RZ_PW01/06_Innen_Anzeigen 05.12.2005 13:55 Uhr Seite 110 The Brain. Ein junger Mann aus Italien beweist, dass dem menschlichen Erinnerungsvermögen keine Grenzen gesetzt sind. Ein gutes Gedächtnis zu haben, lässt sich lernen, behauptet Gianni Golfera. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist: Es ist verdammt harte Arbeit. RZ_PW01/06_Innen_Anzeigen 05.12.2005 13:55 Uhr Seite 111 how to live it GIANNI GOLFERA Gianni sieht eigentlich wie ein ganz normaler, netter Junge Sommerferien. Ich war vielleicht zehn oder elf und habe aus. 28 Jahre alt, schmächtig, braune Haare, braune Augen, Freunde getroffen, die ich im Alter von drei Jahren ein wacher Blick, ein ernster Zug um den Mund. Doch Gianni kennen gelernt hatte. Wir hatten damals zusammen am Strand hat etwas, um das ihn viele beneiden. Etwas, wofür einige gespielt. Ich war total erstaunt, als ich merkte, dass meine bereit wären, viel Geld zu zahlen. Etwas, das selbst die Freunde sich nicht daran erinnern konnten. Wenig später traf Wissenschaftler auf den Plan lockt. ich ein Ehepaar wieder, das ich im Alter von einem Jahr im Gianni Golfera hat das erwiesenermaßen beste Gedächtnis auf Beisein meiner Eltern gesehen hatte. Ich grüßte das Paar und Erden. Stopp – richtig muss es heißen: das beste Gedächtnis, stellte mich vor. Als sie sich nicht an mich erinnern konnten, das jemals mit modernen Mitteln erforscht worden ist. erzählte ich ihnen, was sie damals – vor zehn Jahren – mit mei- Eine Kostprobe? Gianni kann eine Serie von 10 000 Zahlen nen Eltern besprochen hatten. Es waren recht persönliche wiederholen, nachdem er sie einmal gehört hat. Er kennt Dinge und sie stimmten alle. Deshalb glaubte mir das Ehepaar Hunderte philosophische Werke buchstäblich auswendig. Er schließlich. Aber ich bemerkte, wie unheimlich ich ihnen war. kann sich Vor- und Zunamen von 1000 Personen merken, Da wurde mir bewusst: Ich bin anders als die andern.“ die ihm der Reihe nach vorgestellt werden. Gianni kann eine Das Schlüsselerlebnis folgt wenig später. In der Schule, wo 400-stellige Zahl im Kopf dividieren. Er fing im Alter von Giannis außergewöhnliches Gedächtnis nicht unentdeckt sechs Monaten zu sprechen an und kann sich an sämtliche bleibt, empfiehlt ein Lehrer dem damals Zwölfjährigen, Ereignisse erinnern, die sich ab seinem achten Lebensmonat Giordano Bruno zu lesen. Den großen Philosophen, Dichter – ereignet haben. und Gedächtniskünstler – aus dem Mittelalter, der vor vier- Ja, Gianni ist ein Phänomen. hundert Jahren den Tod auf dem Scheiterhaufen fand. „Ich selbst habe allerdings erst recht spät bemerkt, dass ich Gianni vertieft sich in das Werk „De umbris idearum“, zu anders bin als die anderen“, erzählt er. „Es war in den Deutsch „Vom Schatten der Ideen“, das er erst einmal aus dem Lateinischen ins Italienische übersetzt. Er erkennt, dass Bruno lehrt, was er spontan und ganz natürlich immer schon praktiziert hat: das assoziative Lernen. Gianni Golfera: „Mein Gedächtnis ist in hundert unterschiedliche Speicherkammern aufgeteilt – thematischassoziativ natürlich.“ „Giordano Brunos Buch hat mein Leben komplett verändert“, erzählt Gianni. „Ich fing an, richtig zu pauken. Nach und nach las ich die großen Philosophen des Mittelalters bis zurück in die Antike – von Ignatius von Loyola bis Cicero. Bücher, die ich Wort für Wort auswendig lernte, weil mich deren Inhalt so begeisterte und weil ich dank des Studiums von Giordano Bruno gelernt hatte, meine Gedächtnisleistung zu verbessern und zu verfeinern. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Das war Arbeit, von nichts kommt nichts. Ich stand jeden Morgen um vier Uhr auf und studierte meine Bücher bis um sieben Uhr. Dann machte ich mich fertig und ging zur Schule.“ > 01.06 pw 111 RZ_PW01/06_Innen_Anzeigen 05.12.2005 GIANNI GOLFERA 13:55 Uhr Seite 112 how to live it Ja, die Schule. Klar, Golfera war ein Außenseiter. Er konnte Ein Umstand, der die Wissenschaftler auf den Plan ruft. Kann nicht verstehen, dass seine Mitschüler sich so schwer taten, es denn sein, dass Giannis außergewöhnliche Gedächtnis- Dinge zu lernen und zu behalten. Umgekehrt muss er für sie leistung Vererbungssache ist? Und könnte es denn nicht sein, eine Art Außerirdischer gewesen sein, der sie zu Tode lang- dass eine genetische Mutation dafür verantwortlich ist, dass weilte. „Ich habe mein Leben lang nicht ein einziges Mal Ball die Golferas – Vater wie Sohn – sich so viel mehr merken gespielt, nicht einmal Fußball, und ich lebe in Italien.“ können als Normalsterbliche? Fleiß ist schön und gut. Aber geht das tatsächlich mit rechten Gianni willigt ein, sich untersuchen zu lassen. Der Neuro- Dingen zu? Im Alter von 17 Jahren hatte Gianni Golfera psychologe Stefano Cappa und der Neurobiologe Antonio 261 philosophische Schinken auswendig gelernt, das Abitur Malgaroli vom Forschungsinstitut der Universität Vita-Salute gemacht sowie den Flugschein in der Tasche, um Berufspilot San Raffaele in Mailand durchleuchten das Gehirn des zu werden. Wie sein Vater. Der übrigens ist der einzige Pilot, Jungen. Zuerst versuchen sie, die Grenzen seiner Gedächtnis- der ganz ohne topografische Karten fliegt. Diese Unterlagen leistung zu bestimmen. Vergeblich. Nachdem Gianni eine benötigt er nicht, er kennt alle Fluglinien und Flugkoordinaten Zahlenreihe von 10 000 Zahlen nach einmaligem Hören Europas auswendig. fehlerfrei wiederholt, geben sie auf. Als Nächstes forschen sie nach einem Gen, das bei Gianni anders ist als bei anderen Menschen. In der Hoffnung, so das bis dato unentdeckte Gen zu identifizieren, das für das Erinnerungsvermögen „Ich habe mein Leben lang nicht ein einziges Mal Ball gespielt, nicht einmal Fußball, und ich lebe in Italien.“ verantwortlich ist. Die Untersuchungen bringen zu Tage, dass Giannis Gene sich in nichts von anderen unterscheiden. Vererbung erklärt seine Fähigkeiten offensichtlich lediglich zu 15 Prozent – wie bei jedem Menschen. Die übrigen 85 Prozent sind Übung und Technik. Das rückt Gianni zwar wieder in den Bereich der Normalität. Gleichzeitig macht es seine Gedächtnisleistung noch verblüffender. Wieso kann sich der Junge so viel merken? Aus Gründen, über die nur spekuliert werden kann, verwendete Gianni von Anfang an – will heißen von Geburt an – eine Lern- und Speichertechnik, die sich von der herkömmlichen 112 pw 01.06 RZ_PW01/06_Innen_Anzeigen 05.12.2005 13:55 Uhr Seite 113 how to live it GIANNI GOLFERA unterscheidet, weil sie fast ausschließlich mit Bildern arbeitet. Jeder kennt die Situation: Ein bestimmtes Gesicht scheint bekannt, doch der dazugehörige Name will einem beim besten Willen nicht einfallen. Das ist ganz und gar normal, denn die Fähigkeit, sich an gesehene Dinge zu erinnern, ist weitaus größer als das Vermögen, sich Wörter, Zahlen und Namen ins Gedächtnis zu rufen. Das Gehirn besitzt offenbar tatsächlich zwei getrennte Systeme, in denen es einerseits bildhafte, andererseits sprachliche Erinnerungsstücke speichert. Experimente zeigen, dass optische Eindrücke direkt gespeichert werden, während das Gehirn Wörter und andere sprachliche Symbole dechiffrieren, „Wenn wir uns Dinge nur schwer merken können, dann ist das kein Kapazitätsproblem – sondern nur ein Ordnungsproblem.“ sortieren und neu chiffrieren muss. Bei diesem komplizierten Vorgang können offenbar nicht so viele Informationen aufge- nommen werden. Auch Gerüche rufen starke Erinnerungen nen fast von alleine geschieht. Sobald er einen neuen Namen hervor. Das liegt daran, dass der Geruchssinn direkt mit hört, eine neue Telefonnummer oder ein historisches Datum, dem limbischen System, dem Gefühlszentrum des Gehirns, bildet sein Gehirn blitzschnell eine assoziative Verbindung – verbunden ist. schon ist die neue Information gespeichert. Das mag so ähn- Genau diesen Umstand machte sich Giannis Hirn von Anfang lich sein wie bei einem guten Pianisten. Setzt sich dieser an sein an zunutze. „Ich denke und lerne in Bildern und in Emotio- Instrument und fängt an zu spielen, denkt er auch nicht zuerst nen“, sagt er. „Deshalb funktioniert mein Gedächtnis so gut. an die einzelnen Noten und steuert dann seine Finger bewusst. Ich versuche nicht, mir Dinge durch Logik zu merken, sondern Er spielt quasi automatisch. durch Assoziationen. Dadurch kann ich Eindrücke direkt Das assoziative System funktioniere auch sehr gut beim Erler- speichern. Dieses System ist nicht neu. Wie gesagt, Giordano nen einer Fremdsprache, erklärt Gianni. „Möchte ich mir zum Bruno hat es bereits im Mittelalter gelehrt. Neu ist nur, dass Beispiel das deutsche Wort ,Kartoffel‘ merken, so denke ich ich es von Geburt an spontan angewandt habe.“ an das italienische Wort ,carta‘, Papier, das ähnlich klingt. Gianni Golferas Gehirn ist in puncto assoziatives Denken so Dann stelle ich mir eine Kartoffel vor, die so heiß ist, dass ich sie geschult und trainiert, dass das Abspeichern der Informatio- in ein Papier einhüllen muss, weil ich mir sonst die Finger > 01.06 pw 113 RZ_PW01/06_Innen_Anzeigen 05.12.2005 GIANNI GOLFERA 13:55 Uhr Seite 114 how to live it Verbindung mit dem Gefühl. Ist es mir zum Beispiel wichtig zu wissen, dass der Kurs der Fiat-Aktie bei sieben Euro notiert, schaffe ich im Kopf das Bild eines Freundes, der in einem Fiat davonfährt. Geht es dagegen um Dinge, die in einer gewissen Reihenfolge stehen, verwende ich die Technik, die bereits Cicero anwandte, um seine langen und wortgewaltigen Reden vorzubereiten: Ich mache einen imaginären Spaziergang durch eine sehr vertraute Gegend, zum Beispiel von zu Hause zur Arbeit, und verbinde die einzelnen Punkte, die ich mir merken will, mit den einzelnen Stationen, an die mich mein Spaziergang führt, vom Schlafzimmer übers Bad in die Küche und so fort.“ Diese Art von assoziativem und emotionalem Denken lässt sich erlernen. Gianni gibt – wie so manch anderer Gedächtniskünstler auch – Kurse. Er hat dafür sogar eine eigene Lehrmethode entwickelt, die er in Anlehnung an seinen Namen Gigotec (Gianni Golfera Technique) nannte. Seine Kunden sind Top-Manager, Abgeordnete des italienischen Parlaments oder Künstler wie die Sängerin Gianna Nannini, die seine Kurse besucht, um sich ihre Liedtexte leichter merken zu können. Der Kurs dauert in der Regel zwanzig „Das System ist nicht neu. Neu ist nur, dass ich es von Geburt an spontan angewendet habe.“ Stunden und kostet 1400 Euro. Auch in Deutschland hat Gianni bereits Kurse abgehalten. Außerdem entwickelte er ein E-Learning-Programm. Die italienische Postbehörde hat davon jüngst Lizenzen für 300 000 Euro gekauft, um ihre Mitarbeiter fit zu machen. Das System, bestätigen die Teilnehmer von Giannis Kursen immer wieder, funktioniert. Allerdings erfordert es viel Übung und Ausdauer. „Das menschliche Gehirn verfügt über 100 Milliarden Neuronen“, erklärt Gianni. „Wenn wir uns Dinge nicht oder nur schwer merken können, dann ist das Daran lässt sich arbeiten. Das Gedächtnis der meisten färbe ich das Papier rosa. Und schon habe ich ein neues Wort Menschen sieht eben aus wie eine ungeordnete Bibliothek. gelernt.“ Jede neue Erinnerung wird irgendwo abgelegt. Verständlich, „Bei allem, was mit Zahlen zu tun hat, wende ich ein anderes dass sie sich dann, wenn sie gebraucht wird, nur schwer fin- System an“, fährt er fort. „Dazu ist eine gewisse Vorleistung den lässt. „Mein Gedächtnis hingegen ist eine tiptop geordne- notwendig. Ich muss zunächst für mich selber eine Reihe von te Bibliothek“, sagt Gianni Golfera, „weil ich jede neue starken Emotionen katalogisieren. Jeder Emotion wird dabei Erinnerung sofort in das richtige Regal einordne und bei eine Zahl zugeordnet. Bedarf blitzschnell wieder herausziehen kann. Ich habe mein Ich, zum Beispiel, habe hundert solcher Gefühle abgespeichert. Gedächtnis in hundert unterschiedliche Speicherkammern Gefühl Nummer sieben etwa ist jenes, das man empfindet, aufgeteilt, thematisch-assoziativ natürlich.“ wenn ein guter Freund abreist und man weiß, dass man ihn nie Natürlich. Oder könnte es denn nicht doch sein, dass die wiedersehen wird. Oder: Gefühl Nummer 38 ist jenes der Wissenschaftler, die Giannis Gehirn erforscht haben, etwas Ohnmacht, das man als Kind empfunden hat, wenn man übersehen haben? Ein zweites Gehirn vielleicht? etwas wollte, die Eltern es aber verboten haben. Will ich mir nun etwas merken, bringe ich diesen Sachverhalt in 114 pw 01.06 Text: Sabine Holzknecht Fotos: Marcello Bianco c/o Marcus Schwenzel kein Kapazitätsproblem, sondern ein Ordnungsproblem.“ verbrenne. Um zu behalten, dass die Kartoffel weiblich ist,