Depression - Medizinische Psychologie

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Dr. Götz Fabry
Vorlesung Medizinische Psychologie
15.12.2010: Emotionen: Depression
Im Kontext der Vorlesung Medizinische Psychologie können natürlich nur wenige ausgewählte Aspekte
des Themas Depression angesprochen werden, weitere Informationen sind aber z.B. in Lehrbüchern der
Psychiatrie und Psychotherapie leicht zu finden.
Wie Folie 1 zeigt ist die Depression eine der häufigsten psychischen Störungen. Nimmt man alle Erkrankungen (körperliche wie psychische) zusammen, dann ist die Depression sogar diejenige Erkrankung, die
weltweit (!) die größte „Krankheitslast“ verursacht (gemessen als sogenannt YDLs – „years lost due to
disability“, eine Größe, in die die Zahl der Erkrankten, sowie die Schwere und Dauer der Erkrankung einfließt). Von daher ist es keine Übertreibung zu sagen, dass die Depression eines der drängendsten medizinischen Probleme unserer Zeit ist.
Folie 1
Depression:
eine der häufigsten psychischen Störungen
• Inzidenz: etwa 1% aller Erwachsenen
• Lebenszeitprävalenz: etwa 10% bis 20% für schwere
depressive Phase
• Frauen erkranken etwa doppelt so häufig an einer Depression
wie Männer
• 50% aller Depressionen treten zum ersten Mal vor dem 40.
Lebensjahr auf
• nur 10% aller Patienten erkranken erstmalig nach dem 60.
Lebensjahr.
Spießl et al. 2006
Depression ist allerdings noch kein sehr präziser Begriff, da es sehr unterschiedliche Verläufe und
Schweregrade einer depressiven Störung gibt, was auf Folie 2 beispielhaft dargestellt ist. Typischerweise verläuft diese Störung in Episoden, d.h. depressive Zustände wechseln sich mit störungsfreien Intervallen ab. Die Häufigkeit von depressiven Episoden kann dabei sehr unterschiedlich sein. Manche Menschen erleben nur eine einzige depressive Episode in ihrem Leben, andere erleben vier oder fünf, manche Patienten sogar unzählige. Treten mehrere depressive Episoden auf, dann spricht man von einer
rezidivierenden (also einer wiederauftretenden) depressiven Störung. Auch die Dauer der Episoden kann
variabel sein, durchschnittlich liegt sie bei etwa fünf Monaten.
Folie 2
Depression
Verlaufsformen
Quelle: Kompetenznetz Depression
© Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de
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Neben dem episodenhaften Verlauf mit Phasen schwerer Depressivität gibt es auch Verlaufsformen, die
weniger schwerwiegend verlaufen, dafür aber kaum jemals einen emotionalen Normalzustand aufweisen, die sogenannte „Dysthymie“ („Verstimmtheit“ von griech. thymos = Lebenskraft, Gemütslage).
Schließlich ist es häufig so, dass Patienten nicht nur depresssive Episoden erleiden sondern zwischendurch auch manische Episoden, in denen die Stimmung über das Normalmaß hinaus gesteigert ist. Dann
spricht man von einer bipolaren affektiven Störung.
Die Depression ist ein äußerst vielgestaltiges Krankheitsbild, bei der eine Fülle nicht nur psychischer
Symptome auftreten kann (Folie 3).
Folie 3
Wie äußert sich eine Depression?
Erschöpfung, Energieverlust
verminderter Antrieb
Niedergeschlagenheit
Traurigkeit
Verlust von Interesse, Freude,
sexuellem Interesse
Reduzierte Mimik & Gestik
Appetit- und
Gewichtsveränderungen
Gefühl der Wertlosigkeit,
Schuld
Schlafstörungen
Konzentrationsstörungen
Entscheidungsschwierigkeiten
Unruhe oder Apathie
Todesgedanken,
Todeswünsche, Suizidpläne
körperliche Beschwerden
Abbildung: Wellcome Images
Keines dieser Symptome ist spezifisch für die Depression, denn sie können auch im Rahmen anderer
psychischer Störungen auftreten und in isolierter und vorübergehender Form sogar im „normalen“ Alltag.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wann aus klinischer Sicht dann eigentlich von einer Depression oder besser gesagt von einer depressiven Episode die Rede sein kann. Da diese Problematik für
praktisch alle psychischen Störungen gilt, hat man sich weltweit auf Kriterienkataloge geeinigt, in denen
genau beschrieben ist, welche Voraussetzungen vorliegen müssen, damit die Diagnose einer depressiven
Störung gestellt werden darf. Zwei solcher Kataloge für psychische Störungen sind gebräuchlich: Zum
einen die International Classification of Diseases (ICD) in der gegenwärtig 10. Auflage und zum anderen
das Diagnostic and Statistic Manual (DSM) der American Psychiatric Association, dessen fünfte Auflage
gerade vorbereitet wird. Die ICD-Kriterien für die Depression sind auf Folie 4 dargestellt.
Folie 3
Depression
Diagnostische Kriterien nach ICD-10
Hauptsymptome
Andere häufige Symptome
1. Gedrückte Stimmung
1. Konzentration vermindert
2. Interessen-/Freudlosigkeit
2. Selbstwertgefühl vermindert
3. Antriebsstörungen, Müdigkeit
3. Schuldgefühl
4. negative Zukunftsperspektive
5. Selbstschädigung
6. Schlafstörungen
7. Appetitminderung
2 oder 3 Hauptsymptome müssen
vorhanden sein
2 bis 4 andere Symptome müssen
vorhanden sein
Dauer: mindestens 2 Wochen
Im Hinblick auf die vielfältige Symptomatik der Depression verdienen zwei Aspekte besondere Aufmerksamkeit: Zum einen die Tatsache, dass die Depression mit einer Fülle von körperlichen Symptomen einhergehen kann (Folie 4). Diese körperlichen Beschwerden, die eher unspezifisch sind und somit auf
eine ganze Reihe von Erkrankungen hinweisen könnten, stehen mitunter so stark im Vordergrund, dass
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die zugrundeliegende depressive Störung gar nicht als solche erkannt wird. In diesem Zusammenhang
wurde daher häufig von einer „larvierten“ Depression gesprochen, einer Depression mit Maskierung
(Larve) also. Heute spricht man dagegen von einer depressiven Episode mit somatischem Syndrom
(Syndrom = Symptomenkomplex).
Folie 4
Körperliche Beschwerden bei
Depression
Kopfschmerzen
Ohrgeräusche
Übelkeit
Magenschmerzen
Muskelkrämpfe.
Schwindel
Kreislaufbeschwerden
Herzbeschwerden
Störungen der
Sexualfunktion
Ein zweiter wichtiger Aspekt ist die Gefahr von Suiziden. Wie Folie 5 verdeutlicht, ist die Depression die
wichtigste Ursache von Suiziden überhaupt. Daher muss mit depressiven Patienten unbedingt über das
etwaige Vorliegen von Todeswünschen, Suizidgedanken und –plänen gesprochen werden. Dabei muss
man sich unbedingt von dem Vorurteil verabschieden, dass das Ansprechen von solchen Gedanken den
Patienten erst auf solche bringen oder gar einen Suizid auslösen könnte. Das Gegenteil ist richtig: Häufig
sind Patienten entlastet, wenn sie offen und ohne negative Wertungen mit dem Arzt über das Thema
sprechen können (auch und gerade deshalb, weil Scham- und Schuldgefühle dabei eine große Rolle
spielen und daher die Angst der Patienten, für ihre Gedanken verurteilt zu werden, sehr groß sein kann).
Folie 5
Suizidgefahr bei Depression
• pro Jahr nehmen sich in Deutschland etwa 11.000 Menschen
das Leben, (Dunkelziffer bis zu zehnmal größer?)
• 2/3 der Menschen, die sich das Leben nahmen, litten an einer
Depression
• 80% aller depressiven Patienten haben Todeswünsche
• 40% aller depressiven Patienten versuchen, sich das Leben zu
nehmen
• bis zu 15% aller depressiven Patienten bringen sich um.
Aber: die Suizidrate ist seit 1983 (18.711) um 40% gesunken
(2002: 11.163)!
Erfolg von Präventionsarbeit und antidepressiver Behandlung?
vgl. Wolfersdorf 2008, Spießl et al. 2006
Dass die Zahl der Suizide insgesamt zurückgeht könnte zum einen auf eine verbesserte Behandlung depressiver Störungen zurückzuführen sein, zum anderen aber auch auf eine bessere Präventionsarbeit.
Ein Faktor ist dabei besonders wichtig, nämlich die Art und Weise, wie über Suizide in den Medien berichtet wird. Aus der Erkenntnis, dass die Gefahr von Nachahmersuiziden insbesondere dann sehr groß
ist, wenn über Suizide ausführlich und detailliert berichtet wird, besteht bei den Medien die stillschweigende Übereinkunft, dass in der Regel keine solchen Berichte erscheinen. In Ausnahmefällen, wie z.B.
nach dem Suizid des Fußballtorwarts Robert Enke, muss damit gerechnet werden, dass die Berichterstattung eine Reihe von Nachahmersuiziden auslösen wird. Dieses Phänomen wird auch als „Werther-Effekt“
bezeichnet, weil sich nach Erscheinen von Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“ zahlreiche
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junge Leute in ganz Europa nicht nur so kleideten wie dessen Protagonist sondern diesem leider auch in
den Tod folgten und sich umbrachten.
Doch was sind eigentlich die Ursachen für eine Depression? Wie bei praktisch allen anderen psychischen
Störungen auch geht man heute davon aus, dass dafür ein komplexes Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren verantwortlich ist, das bislang nur teilweise verstanden ist (Folie 6): Zum einen spielen
genetische Faktoren eine Rolle, wobei nicht nur an eine Vererbung von direkt mit der Depression in Zusammenhang stehenden Merkmalen (z.B. bestimmten neurobiologischen oder hormonellen) gedacht
werden muss, sondern auch an bestimmte Persönlichkeitsmerkmale und Charaktereigenschaften, die
das Risiko für eine Depression indirekt vergrößern können, weil sie zu ungünstigen Erlebens- und Verhaltensmustern führen. Unbestritten ist auch der Einfluss der individuellen Lebensgeschichte, aus der in
einem Wechselspiel von Entwicklung, Erziehung und (sozialen) Erfahrungen mehr oder weniger starke
Ressourcen für die Bewältigung von negativen Emotionen, Stress und kritischen Lebensereignissen resultieren. Kritische Lebensereignisse selbst spielen vor allem als Auslöser depressiver Episoden eine Rolle, als Ursachen im eigentlichen Sinn können sie vor allem dann gelten, wenn sie während bestimmter
kritischer Lebensabschnitte z.B. während der Kindheit und gehäuft aufgetreten sind, so dass zum einen
eine angemessene Bewältigung nicht möglich war und zum anderen damit die Entwicklung einer stabilen
psychischen Struktur verhindert wurde.
Die verschiedenen Ursachen führen zu einer Reihe von Veränderungen, die sich sowohl auf psychischer
Ebene (z.B. in Form bestimmter kognitiver Bewertungsmuster oder emotionaler Reaktionen, siehe unten) als auch auf neurobiologischer Ebene (z.B. in Form von Auffälligkeiten auf hormoneller Ebene oder
in bestimmten Neurotransmittersystemen des ZNS) manifestieren und letztendlich in eine depressive
Störung münden. Mittlerweile liegt eine Fülle von Erkenntnissen zu diesen Veränderungen vor, auf deren
Grundlage wirkungsvolle pharmakologische wie auch psychotherapeutische Interventionen entwickelt
werden konnten. Dennoch fehlt bis heute ein kohärentes Erklärungsmodell für die Depression (wie auch
für die meisten anderen psychischen Störungen).
Folie 6
Ursachen einer Depression
Lebensgeschichte
Genetische
Faktoren
Persönlichkeit
Psychische +
neurobiologische
Veränderungen
aktuelle Belastungen
(Stress)
Depressive
Störung
Nachfolgend sollen einige wenige dieser Erkenntnisse exemplarisch dargestellt werden. Die Folien 7
und 8 zeigen die Ergebnisse einer sehr aufwändigen Studie, in der Nachkommen depressiver Eltern
über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren beobachtet wurden. Dabei zeigte sich, dass im Vergleich zu
einer entsprechenden Kontrollgruppe ohne depressive Eltern, nicht nur die Rate an depressiven Erkrankungen erhöht war (Folie 7) sondern dass auch Angst- und Suchterkrankungen häufiger auftraten (Folie 8). Insgesamt war jedoch die Mehrzahl der Nachkommen depressiver Eltern (nämlich etwa 60%)
während des Zeitraums der Untersuchung nicht in psychiatrischer Behandlung, was darauf hinweist,
dass die familiäre Belastung das Risiko für eine Depression zwar erhöht, diese aber nicht im eigentlichen
Sinne verursacht.
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Folie 7
Depression: familiäre Belastung
Beobachtungszeitraum: 20 Jahre
Eltern ohne depressive
Störung (N=50)
Anteil der
Nachkommen
mit
depressiver
Störung
Eltern mit depressiver
Störung (N=101)
Alter bei Beginn der Depression
Weissman et al. 2006
Folie 8
Depression: familiäre Belastung
Anteil der
Nachkommen mit
Angsterkrankungen
Anteil der
Nachkommen mit
Suchterkrankungen
Weissman et al. 2006
Alter bei Beginn der Störung
Welche Faktoren neben den genetischen dafür verantwortlich sein könnten, dass Kinder depressiver
Eltern ein höheres Risiko haben, selbst an einer Depression zu erkranken, ist Gegenstand aktueller Forschung, wie die folgenden Studien exemplarisch verdeutlichen sollen.
Im Zusammenhang mit den individuellen Ressourcen zur Bewältigung von Stress wurde bereits auf das
von Seligman formulierte Prinzip der erlernten Hilflosigkeit verwiesen (Folie 9).
Folie 9
erlernte Hilflosigkeit
(Seligman)
Stromstöße
Barriere
shuttle box
keine
Stromstöße
Abbildung aus Comer 22001
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Zur Erinnerung: Hunde, die zuvor die Erfahrung gemacht hatten, dass sie schmerzhaften Elektroschocks
ihres Käfigbodens auf keinerlei Weise entgehen konnten, machten im weiteren Verlauf auch dann keine
Versuche mehr, über eine Barriere in einen anderen Käfigteil zu springen, wenn ihnen das die schmerzhaften Erfahrung erspart hätte. Die Erfahrung, in einer bestimmten Situation hilflos zu sein, verursachte
offensichtlich die Erwartung, dass dies auch zukünftig so sein wird und führte damit zu einem passiven
Verhalten.
Auch wenn dieses Modell sicherlich zu einfach ist, um das Entstehen einer depressiven Störung zu erklären, macht es doch deutlich, wie Erfahrungen zu bestimmten ungünstigen Verhaltensmustern führen
können. Ein Bereich, in dem solche ungünstigen Verhaltensmuster im Kontext psychischer Störungen
besonders relevant sind, ist die emotionale Regulation. In der einführenden Vorlesung zum Thema Emotionen wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich die Fähigkeit, Emotionen regulieren zu können, in
der Interaktion mit den primären Bezugspersonen (also in aller Regel den Eltern) herausbildet. Wie die
auf den folgenden Folien dargestellten Studienergebnisse zeigen, könnte gerade dieser interaktive Prozess bei Kindern mit depressiven Eltern gestört sein. Untersucht wurde hier eine Gruppe von Kindern im
Alter von 4 bis 7 Jahren, deren Mütter eine depressive Störung hatten, wobei das erste Auftreten dieser
Störung bereits im Kindesalter der Mütter lag. Verglichen wurden diese Kinder mit einer entsprechenden
Kontrollgruppe von Kindern mit gesunden Müttern. Die Kinder wurden in eine Situation gebracht, in der
negative Emotionen auftreten und zwar mussten sie einige Minuten auf eine versprochene Belohnung
warten (Keks oder Spielzeug). Beobachtet wurde, welche Strategien die Kinder in der Wartezeit einsetzen, um ihre Emotionen zu regulieren (die dabei beobachteten Strategien sind auf Folie 10 aufgeführt).
Folie 10
Emotionale Regulation
im Kindesalter
• 49 Kinder depressiver Mütter (Erstmanifestation im
Kindesalter), Vergleichsgruppe (N=37), Alter: 4-7J
• Aufgabe: 3-7 min auf versprochenen Keks bzw. Spielzeug
warten (Objekt ist dabei sichtbar)
• beobachtete Strategien:
– aktives Ablenken (Spielen, Singen, Phantasieren…)
– Fokus auf Objekt (Hinschauen, darüber reden, Versuch, es
zu bekommen…)
– passives Warten
– Informieren (Fragen stellen zur Situation)
– Suche nach Kontakt (Mutter anfassen, Wunsch nach
Kontakt…)
Silk et al. 2006
Als Ergebnis (Folie 11) zeigte sich zunächst, dass die Kinder beider Gruppen am häufigsten die Strategie „aktives Ablenken“ anwandten.
Folie 11
Emotionale Reaktion
im Kindesalter
am häufigsten benutzte Strategie in beiden Gruppen:
- aktives Ablenken
signifikanter Unterschied zwischen beiden Gruppen:
- Fokus auf Objekt (häufiger bei Kindern depressiver Mütter)
Silk et al. 2006
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Diese Strategie ist gut geeignet, um Emotionen zu regulieren, weil durch die Ablenkung die Aufmerksamkeit von dem emotionsauslösenden Objekt abgezogen wird. Es fand sich aber auch ein Unterschied
zwischen beiden Gruppen: Die Kinder depressiver Mütter wandten häufiger die Strategie „Fokus auf Objekt“ an, das heißt, sie versuchten z.B., sich selbst in den Besitz des Gegenstands zu bringen oder die
Mutter dazu zu bringen, die Wartezeit abzukürzen. Diese Strategie ist weniger geeignet, Emotionen zu
regulieren, da die Aufmerksamkeit weiterhin auf das emotionsauslösende Objekt gerichtet bleibt.
Besonders interessant waren weitere Auswertungen, in die sowohl die Schwere der depressiven Störung
der Mutter mit einbezogen wurde als auch das Geschlecht der Kinder. Letzteres ist deshalb wichtig, weil
man aus anderen Studien weiß, dass es bei der Vermittlung emotionaler Regulationsfähigkeit durch die
Eltern Geschlechterunterschiede gibt, die weitgehend gängigen Geschlechterstereotypen folgen (Mädchen werden eher soziale Strategien, Jungen eher Ablenkungsstrategien vermittelt). In der Auswertung
der Daten zeigte sich ein Interaktionseffekt zwischen der Schwere der Depression der Mutter (gemessen
an der Zahl depressiver Episoden) und dem Geschlecht der Kinder (Folie 12 und 13): So machten
Mädchen umso seltener von Ablenkungsstrategien Gebrauch, je schwerer die depressive Störung ihrer
Mutter war (Folie 12). Umgekehrt machten Mädchen umso häufiger Gebrauch von passivem Abwarten,
je schwerer die depressive Störung der Mutter war (Folie 13). (Auch das passive Abwarten ist keine
besonders gute Strategie, um Emotionen zu regulieren, weil auch hier die Aufmerksamkeit auf das emotionsauslösende Objekt gerichtet bleibt.)
Folie 12
Emotionale Regulation
im Kindesalter
Geschlecht der Kinder:
Häufigkeit
von
aktivem
Ablenken
Zahl der depressiven Episoden der Mutter
Folie 13
Silk et al. 2006
Emotionale Regulation
im Kindesalter
Geschlecht der Kinder:
Häufigkeit
von
passivem
Warten
Zahl der depressiven Episoden der Mutter
Silk et al. 2006
Diese Befunde verdeutlichen exemplarisch einen psychischen Mechanismus, der das erhöhte Depressionsrisiko von Kindern depressiver Eltern erklären kann. Der gefundene Geschlechterunterschied steht im
Einklang mit anderen Studienergebnissen, die gezeigt haben, dass dieses Risiko für Mädchen tendenziell
größer ist als für Jungen.
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Betrachten wir dazu noch einen weiteren Befund, diesmal auf neurophysiologischer Ebene (Folie 14):
In dieser Untersuchung wurde die EEG-Aktivität von 15-18 Monate alten Kindern von depressiven bzw.
nicht-depressiven Müttern während verschiedener Bedingungen gemessen: „baseline“: 1 min Stille während die Kinder herabfallende Seifenblasen beobachteten und die Mutter still hinter dem Kind sitzt. „mother play“: 1 min während die Mutter dem Kind frontal gegenübersitzt und mit ihm spielt. „stranger approach“: 45 s während eine fremde Person den Raum betritt, sich dem Kind nähert, sich ihm gegenüber
hinsetzt und dann den Raum wieder verlässt. „experimenter play“: 1 min während der dem Kind bereits
vertraute Assistent diesem frontal gegenüber sitzt und mit ihm spielt. „maternal separation“: die Mutter
verabschiedet sich, verlässt den Raum und kommt nach 30 s zurück. In der Baseline-Bedingung sowie
bei den beiden Spielbedingungen zeigte sich bei den Kindern depressiver Mütter im Vergleich zur Kontrollgruppe eine im Seitenvergleich reduzierte Gehirnaktivität links-frontal. Dieser Befund wird folgendermaßen interpretiert: Die fraglichen Situationen rufen üblicherweise positive Emotionen hervor, die über
die linke Gehirnhemisphäre vermittelt werden (dort also mit einer höheren Aktivität einhergehen). Die
Kinder der depressiven Mütter zeigen eine schwächere Reaktion, offenbar fällt es ihnen also schwerer,
emotional positiv zu reagieren. Man könnte auch sagen, dass die Schwelle für positive Emotionen bei
diesen Kindern höher liegt als bei anderen. Offensichtlich hat also die emotionale Störung der Mutter
Konsequenzen für das Interaktionsverhalten des Kindes und zwar selbst in solchen Situationen, in denen
die Mutter gar nicht beteiligt ist („experimenter play“).
Folie 14
Kinder depressiver Mütter
Unterschiede in frontaler EEG-Aktivität
kindliche EEG-Aktivität frontal
EEG-Power
rechts – links
(log.)
n=159 Mutter-Kind Paare, Kinder 15-18 Monate alt
90 Mütter depressiv (CES-D Score ≥ 16)
69 Mütter nicht-depressiv (CES-D Score ≤ 8)
Dawson et al. 1999
Diese Beispiele zeigen eindrucksvoll, wie sich aus der Interaktion mit den primären Bezugspersonen bestimmte Verhaltens- und Erlebensmuster entwickeln und wie dabei bestimmte Muster entstehen können,
die z.B. die späteren Fähigkeiten eines Individuums, mit belastenden Lebensereignissen zurecht zu
kommen, beeinträchtigen können. Auf der Grundlage solcher Erkenntnisse lassen sich möglicherweise
auch präventive Strategien entwickeln, um kindlichen Fehlentwicklungen möglichst frühzeitig entgegenwirken zu können.
Folie 15 zeigt noch einen weiteren Baustein psychologischer Erkenntnisse zu Depressionen: Dem amerikanischen Psychologen Aaron T. Beck (geb. 1921) war bei der psychotherapeutischen Behandlung von
depressiven Patienten aufgefallen, dass diese typische „Denkfehler“ machten, von denen Beck annahm,
dass sie eine depressionsförderliche Wirkung haben könnten. Seine Beobachtungen erweiterte Beck zu
einem bis heute sehr einflussreichen kognitiven Modell der Depression: Hintergrund der depressiven
Denkfehler sind Beck zufolge negative kognitive Schemata, die sich im Lauf der Lebensgeschichte (besonders wichtig ist hier erneut die Kindheit) herausgebildet haben. Solche Schemata enthalten beispielsweise Einstellungen wie „Mein Wert als Person hängt davon ab, wie erfolgreich ich bin.“ oder
„Wenn ich versage, verliere ich die Zuneigung der anderen.“ Es ist leicht einsehbar, dass solche Einstellungen für die Bewältigung bereits der „normalen“, alltäglichen Aufgaben nicht günstig sind, weil von
ihnen ein permanenter innerer Druck ausgeht. Unter wiederholten widrigen Umständen oder ausgelöst
durch ein kritisches Lebensereignis z.B. den Verlust einer nahen Bezugsperson, können diese negativen
Schemata so prominent werden, dass sich bei den Betroffenen eine umfassende negative Sicht ihrer
selbst, der Umwelt und ihrer Zukunft breit macht (die sogenannte kognitive Triade): Sie fühlen sich
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selbst als wertlos und unzulänglich, sehen ihre Umwelt als eine Belastung und auch ihre Zukunft als negativ an. Diese umfassende negative Bewertung wird durch die typischen depressiven Denkfehler aufrechterhalten: Willkürliches Schlussfolgern führt dazu, dass aus alltäglichen, in vielfältiger Weise interpretierbaren Begebenheiten Beweise für die negative Weltsicht werden. Sieht ein Depressiver z.B. einen
Bekannten in der Stadt, der ihn aber nicht grüßt (z.B. weil dieser ihn gar nicht bemerkt hat), so ist er
davon überzeugt, dass der Bekannte nichts mit ihm zu tun haben will. Durch selektive Abstraktion werden aus einer Fülle von Fakten gerade die negativen herausgepickt, die wiederum als Beweis des eigenen Versagens angesehen werden können (z.B. sieht ein Lehrer, der an einem Tag nach fünf erfolgreichen Schulstunden eine weniger gute Stunde erlebt gerade diese als Beweis seiner Unfähigkeit an).
Übergeneralisierung beschreibt ein ähnliches Phänomen, hier werden aus kleinen Begebenheiten (z.B.
einer Verspätung um wenige Minuten) weitreichende Schlüsse gezogen („Ich bin unzuverlässig.“). Durch
Maximierung und Minimierung wird die Bedeutung positiver Ereignisse unterschätzt, die negativer Ereignisse dagegen überschätzt. So würde z.B. ein Student, der ein schwieriges Testat bestanden hat, seinen
Erfolg minimieren, indem er diesen der Großzügigkeit des Prüfers zuschreibt während er andererseits
eine schlechtere Bewertung in einer Hausarbeit als ein derart großes Problem ansieht, dass er sich mit
dem Gedanken trägt, das Studium abzubrechen (Maximierung). Mit Personalisierung ist schließlich gemeint, dass depressive Personen dazu neigen, den Fehler selbst dann bei sich zu suchen, wenn sie objektiv gar nicht dafür verantwortlich sein können.
Die depressiven Denkfehler führen wiederum dazu, dass sich die negativen Schemata stabilisieren und
verstärken, so dass sich die Patienten in einem Teufelskreis befinden, den sie aus eigener Kraft meistens
nicht durchbrechen können. Die negativen Gedanken drängen sich förmlich „automatisch“ auf und laufen gebetsmühlenhaft im Kopf der Patienten ab: „ich bin unfähig….“, „ich bin nichts wert…“, „ich schaffe
das nicht…“ usw.
Folie 15
Depression: negatives Denken
(A. Beck)
negative kognitive
Schemata
lebensgeschichtliche
Erfahrungen
kognitive Triade:
negative Bewertung von:
Umwelt
Ich
Zukunft
Depressive Denkfehler:
willkürliches
Schlussfolgern
selektive Abstraktion
Übergeneralisierung
Maximierung und
Minimierung
Personalisierung
Für das Modell von Beck gibt es mittlerweile einige empirische Belege, wie Folie 15 verdeutlicht. Demnach könnten solche negativen Gedanken sowohl bei der Entstehung zumindest depressiver Stimmung,
vor allem aber beim Aufrechterhalten einer depressiven Störung eine wichtige Rolle spielen. Insofern
wäre es naheliegend, diese kognitiven Verzerrungen auch zum Gegenstand der Psychotherapie bei Depression zu machen, was tatsächlich auch geschieht. Aufbauend auf den Erkenntnissen von Beck ist das
„kognitive Umstrukturieren“ ein wesentlicher Bestandteil in der Psychotherapie mit depressiven Patienten. Dazu müssen zunächst die beschriebenen depressiven Denkfehler im Erleben des Patienten identifiziert werden, indem Alltagssituationen, Begegnungen, Erlebnisse des Patienten sehr genau im Hinblick
auf die dabei erfahrenen Gedanken und Gefühle analysiert werden. Dieser erste Schritt dient also dazu,
dem Patienten sein einseitiges depressives Denken bewusst zu machen, so dass er es auch im Alltag bei
sich selbst zunehmend besser bemerken kann (dabei ist es natürlich von zentraler Bedeutung das Denken des Patienten nicht als falsch oder irrational zu bewerten, sondern als Ausdruck seiner Depression).
In einem zweiten Schritt können dann mit dem Patienten alternative kognitive Bewertungsmuster erprobt und regelrecht eingeübt werden, indem z.B. der Realitätsgehalt seiner depressiven Bewertungsmuster sehr genau mit ihm überprüft wird, indem er sich vorstellt, was andere Bewertungen für Konsequenzen hätten usw.
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Folie 16
negatives Denken
empirische Belege
• depressive Patienten erinnern sich besser an unangenehme
Erfahrungen als an positive
• depressive Probanden schätzten sich und ihre Leistung
schlechter ein als nicht-depressive (auch bei objektiv gleicher
Leistung)
• depressive Probandinnen wählten bei Fragen zu einem Text
(Frauen in schwierigen Situationen), signifikant häufiger
Antworten, die depressive Denkfehler enthielten
• nicht-depressive Probanden, die negative Aussagen (i.S.
„automatischer Gedanken“) über sich selbst lesen mussten
wurden zunehmend depressiv
• Bei depressiven Patienten mit Grübelneigung hielt die
depressive Verstimmung länger an.
nach Comer 22001
Außer diesem kognitiv orientierten Vorgehen gibt es natürlich noch eine Reihe anderer psychotherapeutischer Strategien, die z.B. auf die Beziehungsprobleme des Patienten gerichtet sind oder die auf den
direkten Aufbau von angenehm erlebten Aktivitäten zielen. Insgesamt gilt das psychotherapeutische
Vorgehen bei der Depression als der wichtigste Therapiebaustein überhaupt. Bei schweren depressiven
Störungen ist allerdings zusätzlich (!) eine langfristige medikamentöse Therapie meist unvermeidbar,
auch um das Risiko weiterer depressiver Episoden zu verringern.
Folie 17
Depression
take-home-message
• ist eine häufige und sehr ernste Erkrankung
• hat vielfältige Ursachen auf genetischer,
neurobiologischer und psychischer Ebene
• erfordert psychotherapeutische und je nach
Schweregrad auch psychopharmakologische
Maßnahmen
Literatur:
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frontal electrical brain activity during interactions with mother and with a familiar nondepressed adult. Child Development,
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•
Margraf J, Schneider S (Hrsg) (2008): Lehrbuch der Verhaltenstherapie. 3. Aufl. Bd. 2: Störungen des Erwachsenenalters.
Heidelberg (Springer Verlag).
•
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depressed mothers. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 47(1): 69-78.
•
Spießl H, Hübner-Liebermann B, Hajak G (2006): Volkskrankheit Depression. Deutsche Medizinische Wochenschrift, 131:
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Weissmann MM, Wickramaratne P, Nomura Y, Warner V, Pilowsky D, Verdeli H (2006): Offspring of depressed parents: 20
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Wolfersdorf M (2008): Depression und Suizid. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 51:
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