Prof. Dr. Max Wingen Ministerialdirektor a.D. D – 53125 B o n n An den Buchen 12 “Anmerkungen zu Stand, Schwerpunkten und Desideraten familienwissenschaftlicher Forschung“ ( Impulsreferat am 19.9.2002 auf dem Symposium des ZFG der KUE) I. Die familienwissenschaftliche Forschungslage im Überblick In Orientierung an den Schwerpunkten und Themenfeldern, die sich aus einer Reihe von „Spiegeln“ ablesen lassen, sind zu dem - im übrigen durch Vorurteile und Emotionen stark befrachteten Forschungsgebiet einige allgemeinere Einsichten hervorzuheben: - zunächst einmal die nach dem Zweiten Weltkrieg zu beobachtende starke Dynamik in der Entwicklung und Verbreiterung der Familienforschung über die Jahrzehnte hinweg, etwa seit der Einrichtung des Bundesfamilienministeriums (im Herbst 1953), wobei die meisten Themenbehandlungen in dem weiten Publikationsfeld in möglichst auch empirischer Orientierung immer wieder mit sozial- und familienstatistischen Grundlagen untermauert sind. Die vergleichsweise bescheidenen Möglichkeiten des Rückgriffs zu Anfang der 1950er Jahre auf familiebezogene Forschungsergebnisse waren weitaus geringer als die Möglichkeiten heute, ( wenngleich Ad. Geck auch schon zu Anfang der 1950er Jahre aus vorrangig sozialwissenschaftlicher Sicht mit Blick auf die in den vorangegangenen Jahrzehnten erschienenen vor allem familiensoziologischen Studien im Inund gerade auch im Ausland feststellte, dass eine Fülle von Arbeiten über die Familienprobleme vorliege). Die erhebliche Verbesserung der familienwissenschaftlich orientierten Infrastruktur heute sollte einmal positiv zur Kenntnis genommen werden, ohne damit von Desideraten abzulenken. Im Feld der praktischen Politik fehlt es jedenfalls weithin weniger an soliden Einsichten als vielmehr an der politischen Bereitschaft und Kraft zur Umsetzung der Folgerungen aus dem als richtig Erkannten. - die sich als sinnvoll erweisende, wenngleich oft auch in getrennten Publikationen erfolgende Zusammenführung von neueren Theorie- und komplexen Forschungsansätzen mit einer großen Breite der Gebiete der Familienforschung. Letztere reichen von der Analyse der Interaktionssysteme von Ehe und Familie sowie speziellen Lebens- und Familienformen über materielle und rechtliche Rahmenbedingen der Familien (auch solchen mit speziellen sozialen Problemen) und Transferleistungen bzw. -wirkungen auch zu anderen gesellschaftlichen Teilsystemen sowie Intergenerationsbeziehungen im Familienverband bis hin zu normativen Perspektiven und sog. öffentlich-praktischen Unterstützungsleistungen und -wirkungen. Dabei ist immer wieder auch das theoretische Bemühen vorhanden, menschliches Verhalten in der Familie und auf Familie hin (eingeschränkt) rational zu erklären. - die sich aufdrängende Beteiligung verschiedener Wissenschaftsdisziplinen, und zwar keineswegs nur der Soziologie (Familiensoziologie) und Ökonomik (Familienökonomik), Demographie (Familiendemographie), sondern ebenso der Rechtswissenschaft (Familien- und Jugendrecht), der Psychologie (Familienpsychologie), der Pädagogik (Familienpädagogik), der Geschichtswissenschaft bis hin zur (Sozial-)Ethik – wenngleich nur zu oft auch in getrennt von einander erfolgenden Arbeiten. - die – für wissenschaftliche Arbeit im Grunde selbstverständliche – notwendige Einbeziehung der internationalen Diskussion über die bisherigen Ergebnisse der Familienforschung und vor allem ihrer Entwicklungstrends; hier ist insbesondere die Rezeption der „New Home Economic“ (Neuen Haushaltsökonomik) aus den USA (G. Becker, T.W. Schultz) durch K.F. Zimmermann, W. Meyer und H.G. Krüsselberg hervorzuheben, die schon Mitte der 1980er Jahre auch im Sozialwissenschaftlichen 1 Ausschuss des Vereins für Socialpolitik aufgegriffen wurde, als dieser die Familie als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung behandelte. H.G. Krüsselberg hat seinerzeit – in Verbindung mit der FaFo im Stat. Landesamt BW – von der empirischen Seite her einen bemerkenswerten Akzent in der deutschen familienwissenschaftlichen Forschung gesetzt und wichtige Grundlagen geliefert für den späteren 5. Familienbericht der Bundesregierung. Die Arbeiten des Sozialwissenschaftlichen Ausschusses wurden seinerzeit jedenfalls von den Beteiligten als Zeugnis dafür angesehen, dass die Fragen der Familienökonomie auch in Deutschland ein starkes Forschungsinteresse bildeten – obwohl dieses über eine engere Fachöffentlichkeit kaum hinausgedrungen ist. Zu diesem Einfluss aus dem internationalen Raum ist auch der insbesondere von K. Lüscher in den 1980er Jahren aufgegriffene „sozialökologische“ Ansatz in der Familienforschung von U. Bronfenbrenner festzuhalten. - die für die Weiterführung der familienwissenschaftlichen Forschung nützliche Einbeziehung praktisch-politischer Fragestellungen, womit der Gefahr einer Kluft zwischen Wissenschaft und Praxis begegnet werden kann und nicht nur durch Aufzeigen von Desideraten (i.S. bestehender handlungsbehindernder Wissenslücken) Anregungen für die wissenschaftliche Arbeit gegeben werden, sondern auch die in den letzten Jahren deutlich gestiegene berufspraktische Relevanz der Familienforschung verdeutlicht wird. Hierzu sei die These festgehalten, dass familienwissenschaftliche Arbeit sich gerade auch in der Begleitforschung von Projekten im Feld der Familienarbeit zu bewähren hat, in der Evaluation auch von Modellprojekten bzw. gesetzlichen Regelungen ( siehe z. B. die Ergebnisse der großen Evaluierungsstudie der FaFo zum Erziehungsgeld/Erziehungsurlaub in BW ). - schließlich die Verdeutlichung der Vielschichtigkeit familialer Wandlungsprozesse, die weder mit Veränderungsprozessen auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene noch mit anderen Trends, die systemintern zu beobachten sind, immer gleichförmig verlaufen müssen. Auf dem Hintergrund dieses Überblicks erscheint – und dies ist zur Charakterisierung des Forschungsstandes bemerkenswert – die Familienforschung nicht als eine eigenständige, geschlossene Wissenschaftsdisziplin. Vielmehr tritt ihre interdisziplinäre Vielfalt ebenso hervor wie die wissenschaftstheoretische Pluralität. II. Einige ausgewählte praxis- und familienpolitikbezogene Fragestellungen für die familienwissenschaftliche Forschung 1) Zum Familienverständnis Die familienwissenschaftliche Analyse wird zur möglichst umfassenden Wahrnehmung der sozialen Realität die unterschiedlichen Eltern-Kinder-Gemeinschaften (familiale Lebensgemeinschaften) im Blick haben müssen, und zwar gerade auch dann, wenn es z.B. in familienpolitikorientierter Sicht um möglichst treffsichere adressatenspezifische Ausgestaltungen familienpolitischer Maßnahmen geht. Sie wird aber auch die Gründe dafür herauszuarbeiten haben, dass die Verknüpfung der ElternKinder-Gemeinschaft mit dem Rechtsinstitut der Ehe als besonders erwünschte Familienform anzusehen ist, und zwar gerade auch im Blick auf das Kind und seinen Sozialisationsprozess. In der FP als stets wertbesetztem bzw. wertbezogenem Handeln werden unterschiedliche Werthaltungen auch in dem Verständnis dessen zum Ausdruck kommen, was Adressat der FP ist bzw. sein soll. Da eine FP in gesellschaftsordnungspolitischer Sicht die ehebezogene Familie – auch unter den Bedingungen einer wertepluralistischen Gesellschaft – als eine „Zielgröße“ ansprechen darf, wird die familienwissenschaftliche Fundierung einer solchen FP auch die Aufgabe haben, die konkrete Bedeutung der sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen herauszuarbeiten, unter denen die „Zielgröße“ ehebezogene Familie besonders lebbar ist, (ohne dass diese ein „Monopol“ für sich beanspruchen kann). 2 Deshalb wird auch nicht nur in der rechts-, sondern auch in der sozialwissenschaftlichen Analyse weiter auszuloten sein, in wie weit ein so wichtiges Staatsziel wie der „besondere Schutz“ von Ehe und Familie durch die staatliche Ordnung (was übrigens mehr umfasst als den Staat im engeren Sinne) mit der Institutsgarantie auch der Ehe tendenziell unterlaufen wird, wo ein Rechtsinstitut für die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft daneben tritt. Nachdem ein „Abstandsgebot“ zur Ehe vom BVerfG praktisch weggeräumt worden ist, bleibt zu fragen, wie weit hier noch der Unterschied zwischen dem verfassungsrechtlichen Schutz- und Fördergebot und einem solchen durch positives Recht trägt. Überhaupt wird mit dem allgemeineren Problem des Einflusses der Rechtsentwicklung auf das soziale System Familie und den familiären Lebensraum, auf die institutionellen und funktionalen Wandlungen der Familie, ein wichtiger Untersuchungsaspekt der familienwissenschaftlichen Forschung bezeichnet. Um den Zusammenhang von Ehe und Familie in seiner sozialethischen Bedeutung ausreichend in den Blick zu bekommen, wird es darauf ankommen, Familie nicht nur aus der Perspektive der Ehe, sondern Ehe auch aus der Perspektive der Familie zu sehen. Angesichts der starken Individualisierungstendenen gilt es zugleich, den Gruppencharakter der Familie – im Rückgriff auch auf frühe familiensoziologische Arbeiten etwa von A. Vierkandt und R. König – stärker zu beachten; zugleich ist aber auch in der familienwissenschaftlich untermauerten Familienbildungsarbeit herauszuarbeiten, was die soziale Institution Familie als eine zur Gesellschaft hin geöffnete Familie für die außerfamilialen Lebensgemeinschaften (einschließlich der christlichen Gemeinden) bis hin zur Gesamtgesellschaft bedeutet. Aus dieser familienwissenschaftlichen Sicht heraus kann auch der Gefahr begegnet werden, die Familienpolitik als reine „Familienmitgliederpolitik“ zu verstehen und ihren Charakter als „Institutionenschutzpolitik“ zu vernachlässigen – eine in der jüngeren familienpolitischen Diskussion durchaus sehr deutlich zu beachtende Gefahr. In der im Rahmen des Familienverständnisses auftauchenden Frage, ob unter den Familiemitgliedern heute das Kind als ein „öffentliches Gut“ angesehen werden kann, erscheint in dieser pauschalen Form große Zurückhaltung geboten. These: Nicht das Kind ist ein öffentliches Gut, sondern die familiäre Dienstleistung des Auf- und Erziehens des Kindes kann in dieser Kategorie gesehen werden und auch dann nur partiell, d.h. mit Elementen eines öffentlichen Gutes; sie stellt sich damit in der Sprache der Theorie der öffentlichen Güter als ein „Mischgut“ dar. Gleichwohl mag die Sichtweise von Kindern als „Investitionsgütern“ hilfreiche Einsichten vermitteln für die Beurteilung von Problemen der Familiengründung und –entwicklung; dabei könnte auf einen starken Rückgang des Wertes des Kindes als Investitionsgut für die einzelnen Eltern im Übergang zu modernen Industrieund Dienstleistungsgesellschaften verwiesen werden, während demgegenüber gefragt werden kann, ob davon nicht die Bedeutung des Kindes als eines Investitionsgutes für die Gesellschaft, insoweit also als eines „öffentlichen Gutes“ unterschieden werden muss. 2) Zur Bedeutung der veränderten Werteinstellungen in der Gesellschaft für die Entwicklung von Familien und die Entfaltung der FP Für die familienwissenschaftliche Forschung stellt sich die Aufgabe, die Tragweite gerade der Verbreitung des Menschentypus des „aktiven Realisten“, der gleichermaßen traditionelle und „moderne“ Werte schätzt und sich zwischen Altem und Neuem souverän zu bewegen weiß, für die Familienbildungsarbeit herauszuarbeiten. Die Frage wäre hier auch, in wie weit nicht der Wunsch nach konfliktfreierer Vereinbarung der Übernahme von Elternverantwortung mit Erwerbstätigkeit Ausdruck einer solchen Wertesynthese sein kann. Gerade in diesem Kontext wäre z.B. auch das inhaltliche Verständnis eines Begriffs wie der „Selbstverwirklichung“ in seiner Bedeutung für familiales Zusammenleben herauszuarbeiten. In der Familienbildungsarbeit liefe dies dann unter den Bedingungen einer wertepluralistischen Gesellschaft darauf hinaus, Selbstverwirklichung nicht als solche von vorneherein zu verteufeln, sondern inhaltlich so zu füllen, wie es einem personalen Menschen- und Gesellschaftsverständnis entspricht (s. schon vor vielen Jahren die Kammer für 3 soziale Ordnung der EKD mit der Feststellung, dass Selbstverwirklichung nicht nur durch Erwerbsarbeit, sondern auch dadurch zu haben ist, dass mehrere Kinder zu lebenstüchtigen Menschen erzogen werden). Da gesellschaftliche Werthaltungen sich in den in einer Gesellschaft geltenden Erziehungszielen spiegeln und wiederum z.B. in familienrechtliche Gesetze Eingang finden (s. das 1980 reformierte Kindschaftsrechts), stellt sich die Frage, inwieweit dem Recht eine erzieherische Funktion beizumessen ist. Diese familienwissenschaftlich ebenfalls wichtige Frage wird sowohl in der Rechtssoziologie und –philosophie als auch im Verfassungsrecht kontrovers diskutiert; die Möglichkeiten, über das Recht eine bestimmte Orientierung der Menschen auch tatsächlich zu erreichen, werden als begrenzt beurteilt. Der rechtssoziologische Forschungsstand, der von der familienwissenschaftlichen Forschung aufzugreifen und zu verifizieren oder aber zu falsifizieren wäre, rechtfertige, wie J. Limbach vor einigen Jahren festhielt, bisher nur bescheidene Hoffnungen, dass durch Gesetze ein Wandel gesellschaftlicher Einstellungen erreicht werden könne. Nun gibt es allerdings auch unverkennbar Tendenzen einer Einebnung von Werten, die es rechtfertigen können, von einem – begrenzten – Werteverfall zu sprechen, und zwar insbesondere von christlichen Wertvorstellungen. Hier käme es darauf an, noch sehr viel deutlicher die Tragweite von in der wertpluralistischen Gesellschaft verbleibender gemeinsamer Wertpositionen für die Familienentwicklung herauszustellen und auf dieser Grundlage „subkulturspezifische„ Wertorientierungen in ihrem Stellenwert für gelingendes Familienleben als Orientierungshilfen für eine Familienbildungsarbeit pluraler Träger zu verdeutlichen. Weit darüber hinausreichend wären die Möglichkeiten und Grenzen für die verstärkte Ausbildung eines „Familienbewusstseins“ in der Gesamtgesellschaft zu untersuchen, an dem es ebenso mangelt wie an einem „Bevölkerungsbewusstsein“ (im Unterschied zu einem mit staatlicher Unterstützung sehr viel ausgeprägteren Umweltbewusstsein). Gegenüber dem viel beschworenen Prozess der „Individualisierung“ des Lebens – „eine unreife Frucht der Aufklärung“ (Kard. Sterzinsky) – wäre aufzuarbeiten, wie verdeutlicht werden kann, dass der einzelne sich auch in seiner Verantwortung für die Gesamtgesellschaft sehen muss; speziell im Blick auf die generative Familienfunktion siehe auch „Gaudium et spes“ mit den dort vorgestellten Kriterien, die bei den Entscheidungen in der Weitergabe des Lebens zu berücksichtigen sind (bei grundsätzlicher Pflicht zur Geburtenregelung!); 3) Zum Verhältnis von individuellen Transferleistungen und kollektiven Sach- und Dienstleistungen für Familien Da es hier im Grunde nicht um ein Entweder-Oder geht und beide Ansatzpunkte, nämlich auf der Ebene der individuellen Transferleistungen und auf der Ebene der kollektiven Sach- und Dienstleistungen, in ihrer je eigenständigen Bedeutung nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen, wird die familienwissenschaftliche Forschung zur weiteren Klärung der bisher keineswegs ausreichend und konsensfähig geklärten Gewichtung beitragen müssen, die beiden Ansätzen in problemangemessener und damit sachgerechter Ausgewogenheit beizumessen ist. Dabei gewinnen – über die ökonomische Ebene hinausreichende – Wirkungsanalysen der Aufwendungen für Familien eine besondere Bedeutung; wirtschaftliche Maßnahmen für Familien müssen sich auch nach dem befragen lassen, was sie auf einer metaökonomischen Ebene tatsächlich für die familiale Lebensentfaltung und vor allem den Sozialisationsprozess des Kindes bewirken. Eine bisher ebenfalls unzureichend untersuchte Fragestellung lässt sich mit dem Stichwort der „Lenkungswirkung“ von Familienleistungen bezeichnen, bei der die Gefahr des politikleitenden Einflusses vorgefasster und im rationalen Diskurs aufzudeckender ideologischer Positionen groß ist. Ein konkretes, aktuelles Beispiel bildet das Verhältnis von FLA-Leistungen und außerhäuslicher Kleinkindbetreuung, ein Feld, auf dem die Ausprägung „verzerrter Präferenzen“ zu vermeiden ist. 4 4) Zur Ausformulierung des Modells der intertemporalen Umschichtung von Lebenseinkommen des einzelnen Obwohl Gerh. Mackenroth schon zu Beginn der 1950er Jahre (in seinem großen Vortrag vor dem Verein für Socialpolitik) den FLA bekanntlich als die „sozialpolitische Großaufgabe des zwanzigsten Jahrhunderts“ bezeichnet hat, ist eine wirklich zufriedenstellende Regelung auch am Beginn des neuen Jahrhunderts immer noch nicht gefunden und markiert eine noch zu lösende Aufgabe. Dabei stehen neben dem FLA i.e.S. auch die übrigen Zweige der sozialen Sicherung zur Diskussion, die auf ihre familiengerechtere Ausgestaltung hin zu überdenken sind. Für die gesetzliche Pflegeversicherung kann auf die Auflage des BVerfG verwiesen werden; aber auch für die anderen Zweige der Sozialversicherung ist dem Gesetzgeber die Behandlung der Familie bis spätestens Ende 2004 zu „überdenken“ aufgegeben. Bisher sind hier eher Denkpausen zu beobachten als eine Vorlage konkreter Handlungskonzepte. In der familienpolitischen Diskussion werden im übrigen bisher kaum die Denkansätze zur Weiterentwicklung des FLA aufgegriffen, die in jüngerer Zeit - etwa vom Wiss. Beirat für Familienfragen beim BMFSFJ - angesprochen worden sind. Hier wäre eine Neubearbeitung und Aktualisierung der Vorstellungen, wie sie W. Schreiber schon Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre in die Diskussion eingebracht hat, zu leisten. 5) Zur bewussten Berücksichtigung der generativen Familienfunktion der Sicherung der Generationenfolge im Konzept einer ganzheitlichen FP Der in der theoretischen Diskussion gar nicht so neue Ansatz einer auch „bevölkerungsbewussten FP“ wäre erst recht angesichts der inzwischen weiter zugespitzten demographischen Problemlage unseres Gemeinwesens aufzugreifen. Das bedingt allerdings einen familienwissenschaftlich abzusichernden unbefangeneren Umgang mit einer Thematik, die bisher immer noch weithin tabuisiert ist, d.h. ausgegrenzt ist von dem, was zu sagen erlaubt ist. Eine familienwissenschaftliche Forschung, die die Gesamtheit familialer Grundfunktionen – auch im Rahmen von FP-Beratung - im Blick zu haben hat, darf die generative Funktion der Sicherung der Generationenfolge nicht ausblenden. (Siehe dazu auch die verschiedenen eigenen Arbeiten aus jüngerer Zeit, u.a. in den „Familienpolitischen Denkanstößen“, Bd. 1 der Reihe Gesellschaftspolitische Studien des ZFG, 2001.) 6) Zur Frage, wie das „Familienproblem“ besser im Zusammenhang gesehen und durch eine familienbezogene gesellschaftliche Querschnittspolitik angegangen werden kann Die familienwissenschaftliche Forschung wird verstärkt die einzelnen Defizitfaktoren im Bereich von Familiengründung und –entwicklung in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit sichtbar machen müssen. Damit kann das Systemwissen einer ganzheitlichen FP weiter konkretisiert und praxisbezogen entfaltet werden, wie sehr der Erfolg eines bestimmten familienpolitischen oder etwa familienberaterischen Ansatzes, also die Erreichung eines bestimmten Teilziels, abhängt von der gleichzeitigen erfolgreichen Verwirklichung anderer Teilziele. In diesem Kontext rückt nicht zuletzt die Entfaltung einer eigenständigen unternehmerischen FP in einem gesellschaftsordnungspolitischen Gesamtkonzept in das Blickfeld. Es gibt dazu bemerkenswerte Einzelbeispiele; aber es fehlt – trotz Wettbewerbe zum familienfreundlichen Betrieb und dessen Zertifizierung – noch immer an der breitenwirksamen Umsetzung. So stellt sich die Frage: Können prämierte Vorbilder von unternehmerischer FP wirklich zu durchgreifenden Strukturveränderungen in der verstärkt globalisierten Erwerbsarbeitswelt führen? Die Antwort auf diese Frage erscheint zumindest unter Tendenzen einer internationalen Vorherrschaft von Kapitalverwertungsinteressen eher zweifelhaft. 7) Zu den Aufgaben der FP als gesellschaftlicher Querschnittspolitik in einer Kompetenzordnung für die EU 5 Angesichts der im Grunde unstrittigen Notwendigkeit einer möglichst klar abgegrenzten Ordnung der Kompetenzen von Brüssel einerseits und der Mitgliedstaaten andererseits bedarf es einer besseren Abklärung des Standorts der FP als gesellschaftlicher Querschnittspolitik in einer solchen Kompetenzordnung. Die eigene These lautet: Es wäre wohl nicht vertretbar zu sagen, die FP falle allein in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Wenn es richtig ist, dass FP gesellschaftliche Querschnittspolitik ist, dann muss sie – bei aller föderaler Struktur der Gemeinschaft - auch dort wirksam verankert werden, wo die EU auf der supranationalen Ebene ihr unbestritten zugeschriebene Aufgaben (s. Art. 3 EU-Vertrag) zu erfüllen hat. Die laufenden Diskussionen um eine Europäische Verfassung bzw. einen Verfassungsvertrag bieten hier einen wichtigen Einstieg in diesen Fragenkomplex. Zugleich sind die Grundlagen einer auch „zuwanderungsbewussten FP“ (als Teil einer bevölkerungsbewussten FP) weiter zu verbessern. An dieser Stelle sei der Aufriss einiger ausgewählter Fragestellungen für die familienwissenschaftliche Forschung abgebrochen, obwohl er sich fortsetzen ließe, so z.B. in Richtung der für eine treffsichere FP notwendigen Machbarkeitsstudien oder der Untersuchung der Bedingungen für die Umsetzung von familienwissenschaftlichen Forschungsergebnissen in Form von Modellentwicklungen und in den Grundlagen der Aus- und Weiterbildung von Fachkräften im Feld der Familienarbeit, aber auch in Gestalt der kleinräumigeren Familienberichterstattung. Vielmehr seien noch einige Anmerkungen zur Grundlegung der Familienwissenschaft eingebracht. III. Sind wir auf dem Wege von einer betont interdisziplinären Familienforschung zu einer eigenständigen Disziplin „Familienwissenschaft“? Was insgesamt noch wenig entwickelt ist, ist die integrative Bündelung und Verschränkung der verschiedenen disziplinären Ansätze in einer interdisziplinär (nicht nur multidisziplinär) ausgerichteten Herangehensweise an den Forschungsgegenstand Familie. Eine solche bildet sich erst allmählich heraus, wird aber inzwischen mehr und mehr als zum Verständnis familienwissenschaftlicher Arbeit gehörig angesehen. Dabei stehen im Vordergrund Familienökonomik, Familiensoziologie/–psychologie, Familiendemographie, Familienrecht und Familienpädagogik, ohne dass sich darin ein interdisziplinärer, d.h. mehrere Disziplinen umfassender Ansatz erschöpfen muss. Interdisziplinarität in der Familienwissenschaft bedeutet, Familienprobleme durch die Brille unterschiedlicher wissenschaftlicher Ansätze zu untersuchen, womit letztlich ein schärferer Blick auf die Probleme gewonnen wird. Als Beispiel für die Notwendigkeit einer interdisziplinären Fundierung von Erklärungsansätzen für familiäre Verhaltensweisen kann die verschiedentlich herausgearbeitete im Ergebnis begrenzte Aussagekraft der Ökonomischen Theorie der Familie etwa für das Geburtenverhalten angesehen werden. Das interdisziplinäre Vorgehen bedingt dabei Kommunikation zwischen den Vertretern der einzelnen Disziplinen, die ihre je eigene Sichtweise, aber eben auch ihren nur „partikulären Blick“ einbringen. In der Addition, mehr noch: in der wechselseitigen Verknüpfung ergibt sich ein Gesamtbild von Familie und Familienproblemen, aus dem sich vertieftere und umfassendere Einsichten ergeben, als der einzelne Fachvertreter durch seine spezielle Brille hätte gewinnen können. Dies setzt allerdings die Bereitschaft voraus, in gewissem Grade „disziplinäre Scheuklappen“ abzulegen; aber auch die Fächergrenzen sind durchlässiger zu machen, und erst recht sind methodische Engführungen zu vermeiden. Ein besonderes Problem liegt darin, im Dialog zwischen den Disziplinen die Bedeutung der verschiedenen disziplinären Brillen problembezogen richtig abzuwägen, um ein oft komplexes Problem der Familie als Einheit, in Teilen vielleicht sogar als widersprüchliche Einheit (siehe z.B. die Ambivalenz der Generationenbeziehungen in der Familie) erfassen zu können. Mit dem Verweis auf die „ganzheitliche“ Erfassung des Gegenstands Familie ist allein allerdings noch keine Erkenntnis gewonnen, sondern wird nur erst das Bewusstsein für die Notwendigkeit geschärft, sich darum durch Integration der vorhandenen Detailansätze und –lösungen zu bemühen. Dies wiederum macht eine 6 Vermittlungs- oder Übersetzungsarbeit zwischen den einzelnen Disziplinen mit ihren je eigenen Wissenschaftssprachen und Modellen erforderlich, damit die notwendige Verständigung (auf der Grundlage von sich gegenseitig verständlich machen) erreicht werden kann. Es versteht sich, dass immer wieder der Gefahr begegnet werde muss, die eigenen partiellen Erklärungen zur einzig zulässigen Erklärung der Wirklichkeit von Familie zu machen, und dass das Bewusstsein dafür wach zu halten ist, dass verschiedene wissenschaftliche Zugriffsweisen ihre Berechtigung haben. Geht es doch um verschiedene Betrachtungsweisen der einen Wirklichkeit. Im Dialog zwischen den verschiedenen (Ursprungs-)Disziplinen müssen deren Vertreter sich in den je disziplinspezifischen Voraussetzungen zur Kenntnis nehmen und respektieren. Es muss die Bereitschaft einer Disziplin bestehen, die eigenen (hergebrachten und oft unkritisch übernommenen) Voraussetzungen im Dialog mit anderen Disziplinen befragen zu lassen, zu überdenken und gegebenenfalls auch zu korrigieren. Für die Weiterentwicklung der familienwissenschaftlichen Forschung ist jüngst ein richtungweisendes Signal erster Ordnung mit der Einrichtung der für Deutschland erstmaligen Professur für Familienwissenschaft an der Universität Erfurt gesetzt worden. Sind wir damit nun endgültig auch auf dem Wege zu einer eigenständigen Fachdisziplin Familienwissenschaft? R. Nave-Herz hat in dem oben genannten Handbuch (1989) einige Kriterien benannt, deren Fehlen es in Deutschland noch nicht erlaubten, von Familienwissenschaft als einer eigenen Fachdisziplin zu sprechen. Dazu zählte sie, dass die Spezialisierung im Hinblick auf den Gegenstandsbereich „Familie“ nicht so weit fortgeschritten sei, dass eine thematische Abspaltung aus den „Ursprungswissenschaften“ erfolgt sei, die Familienforscher vielmehr in erster Linie ihrer jeweiligen Fachdisziplin verbunden seien, es sodann keine entsprechenden Lehrstühle an Universitäten gebe, sondern nur vereinzelte Schwerpunktbildungen innerhalb einer Fachdisziplin (und im übrigen noch keine entsprechenden wissenschaftlichen Vereinigungen und nur fachspezifische, aber keine Lehrbücher zur Familienwissenschaft existierten). Seit dieser Lagebeurteilung ist die Entwicklung, wie angedeutet, erfreulicherweise weitergegangen. Aber auch ein Jahrzehnt später wird im Österreichischen Familienbericht (1999) noch festgehalten, es gebe kein Fach Familienwissenschaft; die Familienforschung sei zwar eine eigenständige interdisziplinäre Forschungsrichtung, aber keine etablierte eigene Disziplin, sondern ein Feld, das von Psychologie, Soziologie, Bevölkerungs-, Rechtsund Wirtschaftswissenschaft bis hin zur Medizin oder Philosophie behandelt werde – also als ein „weites Feld“ erscheint, um mit Fontane zu sprechen. Es bleibt abzuwarten, in wie weit es gelingen wird, den Prozess der Institutionalisierung von Familienwissenschaft und ihrer Verselbständigung als Fachdisziplin voranzubringen, der vor allem in den USA weiter fortgeschritten ist. Hier steht eine weitere Klärung der theoretischen und methodischen Grundlagen einer Disziplin Familienwissenschaft an und signalisiert sozusagen ein wissenschaftstheoretisches Desiderat der familienwissenschaftlichen Forschung „in ureigener Sache“. Angesichts der Ausdifferenzierung des sozialwissenschaftlichen Arbeitsfeldes mit immer weiteren Spezialisierung von Einzeldisziplinen spricht einiges dafür, auch die Zusammenschau und Zusammenführung sich ergänzender wissenschaftlicher Erkenntniswege nicht aus dem Auge zu verlieren und zu bewältigen – vor allem dort, wo es um ganzheitliche Lebenswelten wie die Familie geht. Wenn es zur Ausprägung einer eigenständigen Disziplin kommen soll, wird es gelingen müssen, im Blick auf den Gegenstandsbereich Familie gerade die Verknüpfung unterschiedlicher hauptbeteiligter Fachdisziplinen zum tragfähigen Spezifikum der integrativen Disziplin Familienwissenschaft zu machen. Hier ist noch einiges an wissenschaftstheoretischer und methodologischer Arbeit zu leisten. Im Blick auf eine Disziplin Familienwissenschaft scheint ein Prozess in der Richtung zu verlaufen, dass auf der Suche nach ganzheitlicher Erfassung von Lebenszusammenhängen des sozialen Systems Familie sich aus verschiedenen familienbezogenen Disziplinen - wie Familiensoziologie, psychologie, -ökonomik, -demographie und –recht – eine übergreifende eigenständige Familienwissenschaft herausbildet, eine Entwicklung, deren Zeuge wir womöglich gegenwärtig sind. Der Begriff der Familienwissenschaft kann (und sollte ) im übrigen so weit gefasst werden, dass dazu nicht nur eine tragfähige allgemeine Familientheorie (die noch weithin der Entfaltung harrt), also die theoretischen Analysen zur Familie mit dem Ausschöpfen der Erklärungspotentiale der 7 unterschiedlichen familientheoretischen Ansätze gehören, sondern auch die wissenschaftliche Durchdringung des familienpolitischen Handlungsfeldes i.S. der Lehre von der Familienpolitik mit in ihr durchschlagenden bereichsübergreifenden, wertbesetzten Leitbildern (= gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen) und bereichsspezifischen Ziel-Mittel-Systemen sowie in der Ausformung mit ihren Aspekten von policy, politics und polity. Im interdisziplinären Ansatz werden dann gerade auch politikwissenschaftliche Grundlagen eine besondere Bedeutung haben für eine solche familienwissenschaftlich begründete Theorie der - in eine übergeordnete soziale Ordnungspolitik mit ihren Werturteilen über ihre Prinzipien integrierten – Familienpolitik, deren Grundlagen um so überzeugender sind, je besser eine von interessenkämpferischen und (partei)machtpolitischen Verzerrungen freie Aufhellung des Gegenstandes ihres denkerischen Bemühens gelingt. Wenn es richtig ist, dass Wissenschaften sich gerade auch durch den Beitrag zur Bewältigung konkreter gesellschaftlicher Probleme zu legitimieren haben, dann gilt dies auch für eine sich in Ansätzen festigende und wissenschaftsorganisatorisch bewusst zu festigende Disziplin Familienwissenschaft zur Überwindung eines „strukturellen Ordnungsdefizits“ im sozialen Bereich im Hinblick auf Familie, auf das schon vor über zwei Jahrzehnten hingewiesen werden musste. Ein Ausbau der interdisziplinären Ausrichtung der familienwissenschaftlichen Forschung erscheint gerade auch dort wichtig, wo der Anspruch auf Praxis- und Familienpolitikberatung gefragt ist; denn das Denken in Einzeldisziplinen fragmentiert in gewissem Grade zwangsläufig die Wahrnehmung der Wirklichkeit der Lebenseinheit Familie und ihrer weithin komplexen Probleme. Wie schwierig indessen die Entwicklung interdisziplinärer Forschungsstrategien, erst recht einer eigenständigen Fachdisziplin ist, zeigen nicht zuletzt die Erfahrungen aus der Arbeit des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen beim Bundesfamilienministerium, der sich erst über eine Reihe von Jahren hin zu einem wirklich (begrenzt) interdisziplinär arbeitenden Gremium hin entwickelt hat (was der Verf. persönlich über mehrere Jahrzehnte begleiten und fördern konnte). Und auch dort, wo sich interdisziplinäre Arbeitsweise entwickeln konnte (wie in diesem Beirat), zeigten sich in der praktischen Arbeit von der Anzahl der beteiligten Disziplinen her zugleich die Grenzen in der Integration unterschiedlicher Disziplinen. Gleichwohl sollte auf diesen Ansatz nicht verzichtet werden, wo die Familie in ihrer „Totalität“ mit ihren Binnenstrukturen, Außenbeziehungen und äußeren Lebensbedingungen Gegenstand politischen Handelns ist. An diesem Ort an der KUE sei eine Feststellung von Pius XII. von vor über einem halben Jahrhundert festgehalten: Der einzige Maßstab des Fortschritts, so bemerkte er sinngemäß, ist die Schaffung und Sicherung immer umfassenderer und günstigerer Bedingungen für den Bestand und die Entfaltung der Familie als einer wirtschaftlichen, sozialen, rechtlichen sittlichen und religiösen Einheit. Diese Feststellung bleibt auch am Beginn des neuen Jahrhunderts richtungweisend und fordert für die Grundlegung einer solchermaßen zukunftsbezogenen Gesellschafts- und Familienpolitik die familienwissenschaftliche Forschung in einer sich wandelnden Gesellschaft immer neu heraus. Dabei sollte auch die von A. Habisch (2002) befürwortete „Bündelung interdisziplinärer Neuansätze zu einem sozialethischen Leitbegriff von Familie als integralem Bestandteil nachhaltiger Gesellschaftsordnung“ nicht fehlen, wäre dies doch ein bedeutsamer Beitrag zu als dringend erwünscht anzusehenden Reformen gesellschaftlicher Strukturen, die vor der Zukunft Bestand haben. In diesem Sinne kann man den Arbeiten hier im ZFG in den nächsten Jahren nur viel Erfolg wünschen! ------------------------------------ 8