Treibjagd auf Wildpferde „Wenn das Wild nicht zum Jäger kommt, muss der Jäger zum Wild gehen“, hat die grauhaarige Sina eines Abends gesagt, als die Sippe am Feuer versammelt war. Am anderen Morgen brechen die besten Jäger als Späher auf. Je zwei gehen nach Sonnenaufgang, nach Sonnenuntergang, in die Mittagsrichtung und nach Mitternacht. Tage später kehren sie aus der Waldsteppe zurück: müde, enttäuscht, ergebnislos. Nur Dudo und Odo, die den Fluss überquerten und nach Sonnenuntergang gezogen sind, fehlen noch. Erwartungsvoll richten die Männer, Frauen und Kinder ihre Blicke über den Fluss. Endlich tauchen in der Ferne zwei Gestalten auf. Sie sind es: Dudo und Odo! Im schnellen Lauf nähern sie sich den Fluss, durchschwimmen ihn und rufen schon von weitem: „Wildpferde! Wildpferde! Eine große Herde!“ Alles drängt sich um die beiden Späher. Wo sind die Pferde? Wie viele sind es? Wie habt ihr sie erspäht? So fragen alle durcheinander Odo und Dudo zeigen zum jenseitigen Flussufer, wo man in der Ferne einen schroffen Abhang sieht. Fast 100 Meter steigt er jäh empor. Dort oben beginnt eine weite Hochebene, auf der Odo und Dudo die Pferde entdeckten. „Jeden Abend findet sich die Herde an einem kleinen See ein“, berichten die Späher. „Die Tiere trinken und ziehen dann durch die Steppe davon. Das haben wir aus den Spuren gelesen.“ „Zu dumm“, ärgern sich viele Jäger, „dass unsere Sippe nicht zahlreicher ist. Sonst könnten wir eine Treibjagd machen. Wir würden die Herde über den steilen Abhang treiben. Das gäbe reiche Beute!“ Die alte Sina aber rät, eine Sippe, die flussaufwärts ihre Jagdgründe hat, zur gemeinsamen Pferdejagd einzuladen. Gewiss wird sie zur Treibjagd kommen. Die flinksten Jäger werden losgeschickt, um die benachbarte Sippe um Hilfe zu bitten. Einige Tage später. Die Männer und viele Frauen der beiden Sippen haben sich bei dem kleinen See auf der Hochebene versammelt. Sie wählen Talfo zum Leiter der Jagd. „Sammelt trockene Zweige, dürres Gras und Schilf!“ gebietet Talfo. „Wir brauchen sie, um daraus Fackeln anzufertigen.“ Es wird Abend. Die Jäger ziehen sich in ein Gebüsch zurück. An der Wasserstelle bleiben nur Odo und Dudo als Späher. Sie verbergen sich auf einem Baum. Die Nacht bricht an. Elche, Riesenhirsche und Büffel kommen zum See, trinken sich satt und verschwinden wieder in der Steppe. Plötzlich stößt Dudo seinen Gefährten an: „Horch, die Wildpferde!“ Es trappelt in der Ferne, kommt näher. Jetzt erkennen die Späher das Leittier, und hinter ihm drängt und schiebt sich die Herde. Mindestens 100 Wildpferde sind es. Während sie am See trinken, äugt das Leittier misstrauisch in die Nacht. Ein Eulenruf klingt aus den Bäumen am Wasser. Die Wildpferde beachten ihn nicht. Doch drüben im Gebüsch hat Talfo das Signal der beiden Späher verstanden. „Es ist soweit!“ sagt er. „Die Pferde haben getrunken.“ Treibjagd auf Wildpferde 1 Vorsichtig schwärmen die Jäger aus und folgen in weitem Halbkreis den Pferden. Der Wind steht günstig; er weht den Jägern ins Gesicht. Trotzdem bleiben sie fast 1000 Schritte hinter den Pferden; denn einige der Jäger halten glimmenden Zunder bereit. Wittern die Pferde den Brandgeruch, dann werden sie scheu, und aus ist es mit der Treibjagd. Von Zeit zu Zeit vernehmen die Jäger den Eulenruf. Odo und Dudo, die der Herde dicht folgen, signalisieren: Alles in Ordnung! Im Schritt zieht die Herde dahin. Dann klingt der Eulenruf dreimal durch die Nacht. Die Wildpferde haben sich dem Abhang genähert. Die Jäger beginnen zu laufen. Der Abstand zur Herde verringert sich schnell: noch 400, 300, 200 Schritte! Talfo stößt seinen Jagdruf aus: einen schrillen Schrei - das Zeichen zum Angriff. Die Fackeln lodern auf, die Jäger stürmen vorwärts, wirbeln die Feuerbrände über ihren Köpfen. Erschrocken wiehern die Pferde. Speere fliegen durch die Nacht. Die getroffenen Tiere schreien laut auf. Im wildem Galopp wendet sich die Herde dorthin, wo weder Flammen noch Menschen sie schrecken. Aber dort ist der Steilhang! Gleich darauf vernehmen die Jäger ein neues Geräusch: Dumpf klingt es, wenn die Pferdekörper unten, am Fuße des Steilhangs, aufschlagen. Jetzt spüren die erschreckten Tiere die Gefahr von vorn. Hoch bäumen sich die Tiere auf. Sie wenden und rasen auf die Kette der Jäger zu. So irr sind die Pferde vor Angst, dass sie die Fackeln nicht mehr scheuen. Sie brechen durch die Kette der Jäger hindurch, und das Stampfen der fliehenden Herde verklingt in der Nacht. Beim Festschmaus besprechen die beiden benachbarten Sippen die erfolgreiche Jagd. Die Jäger loben Odo und Dudo, die tüchtigem Späher. Sie loben Talfo, der die Treibjagd geleitet hat. Am meisten loben sie Sina; denn sie hat geraten, dass die beiden Sippen gemeinsam jagen sollen. Ohne . diese gegenseitige Hilfe wäre die Jagd nicht so erfolgreich gewesen. Dank Sinas Rat haben beide Sippen für lange Zeit Fleisch erbeutet. Treibjagd auf Wildpferde 2