bedürfen, bevor
sie bei der Analyse von anderen Phänomenen eingesetzt werden können. Weniger als der Endpunkt wird
Sprache dabei vielmehr als ein Teil dieser Erklärung betrachtet.
3 Eine postmoderne Perspektive
Im soziologisch inspirierten Sozialkonstruktivismus (Giddens 1984) wird suggeriert, dass Sprache nicht
das Resultat, sondern im Gegenteil, einen Teilaspekt sozialen Handelns darstellt und einen konkreten
Einfluss auf die alltägliche soziale Struktur ausübt. Sozial-Konstruktivisten vertreten die Ansicht, dass
Menschen keine wehrlosen Opfer für sie unbegreiflicher und unkontrollierbarer Mächte sind, aber ebenso
wenig allmächtige Erschaffer ihrer eigenen Umstände darstellen. Genauer gesagt, gestalten Menschen die
(ungleiche, sozial-stratifizierte) Gesellschaft in ihren alltäglichen Interaktionen zumindest teilweise je
aufs Neue, wobei Sprache dabei ein wesentlicher Baustein ist. Diese Interaktionen finden jedoch nicht im
luftleeren Raum statt, sondern sind durch „Routinisierung“ gekennzeichnet. Dies bedeutet, dass
Menschen ein Bedürfnis nach Routine und Vorhersagbarkeit haben und sie sich gegenseitig auch
fortlaufend für das Reproduzieren dieser Routinen sowie der persönlichen Identitäten und (Macht)Verhältnisse, die durch diese Routinen gewährleistet werden, verantwortlich machen (vgl. Giddens 1984,
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Garfinkel 1967). Variation ist in dieser Hinsicht von elementarer Bedeutung: Jeden Tag, jeden Moment
finden neue und kreative sprachliche Handlungen statt, auch wenn diese durch die menschliche
Wahrnehmung von dem, was als akzeptables, vorhersehbares Verhalten gilt, geformt werden. So
betrachtet sind soziale Normen weder als ein begrenztes Repertoire bereits bestehender Regeln, noch als
ein verinnerlichtes, von den Menschen lediglich ausgeführtes Programm zu verstehen, sondern als
alltägliche Produkte menschlicher face-to-face-Interaktionen, die in neuen Interaktionen stets bestätigt
werden müssen.
Als Folge dessen wird die Mitgliedschaft in einer Gruppe nicht mehr als eine feststehende Tatsache oder
ein unvermeidbares Erbe betrachtet, sondern als ein Produkt, das fortlaufend im „Hier und Jetzt“
rekonstruiert wird. Weniger als ein bloßer Spiegel oder die Betonung einer bereits bestehenden
Gruppenidentität, wird der Sprachgebrauch (→ Sprache und Sprechen) vielmehr als Teil einer komplexen
kommunikativen Praxis betrachtet, in der in konkreten Situationen bestimmte Gruppenidentitäten mit
unterschiedlicher Kaufkraft und Zugangsberechtigung hervorgerufen, vermieden oder erneut konfiguriert
werden und innerhalb derer die Sprecher Co-Partizipierende in Diskursen darstellen, durch die ihnen in
den Gesellschaften, in denen Grenzen und Möglichkeiten ungleich verteilt sind (Rampton 1998, 12),
schließlich unterschiedliche Positionen zugewiesen werden. Eine solche Auffassung menschlichen
Verhaltens verdeutlicht, dass ein Konsens das Ergebnis menschlicher Interaktion darstellt, die nicht für
jeden Teilnehmer gleichermaßen vorteilhaft ist. Wenn menschliche Interaktion zwischen ungleich
gestellten Teilnehmern stattfindet, ist eine Re-Konstruktion der gesellschaftlichen Verbindung oder der
darin gültigen Routinen, die diese Ungleichheit aufrecht erhalten, nachteilig für diejenigen, die als Folge
dessen häufiger mit Restriktionen und geringeren Möglichkeiten konfrontiert werden. Ein „Konsens“ oder
eine „Norm“ ist das Produkt einer Auseinandersetzung zwischen Ungleichen und bleibt daher nie
unangefochten. Variation und Konflikt sind unvermeidlich.
Die wohl sicherlich wichtigste Veränderung, die mit einer postmodernen Perspektive einhergeht, ist die
Tatsache, dass nicht nur Handlungen, sondern auch die Wahrnehmung derselben zum Gegenstand der
Untersuchung geworden ist (→ Sprache und Wahrnehmung). Handlungen und Wahrnehmung werden
zudem als untrennbar betrachtet. Innerhalb dieser Perspektive verfügen Sprecher über metalinguistische
Konzeptualisierungen, das heißt, sie besitzen Vorstellungen über Qualität, Funktion, Status oder
„Geschmack“ bestimmter sprachlicher Formen und Varietäten und deren Verbindung zu bestimmten
sozialen Gruppen. Diese Konzeptualisierungen begleiten das kommunikative Verhalten der Sprecher
maßgeblich und führen zu Handlungen, in denen diese Konzeptualisierungen erneut produziert werden
(vgl. Calvet 2006). In Übereinstimmung mit dem oben Gesagten werden diese Vorstellungen und
Assoziationen jedoch als Konfliktstätten oder Erwartungshaltungen bezeichnet, die als konstituierend für
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soziologisch-politische Prozesse betrachtet werden und die einen konkreten Einfluss darauf haben, wem
ein bestimmter Sprachgebrauch zugeschrieben wird (Blommaert 2005).
Die Einsicht, dass Handlungen und Perzeption sich reziprok beeinflussen, hat auch die
Sprachwissenschaft als wissenschaftliche Disziplin nicht unbeeinflusst gelassen. Wenn alles durch den
Filter der menschlichen Wahrnehmung betrachtet wird, besteht folglich keine ideologiefreie Plattform,
von der aus andere Phänomene beobachtet werden können. Im Gegensatz etwa zu „Spektakel“,
Zufälligkeit oder der Loslösung der Sprache von der sozialen Welt, wurde beispielsweise das Interesse für
die grammatikalische Systematik und Kohärenz, welches früher in sprachwissenschaftlichen
Untersuchungen als ausschlaggebend und selbstverständlich betrachtet wurde, als charakteristisch für eine
modernistische Perspektive auf Sprache und ihre Erforschung betrachtet. Diese zuletzt genannte
Perspektive wurde von diesem Zeitpunkt an selbst zum Gegenstand – und nicht zum Ausgangspunkt – der
Untersuchung und hat damit den Anstoß zu sprachideologischen Untersuchungen gegeben, in denen
argumentiert wird, dass Sprachen keine natürlichen oder objektiven Entitäten sind, sondern unter anderem
durch Sprachwissenschaftler benannt und ins Leben gerufen werden und einen Einfluss auf den konkreten
Sprachgebrauch ausüben (Calvet 2006, Harris 1998, Schieffelin et al. 1998).
Diese postmoderne Wende brachte eine deutliche Interessensverschiebung bei der Untersuchung des
Sprachgebrauches mit sich. So ist seit Anfang der 1990er Jahre eine deutliche Zunahme
mikroanalytischer Studien von Interaktionspraktiken fest zu stellen, welche reflexive und ambivalente
erfinderische Improvisation und situierte Interpretation in kleinen „Handlungsgemeinschaften“ erforschen
(Lave & Wenger 1991), wobei sprachliche Konventionen oder Strukturen nur als ein Mittel zur
Konstruktion von Bedeutung in Interaktionen betrachtet werden (Pratt 1987, Rampton 1998). Ebenso hat
ein postmoderner Blickwinkel es sehr viel weniger selbstverständlich werden lassen, eine Beschreibung
des „Sprachgebrauchs von X“ oder des „Sprachgebrauchs von dieser oder jener sozialen Gruppe“ zu
erstellen (Rampton 2006, 17). Daneben ist deutlich geworden, dass objektive Kategorien wie „Alter“ oder
„Ethnizität“ nicht per se Sprachgebrauchsmuster verursachen, sondern dass Regelmäßigkeiten durch die
Art und Weise hervorgebracht werden, wie Sprecher diese Kategorien wahrnehmen und sowohl sich
selbst als auch andere dazu bewegen, sich dementsprechend zu verhalten.
Diese postmoderne Anerkennung von Diversität und Pluralismus (→ Behinderung und Vulnerabilität)
steht jedoch in einem Kontrast zu weit verbreiteten, dominanten Auffassungen von Sprachgebrauch in
spätmodernen westlichen Gesellschaften, die ein Höchstmaß an Uniformität, Homogenität und
Standardisierung anstreben. Diese werden meist aus Vorstellungen der Aufklärung und Romantik
gespeist.
4 Standardisierung: Aufklärung und Romantik
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Obwohl Standardsprachen in der Regel als quasi natürlich auftretende Phänomene betrachtet werden, sind
sie unverkennbar mit der Aufklärung, den damit einhergehenden rationalistischen Ideen über Sprache (u.
a. von John Locke) (→ Person und Sprache) und über deren Zusammenhang mit Politik und Wissenschaft
verbunden
–
insbesondere
mit
der
Notwendigkeit
eines
modernen
Staates
nach
einem
Kommunikationsmittel, das frei von sozialer Indexikalität (bestimmten Bedeutungen und Beiklängen),
Ambiguität, Frivolität oder der Inkonsistenz, den Verwirrungen, Missverständnissen und politischen
Konflikten ist, die daraus entstehen können. Nach dieser Auffassung muss Sprache ein referentiell
präzises Instrument sein: Eine sprachliche Realisierung rationalen Denkens (→ Kognition und Emotion),
auf der durch wissenschaftlichen Kenntniserwerb individuelle Aufklärung und schließlich sozialer
Fortschritt gegründet werden können. Wenn eine „Sprache der Vernunft“ entwickelt und auf ein
öffentliches Forum übertragen werden könnte, bestünde die Möglichkeit, dass Wahrheit und Vernunft
dort für Einheit, Gleichheit und Frieden sorgen könnten – die Sprachpolitik des französischen Staates
nach der Revolution (welche die Ausrottung aller Variation zum Vorteil des Französischen als
Einheitssprache zum Ziel hatte) stellt hierfür ein Paradebeispiel dar.
Die diskursiven Praktiken jedoch, die als Vorbild der modernen, „zivilen“ Kommunikation galten und auf
der die Standardvarietät gründen musste, wurden ursprünglich (und auch heute noch) in sehr
geschlossenen, elitären sozialen Netzwerken situiert. Auf diese Weise wurden (und werden) genau
diejenigen Gruppen ausgeschlossen, deren Sprachgebrauch als „provinziell“, „chaotisch“, „frivol“,
„folkloristisch“, „ungebildet“ oder „mehrdeutig“ und aus diesem Grund als „ungeeignet“ betrachtet
wurde, um einen Beitrag zu Fortschritt und Bildung leisten zu können – nämlich Frauen, Arme, Leute
„vom Land“, Analphabeten und Nicht-Europäer. Die Bezeichnung des Sprachgebrauchs einer
spezifischen Gruppe als „modern“ rechtfertigt auf diese Weise ungleiche soziale Verhältnisse (Baumann
& Briggs 2003). Diese modernistischen Auffassungen von Sprache sind dennoch in großen Teilen
Europas (und darüber hinaus) weit verbreitet und haben zu „Regimes sprachlicher Säuberung“ geführt
(vgl. Bauman & Briggs 2003, Cameron 1995, Silverstein 1998). Diese Regimes fordern von ihren
Sprechern eine fortlaufende Selbstdisziplin und den Gebrauch (der einzigen) korrekten und präzisen
Formen, von denen angenommen wird, dass sie zu einer geistigen Entfaltung und schließlich
Emanzipation führen – was wiederum mit einer Stigmatisierung „unsauberer“, dialektaler Sprachformen
einhergeht. Dieser Emanzipationsprozess wird zudem vor allem als ein individuelles Geschehen
betrachtet: Menschen werden als rationale, mit einem freien Willen ausgestattete Wesen betrachtet, den
sie im Prozess des wissenschaftlichen Kenntniserwerbs beliebig einschalten können. Diejenigen, denen
diese Selbstdisziplin fehlt oder die sich nicht ausreichend bemühen, „verdienen“ so gesehen die
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Marginalisierung und Ausgrenzung (vgl. Foucault 1970, Baumann & Briggs 2003, Blommaert 2005) (→
Behinderung und Vulnerabilität, → Dialogaufbau unter schweren pathologischen Bedingungen).
Daneben wird in verschiedenen Regionen Standardisierung auch stark durch das romantischnationalistische Streben nach sprachlicher Homogenität genährt. In der romantischen Auffassung werden
Traditionen als Träger des lebendigen volkspoetischen Ausdrucks betrachtet, die für eine kollektive
emotionale Verbundenheit (→ Kognition und Emotion) und Vaterlandsliebe sorgen können. Authentische
Traditionen müssen daher weitestgehend bewahrt und anerkannt werden, um die Basis oder gar die
„Seele" einer authentischen und lebenskräftigen nationalen Standardsprache bilden zu können.
Korrumpierte, nicht volkseigene Traditionen müssen dagegen vermieden oder beseitigt werden. Natürlich
bringt auch dieses Streben ein Regime der Säuberung mit sich, in dem „abweichender“ und
„substandardisierter“ Sprachgebrauch problematisiert, nur vorübergehend geduldet oder als Mangel an
Stolz und Vaterlandsliebe betrachtet wird. Ebenso sind Urteile über die Authentizität von Traditionen
Stätten einer reellen Machtausübung (Bauman & Briggs 2003).
5 Globalisierung und Jugendsprache
Diese homogenisierenden Tendenzen geraten in spätkapitalistischen Gesellschaften jedoch in Konflikt mit
der so genannten „Globalisierung“ (→ Person und Sprache). Diese Bezeichnung zielt auf die
explosionsartig zugenommenen Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten sowie auf die Tatsache,
dass sich verschiedene soziale Prozesse – beispielsweise Arbeit, die moderne technologische
Kulturindustrie (→ Medien) – nicht mehr lediglich innerhalb nationaler Grenzen entwickeln, sondern
transnationalen Dynamiken entsprechen. Folglich entsteht eine äußerst intensive Wechselwirkung und ein
Austausch zwischen lokalen und nicht-lokalen Ebenen, auf denen sehr unterschiedliche sprachliche
Produkte und Identitäten zirkulieren, die ihre lokalen oder weniger lokalen Kontexte übersteigen oder
durchkreuzen, in neue Kontexte integriert und mit den dort geltenden Wahrnehmungen und
Evaluationsgewohnheiten konfrontiert werden (Blommaert 2005). Globalisierung führt mit anderen
Worten zu einer Zunahme oder zumindest verstärkten Sichtbarkeit der Heterogenität, durch die das
Streben nach sprachlicher und ethnischer Homogenität unter Druck gesetzt wird (→ Behinderung und
Vulnerabilität). In diesem Zusammenhang kann in den letzten 20 Jahren eine signifikante Veränderung
kommunikativer Muster festgestellt werden. So ist der öffentliche Diskurs einer zunehmenden
„Konversationalisierung“
unterworfen
(Fairclough
1995).
Fachleute
und
fachspezifischer
Sprachgebrauch erhalten dabei weniger Beachtung, was unter anderem eine Zunahme substandardisierten
Sprachgebrauchs in denjenigen Bereichen zur Folge hat, in denen früher der Gebrauch der
Standardsprache vorherrschte, wie beispielsweise im Fernsehen oder in Schulklassen. Zusätzlich hat die
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aktive Kritik von Soziolinguisten an einer allzu strengen Präskription von Standardvarietäten im
Unterricht für eine zumindest vorübergehende Anerkennung von Varietäten gesorgt.
Im Allgemeinen wird (sprachliche) Differenz also sichtbarer und scheinbar auch anerkannt. Zugleich
führt ihre Wahrnehmung jedoch zu moralischen Ängsten und verstärkten Standardisierungsimpulsen, die
oft in Kombination mit „strengen“ politischen Koalitionen (Cameron 1995) auftreten. Aber auch in einem
„milderen“ Diskurs, in dem Staaten ausdrücklich eine Regierung der Chancengleichheit befürworten und
auf diese Weise die Integration, Emanzipation und Aktivierung traditioneller Problemgruppen
unterstützen, besteht kein Zweifel an der Qualität des Sprachgebrauchs, der die Basis eines solchen
Emanzipationsprozess bilden sollte (→ Sprachförderung im Förderschwerpunkt Lernen). Schließlich
werden im Unterricht Sprachen ethnischer Minderheiten in der Regel nicht als Mittel zum Wissenserwerb
und seiner Weiterentwicklung eingesetzt (→ DaZ) – genau so wie die Standardversion der nationalen
Sprache, trotz ihrer manchmal geringen Beachtung am Arbeitsplatz, für gewöhnlich als das Tor zu
sozialem Aufstieg und Erfolg auf dem Arbeitsmarkt betrachtet wird (Blommaert 2005).
In diesem Spannungsfeld werden in europäischen Städten immer mehr Phänomene wie „Straßensprache“,
„Jugendsprache“,
oder
ethnisch-gemischter
und/oder
substandardisierter
Sprachgebrauch
bei
Jugendlichen registriert, die regelmäßig zum Thema der gesellschaftlichen Debatte und Besorgnis werden
(vgl. Androutsopolous & Georgakopoulou 2003; Androutsopolous 2005, 2006; Jaspers 2005, 2006;
Rampton 2006). Migrations- und Flüchtlingsströme haben in europäischen Städten Schulen und multiethnische (meist arme) Bezirke entstehen lassen, in denen Jugendliche mit diversen sprachlichen
Hintergründen miteinander (und mit der dominanten Sprachvarietät) in Kontakt kommen. In diesen
Kontexten findet häufig ein intensiver Austausch von Sprachmaterial statt: Jugendliche nehmen ihren
gegenseitigen Sprachgebrauch in Codewechseln auf, vermischen diese mit ihrem eigenen Sprachgebrauch
oder stilisieren ihren gegenseitigen Sprachgebrauch zu spektakulären oder ästhetischen Verformungen.
Die Auswirkungen dieser Sprachkontaktsituation werden vermehrt in den Medien thematisiert oder
weiter stilisiert – wie beispielsweise im Fall des „Türken-Deutsch“ (vgl. Zaimoğlu 2007). Ihrerseits
können diese Stilisierungen in Netzwerken von Jugendlichen erneut aufgegriffen und weiterverarbeitet
werden. Darüber hinaus weisen Sprachwissenschaftler darauf hin, dass sowohl der häusliche
Sprachgebrauch von Jugendlichen, als auch der Gebrauch der dominanten sprachlichen Varietät durch
diese Kontaktsituation gefärbt sein kann und auf phonologischer, morpho-syntaktischer sowie
lexikalischer Ebene signifikant von der Standardvarietät abweicht, was zur Identifikation von Ethnolekten
wie „Marokkaner-Niederländisch“, „Polen-Englisch“ oder „Türken-Deutsch“ geführt hat.
Andere Autoren machen darauf aufmerksam, dass diese Ethnolekte – ebenso wie das Konzept der
„Jugendsprache“ – erneut dazu führen, dass einer von vornherein abgegrenzten und als homogen
bezeichneten Gruppe, in der ein Identitätsmerkmal (z.B. „Jugend“, „Ethnizität“) zum Nachteil anderer
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hervorgehoben wird, eine bestimmte Art zu sprechen zugewiesen wird. Darum präferieren sie, zu
untersuchen, wie Jugendliche sich anhand ihres Sprachgebrauchs untereinander und gegenüber ihnen
vertrauten Erwachsenen positionieren und sich in den verschiedenen soziokulturellen Stilen und
Prozessen ihrer Umgebung situieren. Untersuchungen weisen darauf hin, dass der kreative
Sprachgebrauch von Jugendlichen
viele
nützliche
metalinguistische
Informationen über
die
Wahrnehmung und Bedeutung spezifischer sprachlicher Formen innerhalb etablierter sozialer Routinen
und Hierarchien enthält. Weniger als eine „neue Varietät“ muss der Sprachgebrauch Jugendlicher daher
vielleicht vielmehr als ein Ort betrachtet werden, welcher die sprachideologischen Bruchlinien der
Gesellschaft sichtbar macht (→ Behinderung und Vulnerabilität), wo Jugendliche sich symbolisch von
lokalen und anderen Erwartungen, Stilen und Routinen abgrenzen, diese aufnehmen oder kommentieren
und auf diese Weise versuchen, den negativen Auswirkungen dieser Erwartungen und Routinen zu
entkommen, diese spielerisch anzuprangern oder selbst eine dominante Position (und den dazugehörigen
Sprachgebrauch) auf Kosten anderer in ihrer Umgebung anzustreben.
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