In der Steppe - Grundschulmaterial Online

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In der Steppe
Lange ist es her, dass unsere Heimat eine weite Waldsteppe war. Hohes Gras, Heidekraut
und Moos, Bäume und Büsche bedeckten den Boden. Heftige Stürme brausten über das
Land und zerzausten Buschwerk und Bäume.
Aufrechte Gestalten huschen durchs Gras; zehn, zwölf, fünfzehn sind es. Weit
ausgeschwärmt ziehen sie dahin. Ab und zu lassen sie ihre Augen über die Steppe
schweifen. Sonst blicken sie zu Boden. Sie suchen. Bald bückt sich dieser, bald jener, packt
etwas und schiebt es in den Mund einen Pilz, eine Beere, einen Käfer oder Wurm.
Rufe hallen über die Steppe. Die Ausgeschwärmten teilen sich mit, was sie Essbares
finden und was sie beobachten. Es sind Menschen: Sechs Männer, vier Frauen und elf
Kinder zählt die Horde.
Merkwürdig sehen diese Menschen aus. Sie sind mit hölzernen Spießen, Keulen oder
Holzknüppeln ausgerüstet. Einige tragen auch Steine mit sich, große und spitze Steine mit
scharfen Kanten.
„Hierher!“ klingt es über die Steppe.
Alle blicken auf. Umo hat gerufen. Der Junge steht bei einem Busch, in dessen Zweigen
es rot schimmert. „Hierher!“ wiederholt er. „Es gibt herrliche rote Beeren !“
Die Männer, Frauen und Kinder eilen zu dem Busch. Auch Ao, der Anführer der Horde,
läuft dorthin; denn er hat Hunger wie alle. Plötzlich stutzt er. „Nicht essen!“ schreit er laut, so
dass Umo die Beeren erschrocken fallen lässt.
Ao erzählt, woran er sich erinnerte, als er die roten Beeren sah: „Als ich noch jung war,
haben einige meiner Gefährten solche Beeren gegessen. Bald darauf schmerzten ihnen die
Bäuche. Da schrieen und stöhnten sie, bis sie tot waren.“
Scheu schauen alle auf die verlockenden Beeren. Als sie weiterziehen, blicken sie
verdrießlich. Seit Tagen sind sie nun schon ohne Jagdbeute. Kein Jagdtier lässt sich
blicken. Nur gestern sahen sie in der Ferne Riesenhirsche weiden. Wie sollen die Jäger
jedoch so flinke Tiere mit Keule, Spieß oder Stein erlegen? Noch ehe sie sich den Hirschen
nähern konnten, hatte das Leittier seinen Warnruf ausgestoßen, und die Tiere waren davon
galoppiert.
„Weshalb hat uns das Jagdglück verlassen?“ fragt eine der Frauen den Anführer. Ao
antwortet nicht. Er grübelt selbst immerzu darüber nach. Früher lauerte ihre Horde an den
Wildpfaden, die zum Wasser führen, auf Beute. Jetzt meiden die Tiere diese Pfade. Oder
sind sie überhaupt verschwunden, fortgezogen?
Da packt Umo den Arm des Anführers. „Gierzahn!“ flüstert er erregt. Im Gras unter
einigen niedrigen Bäumen schimmert es schmutziggelb. Zwei Augen funkeln. Ein
Höhlenlöwe!
Doch Ao und seine Gefährten lassen sich nicht schrecken. Die Jäger schwingen ihre
Keulen und Spieße, die Frauen und Kinder schwenken ihre Stöcke. So rückt die Horde mit
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lautem Geschrei vor; der Löwe weicht langsam zurück. Er faucht, brüllt heiser auf; dann
wendet er sich ab und verschwindet im Steppengras. Die Horde eilt zu den Bäumen. Dort
liegt das Gerippe eines jungen Hirsches, kümmerliche Fleischbrocken daran.
Zornig schreit Ao: „Gierzahn, Gierzahn, warum raubst du uns das Fleisch?“ Seine
Gefährten fallen ein. „Gierzahn, Bösewicht!“
Die Jäger rasten unter den Bäumen. Sorgsam nagen sie von den Hirschknochen ab, was
der Löwe Übriggelassen hat. Mit ihren scharfkantigen Steinen schlagen sie die
Röhrenknochen auf und saugen das Mark heraus.
Ao sitzt nachdenklich im Gras. Warum ist ihre Jagdbeute in jüngster Zeit so gering? Es
muss doch einen Grund dafür geben! Plötzlich springt er auf. „Jetzt weiß ich's“, ruft er.
„Gierzahn ist schuld. Seitdem der Höhlenlöwe hier durch die Steppe streift, hat uns das
Jagdglück verlassen. Er hat das Wild vertrieben. Wir müssen fort aus Gierzahns Reich,
wenn wir nicht verhungern wollen.“
Alle geben Ao recht, und die Horde macht sich auf, um in eine wildreichere Gegend zu
ziehen.
Am übernächsten Tag sperrt ein Fluss den Weg. Ermattet und verdrossen lagert sich die
Horde am Steilufer. Was nun? - Keiner weiß Rat. Während alle vor sich hinstarren,
betrachtet Umo das Hindernis. Zum ersten Mal sieht er einen so großen Fluss, hört er die
Strömung rauschen. Unmöglich scheint es ihm, dass da ein Lebewesen hindurch kann.
Doch was ist das? Oberhalb ihres Ruheplatzes stehen mehrere Riesenhirsche am Ufer.
Das Leittier hebt den Kopf mit dem mächtigen Geweih; es äugt eine Weile, steigt dann
langsam die Uferböschung hinab und beginnt vorsichtig durch den Fluss zu waten. Das
Rudel folgt ihm.
Umo stößt den Alarmpfiff der Horde aus. Sofort sind alle hellwach und blicken
flussaufwärts. „Auf diesem Wege also flüchten die Tiere vor Gierzahn“, sagt Ao. „Was
Hirsche können, können wir auch. - Vorwärts!“ Und er führt die Horde auf dem Weg der
Hirsche durch den Fluss.
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