“VERBBEDEUTUNG” UND SYNTAKTISCHE STRUKTUR 1987(Deutsche Sprache, Heft 1, Mannheim) “VERBBEDEUTUNG” UND SYNTAKTISCHE STRUKTUR Abstract In dieser Arbeit wird versucht aufzuzeigen, daß der Mehrdeutigkeit der Verben bestimmte Variationsmuster zugrunde liegen. Ausgehend von den Ergebnissen dieser Analyse wird vorgeschlagen, in bezug auf die Generierung der Verbalbedeutung im Lexikon eine Regelkomponente aufzustellen. This essay attempts to show that polysemy of verbs derives from certain patterns of variation. On the basis of the results here arrived at, the author suggests including in the lexicon a table of component indicating how verbal meaning is generated. 1. Fragestellung Im folgenden Satzpaar variiert die “Verbbedeutung” innerhalb des Satzes je nach der syntaktischen Struktur, obwohl in den beiden Sätzen dasselbe Verb schütteln verwendet wird: (1) a. NP(NOM)__ NP(AKK) Er schüttelt den Baum. b. NP(NOM)__ NP(AKK)PP Er schüttelt die Äpfel vom Baum. Im Satz (1a) mit der syntaktischen Struktur NP(NOM)__ NP(AKK)wird eine “einfache” Handlung ausgedrückt, die nicht in der Lageveränderung eines Gegenstandes resultiert: ETWAS HEFTIG HIN UND HER BEWEGEN. Im Satz (1b) mit der syntaktisch Struktur NP(NOM)__ NP(AKK)PP dagegen wird eine “komplexe” Handlung ausgedrückt, die in der Lageveränderung eines Gegenstandes resultiert: ETWAS DURCH HEFTIGES HIN-UND-HER-BEWEGEN ZUM HERUNTERFALLEN BRINGEN. In diesem Aufsatz werde ich einige Überlegungen zu folgenden Fragen anstellen: a)Wie soll die Variation der “Verbbedeutung” gemäß der syntaktischen Struktur 92 eines Satzes interpretiert werden? b)Welche Muster können in der semantischen Variation festgestellt werden? c)Wie regelhaft bzw. produktiv sind die Muster? d)Wie kann bzw. soll diese Erscheinung formalisiert und im Lexikon beschrieben werden?1 Diese Untersuchung soll auch dazu beitragen, die systematische Erlernung von “mehrdeutigen” Verben durch deutschlernende Ausländer zu verbessern. 2. Interpretation Die oben genannte Erscheinung läßt zumindest zwei Interpretationen zu: a)Die verschiedenen “Verbbedeutungen” im a-Satz und im b-Satz werden als zwei verschiedene “inhärente Verbbedeutungen” des Verbs schütteln betrachtet. Unter “inhärenter Verbbedeutung” verstehe ich die Bedeutung, die dem Verb als lexikalischer Einheit zuzuschreiben ist. b)Eine der beiden “Verbbedeutungen”(hier: die im b-Satz)wird als Resultat betrachtet, das aus der Wechselbeziehung zwischen der “inhärenten Verbbedeutung” des Verbs schütteln ( hier: die im a-Satz ) und der syntak-tischen Struktur entsteht. Ich halte die zweite Interpretation, die eine “Variationsregel” annimmt, für adäquater als die erste, und zwar aus folgenden Gründen(siehe auch Zaima (1982)): i)Zwischen den “Verbbedeutungen” in den Sätzen(1a)und(1b)besteht ein enger semantischer Zusammenhang. Die “Verbbedeutung” ( 1a ) stellt in “Verbbedeu-tung”(lb)ein “Instrumental” zum Bewirken der lokalen Veränderung eines Gegen-standes dar. Mit der Interpretation b)kann dieser Zusammenhang explizit beschrieben werden. ii ) Der oben genannte semantische Zusammenhang ist nicht nur beim Verb schütteln, sondern auch bei anderen Verben zu beobachten, wie z.B. (2) a. Er klopft ihm auf die Schulter. b. Er klopft sich den Staub von den Schultern. (3) a. Er leckt mir die Hand. b. Er leckt ihm das Blut aus der Wunde. 93 (4) a. Er prügelt den Lehrer. b. Er prügelt die Leute aus dem Saal. (5) a. Er reibt den Tisch mit einem Putzlappen. b. Er reibt den Fleck aus dem Tischtuch. (6) a. Er schlägt ihm auf den Kopf. b. Er schlägt ihm den Hut vom Kopf. (7) a. Er stößt den Mann mit einer Stange. b. Er stößt den Mann ins Wasser. Mit der Interpretation b ) können die Gemeinsamkeiten dieser Beispiele als Variationstyp zusammengefaßt und regelhaft beschrieben werden. iii)Es gibt “Ad-hoc-Bildungen”, in deren semantischer Struktur wie beim Verb schütteln ( 1b ) die inhärente Bedeutung des Verbs ein Instrumental zum Bewirken der lokalen Veränderung eines Gegenstandes darstellt. Als solche Ad-hoc-Bildungen nennt Engelen(1975)z.B. folgende Beispiele: (8) Er hat ihm eine Spritze in die Vene gejubelt. (9) Er klatschte die Unterlagen auf den Tisch. (10) Er zauberte mir ein Fünfmarkstück in die Tasche. Solche Ad-hoc-Bildungen können im Lexikon nicht erschöpfend aufgelistet werden. Wenn die Grammatik in der Lage sein soll, auch vorher nie gehörte bzw. geäußerte Sätze(also potentiell mögliche Sätze)zu erklären(Bolinger(1977)), müssen zwangsläufig die Regeln, die der Ad-hoc-Bildung zugrunde liegen, herausgefunden und beschrieben werden. Das ist nur bei der regelhaften Interpretation b) möglich. Die Entscheidung, die zweite Interpretation der ersten vorzuziehen, impliziert, daß neben der inhärenten Verbbedeutung eine weitere Bedeutungseinheit angenommen wird, die als solche nicht allein von der lexikalischen Einheit getragen, sondern durch die semantische Wechselbeziehung der inhärenten Bedeutung eines Verbs und seiner syntaktischen Umgebung gebildet wird. Diese Bedeutungseinheit nenne ich “prädikative Bedeutung”. Die “prädikative Bedeutung” ist, einfach gesagt, die Bedeutung, die übrigbleibt, nachdem man von der Satzbedeutung die Bedeutung der Ergänzungen und die 94 der freien Angaben abgezogen hat. So ist z. B. die prädikative Bedeutung im Satz ( 1a ) ETWAS HEFTIG HIN UND HER BEWEGEN und die prädikative Bedeutung im Satz(1b)ETWAS DURCH HEFTIGES HIN-UND-HER-BEWEGEN ZUM HERUNTERFALLEN BRINGEN. Im Satz(1a)fällt die prädikative Bedeutung mit der inhärenten Verbbedeutung zusammen. 3. Charakterisierung der Variationsmuster Hier versuche ich, drei Variationsmuster zu charakterisieren, um zu zeigen, daß in der Variation der durch dasselbe Verb bezeichneten Verbbedeutungen systematische Regularitäten vorhanden sind.2 3.1 Modifikatortyp Im Falle des Verbs schütteln wird im Satz (1a) als prädikative Bedeutung eine “einfache” Handlung bezeichnet, die keine lokale Veränderung eines Gegenstandes als Resultat enthält, während im Satz (1b)die lokale Veränderung eines Gegenstandes durch die im Satz (1a) ausgedrückte Handlung bezeichnet wird. In der prädikativen Bedeutung von(1b)ist die prädikative Bedeutung von (1a) als Modifikator (siehe Gerling/Orthen(1979)) enthalten: (1a) = ETWAS HEFTIG HIN UND HER BEWEGEN (1b) = ETWAS DURCH HEFTIGES HIN-UND-HER-BEWEGEN ZUM HERUNTERFALLEN BRINGEN Das Variationsmuster, in dem wie beim Verb schütteln die eine prädikative Bedeutung in der anderen prädikativen Bedeutung als Modifikator enthalten ist, nenne ich Modifikatortyp. Unter den Variationsmustern des Modifikatortyps nenne ich dasjenige, das das Verb schütteln bildet, schütteln-Variationsmuster. Diesem Muster folgen z. B. die Verben der Beispiele(1)bis(7)oben. 3.2 Fokusverschiebungstyp Im Falle des Verbs schälen wird im Satz(11a)mit der syntaktischen Struktur NP (NOM)____ NP(AKK) eine(nicht-lokale)Zustandsveränderung ausgedrückt, während im Satz(11 b) mit der syntaktischen Struktur NP(NOM)____ NP(AKK) PP die lokale Veränderung eines Gegenstandes von einem Ausgangspunkt 95 ausgedrückt wird. (11) a. Er schält die Kartoffeln. NP(NOM)____ NP(AKK) b. Er schält die Rinde vom Baum. NP(NOM)____ NP(AKK)PP Wichtig ist hierbei, daß die beiden prädikativen Bedeutungen in einer “un-trennbaren” Beziehung stehen, und zwar so: Die prädikative Bedeutung von (11a)setzt einerseits die prädikative Bedeutung von(11b), nämlich die lokale Veränderung eines Gegenstandes, voraus, andererseits impliziert die prädikative Bedeutung von(11b)als logische Folge die prädikative Bedeutung von(11a), nämlich die(nicht-lokale)Zustandsveränderung. Die jeweilige prädikative Bedeutung hängt davon ab, welches Element in der semantischen Struktur Ausgangs-punktes oder dominiert: die lokale die Zustandsveränderung Veränderung des Gegenstandes. des Das Variationsmuster, in dem wie beim Verb schälen zwischen den prädikativen Bedeutungen die Beziehung von Folgerung und Voraussetzung besteht, nenne ich Fokusver-schiebungstyp. Unter den Variationsmustern des Fokusverschiebungstyps nenne ich dasjenige, das das Verb schälen bildet, schälen-Variationsmuster. Diesem Muster folgen z.B. folgende Verben: (12) a. Er bürstet den Sessel. b. Er bürstet den Staub vom Sessel. (13) a. Er fegt das Zimmer. b. Er fegt die Blätter in die Ecke. (14) a. Er kämmt sich das Haar. b. Er kämmt sich den Staub aus den Haaren. (15) a. Er schabt Karotten. b. Er schabt den Teig aus dem Topf. (16) a. Er spült die Gläser. b. Er spült die Seift aus den Haaren. (17) a. Er wäscht das Handtuch. b. Er wäscht die Flecken aus dem Handtuch. Der Unterschied zwischen dem Modifikatortyp und dem Fokusverschiebungstyp 96 kann wie folgt zusammengefaßt werden: Handlung lokale Zustands- Veränderung veränderung Modifikatortyp Fokusverschiebungstyp a + - - b + + - a + - + b + + - 3.3 Umpolungstyp Im Falle des Verbs öffnen wird im Satz(18 a)mit der syntaktischen Struktur NP (NOM)____ sich ein Vorgang ausgedrückt(“intransitive Bedeutungsvariante”), während im Satz(18b)mit der syntaktischen Struktur NP(NOM)____ NP(AKK) die den Vorgang bewirkende Handlung ausgedrückt wird ( “transitive Bedeu-tungsvariante”). (18) a. Die Tür öffnet sich. NP(NOM)____ sich b. Er öffnet die Tür. NP(NOM)____ NP(AKK) Das Variationsmuster, in dem wie beim Verb öffnen zwischen den prädikativen Bedeutungen eine Plus-minus-Opposition in bezug auf ein bestimmtes semanti-sches Merkmal(hier:[CAUS]) besteht, nenne ich Umpolungstyp. Unter den Variationsmustern des Umpolungstyps nenne ich dasjenige, das das Verb öffnen bildet, öffnen-Variationsmuster. Diesem Muster folgen z. B. folgende Verben: (19) a. Die Reifen haben sich schnell abgefahren. b. Er hat die Reifen schnell abgefahren. (20) a. Die Tablette löst sich im Wasser auf b. Er löst eine Tablette im Wasser auf (21) a. Das Gummiband dehnt sich. b. Er dehnt das Gummiband. (22) a. Das Blech hat sich gebogen. b. Er biegt das Blech. 97 (23) a. Der Stein löst sich. b. Er löst den Stein aus der Mauer. (24) a. Der Teppich rollt sich an den Rändern. b. Er hat den Teppich gerollt. (25) a. Die Tür hat sich wieder geschlossen. b. Er schließt die Tür. 4. Variatlonsmuster und Inhärente Verbbedeutung In 3. habe ich versucht, drei Variationstypen zu definieren. Ich möchte nun zeigen, daß zwischen den dort behandelten Variationsmustern und der inhärenten Verbbedeutung regelhafte Beziehungen bestehen. Um dieses Problem zu behandeln, muß zuerst klargemacht werden, welche prädikative Bedeutung in der jeweiligen semantischen Variation als inhärente Verbbedeutung betrachtet werden soll, weil nur eine prädikative Bedeutung mit der inhärenten Verbbedeutung identisch sein kann. Das ist beim jetzigen Stand der Forschung eine offene Frage. Es gibt kein theoretisches Verfahren, mit dem bestimmt werden kann, welche prädikative Bedeutung als inhärente Verbbedeutung betrachtet werden soll.3 Diese Frage kann nur durch weitere empirische Untersuchungen beantwortet werden. Hier gehe ich vorläufig von meiner intuitiven Bestimmung der inhärenten Verbbedeutung aus und untersuche unter dieser Annahme, ob zwischen den jeweiligen Variationsmustern und der inhärenten Verbbedeutung regelhafte Beziehungen bestehen. 4.1 Das schütteln-Variationsmuster Als inhärente Verbbedeutung betrachte ich beim schütteln-Variationsmuster diejenige prädikative Bedeutung, die als Modifikator in der prädikativen Bedeutung der jeweils anderen Struktur enthalten ist. Das trifft auf die a-Sätze in den Beispielen(1)bis(7)zu. Der Grund dafür ist, daß der Bedeutungsinhalt der prädikativen Bedeutung der a-Sätze abstrakter ist als der der prädikativen Bedeutung der b-Sätze. In Zaima(1985)wird dargestellt, daß den inhärenten Verbbedeutungen, die dem schütteln-Variationsmuster folgen, ein semantisches Merkmal [ +Aktivität ] gemeinsam ist. Aufgrund dieser Feststellung kann eine Variationsregel aufgestellt 98 werden, die angibt, daß die Verben mit dem semantischen Merkmal[+Aktivität] grundsätzlich4 das schütteln-Variationsmuster bilden können. Das semantische Merkmal[+Aktivität] zeigt, daß es sich bei der betreffenden Verbbedeutung um eine Handlung handelt, die keine lokale bzw. zustands-bezogene Veränderung als Resultat hat. Das Gegenteil davon ist das semantische Merkmal[+Resultativität]. Dieses Merkmal beinhaltet, daß es sich bei der betreffenden Verbbedeutung um eine Handlung handelt, die eine lokale bzw. zustandsbezogene Veränderung als Resultat hat. 4.2 Das schälen-Variationsmuster Als inhärente Verbbedeutung betrachte ich beim schälen-Variationsmuster die prädikative Bedeutung, die die(nicht-lokale)Zustandsveränderung bezeichnet. Das trifft auf die a-Sätze in den Beispielen(11)bis(17)zu. Das Hauptargument für diese Annahme ist, daß diese prädikative Bedeutung im Gebrauch geläufiger ist. Außerdem kann noch als Argument genannt werden, daß die prädikative Bedeutung, die eine lokale Veränderung eines Gegenstandes bezeichnet, eine spezielle Information über den zu entfernenden Gegenstand erfordert und in diesem Sinne eine “markierte” Verwendung ist. Zunächst kann festgestellt werden, daß den inhärenten Verbbedeutungen, die das schälen-Variationsmuster bilden, die semantischen Merkmale[+Resultativität] [+ Veränderung][+Zustand] gemeinsam sind. Außerdem kann im Vergleich mit anderen Variationsmustern dieses Typs(z. B. dem des Verbs packen5 ) als relevantes semantisches Merkmal des schälen-Variationsmusters festgestellt werden, daß die Zustandsveränderung dadurch entsteht, daß etwas von der betreffenden Stelle entfernt wird, d.h. die Zustandsveränderung ist “ausgangspunktorientiert”. Die bisherige Untersuchung zeigt, daß die vier semantischen Merkmale [+Resultativität][+Veränderung][+Zustand][+ausgangspunktorientiert] für die Bildung des schälen-Variationsmusters relevant sind. Aufgrund dieser Feststellung kann eine Variationsregel aufgestellt werden, die angibt, daß die Verben mit den schälen-Variations-muster bilden können. 99 betreffenden Merkmalen das 4.3 Das öffnen-Variationsmuster Als inhärente Verbbedeutung betrachte ich beim öffnen-Variationsmuster die prädikative Bedeutung, die einen Vorgang bezeichnet. Das trifft auf die a-Sätze in den Beispielen(18)bis(25)zu. Das Hauptargument für diese Annahme ist, daß diese prädikativen Bedeutungen inhaltlich weniger umfassend sind als die in der entsprechenden transitiven Verwendung. Außerdem gibt es verschiedene Bei-spiele, in denen das semantische Merkmal[+CAUS] hinzugefügt wird.6 Mir scheint es deswegen leichter, eine Regel für das Hinzufügen des Merkmals als eine Regel für das Weglassen des Merkmals aufzustellen. Zunächst kann im Vergleich mit anderen intransitiven Verben festgestellt werden, daß den inhärenten Verbbedeutungen, die das öffnen-Variationsmuster bilden, die semantischen Merkmale[+Vorgang][+Veränderung] gemeinsam sind. Außerdem kann im Vergleich mit anderen Variationsmustern dieses Typs(z.B. dem des Verbs rollen, das ohne reflexives Pronomen eine intransitive Bedeutungsvariante ausdrückt: Das Faß rollt. / Er rollt das Faß., aber: *Das Faß rollt sich. ) das semantische Merkmal [ +Zustand ] als relevantes Merkmal festgestellt werden. Während die Verben mit einer nicht-reflexiven intransitiven Bedeutungsvariante wie rollen eine lokale Veränderung bezeichnen, bezeichnen die Verben des öffnen-Variationsmusters eine ( nicht-lokale ) Zustandsverän-derung. Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, daß die semantischen Merkmale [ +Vorgang ] [ +Veränderung ] [ +Zustand ] für die Bildung des öffnen-Variationsmusters relevant sind. Aufgrund dieser Feststellung kann eine Variationsregel aufgestellt werden, die angibt, daß die Verben mit den betreffenden Merkmalen das öffnen-Variationsmuster bilden. Die obige Analyse zeigt, daß für die inhärente Bedeutung der Verben, die ein bestimmtes Variationsmuster bilden, mindestens ein gemeinsames semantisches Merkmal angenommen werden kann, d.h. daß das Variationsmuster der prädikativen Bedeutungen, die durch die Wechselbeziehung mit der syntaktischen Struktur zum Ausdruck gebracht werden, anhand bestimmter semantischer Merkmale vorhergesagt werden kann. 5. Formalisieruig Abschließend will ich die Frage behandeln, wie diese Erscheinung im Lexikon 100 beschrieben werden kann und soll. Die ( valenzrelevanten semantischen Merk-male der)prädikativen Bedeutungen und ihre syntaktische Struktur sind grundsätzlich immer kongruent. Wenn also, wie oben gesehen, zwischen den semantischen Merkmalen der inhärenten Verbbedeutung und deren prädikativen Bedeutungen eine vorhersagbare Beziehung besteht, dann ist als logische Folge anhand der semantischen Eigenschaften der inhärenten Verbbedeutung auch die syntaktische Struktur vorhersagbar. Um die prädikativen Bedeutungen, die aufgrund der inhärenten Verbbedeutung gebildet werden, im Lexikon als semantische Einheiten beschreiben zu können, muß eine Regelkomponente7 angenommen werden, in der die Regeln bezüglich der Bildung der verschiedenen prädikativen Bedeutungen enthalten sind. Unten stelle ich grob dar, wie diese “Variationsregeln” bezüglich der obigen Beispiele aussehen können. 5.1 Komponente der lexikalischen Einheiten Die oben beschriebenen Verben werden als lexikalische Einheiten in der Komponente der lexikalischen Einheiten wie folgt charakterisiert. Die Abkürzung pM bedeutet “phonologische Merkmale” ( die aber hier orthogra-phisch und in Großbuchstaben wiedergegeben werden, um die Lexikonbe-schreibung zu vereinfachen), sS bedeutet “syntaktische Struktur” und sM “semantische Merkmale”. [---] weist darauf hin, daß weitere semantische Merkmale vorliegen, die aber hier nicht angegeben werden. schütteln pM: /SCHÜTTELN/ sS: NP(NOM)____ NP(AKK) sM: [+Aktivität] [---] schälen pM: /SCHÄLEN/ sS: NP(NOM)____ NP(AKK) sM: [+Resultativität] [+Veränderung] [+Zustand] 101 [+ausgangspunktorientiert] [---] öffnen pM: /ÖFFNEN/ sS: NP(NOM)____ sich sM: [+Vorgang] [+Veränderung] [+Zustand] [---] 5.2 Komponente der Variationsregeln Die Variationsregeln, die auf die obigen Verben anwendbar sind, werden grob in der Komponente der Variationsregeln wie folgt beschrieben. Das Zeichen “&” bezeichnet die spezifischen(phonologischen und semantischen)Merkmale der lexikalischen Einheit, auf die diese Regeln angewendet werden. (Ⅰ)Modifikatorregel a)Anwendungsbedingung: [+Aktivität] b)Variation: i) ii) inhärente Bedeutung ⇒ Modifikator Hinzufügen von [+Resultativität][+Veränderung] [+Lage] c)generierte prädikative Bedeutung: pM: /&/ sS: NP(NOM)____ NP(AKK)PP sM: [+Resultativität]/[+Veränderung]/[+Lage]/[+durch &] (II)Fokusverschiebungsregel a) Anwendungsbedingung: [+Resultativität][+Veränderung][+Zustand] [+ausgangspunktorientiert] b) Variation: i) Weglassen von [+Zustand][+ausgangspunktorientiert] ii) Hinzufügen von [+Lage] c) generierte prädikative Bedeutung: pM: /&/ sS: NP(NOM)____ NP(AKK)PP sM: [+Resultativität]/[+Veränderung]/[+Lage]/[+[---]von &] 102 (III)Umpolungsregel a) Anwendungsbedingung: [+Vorgang][+Veränderung][+Zustand] b) Variation: Hinzufügen von [+CAUS] c) generierte prädikative Bedeutung: pM: /&/ sS: NP(NOM)____ NP(AKK) sM: [+CAUS]/[+&] 5.3 Generierte prädikative Bedeutungen Wenn die oben dargestellten Regeln auf die lexikalischen Einheiten angewendet werden, die die betreffenden Bedingungen erfüllen, werden folgende prädikative Bedeutungen generiert. Dabei bezeichnet die großgeschriebene orthographische Version in sM die semantischen Merkmale der jeweiligen lexikalischen Einheit: A) falls die Modifikatorregel auf das Lexem schütteln angewendet wird: pM: /SCHÜTTELN/ sS: NP(NOM)____ NP(AKK)PP sM: [+Resultativität]/[+Veränderung]/[+Lage]/ [+durch SCHÜTTELN] Beispiel: Er schüttelt die Äpfel vom Baum. B) falls die Fokusverschiebungsregel auf das Lexem schälen angewendet wird: pM: /SCHÄLEN/ sS: NP(NOM)____ NP(AKK)PP sM: [+Resultativität]/[+Veränderung]/[+Lage]/ [+[- - -]von SCHÄLEN] Beispiel: Er schält die Rinde vom Baum. C) falls die Umpolungsregel auf das Lexem öffnen angewendet wird: pM: /ÖFFNEN/ sS: NP(NOM)____ NP(AKK) sM: [+CAUS]/[+OFFEN WERDEN] Beispiel: Er öffnet die Tür. 103 6. Zusammenfassung In 5. habe ich vorgeschlagen, daß das Lexikon zwei Komponenten enthalten soll, nämlich eine Komponente, in der die primären lexikalischen Einheiten be-schrieben werden, und eine Komponente, in der die Variationsregeln, die anhand bestimmter generieren und semantischer entsprechend Merkmale ihre neue syntaktischen semantische Strukturen Einheiten bestimmen, beschrieben werden. Durch die Aufstellung dieser “generativen” Regelkomponente wird es möglich, Bedeutungsvarianten desselben Verbs systematisch zu erklären und wichtige Regularitäten in bezug auf die Bedeutungsvarianten der Verben generell zu erfassen. Außerdem wird dadurch auch der Mechanismus erklärt, nach dem entsprechende Ad-hoc-Bildungen ermöglicht werden. Es muß gesagt werden, daß das von mir vorgeschlagene Verfahren nur einen Teil der Verbbedeutungen “bewältigt”, und zwar die Bedeutung derjenigen Verben, die mit lokaler Veränderung bzw. mit Zustandsveränderung zu tun haben. Für andere Verben müssen möglicherweise neue (entsprechende) Regeln formuliert werden. Die Richtigkeit meiner Annahmen soll durch weitere empirische Untersuchungen, die den größten Teil der deutschen Verben umfassen, überprüft und bestätigt werden. Als nächster Schritt wird die Präfigierung untersucht, die ebenso wie die “semantisch relevanten Strukturen”(Schmidt(1965))die semantische Variation der Verbbedeutung ermöglicht. 104 Literatur Bolinger, D. (1977): Meaning and Form. London. Engelen, B. (1975): Untersuchungen zu Satzbauplan und Wortfeld in der geschriebenen deutschen Sprache der Gegenwart. München. Filimore, Ch. (1971): Some Problems for Case Grammar. In: Working Papers in Linguistics 10 (Ohio), S.245-265. Gerling, M./Orthen, N. (1979): Deutsche Zustands- und Bewegungsverben. Tübingen. Green, G (1969): On the Notion ,Related Lexical Entry'. In: Papers from the Fifth Regional Meeting. Chicago Linguistic Society, Chicago. 5.76-88. Schmidt, W. (1965): Lexikalische und aktuelle Bedeutung. Berlin (Ost). Tabata,Y. (1984): Zur Analyse der Variationsmuster. In: DER KEIM Nr.8 (Tokyo), S.57-73. Zaima, S. (1982): Syntaktisch-semantisch bedingte “handlungsbezogene” Bedeutung. In: S. Zaima (Hg.): Verhältnis und Zusammenwirken zwischen Wort- und Satzbedeutung. (Maschinenschr.) Tokyo. S.1-40. ―― (1985): tougo-teki imi-teki kankyo ni jouken-zukerareta dousi-teki imi In: Tokyo Gaikokugo Daigaku Ronsyu 34 (Tokyo), 5. 1-8. Zimmermann, I. (1984): Die Rolle des Lexikons in der Grammatik. In: Deutsch als Fremdsprache, Heft 1 und 2, S.8-17 und S.71-81. Anm.: 1 Das Problem der “Mehrdeutigkeit” ist ein altes Thema der Linguistik. Seit einiger Zeit wird immer mehr aufgrund neuer linguistischer Erkenntnisse die Relevanz der konkreten syntaktischen Umgebung bei der Konstruktion der Verb-bedeutung in den Vordergrund gestellt, siehe z.B. Green(1969), Fillmore (1971), Zimmermann(1984). 2 Zur weiteren semantischen Charakterisierung der Variationsmuster siehe Tabata(1984). Die hier behandelten drei Variationsmuster sind möglicherweise “produktiver” als andere. 3 Vgl. die Unterscheidung zwischen der aktuellen Bedeutung und der lexikali-schen Bedeutung von Schmidt(1965). 4 Ob die konkreten Sätze, die nach den “Variationsregeln” generiert werden, 105 akzeptabel sind oder nicht, hängt davon ab, ob es einen entsprechenden Mitteilungsinhalt gibt oder nicht. 5 Das Verb packen kann die lokale Veränderung eines Gegenstandes nicht nur vom Ausgangspunkt weg, sondern auch zum Endpunkt hin bezeichnen: Er packt den Koffer./Er packt die Kleider aus dem Koffer./Er packt die Kleider in den Koffer. 6 Als Beispiele dafür können folgende genannt werden: (1) a. Er streicht die Wand. b.Er streicht die Wand weich. (2) a. Er ißt viel. b. Er ißt sich krank. 7 Diese Regelkomponente kann durch die Einführung der “Redundanzregeln” der Transformationellen Generativen Grammatik noch vereinfacht werden. 106