Leseprobe - Verlag Karl Alber

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Alber 48604 / p. 1 /26.5.2014
VERLAG KARL ALBER
A
Alber 48604 / p. 2 /26.5.2014
Robert Simon rekonstruiert Schellings Entwurf einer positiven Philosophie im Rückgriff auf Kant: Die Möglichkeit der Gründung einer
positiven Philosophie nimmt Schellings Denken ab den 1830er Jahren
immer wieder in Anspruch. Dabei soll die positive Philosophie sowohl
Gegenentwurf als auch Vollendung der negativen Philosophie sein, die
als reine Vernunftwissenschaft die philosophische Tradition prägt und
bestimmt. Das Ende dieser Tradition und damit die Notwendigkeit einer
Scheidung von negativer und positiver Philosophie sind für Schelling
durch die Frage nach der Freiheit bei Kant unausweichlich geworden.
Die Entfaltung dieser Frage als ein System der Freiheit erweist die radikale Endlichkeit der Freiheit innerhalb einer lebendigen Geschichte, deren Vollendung nur im Begriff einer Utopie erscheinen kann.
Der Autor:
Robert Simon, geb. 1977, studierte Philosophie, Volkswirtschaft und
Englisch in Freiburg und Peterborough, Kanada und wurde 2012 promoviert. Er arbeitet in Freiburg und Bozen als Dozent für Philosophie
und Ethik.
Alber 48604 / p. 3 /26.5.2014
Robert Simon
Freiheit – Geschichte – Utopie
Alber 48604 / p. 4 /26.5.2014
4
BEITRÄGE ZUR
SCHELLING-FORSCHUNG
Herausgegeben von
Lore Hühn (Freiburg)
Paul Ziche (Utrecht)
Philipp Schwab (Chicago)
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Robert Simon
Freiheit
Geschichte
Utopie
Schellings positive Philosophie und
die Frage nach der Freiheit bei Kant
Verlag Karl Alber Freiburg / München
Alber 48604 / p. 6 /26.5.2014
Originalausgabe
© VERLAG KARL ALBER
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2014
Alle Rechte vorbehalten
www.verlag-alber.de
Satz: SatzWeise, Föhren
Herstellung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)
Printed on acid-free paper
Printed in Germany
ISBN 978-3-495-48604-7
Alber 48604 / p. 7 /26.5.2014
Meinen Eltern
Alber 48604 / p. 8 /26.5.2014
Alber 48604 / p. 9 /26.5.2014
Vorwort
Der vorliegende Band gibt den geringfügig überarbeiteten Text einer
Arbeit wieder, die im Frühjahr 2011 als Dissertation mit dem Titel Freiheit – Geschichte – Utopie. Die Entwicklung der positiven Philosophie
Schellings aus der Frage nach der Freiheit bei Kant im Fachbereich Philosophie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. angenommen
wurde.
Mein Dank gilt vor allem der Betreuerin meiner Dissertation Frau
Prof. Dr. Lore Hühn, die das Entstehen der Arbeit von Anfang an unterstützt und gefördert hat. Ebenso danken möchte ich Herrn Prof. Dr.
Günter Figal, der als Zweitgutachter das Zustandekommen der Arbeit
stets sehr hilfsbereit und wohlwollend begleitet hat. Für die Gewährung
eines dreijährigen Promotionsstipendiums danke ich der Internationalen Graduiertenakademie der Albert-Ludwigs-Universität, insbesondere Herrn Prof. Dr. Helmut Hoping. Zudem boten mir während meiner Promotion die Kolloquien des Promotionskollegs Philosophy of
Religion, Faith and Hermeneutics vielfach Gelegenheit zu einem
fruchtbaren Gedankenaustausch, der das Gedeihen der Arbeit nachhaltig befördert hat. In diesem Zusammenhang danke ich vor allem
Prof. Dr. Markus Enders sowie Prof. Dr. Magnus Striet.
Allen Freunden – insbesondere den italienischen – sei gedankt für
ihr bedingungsloses Vertrauen und die stete Ermutigung. Ein eigenes
Wort des Dankes schließlich an Anastasia Polina Cobet.
IX
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Alber 48604 / p. 11 /26.5.2014
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Fragestellung der Arbeit . . . . . . . . . . . .
2. Einleitung in die sachliche Problematik der Arbeit
3. Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . .
4. Bemerkungen zur Schellingforschung . . . . . .
5. Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2
8
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1. Exposition der Frage nach der Freiheit bei Kant . . . . . . .
21
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
1.1. Vorbereitung des Freiheitsproblems . . . . . . . . . . . .
1.1.1. Die Ausgangslage der Erörterung von Raum und Zeit
1.1.2. Die Abgrenzung gegenüber Newton und Leibniz . .
1.1.3. Form der Anschauung und Verstandesbegriff . . . .
1.1.4. Endliche Anschauung und reine Vernunft . . . . . .
22
22
24
31
34
1.2. Anspruch der Freiheit . . . . . . . . . .
1.2.1. Tabula rasa und ideae innatae . . .
1.2.2. Apperzeption und Einbildungskraft
1.2.3. Schellings Vorzug der A-Deduktion
.
.
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37
37
39
44
1.3. Bewährung der Freiheit. Die Bestimmung der Wirklichkeit .
1.3.1. Charakter und systematische Bedeutung der
Grundsätze der Erfahrung . . . . . . . . . . . . . .
1.3.2. Die Analogien der Erfahrung . . . . . . . . . . . .
1.3.3. Die Zeitfolge der Kausalität als Grundbestimmung der
Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3.4. Einheit von Natur und Erfahrung . . . . . . . . . .
48
Erster Teil: Kant
Synopsis I
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XI
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Inhalt
1.4. Forderung der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.4.1. Der Absolutheitsanspruch der Vernunft . . . . . . .
1.4.2. Metaphysica specialis und transzendentale Dialektik .
1.4.3. Die Freiheit als Kern der kantischen Frage . . . . . .
1.4.4. Die höchste Zuspitzung des Freiheitsproblems in der
dritten Antinomie . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.4.5. Die Auflösung der Antinomie und die allgemeine
Verfehlung der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . .
1.4.6. Kants grundsätzliche Verfehlung einer Vertiefung des
Antinomienproblems . . . . . . . . . . . . . . . .
67
67
69
72
76
79
81
2. Die Durchführung der Freiheitsthematik in der praktischen
Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
Synopsis II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
2.1. Die problematische Deduktion der Wirklichkeit der Freiheit .
2.1.1. Ursprüngliche Sittlichkeit der reinen Vernunft . . . .
2.1.2. Persönlichkeit und Autonomie des Willens . . . . .
2.1.3. Die Wirklichkeit der Freiheit als Autonomie . . . . .
85
85
90
97
2.2. Die problematische Deduktion des Sittengesetzes . . . . . .
2.2.1. Der Anspruch der Systemvollendung durch die
Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.2. Kausalität als Leitfaden der vollständigen Bestimmung
des Begriffs der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.3. Die Wirklichkeit der Freiheit im moralischen Gefühl .
2.2.4. Der Sinn der Freiheit als ein Postulat der praktischen
Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.5. Unermüdliches Fragen nach der Freiheit. Freiheit als
Tatsache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
102
XII
102
107
113
120
125
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Inhalt
Zweiter Teil: Schelling
3. Exposition der Wirklichkeit der Freiheit bei Schelling . . . .
Synopsis III
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
3.1. Organische Entwicklung der negativen Philosophie . .
3.1.1. Der Ansatz der negativen Philosophie . . . . . .
3.1.2. Die Entwicklungsstufen der negativen Philosophie
3.1.3. Das Ende der negativen Philosophie in einer
kosmologischen Antinomie . . . . . . . . . . .
3.2. Historische Entwicklung der negativen Philosophie
3.2.1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.2. Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.3. Der frühe Schelling . . . . . . . . . . . .
3.2.4. Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.5. Jacobi . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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. . 137
. . 137
. . 140
. . 143
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3.3. Anfang der positiven Philosophie als Übergang . . . . . .
3.3.1. Der erste Schritt der Freiheit. Von der Welt zur
Freiheit des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3.2. Der zweite Schritt der Freiheit. Vom absoluten Geist
zur Freiheit Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3.3. Transzendentale und absolute Freiheit als
Konstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3.4. Die Konstellation der Freiheit und der Ausgang der
Freiheitsschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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162
. 164
. 164
. 174
. 179
. 182
4. Die Wirklichkeit der Freiheit als Geschichte und Utopie . . .
Synopsis IV
135
186
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
4.1. Grundlegung der Geschichtlichkeit des Denkens . . . . . .
4.1.1. Der Anfang als Einheit von Freiheit und Geschichte .
4.1.2. Geschichte als Entfremdung und Verkehrung . . . .
4.1.3. Schellings Ablehnung der kantischen Moralhypothese
4.1.4. Der Vollzug des positiv-geschichtlichen Denkens in
der Philosophie der Mythologie . . . . . . . . . . .
188
188
194
199
204
XIII
Alber 48604 / p. 14 /26.5.2014
Inhalt
4.2. Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2.1. Die Philosophie der Offenbarung als Grund des
Utopischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2.2. Der christologische Grundzug der Philosophie der
Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2.3. Freiheit, Geschichte, Utopie . . . . . . . . . . .
4.2.4. Vernunft-Hybris im System Hegels . . . . . . .
4.2.5. Abschließende Bemerkungen zum Weg des
kantischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . .
. . 212
. . 212
. . 216
. . 221
. . 228
. . 231
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
235
235
239
Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
243
Sachregister
XIV
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
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Einleitung
1.
Fragestellung der Arbeit
Die vorliegende Arbeit untersucht den Sinn der Unterscheidung von
negativer und positiver Philosophie in Schellings Vorlesungen über die
Philosophie der Offenbarung und geht davon aus, dass diese Unterscheidung ihren Ursprung in der Frage nach der Freiheit hat.
Seit der Freiheitsschrift von 1809 ist für Schelling die Frage nach
einem System der Freiheit das bestimmende Thema seines Denkens.
Die kritische Philosophie Kants eröffnet in zweifacher Hinsicht für die
Ausarbeitung dieser Thematik maßgeblich den Horizont: zum einen,
weil Kant überhaupt erst die Frage nach der Freiheit ausdrücklich als
eigentliches ontologisches Grundproblem der Philosophie gewinnt;
zum anderen, weil durch die kantische Antinomie der Vernunft das
Denken selbst sich spaltet, indem es etwas denken muss – nämlich ursprüngliche Freiheit – was es jedoch nicht denken kann. Im Widerstreit
zwischen Anspruch und Vermögen des Vernunftdenkens entdeckt
Schelling bereits in der Critik der reinen Vernunft eine Gestalt des Unterschieds zwischen negativer und positiver Philosophie. In dieser
höchsten Krisis der Freiheit sieht das Denken in eine Abgründigkeit,
die ihm das Entsagenwollen abverlangt, selbst der Grund des Wirklichkeitsentwurfs zu sein. Der Fortschritt in die praktische Vernunft bei
Kant hingegen zeigt für Schelling das Unvermögen der Vernunft, diesen Unterschied eigens zu entfalten. Statt endgültig aus der Sphäre des
reinen Vernunftdenkens herauszutreten, beschränkt Kant die Behandlung der Frage nach der Freiheit auf den Horizont der Moralhypothese
und fällt so hinter die ursprünglich von ihm selbst schon gewonnene
Problemdimension der transzendentalen Freiheit zurück. Die positive
Philosophie Schellings ist daher sowohl eine ursprüngliche Anverwandlung als auch eine ausdrückliche Ablehnung des kantischen Denkweges.
1
Alber 48604 / p. 16 /26.5.2014
Einleitung
Der Anspruch Schellings ist es, die Freiheit in einem anderen als dem
reinen Vernunftdenken als ursprüngliche Wirklichkeit zu gewinnen. In
einem System der Freiheit allerdings muss der Anfang mit der begründenden – d. h. rationalen – Philosophie gemacht werden. Schelling entwickelt daher zunächst eine eigene rational-negative Philosophie, deren
Vollendung der Begriff der Freiheit ist. Bei diesem Begriff bleibt das
negative Denken zwar stehen, d. h. es fügt sich in die eigene Endlichkeit,
aber nur, um – im Gegensatz zur moralischen Betrachtung – dem anderen Anfang der gründenden positiven Philosophie einen eigenen endlichen Wirkungsbereich einzuräumen.
Der Anfang der positiven Philosophie ist die ursprüngliche Wirklichkeit der Freiheit. Im reinen Anfangen dieser Wirklichkeit scheidet
sich das Element der Freiheit in einer ursprünglichen Ekstasis und Krisis, so dass Urgrund und Ungrund auseinander heraustreten. In dieser
Entzweiung und Spannung gegeneinander ist wiederum der Anfang
einer Geschichte gesetzt, die nicht eine Entwicklung von Vernunftbegriffen ist, sondern der Spielraum der Freiheit. Die Wirklichkeit der
Freiheit erscheint deshalb in der positiven Philosophie unmittelbar als
Geschichte einer unvordenklichen Verkehrung und Entfremdung der
Wirklichkeit von ihrem Grund.
Das positive Denken ist das bloße und einfache Vernehmen der
Wirklichkeit als der Einheit von Freiheit und Geschichte, d. h. reine Erfahrung. Es ist selbst nicht der ultimative Grund, es ist nicht der absolute Entwurf dieser Wirklichkeit. Deshalb ist die Vollendung des Wissens des Ganzen als eines solchen die Grenze dieser Erfahrung. Die
positive Philosophie ist ein Denken, dem immer etwas bevorsteht, von
dem es sich schlechterdings keine Begriffe machen kann, nämlich das
Offene der eigenen Zukunft. Die Wirklichkeit der Zukunft der geschichtlichen Freiheit ist das stets noch Ausstehende dieses Denkens.
Das geschichtliche Wissen der Freiheit der positiven Philosophie kann
deshalb in diesem Sinne eine Utopie genannt werden.
2.
Einleitung in die sachliche Problematik der Arbeit
Das Grundanliegen der vorliegenden Untersuchung ist ein zweifaches:
Erstens gilt es, generell und systematisch aufzuarbeiten, warum und in
welchem Sinn das Problem der Freiheit überhaupt das Wesen der Philosophie sein kann; zweitens wird die bestimmte Erörterung dieser Fra2
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Einleitung in die sachliche Problematik der Arbeit
ge anhand der Auseinandersetzung von Schellings Philosophie der Offenbarung mit dem Denken Kants ausgeführt. Es besteht die Hoffnung,
dass sich im Verlauf der Untersuchung die allgemeine philosophische
Fragestellung und die konkrete philosophiegeschichtliche Erörterung
wechselseitig durchdringen und einander so jeweils erhellen.
Die Hauptaufgabe, welcher sich Schelling in den 1830er Jahren in
München widmete, bestand darin, immer wieder und in jeweils verschiedenen Ansätzen den Unterschied zwischen negativer und positiver
Philosophie aufs Deutlichste darzustellen und als die entscheidende Erneuerung in der Entwicklung der Philosophie seit Kant zu erweisen. In
den Münchner Vorlesungsschriften betont Schelling wiederholt, dass es
niemand anderes als Kant gewesen sei, welcher der Urheber der eigentlichen Krisis der neueren Philosophie war. Dazu heißt es: »Wie hat sich
die Welt der Philosophie durch Kant erweitert! Wodurch anders als
durch die Thatsache der menschlichen Freiheit« (Myth., 204). 1 Es zeigt
sich aber, dass Schellings wesentliche Auseinandersetzung mit der kantischen Philosophie nicht allein und nicht in zureichender Weise aus der
Darstellung der Geschichte der neueren Philosophie begriffen werden
kann, weil diese eine andere Funktion erfüllt als die organische Entwicklung der positiven Philosophie in der Einleitung in die Philosophie.
In dieser Darstellung ist es primär Schellings Anliegen, das Ineinandergreifen und Übergehen der neuzeitlichen Philosophiesysteme aufzuzeigen. Kant wird dabei vor allem in der Konstellation mit dem frühen
Fichte und Schellings eigener Frühphilosophie thematisiert. Dagegen
zeigt sich in der Genese des Systems der positiven Philosophie in der
Einleitung die sachliche Bedeutung und ihr Ausmaß sehr viel klarer.
Diesem Unterschied trägt die vorliegende Arbeit dadurch Rechnung,
dass im dritten Kapitel die historische und organische Entwicklung der
positiven Philosophie getrennt voneinander behandelt werden. Da
Schelling in seiner Münchner und Berliner Zeit außer in der Darstellung der Geschichte der neueren Philosophie keine systematische und
sachlich-kritische Interpretation des kantischen Denkens gibt – vor allem nicht der Verfehlung des eigentlichen Problems der Freiheit in der
»Kants Wirkung war in der That eine außerordentliche. Man kann sich eben nicht
darüber freuen, wenn fünfzig Jahre nach Kants Erscheinung, nachdem wir jetzt allerdings auf einem andern Punkte sind, aber zu dem wir nie ohne ihn gelangt wären, Kants
Verdienst von solchen herabgesetzt wird, die nichts dazu beigetragen, dass wir über Kant
hinauskommen« (SW X, 73).
1
3
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Einleitung
Moralphilosophie – ist diese Interpretation Aufgabe der vorliegenden
Untersuchung.
Der erste Teil der Arbeit ist daher dem kantischen Denken gewidmet
und zwar unter der Maßgabe einer Aneignung der Problemdimension,
in der Kant grundsätzlich zur Frage nach der Freiheit gelangt. 2 Kant
fragt, wie es möglich ist, dass ein endliches Vernunftdenken die Wirklichkeit der Welt, d. h. für Kant der Natur, 3 wesentlich bestimmt, so
dass die Gesetzmäßigkeit der Naturwelt jederzeit eine unbedingt gültige
ist und in diesem Sinne gegenüber der Zufälligkeit des Empirischen auf
der einen Seite sowie der ungebundenen metaphysischen Spekulation
auf der anderen Seite ihre Freiheit behaupten kann. Aber die Freiheit
der aus der Vernunft entsprungenen Initiation eines vernünftigen, mathematisch-wissenschaftlichen Weltentwurfes hebt sich im mechanischen Kausalzusammenhang dieser Welt gerade wieder auf. Das Problem der Freiheit zeigt sich daher als ein Weltproblem und so führen die
Grundsätze des Denkens, welche die Grundsätze der Wirklichkeit der
Erfahrung sind, konsequenterweise in die Antinomien der rationalen
Kosmologie. Dadurch, dass die Freiheit als ein grundsätzliches metaphysisches Problem der Möglichkeit des einheitlichen Ganzen einer
Weltordnung erscheint, d. h. als eine transzendentale Idee, erweist sich
der ontologische Horizont, in dem das Freiheitsthema bei Kant aufgenommen wird, als wesentlich weiter als die spezifische Frage nach
der Freiheit des menschlichen Willens. Die Antinomie der Freiheit ist
die höchste Zuspitzung des Freiheitsproblems und der eigentliche Anlass zur Critik der reinen Vernunft. Die Problemkonstellation ist dabei
die grundsätzliche ontologische Verklammerung von Welt, Vernunft
und Freiheit. Kant gesteht unumwunden ein, dass das Problem allgemein betrachtet »äußerst subtil und dunkel« ist, kündigt aber zu-
Dabei zeigt sich, dass Interpretationsversuche, welche die theoretische Philosophie
Kants ausschließlich im Horizont einer Erkenntnistheorie ansetzen, wie z. B. die Tendenz
des Neukantianismus, grundsätzlich die für Schelling und den Idealismus entscheidende
Problemdimension nicht zu ermessen imstande sind.
3 Welt bedeutet für Kant das Ganze aller Erscheinungen und ist daher sinngleich mit
Natur. Die Wirklichkeit der Welt und damit die Frage der Freiheit der Welt sind prinzipiell im Horizont der Naturkausalität gestellt. Weil für Schelling diese Wirklichkeit der
Herrschaftsraum der scheinbaren Zeit ist und Welt als geschichtliche Welt der positiven
Philosophie auch einen naturtranszendenten Sinn erhält, wird im Folgenden der Begriff
»Naturwelt« gebraucht, wenn von Welt und Natur im eben gekennzeichneten Sinn die
Rede ist.
2
4
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Einleitung in die sachliche Problematik der Arbeit
gleich an, dass es sich allein »in der Anwendung aufklären wird« (KrV,
A 537/B 565). Dadurch geschieht aber nichts anderes – und das möchte
die Auslegung der positiven Philosophie zeigen –, als dass das allgemein
ontologische Problem der Freiheit nun als ein spezifisch moralisches
genommen wird.
Die Verschiebung der Freiheitsproblematik in die praktische Vernunft ist die entscheidende Kluft, in welcher sich Anverwandlung und
Ablehnung des kantischen Denkweges bei Schelling radikal trennen.
Die beiden Seiten der Antinomien waren für Schelling bereits eine Gestalt der Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie, indem sich die positive ganz in die Dimension der Thesis der Antinomie
stellt, die negative aber in der Antithesis ihre eigene Begrenztheit erfährt. Statt aber endgültig aus der Sphäre des reinen Vernunftdenkens
herauszutreten, zieht Kant die weitere Erörterung auf den Boden der
Moralhypothese zurück, wodurch die ursprünglich schon gewonnene
Problemdimension der Frage nach der Freiheit eine folgenschwere Verengung erfährt.
Im zweiten Kapitel des ersten Teils verfolgen wir Kants Versuch,
nun im Horizont der Sittlichkeit die Frage nach der Freiheit weiterzubringen. Die Gesamtheit dieser Bemühungen fassen wir in dieser Arbeit unter dem genannten Begriff der Moralhypothese. Es zeigt sich,
dass diese Versuche sowohl in der Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten als auch in der Critik der practischen Vernunft und schließlich
auch in der Religionsschrift immer wieder zu Widersprüchen führen
und von fragwürdigen Rückgriffen auf prekäre Voraussetzungen
durchdrungen sind. Gerade diese Unsicherheit liefert für Schelling
einen weiteren Anlass, den Weg für und in ein anderes Denken zu suchen und zu begründen.
Der Anfang der positiven Philosophie kann nichts anderes sein als
das Ende der negativen, so wie es in den kantischen Antinomien erreicht war. Die positive Philosophie muss also einerseits den Widerstreit
der Antinomie hinter sich lassen, ohne dabei andererseits die Antinomie aufzuheben, was schlechterdings nicht möglich ist. 4 Während
das Denken notwendigerweise davon ausgeht, dass etwas ist bzw. sein
Einen solchen Rückfall sieht Schelling in den theistischen oder theosophischen Systemen etwa von Jacobi oder Böhme, deren Forderung nach einem anderen als dem Vernunftgott Schelling durchaus Ernst nimmt, aber deren Versuche prinzipiell nicht einem
genuin philosophischen Anspruch gerecht werden.
4
5
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Einleitung
wird, 5 um von diesem regressiv das Wesen bestimmen zu können, kann
es sich im Moment seiner sich vollendenden eigenen Krisis entschließen, das bis dahin schlechthin Ungefragte und Unfragbare zu fragen,
nämlich: »Warum ist denn nicht Nichts?« (Offenb., 65), oder anders
gesagt, »Wie und warum entsteht denn ein Sein?« (Offenb., 69). An
dieser Stelle wird der immanente und systematische Zusammenhang
von negativer und positiver Philosophie vollständig klar. Denn der
Grund der Wirklichkeit ist ja nichts anderes als die von Kant geforderte
transzendentale Freiheit, die in der positiven Philosophie als das unvordenklich immer schon Gesetzte der absolute Anfang ist. Die Ursache
der reinen Wirklichkeit der Freiheit ist nicht die Vernunft, sondern die
Freiheit ist die Ursache der Vernunft. Der Sinn der Freiheit kann nur
der sein, dass sie das absolute Prius ist. Dahingegen muss die negative
Philosophie immer von Wirklichem anfangen, wenn sie das Sein als
solches, d. h. den Grund der Wirklichkeit bzw. die Wirklichkeit selbst
bestimmen will. Deshalb ist die positive Philosophie auf die negative
angewiesen, weil die Wirklichkeit selbst nicht unmittelbar gegeben ist,
d. h. als positum zugänglich und eine Erfahrung ist. Die Bestimmung
des Unterschiedes von negativer und positiver Philosophie als Begriff
und Existenz, indem nämlich jener die Was-Frage und dieser die DassFrage zugeschrieben wird, ist daher ungenau. Während nämlich die –
auf Aristoteles zurückgehende – Unterscheidung von Was-Sein und
Dass-Sein von jedem einzelnen Seienden gilt, trifft das den Unterschied
von negativer und positiver Philosophie schon allein deshalb nicht, weil
die negative Philosophie stets nur eine Bestimmung von Wirklichem
sein kann, während die positive Philosophie der Versuch ist, die Wirklichkeit überhaupt zu erklären. Außerdem ist der Begriff der Existenz
schon allgemein verstanden für Schelling eine vox anceps und hat zudem in negativer und positiver Hinsicht jeweils einen anderen Sinn.
Die Wirklichkeit der Freiheit als Anfang der positiven Philosophie
ist zunächst nichts anderes als reiner Grund der Naturwelt, d. h. absoluter Geist. Weil aber die Wirklichkeit das Eigentum der Freiheit ist und
nicht anders herum, ist die ursprüngliche Freiheit auch frei gegenüber
der Wirklichkeit. Der vollkommene Geist, d. h. die Freiheit, scheidet
sich hier in Urgrund und Ungrund der Wirklichkeit. Die Erfahrung
der positiven Philosophie ist Erfahrung der Endlichkeit und auch der
Das ist die Auslegung Schellings. Er sieht in dieser Seinsvoraussetzung den Bogen, der
sich über die ganze Metaphysik spannt (vgl. Abschnitt 3.3.1.).
5
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Einleitung in die sachliche Problematik der Arbeit
Unendlichkeit. Der Anfang der positiven Philosophie ist eine Freiheitserfahrung, in der sich die Freiheit als Ungrund selbst aufhebt, sobald sie
Urgrund der Wirklichkeit wird. Weil die positive Philosophie nichts
anderes als Erfahrung der Wirklichkeit ist, ist in ihrem Anfang die Freiheit unmittelbar als Unfreiheit Wirklichkeit. Im Zusammenhang dieser
Erörterung können wir zeigen, dass die Entwicklung des schellingschen
Denkens seit der Freiheitsschrift von einer wesentlichen Kontinuität
gekennzeichnet ist, so dass die klare Abgrenzung einer oder gar der
Spätphilosophie als wenig sinnvoll erscheint. Die positive Philosophie
muss nicht nur aushalten, sondern ausdrücklich wollen, dass sie sich –
weil die Freiheit ihr Höchstes ist – der immanenten Widersprüchlichkeit ihres Anfangens nicht entschlagen kann, um fortschreiten zu können. Dadurch aber ist die ursprüngliche und erste Wirklichkeit der Freiheit der Anfang einer Handlung des reinen Willens, der gerade nicht
das ist, was der Wille will. Deshalb muss auf diesen Anfang eine Mitte
und ein Ende folgen. Mit anderen Worten: Sobald Freiheit als Freiheit
ist, ist Freiheit Geschichte. Weil das, was einen Anfang und ein Ende
hat, Leben ist, bestimmt Schelling den Geist jetzt – und erst jetzt – als
Gott. Es ist deshalb nicht gerechtfertigt zu sagen oder der positiven Philosophie vorzuwerfen, sie gehe schon von Gott aus.
So wie die positive Philosophie als endliche Erfahrung den Anfang
der Geschichte nur per posterius erklären konnte, bleibt sie ebenso auf
Erfahrung angewiesen, was das Ende der Geschichte anbelangt, denn
»[w]ofür es in der Erfahrung kein Analogon gibt, das kann auch nicht
wahrhaft begreiflich gemacht werden« (Offenb., 601). Die Vollendung
des Wissens der Wirklichkeit des Ganzen ist für die positive Philosophie
das, was stets aussteht und deshalb die Grenze ihres Wissens ist, was
»mit dem Gefühl schmerzlicher Unwissenheit nicht errungen werden
kann« (Offenb., 601). Weil das positive Denken sich als reines Vernehmen des Anderen als des eigenen Grundes weiß, ist die Vollendung
ihres Wissens ein noch nicht eingeräumter Ort und in diesem Sinn eine
Utopie. Das immanent Utopische des positiven Denkens erweist sich so
als Gegenentwurf zur Vernunfthybris in Hegels spekulativer Geschichtsphilosophie, in welcher Hegel die Wahrheit des Ganzen der
geschichtlichen Wirklichkeit in einen Begriff gefasst zu haben beansprucht. Ebenso ist das positive Denken ein Gegenentwurf zur bloßen
Historie, d. h. dem unbeteiligten und zufälligen Abschildern von Begebenheiten, weil in ihm grundsätzlich nicht eine Sinndimension, wie das
Utopische der positiven Philosophie, erschlossen ist. Das positiv-ge7
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Einleitung
schichtliche Denken muss schonungslos die Vollendung des Wissens als
eine Utopie erkennen, oder anders gesagt: Es muss endgültig reine Erfahrung werden und sich so in eine immer wieder neu und anders gestaltende Wirklichkeitsekstase fügen.
Das Utopische der positiven Philosophie hat jedoch insofern einen
spekulativen und eschatologischen Sinn, als dass es ebenso ein Wissen
ist. Ein Wissen nämlich, dass die zukünftige Epoche ein Letztes sein
wird und zwar die vollständige Offenbarung der göttlichen Ökonomie
in der Wirklichkeit. Das Dass dieser Zukunft ist ein Wissen – die Hoffnung und Freude auf die letzte Krisis bzw. Ekstasis –, das Was und Wie
ist dagegen nicht nur faktisch kein Wissen, sondern es ist nicht einmal
ein mögliches Wissen. Die eschatologische Utopie der positiven Philosophie unterscheidet sich in dieser Hinsicht von klassischen Utopien
wie etwa Platons Politeia oder den Nomoi, Campanellas Civitas Solis
oder Morus’ Utopia. Diese sind in umgekehrter Weise ein Wissen der
Begebenheiten, aber unentschieden in Bezug auf das Dass der letzten
Zukunft. In Schellings Utopie hingegen »öffnet sich der Blick in eine
Zukunft, weil das Reich der Wirklichkeit kein vollendetes und abgeschlossenes ist« (SW XIII, 131). Das Denken der positiven Philosophie
kommt also nicht umhin die eigene Endlichkeit anzunehmen, weiß aber
zugleich, dass die Vollendung des Wissens des Ganzen schlechthin eine
unvergängliche Utopie ist.
3.
Aufbau der Arbeit
Wie bereits deutlich wurde, besteht die Arbeit aus zwei Teilen. Der erste
Teil behandelt Kant, der zweite Schelling. Gleichwohl es das Anliegen
der Untersuchung ist, beide Denker in ein sachliches Gespräch miteinander zu bringen, habe ich mich entschieden, die Darstellung der
Freiheitsphilosophie Kants nicht kontinuierlich mit Schelling zu kommentieren. Das wäre zwar möglich, aber meines Erachtens der Sache
nicht dienlich. Denn durch die Trennung ist gewährleistet, dass dem
Eigenen der denkerischen Entwürfe jeweils genug Raum für die interpretatorische Entfaltung gegeben ist. Jeder der beiden Teile kann durchaus für sich genommen werden, ohne dass dabei das Verständnis wesentlich gestört wäre. Um jedoch schon während der Lektüre beide
Denkwege vergleichen und abwägen zu können, habe ich ein internes
Referenzsystem angelegt. Hierbei sind Vor- und Rückverweise in Fuß8
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Bemerkungen zur Schellingforschung
noten angegeben. So ist es möglich, die Arbeit sowohl von Kant zu
Schelling als auch von Schelling zu Kant zu lesen.
Die Teile selbst wiederum haben einen parallelen Aufbau. Das erste
Kapitel ist jeweil die Exposition des Freiheitsproblems, in dem systematisch entfaltet wird, in welchem ontologischen Horizont die Freiheit zur
Frage wird. Im zweiten Kapitel ist dargestellt, welche Gestalt die Durchführung der Frage nach der Freiheit annimmt.
Jedem Kapitel ist eine Synopsis vorangestellt, die den Gedankengang
des Kapitels zusammenfasst. In den Abschnitten werden die Hauptgedankengänge angezeigt und in den Unterabschnitten die einzelnen
Gedankenschritte erläutert.
4.
Bemerkungen zur Schellingforschung
Der folgende kurze Abriss über die Forschungsarbeiten zum Thema der
sogenannten Spätphilosophie Schellings erhebt nicht den Anspruch auf
Vollständigkeit oder einen durchgängigen, systematischen Zusammenhang. Um einem solchen Anspruch zu genügen, wäre aufgrund der
reichhaltigen und durchaus auch unübersichtlichen Masse an Beiträgen
eine weit umfangreichere Darstellung nötig. 6 Hier sollen zumindest die
Positionen und Diskussionen erwähnt werden, welche für die vorliegende Arbeit von unmittelbarer Relevanz sind. Im Verlauf der Untersuchung kommen selbstverständlich weitaus mehr Forschungsarbeiten
zu Wort.
Als forschungsliterarischer Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit
kann in erster Linie Axel Hutters Geschichtliche Vernunft angesehen
werden. 7 Hutter vertritt die These, dass die Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie einerseits in der kantischen Antinomienlehre vorgeprägt ist und andererseits das Denken als eine immanent geschichtliche Erfahrung bestimmt. In seiner Arbeit gewinnt
Hutter einen neuen Boden für die Auseinandersetzung mit der Spätphilosophie Schellings, indem er zeigt, dass die maßgebliche Diskussion
der negativen und positiven Philosophie bis dahin beinahe ausschließEinen guten Überblick über die Forschungssituation der Nachkriegsjahrzehnte gibt
Barbara Loer (Loer 1974, 4–15). Eine ausführliche Darstellung der neueren Forschung
legt Markus Gabriel vor (Gabriel 2006, 8–26).
7 Hutter 1996.
6
9
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Einleitung
lich an der Unterscheidung von Begriff und Existenz ausgerichtet war.
Zudem war die Forschung von zwei »klassischen Positionen« beherrscht, von denen sich die eine pro negative, die andere contra negative Philosophie aussprach.
Gemeint sind die Positionen von Horst Fuhrmans 8 und Walter
Schulz. 9 Diese sind zutreffend von Harald Holz als Transzendenzstandpunkt und Immanenzstandpunkt gekennzeichnet worden. 10 Fuhrmans
geht davon aus, dass die negative Philosophie durch die positive vollständig überwunden wurde und somit nurmehr ein überflüssiges Anhängsel zur Philosophie der Mythologie und Offenbarung darstellt.
Schulz erhebt dagegen den Anspruch eines Primats der negativen Philosophie. Während Schulzens Standpunkt so eine Analogie zu Hegel zu
sein scheint, erscheint Fuhrmans Position als eine Analogie zu Jacobi.
Während wir prinzipiell der Einschätzung Hutters folgen, dass beide
Positionen gerade das Geschichtliche nicht eigens in den Blick nehmen,
erweckt Hutters Beurteilung von Schulz den Anschein einer Stilisierung zu sehr in Richtung der negativen Philosophie. Das ist so nicht
haltbar, denn von einem Primat im Sinne einer Superiorität kann bei
Schulz nicht die Rede sein. Er resümiert am Ende seiner Arbeit:
Schellings Spätphilosophie ist der Bewegungsvollzug der sich transzendierenden Vernunft. Den Anfang stellt die negative Philosophie dar: die Vernunft erkennt die Undenkbarkeit ihres Inhaltes, der absoluten Tätigkeit,
und setzt diese aus sich heraus als reine Transzendenz. Dann folgt als
Überleitung zur positiven Philosophie die Einsicht, daß Gott sich schon
zur Welt gesetzt hat. [Die Vernunft, R. S.] erkennt sich als die Macht der
Weltkonstruktion, aber sie weiß zugleich, daß sie selbst sich zu dieser
Macht nicht ermächtigt hat, sondern daß die reine Selbstvermittlung Gottes ihr unergründlicher Grund ist. 11
Schulz erkennt also klar, dass die negative Philosophie zwar die erste
sein muss, aber nur im Sinne eines Übergangs. Dass Schulz das Geschichtliche nicht als das eigentliche Element der Freiheit herausgearbeitet hat, bleibt natürlich eine Tatsache. Aber es ist nicht so, dass
der Ansatz seiner Arbeit, die immer noch zum Erhellendsten in der
Schellingforschung zählt, dieses verhindert hätte. Weder Schulz noch
Vgl. Fuhrmans 1940.
Vgl. Schulz 1975.
10
Vgl. Holz 1970, 340 und vgl. Hutter 1996, 16 f.
11 Schulz 1975, 329.
8
9
10
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Bemerkungen zur Schellingforschung
Fuhrmans haben allerdings die maßgebliche Rolle Kants für die Ausarbeitung der Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie
zureichend erkannt. Fuhrmans schreibt sogar: »Schellings Spätphilosophie ist, wie ich nach wie vor glaube, grundlegend Auseinandersetzung
mit Hegel gewesen«. 12 Eine Ansicht, von der wir zeigen werden, dass
sie nicht zutreffend ist.
Kritisch gegenüber der fehlenden Betonung des Geschichtlichen bei
Schulz steht auch die Abhandlung Das Absolute in der Geschichte von
Walter Kasper. 13 In der Nachfolge von Kaspers theologischer Auslegung sind noch weitere theologisch orientierte Auslegungen für die
vorliegende Arbeit von Bedeutung. Dies ist die Untersuchung von
Reinhold Mokrosch, 14 der zwar Schellings Ausgang von Kant erkennt, 15 aber zugleich eine sehr merkwürdige ethische Bestimmung
des Übergangs von der negativen in die positive Philosophie gibt, indem
bei ihm die Gotteserkenntnis das Zentrum bildet, 16 während wir hingegen zeigen werden, dass der erste Schritt in die positive Philosophie
nur die reine Freiheit – als kosmologisches Problem – ist. Auch bei
Dieter Korsch bildet der Gottesbeweis den entscheidenden hermeneutischen Schlüssel für das Verständnis der Spätphilosophie. 17 Dagegen ist
die These sowohl der vorliegenden Arbeit als auch von Hutter, dass die
kantische Antinomie als das Maßgebliche betrachtet werden muss;
ebenso auch Albert Franz in seiner Abhandlung über die platonischaristotelischen Voraussetzungen bei Schelling. 18 Bei ihm heißt es ganz
klar: »Dreh- und Angelpunkt in problemgeschichtlicher und systematischer Rücksicht für Schellings reinrationale Philosophie ist die Philosophie Kants.« 19 Zudem arbeitet Franz sehr genau das Verhältnis
Fuhrmans 1972, 18.
Kasper 1965. Auch Jürgen Habermas hatte in seiner Dissertation schon das Geschichtliche ins Zentrum gerückt (Habermas 1954).
14
Mokrosch 1976.
15 Mokrosch 1976, 35–37.
16 So lautet die Überschrift zu dem einschlägigen Kapitel: »Schellings Gotteserkenntnis
als ethisches Willensgeschehen im Übergang von der negativen und positiven Philosophie« (Mokrosch 1976, 44).
17 Korsch schreibt: »Der erste Teil der Untersuchung hat den Gedanken des ontologischen Gottesbeweises als den systematischen Angelpunkt für den Begriff der Spätphilosophie Schellings in ihrer Zweigestaltigkeit als negative und positive Philosophie herausgearbeitet« (Korsch 1980, 181).
18
Franz 1992.
19 Franz 1992, 286.
12
13
11
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Einleitung
von Anverwandlung und Ablehnung des kantischen Denkweges bei
Schelling heraus. 20
Während in dieser Arbeit die radikale Ablehnung der kantischen
Moralhypothese im Zentrum steht, geht Friedrich Hermanni gerade
vom Gegenteil aus, wenn er behauptet, dass Schellings Versuch einer
letzten »Entlastung des Schöpfergottes« zur Rettung des augustinischen Theodizeeparadigmas »mit Mitteln der Kantschen Religionsphilosophie und der Fichteschen Wissenschaftslehre zu reformulieren«
ein Irrweg sei. 21 Zudem verkennt Hermanni den ontologischen Sinn
der Unterscheidung von Grund und Existenz in der Freiheitsschrift,
wenn er diese nur als eine Zusatzstrategie zur Lösung des Theodizeeproblems ansieht. Im Zentrum der vorliegenden Arbeit wird hingegen
deutlich werden, dass die positive Philosophie nichts anderes ist als eine
Fortbestimmung und systematische Kontextualisierung des internen
Dualismus von Grund und Existenz. Neben vielen Anderen, die diese
Kontinuitätsthese in der Entwicklung des schellingschen Denkens vertreten, ist es vor allem Walter E. Ehrhardt, der die These, dass die Freiheit das zentrale und allumfassende Thema bei Schelling ist, im großen
Stil in die Schellingforschung eingebracht hat. Er schreibt dazu in aller
Deutlichkeit:
Diese These, daß Freiheit überall sein soll, ist das verbindende Ziel des
Organismus des Schellingschen Werkes. Seine Glieder können nicht ge»In der Gegenüberstellung Kant-Schelling wird somit mit letzter Klarheit deutlich, in
welchem Sinne Schelling bei der Konstruktion seines Weges zum Prinzip einerseits im
Horizont des Kantischen Denkens verbleibt, andererseits aber dieses zu überwinden versucht. Einerseits bleibt nämlich Schelling im Kantischen Horizont, indem er sich dem
kantischen Begriff der reine Vernunft insofern anschließt, als er diese als selbst nicht
objektiv seiendes ›Subjekt‹ (-A) versteht, von dem als solchem jegliche Objektivität im
Sinne eines real Seienden bzw. zu Erkennenden ausgeschlossen ist. Er geht andererseits
über Kant hinaus, indem er versucht, auch noch dieses Moment der Subjektivität als
unhintergehbaren Ausgangspunkt seiner Konstruktion auszuschalten und auch dieses
erst entstehen zu lassen, was ihn zu einem letzlich subjekt- und objektlosen Prozeß von
unidentifizierbaren Potenzen gelangen läßt, dem das reale Absolute als selbst ungründiger Grund nochmals vorgeschaltet wird« (Franz 1992, 291).
21 Das ganze Zitat am Ende seines Buches lautet »Schellings Versuch, das Augustinische
Theodizeeparadigma, das zur Entlastung des Schöpfergottes die üble Verfassung der
Welt auf den menschlichen Sündenfall zurückführt, mit Mitteln der Kantschen Religionsphilosophie und der Fichteschen Wissenschaftslehre zu reformulieren, geht somit in
die Irre. Denn die Moralisierung aller Übelbestände zu Konsequenzen des menschlichen
Falls führt letztendlich zur Entmoralisierung dieses Falls, der als eine dem Menschen
nicht mehr zurechenbare Tat den Schöpfergott erneut belastet« (Hermanni 1994, 261).
20
12
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Bemerkungen zur Schellingforschung
gensätzliche Stücke oder Epochen sein, solange das überall Gewollte, daß
Freiheit sein soll, nicht aufgegeben ist. 22
Auch Jörg Ewertowski stellt in seiner sehr guten Arbeit das Moment
der Freiheit als Prinzip des Anfangs deutlich heraus. 23 Dabei ist seine
Analyse von Mangel und Fülle sehr aufschlussreich für unsere Auslegung des christologischen Grundzuges als Entleerung und Erfüllung.
Für die Bedeutung der Christologie für die Programmatik der positiven
Philosophie bietet ebenso Christian Danz eine ausgezeichnete Interpretation, 24 die trotz ihrer theologischen Absicht klar erkennt, dass Wissenschaft und Religion in der positiven Philosophie nicht unmittelbar
verbunden sein können, sondern einer geschichtlichen Vermittlung bedürfen.
Den Gedanken des Anderen der Vernunft hat auch Christian Iber
ausdrücklich zum Ansatz seiner umfangreichen Abhandlung über
Schelling, Heidegger und Adorno gemacht. 25 Neben seiner vortrefflichen Kennzeichnung der Bedeutung der schellingschen Christologie 26
ist hingegen die Meinung, dass die positive Philosophie Hegel und Jacobi »zusammenzwingen will«, 27 aus unserer Sicht nicht haltbar. Eine
Ehrhard 1996, 249.
Ewertowski betont stark die eigene Denkerfahrung der positiven Philosophie, welche
auch ohne die negative zu gewinnen sei. »Demgegenüber legen wir ein größeres Gewicht
auf den Anfang, den die positive Philosophie auch voraussetzungslos nehmen kann, mit
dem sie also direkt an die Denkerfahrung anschließt.« (Ewertowski 1999, 338 Anm. 431)
Gleichwohl ist die – durchaus gute – Erklärung des Anfangs der positiven Philosophie
wieder ganz als ein Übergang gedacht. »Dennoch ist hier das Tor zum Übergang in den
Anfang der positiven Philosophie, nur daß sich dieses Tor freilich zunächst nur als ein
schmaler Spalt in der Mauer andeutet« (Ewertowski 1999, 344).
24 »Schellings Philosophie ist insofern von unerhörter Relevanz für aktuelle und philosophische und theologische Diskussionen, da er gerade nicht einen Bruch von rationaler Wissenschaft und religiöser Erfahrung anerkennt, der die Religion einem unmittelbaren Offenbarungsglauben überläßt und damit von der Wissenschaft verabschiedet,
sondern die sich hier stellende Vermittlung in Angriff nimmt« (Danz 1996, 155).
25 Iber 1994. Ibers Arbeit ist im Ganzen stark an Theunissen orientiert (vgl. Iber 1994,
299–305).
26 »Vor der expliziten Christologie wendet sie sich gegen eine dreifache Fehlinterpretation der Offenbarung: 1. Die Scholastik liquidiert den Begriff der Offenbarung, weil sie
Christus a priori konstruiert. 2. Die Theologie, die sich nur an den Grundsatz sola scriptura hält, verzichtet auf das philosophische Verständnis der Offenbarung. 3. Die Mystik
geht zwar auf die Sache der Offenbarung selbst, kann sie aber nicht für die Vernunft
explizieren« (Iber 1994, 317).
27
»Indem die positive Philosophie im Begreifen des Unbegreiflichen Hegel und Jacobi
zusammen zwingen will, fällt sie der selbsterzeugten ›Verwirrung des Positven und Ne22
23
13
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Einleitung
solche Einschätzung ist wohl zu stark aus einer hegelianisch motivierten Perspektive gegeben; ebenso wie die Einschätzung Michael Theunissens, dass die positive Philosophie eine »verselbstständigte Wirklichkeitswissenschaft« 28 sei. Demgegenüber erscheint die grundsätzliche
Beurteilung Buchheims stichhaltiger, 29 der in der positiven Philosophie
eine Selbstbescheidung des Idealismus erkennt. Buchheim macht zudem deutlich, dass die Unterscheidung von Begriff und Existenz nicht
zureichend ist, um negative und positive Philosophie zu bestimmen,
weil die Rede von Möglichkeit und Wirklichkeit bei Schelling immer
vieldeutig ist, 30 wie auch wir explizit herausarbeiten werden.
Die vorliegende Untersuchung kann, wie eingangs betont, als ein
Anschluss an die Arbeit von Axel Hutter verstanden werden. Gleichwohl bestehen durchaus Differenzen bei der Beurteilung einzelner Fragen, z. B. über die Antinomien im engern Sinn 31 oder den Übergang
von der Mythologie zur Offenbarung. 32 Zudem beleuchtet Hutter sehr
umfangreich die verschiedenen Schaffensperioden Schellings, während
wir prinzipiell am Münchener Urtext der Philosophie der Offenbarung
orientiert bleiben.
Abschließend bleibt noch zu erwähnen, dass der Begriff der Utopie
gativen‹ genauso anheim, wie es die Spätphilosophie direkt von Spinoza und damit indirekt von der Identitätsphilosophie kritisch behauptete« (Iber 1994, 324).
28 Theunissen 1976, 22. Nach unserer Ansicht ist bei Theunissen der Unterschied von
negativer und positiver Philosophie letztlich zu äußerlich gefasst, so dass die These der
Aufhebung des Idealismus mehr aus dem Systemgedanken Hegels her zu kommen
scheint.
29 Buchheim 1992.
30 Vgl. Buchheim 1992, 40.
31 Hutter schreibt über die Antinomien: »Der konkrete Nachweis, daß dieser notwendigen Vernunftidee Welt keine Wirklichkeit entspricht, wird in einer Antithetik der reinen
Vernunft erbracht. Kant zeigt hier, daß die Vernunft bei zentralen Aussagen über die
Wirklichkeit der Welt völlig unentschieden ist, ob sie sich der einen Aussage (These)
oder ihrem genauen Gegenteil (Antithese) anschließen soll.« (Hutter 1996, 230) Wir
dagegen betonen mit Nachdruck, dass die Vernunft gerade nicht »völlig unentschieden«
ist, sondern vielmehr ein mehrfaches Interesse hat, sich auf die Seite der Thesis zu schlagen. Vgl. Abschnitt 1.4.5.
32 »Genauer und nachdrücklicher könnte es Schelling gar nicht zum Ausdruck bringen,
daß der Übergang von der negativen zur positiven Philosophie und der Übergang von der
Mythologie zur Offenbarung zwei Vorgänge sind, die denselben Sinn haben.« (Hutter
1996, 298) Demgegenüber kann gezeigt werden, dass die Mythologie selbst schon »wirkliche Geschichte« (Myth., 88 u. 163) ist. Vgl. Abschnitt 4.1.4.
14
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Textgrundlage
im Zusammenhang der positiven Philosophie in der Schellingforschung
noch nicht Eingang gefunden hat. 33
5.
Textgrundlage
Die Vorlesungstätigkeit Schellings in den Jahren 1827 bis 1841 in München wird von einem ungeheuer umfangreichen Textkorpus bezeugt.
Neben den Schriften, die in den von Schellings Sohn Karl Friedrich
August besorgten Sämmtlichen Werken veröffentlicht wurden, sind in
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach und nach zahlreiche
Nachschriften aus dieser Zeit aufgetaucht. Horst Fuhrmans zählt 1972
allein über 20 solcher Kollegnachschriften. 34 Zudem sind in den späten
achtziger und neunziger Jahren einige sehr zuverlässige Nachschriftentexte der Münchner Zeit von Walter E. Ehrhardt entdeckt worden. Aus
einer Synopse dieses Textkorpus zeigt sich heute deutlich das Gesamtprogramm der schellingschen »Spätphilosophie«: eine Periode, die zusammen mit der Berliner Zeit, in welcher zu dem Münchner Programm
nichts Wesentliches hinzugefügt oder abgeändert wurde (vgl. SW XIV,
232), immerhin mehr als ein Vierteljahrhundert umfasst.
Schellings Vorlesungsprogramm gestaltet sich als ein Gefüge von
drei Teilen, denen drei Vorlesungstexte entsprechen. 35 Diese sind
(1) die Einleitung in die Philosophie, (2) Philosophie der Mythologie
und (3) Philosophie der Offenbarung. Für jeden dieser Teile sind durch
die Arbeit von Ehrhardt in den neunziger Jahren verlässliche Textdokumente zugänglich gemacht worden, die die Grundlage der vorliegenden
Arbeit bieten. Denn an der redaktionellen Integrität der Sohnesausgabe
ist bereits früh gezweifelt worden (vgl. Offenb., 738–742, bes. Anm. 19
u. 20). Zudem hat Manfred Schröter, welcher noch Einblick in den
Nachlass hatte, in seiner Ausgabe massiv in den Zusammenhang der
einzelnen Stücke der Spätphilosophie, so wie sie K. F. A. Schelling gegeben hatte, eingegriffen. Die Textvarianten der Philosophie der Offenbarung stimmen allerdings in Aufbau und Textgestalt größtenteils
Markus Gabriel bemerkt in einer Fußnote, dass die positive Philosophie als System
einer offenen Zukunft Raum für »Utopie und Hoffnung« gibt (Gabriel 2006, 234
Anm. 1).
34
Vgl. Fuhrmans 1972, 27–37.
35 Vgl. die Übersicht bei Hutter 1996, 387 f.
33
15
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Einleitung
überein. Von einer kompletten Entstellung kann daher in Bezug auf den
Text der Philosophie der Offenbarung nicht die Rede sein. Anders verhält es sich bei der Philosophie der Mythologie. In den Sämmtlichen
Werken sind unter diesem Titel sowohl die Einleitung als auch die Darstellung der reinrationalen Philosophie und die Geschichte der Mythologie vereint. Müller-Bergen und Sartori haben in einer akribischen
Arbeit nachgewiesen, wie hochgradig korrumpiert die Textgestalt der
zweiten Abteilung der Sämmtlichen Werke ist. 36 In ihrem Resümee
sprechen die Autoren von »folgenschweren Auswirkungen in der Rezeption von Schellings Spätphilosophie«, 37 die durch die unautorisierten Eingriffe des Sohnes entstanden sind. Horst Fuhrmans hat 1972
einen Einleitungstext der von ihm so genannten »Großen Einleitung«
vorgelegt, der aber erneut eine Kompilation verschiedener Quellen ist
und nicht unproblematisch 38 und frei von eigenen Interpretationsabsichten ist. 39 Gegenüber diesem Konglomerat sind der Gedankengang und die Tendenz dieser einzelnen Teile in den Ehrhardt-Nachschriften jeweils deutlicher nachvollziehbar. Sie zeigen einen klaren
Plan und eine klare Systematik der positiven Philosophie. Zudem entkräftet der Mythologietext der letzten Münchner Vorlesung Vermutungen von Fuhrmanns und Schröter, denen diese Nachschrift noch
nicht zugänglich war, Schelling habe in den letzten Münchner Jahren
eine entscheidende Neubestimmung des Verhältnisses von positiver
und negativer Philosophie erwogen. 40 Die am wenigsten geeignete und
authentische Textvariante dürfte die Paulus-Nachschrift der Philosophie der Offenbarung sein. Dass Schelling in seiner Berliner Antrittsvorlesung verschiedene Teile seines Systems, die in München noch
ihren bestimmten Ort hatten, bei der Entfaltung der Offenbarungsphilosophie eher unsystematisch und episodenhaft einstreute 41 – wohl um
Müller-Bergen/Sartori 2007.
Müller-Bergen/Sartori 2007, 130.
38 So Fuhrmans eigene Einschätzung (Fuhrmans 1972, 62).
39 Dazu schreibt Ehrhardt: »Ein Rückgriff auf die frühere Form der Einleitung, auf die
Einleitung in statu nascendi gewissermaßen, lag offenbar nicht im Interesse der angestrebten Interpretationen, denn Horst Fuhrmans hat von dem von mir hier vorgelegten
Text gewußt und ihn selbst ›nicht ungut‹ genannt« (Ehrhardt 1989, XII).
40 »[D]enn Schellings Philosophieren hat in der letzen Münchner Vorlesung eine wichtige Wandlung erfahren« (Fuhrmans 1972, 36).
41 Die erste Schwierigkeit liegt darin, dass Schelling hier die negative Philosophie nicht
explizit und systematisch aufbaut, sondern nur einen »Umriß« zeichnet und selber anmerkt, dass »ins Detail […] nicht eingegangen werden« konnte (Offenb. 1841/42, 107).
36
37
16
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Textgrundlage
dem aufgeregten und erwartungsvollen Berliner Publikum 42 schneller
den ganzen Zusammenhang deutlich machen zu können – sowie redaktionelle Entstellungen durch Paulus, erweisen diesen Text als – wie
Walter Ehrhardt sagt – »unwürdig« (Offenb., 741) 43 für die Schellingforschung. Die vorliegende Untersuchung ist daher eine systematische
Interpretation der Ehrhardt-Nachschriften im Hinblick auf die Frage
nach dem inneren Zusammenhang von positiver und negativer Philosophie. Eine besondere Rolle spielt dabei der Text der Urfassung der Philosophie der Offenbarung, denn in dieser Vorlesung von 1830/31 sind
alle drei Teile des Vorlesungsprogramms gewissermaßen organisch als
Elemente verbunden. 44 Außerdem bilden alle anderen bekannten Texte
aus dem Umfeld der Spätphilosophie den Kontext und einen notwendigen Rückgriffsrahmen.
Die zweite Schwierigkeit liegt in der Durchführung des Übergangs von der negativen in
die positive Philosophie. Statt eine sachimmanente Entwicklung aufzuzeigen wie in den
Münchner Vorlesungen (vgl. Abschnitt 3.3.1.), gibt Schelling zwar eine facettenreiche,
aber sachlich nicht zwingende Behandlung geschichtlich relevanter Denkfiguren. Besonders das grundlegende Verhältnis zu Kant bleibt in dieser Darstellung unbestimmt. So
beginnt einer der letzten Absätze vor der eigentlichen Einführung der positiven Philosophie mit der äußerst klaren und maßgeblichen Einsicht: »Die vier Antinomien Kants sind
nichts weiter, als eben so viele Ausdrücke des Gegensatzes der negativen und positiven
Philosophie« (Offenb. 1841/42, 148). Es folgt aber nicht eine Erläuterung oder Entfaltung des Gesagten in Bezug auf das kantische System, sondern es folgen lediglich »Bemerkungen« unter anderem zum Spinozismus und der wolffschen Schulmetaphysik
(Offenb. 1841/42, 150). Schließlich liegt eine nicht geringe Schwierigkeit darin, dass in
der Darstellung der positiven Philosophie unvermittelt eine theologische Begrifflichkeit
einsetzt (zum Teil in unklaren Bezügen zu Spinoza), die noch nicht durch eine Philosophie der Mythologie vorbereitet ist, die erst später abgehandelt wird und hier auch eher
wie ein Anhängsel wirkt als wie ein integraler Bestandteil.
42 Gemeint ist die »Konfrontation« und »Kampfansage« besonders der Hegelianer
(Frank 1993, 13).
43 Auch Manfred Frank weiß um das Problematische der Paulus-Nachschrift, wenn er
sagt, sie sei zwar die beste Nachschrift unter den erhaltenen, aber gleichzeitig in Klammern hinzufügt: »oder vorsichtiger gesagt: unter den derzeit verfügbaren« (Frank 1993,
46).
44 Dieser organische Zusammenhang wird auch in den anderen beiden Ehrhardt-Texten
deutlich. Eine detaillierte Darstellung des Aufbaus des Textes der Urfassung gibt Krüger
in seiner an der Trinitätslehre orientierten Interpretation (Krüger 2008, 157–162).
17
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