Ein junger Mann aus Italien beweist, dass dem menschlichen

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05.12.2005
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The Brain.
Ein junger Mann aus Italien beweist, dass dem menschlichen Erinnerungsvermögen keine Grenzen gesetzt sind. Ein gutes Gedächtnis
zu haben, lässt sich lernen, behauptet Gianni Golfera. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist: Es ist verdammt harte Arbeit.
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GIANNI GOLFERA
Gianni sieht eigentlich wie ein ganz normaler, netter Junge
Sommerferien. Ich war vielleicht zehn oder elf und habe
aus. 28 Jahre alt, schmächtig, braune Haare, braune Augen,
Freunde getroffen, die ich im Alter von drei Jahren
ein wacher Blick, ein ernster Zug um den Mund. Doch Gianni
kennen gelernt hatte. Wir hatten damals zusammen am Strand
hat etwas, um das ihn viele beneiden. Etwas, wofür einige
gespielt. Ich war total erstaunt, als ich merkte, dass meine
bereit wären, viel Geld zu zahlen. Etwas, das selbst die
Freunde sich nicht daran erinnern konnten. Wenig später traf
Wissenschaftler auf den Plan lockt.
ich ein Ehepaar wieder, das ich im Alter von einem Jahr im
Gianni Golfera hat das erwiesenermaßen beste Gedächtnis auf
Beisein meiner Eltern gesehen hatte. Ich grüßte das Paar und
Erden. Stopp – richtig muss es heißen: das beste Gedächtnis,
stellte mich vor. Als sie sich nicht an mich erinnern konnten,
das jemals mit modernen Mitteln erforscht worden ist.
erzählte ich ihnen, was sie damals – vor zehn Jahren – mit mei-
Eine Kostprobe? Gianni kann eine Serie von 10 000 Zahlen
nen Eltern besprochen hatten. Es waren recht persönliche
wiederholen, nachdem er sie einmal gehört hat. Er kennt
Dinge und sie stimmten alle. Deshalb glaubte mir das Ehepaar
Hunderte philosophische Werke buchstäblich auswendig. Er
schließlich. Aber ich bemerkte, wie unheimlich ich ihnen war.
kann sich Vor- und Zunamen von 1000 Personen merken,
Da wurde mir bewusst: Ich bin anders als die andern.“
die ihm der Reihe nach vorgestellt werden. Gianni kann eine
Das Schlüsselerlebnis folgt wenig später. In der Schule, wo
400-stellige Zahl im Kopf dividieren. Er fing im Alter von
Giannis außergewöhnliches Gedächtnis nicht unentdeckt
sechs Monaten zu sprechen an und kann sich an sämtliche
bleibt, empfiehlt ein Lehrer dem damals Zwölfjährigen,
Ereignisse erinnern, die sich ab seinem achten Lebensmonat
Giordano Bruno zu lesen. Den großen Philosophen, Dichter –
ereignet haben.
und Gedächtniskünstler – aus dem Mittelalter, der vor vier-
Ja, Gianni ist ein Phänomen.
hundert Jahren den Tod auf dem Scheiterhaufen fand.
„Ich selbst habe allerdings erst recht spät bemerkt, dass ich
Gianni vertieft sich in das Werk „De umbris idearum“, zu
anders bin als die anderen“, erzählt er. „Es war in den
Deutsch „Vom Schatten der Ideen“, das er erst einmal aus
dem Lateinischen ins Italienische übersetzt. Er erkennt, dass
Bruno lehrt, was er spontan und ganz natürlich immer
schon praktiziert hat: das assoziative Lernen.
Gianni Golfera:
„Mein Gedächtnis ist
in hundert unterschiedliche Speicherkammern
aufgeteilt – thematischassoziativ natürlich.“
„Giordano Brunos Buch hat mein Leben komplett verändert“,
erzählt Gianni. „Ich fing an, richtig zu pauken. Nach und
nach las ich die großen Philosophen des Mittelalters bis zurück in die Antike – von Ignatius von Loyola bis Cicero.
Bücher, die ich Wort für Wort auswendig lernte, weil mich
deren Inhalt so begeisterte und weil ich dank des Studiums
von Giordano Bruno gelernt hatte, meine Gedächtnisleistung
zu verbessern und zu verfeinern.
Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Das war Arbeit, von
nichts kommt nichts. Ich stand jeden Morgen um vier Uhr auf
und studierte meine Bücher bis um sieben Uhr. Dann machte
ich mich fertig und ging zur Schule.“
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Ja, die Schule. Klar, Golfera war ein Außenseiter. Er konnte
Ein Umstand, der die Wissenschaftler auf den Plan ruft. Kann
nicht verstehen, dass seine Mitschüler sich so schwer taten,
es denn sein, dass Giannis außergewöhnliche Gedächtnis-
Dinge zu lernen und zu behalten. Umgekehrt muss er für sie
leistung Vererbungssache ist? Und könnte es denn nicht sein,
eine Art Außerirdischer gewesen sein, der sie zu Tode lang-
dass eine genetische Mutation dafür verantwortlich ist, dass
weilte. „Ich habe mein Leben lang nicht ein einziges Mal Ball
die Golferas – Vater wie Sohn – sich so viel mehr merken
gespielt, nicht einmal Fußball, und ich lebe in Italien.“
können als Normalsterbliche?
Fleiß ist schön und gut. Aber geht das tatsächlich mit rechten
Gianni willigt ein, sich untersuchen zu lassen. Der Neuro-
Dingen zu? Im Alter von 17 Jahren hatte Gianni Golfera
psychologe Stefano Cappa und der Neurobiologe Antonio
261 philosophische Schinken auswendig gelernt, das Abitur
Malgaroli vom Forschungsinstitut der Universität Vita-Salute
gemacht sowie den Flugschein in der Tasche, um Berufspilot
San Raffaele in Mailand durchleuchten das Gehirn des
zu werden. Wie sein Vater. Der übrigens ist der einzige Pilot,
Jungen. Zuerst versuchen sie, die Grenzen seiner Gedächtnis-
der ganz ohne topografische Karten fliegt. Diese Unterlagen
leistung zu bestimmen. Vergeblich. Nachdem Gianni eine
benötigt er nicht, er kennt alle Fluglinien und Flugkoordinaten
Zahlenreihe von 10 000 Zahlen nach einmaligem Hören
Europas auswendig.
fehlerfrei wiederholt, geben sie auf. Als Nächstes forschen
sie nach einem Gen, das bei Gianni anders ist als bei anderen
Menschen. In der Hoffnung, so das bis dato unentdeckte
Gen zu identifizieren, das für das Erinnerungsvermögen
„Ich habe mein Leben
lang nicht ein einziges
Mal Ball gespielt,
nicht einmal Fußball,
und ich lebe in Italien.“
verantwortlich ist.
Die Untersuchungen bringen zu Tage, dass Giannis Gene sich in
nichts von anderen unterscheiden. Vererbung erklärt seine Fähigkeiten offensichtlich lediglich zu 15 Prozent – wie bei jedem
Menschen. Die übrigen 85 Prozent sind Übung und Technik.
Das rückt Gianni zwar wieder in den Bereich der Normalität.
Gleichzeitig macht es seine Gedächtnisleistung noch verblüffender. Wieso kann sich der Junge so viel merken?
Aus Gründen, über die nur spekuliert werden kann, verwendete Gianni von Anfang an – will heißen von Geburt an – eine
Lern- und Speichertechnik, die sich von der herkömmlichen
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GIANNI GOLFERA
unterscheidet, weil sie fast ausschließlich mit Bildern arbeitet.
Jeder kennt die Situation: Ein bestimmtes Gesicht scheint
bekannt, doch der dazugehörige Name will einem beim besten
Willen nicht einfallen. Das ist ganz und gar normal, denn die
Fähigkeit, sich an gesehene Dinge zu erinnern, ist weitaus größer als das Vermögen, sich Wörter, Zahlen und Namen ins
Gedächtnis zu rufen.
Das Gehirn besitzt offenbar tatsächlich zwei getrennte
Systeme, in denen es einerseits bildhafte, andererseits sprachliche Erinnerungsstücke speichert. Experimente zeigen, dass
optische Eindrücke direkt gespeichert werden, während das
Gehirn Wörter und andere sprachliche Symbole dechiffrieren,
„Wenn wir uns Dinge
nur schwer merken
können, dann ist das
kein Kapazitätsproblem
– sondern nur ein
Ordnungsproblem.“
sortieren und neu chiffrieren muss. Bei diesem komplizierten
Vorgang können offenbar nicht so viele Informationen aufge-
nommen werden. Auch Gerüche rufen starke Erinnerungen
nen fast von alleine geschieht. Sobald er einen neuen Namen
hervor. Das liegt daran, dass der Geruchssinn direkt mit
hört, eine neue Telefonnummer oder ein historisches Datum,
dem limbischen System, dem Gefühlszentrum des Gehirns,
bildet sein Gehirn blitzschnell eine assoziative Verbindung –
verbunden ist.
schon ist die neue Information gespeichert. Das mag so ähn-
Genau diesen Umstand machte sich Giannis Hirn von Anfang
lich sein wie bei einem guten Pianisten. Setzt sich dieser an sein
an zunutze. „Ich denke und lerne in Bildern und in Emotio-
Instrument und fängt an zu spielen, denkt er auch nicht zuerst
nen“, sagt er. „Deshalb funktioniert mein Gedächtnis so gut.
an die einzelnen Noten und steuert dann seine Finger bewusst.
Ich versuche nicht, mir Dinge durch Logik zu merken, sondern
Er spielt quasi automatisch.
durch Assoziationen. Dadurch kann ich Eindrücke direkt
Das assoziative System funktioniere auch sehr gut beim Erler-
speichern. Dieses System ist nicht neu. Wie gesagt, Giordano
nen einer Fremdsprache, erklärt Gianni. „Möchte ich mir zum
Bruno hat es bereits im Mittelalter gelehrt. Neu ist nur, dass
Beispiel das deutsche Wort ,Kartoffel‘ merken, so denke ich
ich es von Geburt an spontan angewandt habe.“
an das italienische Wort ,carta‘, Papier, das ähnlich klingt.
Gianni Golferas Gehirn ist in puncto assoziatives Denken so
Dann stelle ich mir eine Kartoffel vor, die so heiß ist, dass ich sie
geschult und trainiert, dass das Abspeichern der Informatio-
in ein Papier einhüllen muss, weil ich mir sonst die Finger >
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Verbindung mit dem Gefühl. Ist es mir zum Beispiel wichtig zu
wissen, dass der Kurs der Fiat-Aktie bei sieben Euro notiert,
schaffe ich im Kopf das Bild eines Freundes, der in einem Fiat
davonfährt.
Geht es dagegen um Dinge, die in einer gewissen Reihenfolge
stehen, verwende ich die Technik, die bereits Cicero anwandte, um seine langen und wortgewaltigen Reden vorzubereiten:
Ich mache einen imaginären Spaziergang durch eine sehr vertraute Gegend, zum Beispiel von zu Hause zur Arbeit, und verbinde die einzelnen Punkte, die ich mir merken will, mit den
einzelnen Stationen, an die mich mein Spaziergang führt, vom
Schlafzimmer übers Bad in die Küche und so fort.“
Diese Art von assoziativem und emotionalem Denken lässt
sich erlernen. Gianni gibt – wie so manch anderer Gedächtniskünstler auch – Kurse. Er hat dafür sogar eine eigene Lehrmethode entwickelt, die er in Anlehnung an seinen Namen
Gigotec (Gianni Golfera Technique) nannte.
Seine Kunden sind Top-Manager, Abgeordnete des italienischen Parlaments oder Künstler wie die Sängerin Gianna
Nannini, die seine Kurse besucht, um sich ihre Liedtexte leichter merken zu können. Der Kurs dauert in der Regel zwanzig
„Das System ist
nicht neu. Neu ist
nur, dass ich es von
Geburt an spontan
angewendet habe.“
Stunden und kostet 1400 Euro. Auch in Deutschland hat
Gianni bereits Kurse abgehalten. Außerdem entwickelte er ein
E-Learning-Programm. Die italienische Postbehörde hat
davon jüngst Lizenzen für 300 000 Euro gekauft, um ihre
Mitarbeiter fit zu machen.
Das System, bestätigen die Teilnehmer von Giannis Kursen
immer wieder, funktioniert. Allerdings erfordert es viel Übung
und Ausdauer. „Das menschliche Gehirn verfügt über
100 Milliarden Neuronen“, erklärt Gianni. „Wenn wir uns
Dinge nicht oder nur schwer merken können, dann ist das
Daran lässt sich arbeiten. Das Gedächtnis der meisten
färbe ich das Papier rosa. Und schon habe ich ein neues Wort
Menschen sieht eben aus wie eine ungeordnete Bibliothek.
gelernt.“
Jede neue Erinnerung wird irgendwo abgelegt. Verständlich,
„Bei allem, was mit Zahlen zu tun hat, wende ich ein anderes
dass sie sich dann, wenn sie gebraucht wird, nur schwer fin-
System an“, fährt er fort. „Dazu ist eine gewisse Vorleistung
den lässt. „Mein Gedächtnis hingegen ist eine tiptop geordne-
notwendig. Ich muss zunächst für mich selber eine Reihe von
te Bibliothek“, sagt Gianni Golfera, „weil ich jede neue
starken Emotionen katalogisieren. Jeder Emotion wird dabei
Erinnerung sofort in das richtige Regal einordne und bei
eine Zahl zugeordnet.
Bedarf blitzschnell wieder herausziehen kann. Ich habe mein
Ich, zum Beispiel, habe hundert solcher Gefühle abgespeichert.
Gedächtnis in hundert unterschiedliche Speicherkammern
Gefühl Nummer sieben etwa ist jenes, das man empfindet,
aufgeteilt, thematisch-assoziativ natürlich.“
wenn ein guter Freund abreist und man weiß, dass man ihn nie
Natürlich. Oder könnte es denn nicht doch sein, dass die
wiedersehen wird. Oder: Gefühl Nummer 38 ist jenes der
Wissenschaftler, die Giannis Gehirn erforscht haben, etwas
Ohnmacht, das man als Kind empfunden hat, wenn man
übersehen haben? Ein zweites Gehirn vielleicht?
etwas wollte, die Eltern es aber verboten haben. Will ich mir
nun etwas merken, bringe ich diesen Sachverhalt in
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Text: Sabine Holzknecht
Fotos: Marcello Bianco c/o Marcus Schwenzel
kein Kapazitätsproblem, sondern ein Ordnungsproblem.“
verbrenne. Um zu behalten, dass die Kartoffel weiblich ist,
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