von sinnen Stereosehen Rivalen der Sehbahn Weil unsere Augen dem Gehirn unterschiedliche Sinnesinformationen liefern, können wir räumlich sehen. Weichen die beiden Netzhautbilder jedoch zu sehr voneinander ab, sind die Folgen oft kurios. Von Vilayanur S. Ramachandran und Diane Rogers-Ramachandran W ir betrachten die Welt immer aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln – und zwar gleichzeitig. Glauben Sie nicht? Ist aber so. Denn unsere beiden Augen liegen an unterschiedlichen Stellen im Kopf und sehen daher auch jeweils etwas andere Bilder. Das Gehirn kann die Abweichung messen und schlägt daraus kräftig Kapital: Dank der »Stereopsis« sind wir in der Lage, räumliche Tiefe zu sehen. Strecken Sie doch einfach einmal einen Arm aus und deuten Sie auf ein fernes Objekt. Wenn Sie nun abwechselnd die Augen schließen, »springt« Ihr Finger im Verhältnis zum Objekt hin und her – eine direkte Folge des Lageunterschieds der Augen, die man Disparität nennt. Eigentlich ist es höchst verblüffend, dass wir nur ein Objekt wahrnehmen, obwohl wir doch zwei Bilder des Objekts empfangen – ebenso wie wir nur eine Banane spüren, auch wenn wir sie gleichzeitig mit beiden Händen anfassen. Offensichtlich führt unser Gehirn die Informationen zusammen und zimmert daraus einen einzigen Gegenstand. Doch was 62 passiert, wenn die Augen auf völlig unterschiedliche Dinge schauen? Führen Sie dazu folgendes Experiment durch. Besorgen Sie sich eine möglichst schwache Standardbrille, wie sie in Supermärkten oder Drogerien erhältlich sind. Befestigen Sie vor jedem Glas einen farbigen Filter, und zwar vor dem einen einen hellroten und vor dem anderen einen hellgrünen. Setzen Sie jetzt die Brille auf und betrachten Sie einen weißen Gegenstand oder eine weiße Oberfläche. Ist ein Auge geschlossen, sehen Sie entweder Rot oder Grün – soweit nicht verwunderlich. Doch was geschieht, wenn Sie beide öffnen? Verschmelzen die Farben in Ihrem Gehirn zu Gelb – so wie ein roter und ein grüner Lichtstrahl übereinander projiziert gelbes Licht ergeben? Die überraschende Antwort: Rot und Grün wechseln sich ab! Fast könnte man meinen, die beiden Augen würden sich ganz höflich gegenseitig den Vortritt lassen, um einen Konflikt zu vermeiden. Dieses Phänomen wird binokulare Rivalität genannt. Der Effekt ist derselbe, wenn Hin und her Beim Neckerwürfel schaltet das Gehirn alle paar Sekunden zwischen den beiden möglichen Sichtweisen um: von schräg oben nach schräg unten – und zurück. G&G 12_2007 Scientific American Kreuz und quer Sieht jedes Auge nur eines der beiden Streifenmuster, ergibt sich nicht etwa ein Gitter, sondern ein Mosaik aus Flecken mit jeweils der einen oder anderen Ausrichtung der Striche. scharfe Trennung Zum Stereosehen baut man sich am besten eine Trennwand, etwa aus einem Jason Lee Schnellhefter. Dann führt man die Nase Sie den Necker-Würfel betrachten (siehe Bild links). Bei dieser berühmten optischen Täuschung gibt es zwei mögliche Interpretationen der Perspektive (entweder das rechte obere Quadrat ist vorne oder das linke untere), die sich im Abstand von einigen Sekunden ablösen. In beiden Fällen meint der Beobachter, das Gesehene selbst würde sich verändern. Doch der visuelle Reiz an sich bleibt natürlich konstant. Vielmehr schwankt das Muster der Gehirnaktivität beim Betrachten, wodurch sich die Wahrnehmung än- www.gehirn-und-geist.de dert und die Illusion eines instabilen Objekts entsteht. Mit Hilfe der binokularen Rivalität lässt sich eine spannende Frage erforschen: nämlich, wie das Gehirn Wahrnehmungskonflikte löst. Was geschieht beispielsweise, wenn man den Augen an Stelle von unterschiedlichen Farben unterschiedliche Muster präsentiert – etwa zwei rechtwinklig zueinander verlau­ fende Streifenfelder (siehe Bilder ganz oben)? Werden sie ein Gitter bilden oder sich ­gegenseitig auslöschen? Weder noch! so nah heran, bis jedes Auge nur noch ein Bild zu sehen bekommt. Manch­mal tritt wieder der gleiche Effekt auf wie im vorigen Experiment und die Muster wechseln sich ab; es erscheint also entweder nur die eine oder die andere Streifenrichtung. Oft sieht man aber auch ein Mosaik aus Ausschnitten der Bilder beider Augen (Bild ganz oben rechts). Sie können dieses Experiment ganz einfach selbst durchführen (siehe Bild oben). Stellen Sie genau an die Grenze zwischen den Einzelbildern eine senkrechte Trennwand auf, zum Beispiel einen Schnellhefter. Bringen Sie den Kopf 63 graue Scheibe über dem äußeren Kreis zu schweben. Gleichzeitig tritt aber auch binokulare Rivalität auf: als Mosaik der Streifenmuster. so dicht an die Trennwand, dass Ihre Nase daran stößt, damit das linke Auge nur das eine Bild sieht und das rechte Auge nur das andere. Nun werden sich entweder die Streifen abwechseln oder ein fluktuierendes Mosaik erscheint – jedoch niemals ein durchgehendes Gitter. Mit etwas Übung kommen Sie sogar ohne Trennwand aus und erlernen die »freie Fusion« der beiden Bilder, indem Sie die Augen auf »unendlich« einstellen. Hierzu müssen Sie sozusagen durch die Bilder hindurch in die Ferne fokussieren. Rivalität zwischen den Augen selbst besteht und nichts mit der Verarbeitung von Farbe oder Form im Gehirn direkt zu tun hat. Doch zurück zur Stereopsis, bei der die Bilder fusionieren anstatt zu rivalisieren. Lange dürften die Menschen wohl geglaubt haben, der Vorteil von zwei Augen bestünde vor allem darin, nicht gleich blind zu sein, wenn man eines durch Kampf oder Unfall verliert. Immerhin wusste Leonardo da Vinci schon vor rund 500 Jahren, dass die Augen leicht unter- Mit einfachen Experimenten zur Augenrivalität kann man erforschen, wie das Gehirn Wahrnehmungskonflikte löst Die bekannten »Magic Eye«-Autostereogramme funktionieren ganz ähnlich. Man kann das Experiment noch einen Schritt weiter treiben: Angenommen, Sie betrachten die linken Streifen durch einen roten Filter und die rechten Streifen durch einen grünen. In diesem Fall gibt es sowohl eine Rivalität der Form als auch der Farbe. Formen und Farben von Bildern werden aber zum Teil in unterschiedlichen visuellen Gehirnregionen verarbeitet (Formen: Parvo-InterblobSystem des primären visuellen Cortex sowie V2; Farben: Parvo-Blob-System sowie V4). Sind deshalb diese beiden Rivalitäten voneinander unabhängig, sodass die Farbe des linken Auges gelegentlich auch mit den Streifen des rechten kombiniert zu sehen ist? Nein! Die Veränderungen von Form und Farbe laufen immer synchron. Grob gesagt bedeutet das, dass die 64 schiedliche Bilder sehen. Dass das Gehirn sie zur Berechnung räumlicher Tiefe verwendet, entdeckte aber erst der britische Physiker und Erfinder des Stereoskops Charles Wheatstone (1802 – 1875) – und zwar mit Hilfe von Zeichnungen wie den beiden oben abgebildeten, die ein wenig an den Blick in einen leeren Eimer erinnern. Wenn Sie Bilder fusionieren (entweder frei oder mit Hilfe der Trennwand), springt Ihnen aus der Ebene des äußeren Kreises eine graue Scheibe entgegen, so als würde sie auf geheimnisvolle Weise in der Luft hängen. Aber ist die optische Fusion denn absolut notwendig, um Stereopsis zu erzeugen? Intuitiv möchte man die Frage sofort bejahen – aber diese Intuition ist falsch! Vor rund drei Jahrzehnten konnten Anne Treisman von der Princeton University, Lloyd Kaufman von der New York University und Vilayanur Ramachandran unabhängig voneinander zeigen, dass Rivalität und Stereopsis auch gemeinsam auftreten können. Betrachten Sie dazu noch einmal das Stereobild oben. Wenn das Gehirn die Einzelbilder zusammenführt, schwebt einerseits das gesamte graue Feld vor dem Kreis – die bereits erwähnte »Eimertäuschung«. Sehen Sie jedoch genau hin, werden Sie erkennen, dass die rechtwinklig zueinander stehenden Streifen sich abwechseln – sie rivalisieren. Obwohl daher also zu einem bestimmten Zeitpunkt nur das Bild eines einzigen Auges dominiert, extrahiert das Gehirn das Stereosignal der Felder. Offenbar kann selbst die Information eines momentan unsichtbaren Bilds Stereopsis auslösen. Denn dafür ist eine andere Gehirnregion zuständig als für die Formenrivalität, sodass beide nebeneinanderher existieren können. Ÿ Vilayanur S. Ramachandran und Diane Rogers-Ramachandran forschen am Center for Brain and Cognition an der Uni­ versity of California in San Diego. Literaturtipps Alais, D., Blake, R. (Hg.).: Binocular Rivalry. Cambridge: MIT Press 2004. Hubel, D. H.: Auge und Gehirn. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag 2000. Leider vergriffenes, aber immer noch emp­ fehlenswertes Standardwerk, das durch schöne Bebilderung auch dem Laien Anato­ mie und Physiologie des Sehens verständlich macht G&G 12_2007 Scientific American und Ihr rechtes das rechte. Nun scheint die _____ _ _ ____________________ ______________________ _ _ _ __ _ _ _ __________________________________________________ ________________________________ ______________________________ ________________________ _______________ __ __________ ____ Betrachten Sie dieses Stereobild so, dass Ihr linkes Auge nur das linke Motiv empfängt ____ __________ _ ________________ ________________________ ______________________________ ________________________________ ________________________________________________ _ _ _________________________ __ ______________________ _ _ _ _____ DOPPELTE TÄUSCHUNG