Analyse sozialer Deutungsmuster

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bremer soziologische texte
Schriftenreihe des Instituts für empirische
und angewandte Soziologie
herausgegeben von:
Hans-Günther Heiland
Rüdiger Lautmann
Ansgar Weymann
Matthias Wingens
Analyse
sozialer Deutungsmuster
Beiträge zur empirischen
Wissenssoziologie
Band 5
Michael Meuser, Reinhold Sackmann
(Hrsg.)
Centaurus-Verlagsgesellschaft
Pfaffenweiler 1992
r
Inhalt
Vorwort
7
Michael Meuser und Reinhold Sackmann
Zur Einführung: Deutungsmusteransatz und empirische Wissenssoziologie . . . . .9
Die Deutsche Bibliothek -CIP-Einheitsaufnahme
Meuser, Michael:
Analyse sozialer Deutungsmuster: Beiträge zur empirischen
Wissenssoziologie / Michael Meuser ; Reinhold Sackmann Pfaffenweiler: Centaurus-Verl.-Ges., 1991
(Bremer soziologische Texte • Bd 5)
ISBN 3-89085-626-8
NE: Sackmann, Reinhold:; GT
ISSN 0935-6045
der ÜblhrseSneS°orbere "** '?eC'" ^ Vervielfält'9unS und Verbreitung sowie
(durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohn^schHftl^he^enehnngung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elekto^cher
Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
eieK^onischer
© CENTAURUS-Verlagsgesellschaft mit beschränkter Haftung
Pfaffenweiler 1992
Satz: Vorlage der Autoren
Druck: Difo-Druck GmbH, Bamberg
Yvonne Schütze
Das Deutungsmuster "Mutterliebe" im historischen Wandel
39
Michael Schetsche
Sexuelle Selbstgefährdung des Kindes durch Onanie.
Ein Modell zur Binnenstruktur von Deutungsmustern
49
Ulrike Nagel
Sozialarbeit als Krisenmangement
71
Michael Meuser
"Das kann doch nicht wahr sein".
Positive Diskriminierung und Gerechtigkeit
89
UlfMatthiesen
Lebensstile und Deutungsmuster.
Randbemerkungen zu Problemen bei der Analyse
einer zeitdiagnostischen Zentralkonstellation
103
Christian Lüdemann
Deutungsmuster und das Modell rationalen Handelns.
Eine Anwendung auf Deutungsmuster männlicher Sexualität
115
RalfBohnsack
Dokumentarische Interpretation von Orientierungsmustern.
Verstehen-Interpretieren-Typenbildung in wissenssoziologischer Analyse . . . .139
Peter Alheit und Bettina Dausien
Biographie - ein »modernes Deutungsmuster«?
Sozialstrukturelle Brechungen einer Wissensform der Moderne
161
Bruno Hildenbrand
Zur Transformation von Orientierungsmustern in
einer landwirtschaftlichen Familie und deren Scheitern
183
Reinhold Sackmann
Das Deutungsmuster "Generation"
199
Die Autorinnen und Autoren
217
Vorwort
In diesem Band sind verschiedene Aufsätze zur empirischen Arbeit mit dem Konzept "Deutungsmuster" versammelt. Es soll damit ein Versuch unternommen werden, das heterogene Feld der Wissenssoziologie systematischer empirischer Forschung zugänglich zu machen. Bis heute haftet der Wissenssoziologie der Charakter einer eher philosophischen Teildisziplin an, die zwar Freiraum für vielfältige
Unternehmen aufweist, die aber gleichzeitig die Bodenschwere kontinuierlicher
empirischer Arbeit an einem Gegenstand vermissen läßt. Verglichen mit der Stadtsoziologie, der Industriesoziologie oder der Agrarsoziologie wirkt die Wissenssoziologie noch immer unentschlossen, ob sie den Anschluß an den jeweils neuesten
philosophischen Diskurs suchen oder ob sie ihren Bück gesellschaftlichen Alltagsproblemen zuwenden will. Diese Ambivalenz hängt einerseits mit dem Gegenstand zusammen, der lange Zeit in die Zuständigkeit der Philosophie fiel, andererseits läßt er sich mit spezifischen Bedingungen der Institutionalisierung dieser
Teildisziplin in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts erklären.
Als in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts Max Scheler und Karl Mannheim
den Begriff der Wissenssoziologie prägten, war schon einmal ein Scheideweg erreicht, an dem frühere philosophische Debatten von den Autoren aufgegriffen wurden und gleichzeitig ihre Überführung in empirische Forschungszusammenhänge
angestrebt wurde. Die Zeitumstände ermöglichten größtenteils nur konzeptionelle
Arbeiten dieser Gründerväter der Wissenssoziologie, zu früh wurde ihre Arbeit
durch den Nationalsozialismus unterbrochen. Viele Wissenssoziologen wie Mannheim und Schütz mußten emigrieren, der Denkzusammenhang war gestört Die
diskontinuierlichen Zeitumstände verhinderten das Entstehen einer kontinuierlichen Forschungsanstrengung einer empirischen Wissenssoziologie.
Als Mitte der 60er Jahre Berger/Luckmann in ihrem bahnbrechenden Buch "Die
gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" einen neuen Anlauf für einen
konzeptionellen Rahmen der Wissenssoziologie vorlegten, vermieden sie eine Anknüpfung an die "fruchtlose" ältere Wissenssoziologie. Der von Oevermann 1973
vorgelegte Versuch einer Theorie und Empirie der "Deutungsmuster" kann im
Kontext dieser zweiten Welle von vielfältigen Entwürfen wissenssoziologischer
Art gesehen werden, die allesamt in den 60er und 70er Jahren vorgestellt wurden.
Heute steht erneut - wie in den 30er Jahren - an, diese Theorien in empirische Forschungsarbeiten zu überführen. Es ist zu fragen, welche empirischen Erträge wissenssoziologische Forschungen liefern können, wie die theoretischen Konzepte revidiert werden müßten, um praktikabel zu sein, und welche Fragestellungen in den
Theorieentwürfen der 60er und 70er Jahre vernachlässigt worden sind.
Anders als in den 30er Jahren behindern die Zeitumstände diesmal nicht die Beantwortung dieser Fragen und den damit verbundenen Anlauf zu einer empirischen
Wissenssoziologie. Es besteht die Möglichkeit, die theoretischen Entwürfe der
(Neu-) Gründerzeit der Wissenssoziologie in den 70er Jahren in das Instrumentarium einer pragmatischen empirischen Wissenssoziologie umzusetzen. Mit diesem
Band soll ein Beitrag zu diesem Unternehmen geleistet werden.
Die Beiträge sind aus zwei vom Institut für empirische und angewandte Soziologie (EMPAS) veranstalteten Workshops hervorgegangen. Wir danken dem
EMPAS für seine finanzielle Unterstützung, die die Durchführung ermöglichte.
Die Besorgung der druckfertigen Manuskripte leistete Andrea Hofmann, der wir an
dieser Stelle besonders danken wollen.
Bremen, im November 1991
M.M./R.S.
Zur Einführung: Deutungsmusteransatz und empirische
Wissenssoziologie
Michael Meuser und Reinhold Sackmann
1. Die Diskurse der Wissenssoziologie
Einen Eindruck von den Themen und Diskursen der Wissenssoziologie kann ein
kurzer Abriß der Geschichte dieser Disziplin vermitteln. Zum besseren Verständnis
wurde die historische Entwicklung analytisch in Diskurse unterteilt, die jeweils bestimmte Sachprobleme der Wissenssoziologie benennen. Für eine ausführliche
Auseinandersetzung mit der Geschichte der Wissenssoziologie sei hier auf Krüger
(1981), Lieber (1985) und Lenk (1967) verwiesen.
In der Geschichte der Wissenssoziologie seit dem HJahrhundert1 lassen sich
vier Diskurse unterscheiden. Der erste und älteste geht einher mit der Ausdifferenzierung der Wissenschaft aus der Religion, die im Mittelalter noch ein Deutungsund Wissensmonopol für sich in Anspruch nahm. Francis Bacon, der gemeinhin als
Ahnvater der Wissenssoziologie gilt, versucht, in seinem Hauptwerk "Novum Organum" die Unabhängigkeit der Wissenschaft zu begründen. Mit dem Pathos des
Neuen, des Neuanfangs, vertraut Bacon nur der Erfahrung, die in induktiven
Schlüssen zur Gewinnung neuer Erkenntnisse gebraucht werden soll, um produktiv
Neues zu schaffen. "Denn der Natur bemächtigt man sich nur, indem man ihr
nachgibt" (Bacon 1830, S. 26). Bacon strebt eine unvoreingenommene Offenheit
gegenüber Naturphänomenen an; es ist deshalb für ihn notwendig, alle Wissensformen zu kritisieren, die eine sachliche Wahrnehmung behindern. Bacons
Neubegründung der Wissenschaft ist deshalb begleitet von einer "Idolenlehre", einer Kritik der "Vorurtheilsgötzen, die falschen Begriffe" (Bacon 1830, S.32), die
bisher die Wahrheit behindert haben. Seine Idolenlehre ist ein Vorläufer der späteren Ideologiekritik, die über Jahrhunderte die Wissenssoziologie beschäftigt.
Bei diesem ersten, frühbürgerlichen Diskurs der Wissenssoziologie fällt auf, daß
nicht nur eine Hauptstoßrichtung in der Kritik traditionalen Wissens liegt, also eine
negative Bestimmung, sondern daß für die Abstützung der radikalen Lösung von
traditionalen Wissenssystemen auch das Vertrauen auf einen neuen festen Halt
hilfreich ist. Die Funktion eines solchen "Übergangsobjekts" bei der Ablösung
übernimmt der Naturbegriff, der sowohl im Naturrecht als auch in der Naturwissenschaft als mächtiger Fixpunkt außerhalb des bisherigen Wissenssystems dient.
Die Zuordnung von Autoren früherer Jahrhunderte zur Wissenssoziologie, die sich erst seit
den 20er Jahren dieses Jahrhunderts so bezeichnet, ist nicht ganz unproblematisch. Sachliche
Gründe der Problemkontinuität und die enge Verbindung von Philosophie und Soziologie in
der Wissenssoziologie lassen es allerdings als adäquat erscheinen auch "vorsoziologische"
Autoren als Wissenssoziologen zu lesen.
p
Die frühbiirgerliche Kritik des Empirizismus und Skeptizismus an den alten
Wissenssystemen im Namen von Vernunft und Naturbeobachtung wird dabei nicht
nur akademisch formuliert, wie die folgende kleine Passage von Hume belegt:
"Nehmen wir irgendein Buch zur Hand, z.B. über Theologie oder Schulmetaphysik, so laßt uns fragen: Enthält es eine abstrakte Erörterung über Größe und Zahl?
Nein. Enthält es eine auf Erfahrung beruhende Erörterung über Tatsache und Existenz? Nein. So übergebe man es den Rammen, denn es kann nichts als Sophisterei
und Blendwerk enthalten" (Hume 1979, S. 207). Es existieren klare Kampfgegner,
die von den frühbürgerlichen Denkern benannt werden.
Es verwundert deshalb nicht, wenn dieser Diskurs im 18. Jahrhundert in vorrevolutionäre, aufklärerische Ideen einmündet. Holbach als einer ihrer Vertreter stellt
dem falschen Wissen der Höfe und der Priester, deren Wissen auf Einbildung, deren Macht auf dem Unwissen der anderen und deren Moral auf Laster beruht, die
Natur des Menschen entgegen, dessen Wissen auf Erfahrung, dessen Bedeutung
auf Vernunft und dessen Moral auf Tugend zurückgreift Falsches Wissen wird von
Holbach als herrschaftsfunktional angesehen: "Die Autorität hält sich gewöhnlich
für verpflichtet, die einmal vorhandenen Meinungen beizubehalten. Die Vorurteile
und die Irrtümer, die sie zur Sicherung ihrer Macht für notwendig erachtet, werden
durch Gewalt, die sich nie nach der Vernunft richtet, aufrechterhalten" (Holbach
1978,S.130f.).
Der erste Diskurs der Wissenssoziologie, wie er bei den frühbürgerlichen Denkern geführt wird, ist eine Folge der Ausdifferenzierung von Religion und Wissenschaft. Religiösen und metaphysischen "Spekulationen" werden Naturgesetze und
Vernunft entgegengehalten. "Religion" wird in dieser Konfliktstellung und in der
historischen Situation der Nachreformation zu einem "Gegenstand", der als Wissenssystem analysiert werden kann.
In einem zweiten nachrevolutionären Diskurs wird der Naturbegriff durch den
Begriff der "Geschichte" relativiert. Die Erfahrung der Französischen Revolution
ließ die Prozeßhaftigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung stärker hervortreten.
"Geschichte" wird zum Fixpunkt des zweiten wissenssoziologischen Diskurses und
tritt damit an die Stelle des frühbürgerlichen konstanten Naturbegriffes. Beim
Übergang der Diskurse von "Natur" zu "Geschichte" gibt es mannigfache Kompromisse. Comte beispielsweise verknüpft den alten Diskurs der Religions- und
Metaphysikkritik im Namen der Wissenschaft (Vernunft und Natur) mit der geschichtlichen Vorstellung einer notwendigen Evolution des Wissens hin zur Wissenschaft im Drei-Stadien-Gesetz.
Der zweite Diskurs der Wissenssoziologie, der den neuen Geschichtsgedanken
systematisch aufgreift, formiert sich am deutlichsten im rückständigen,
"romantischen" Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts. Feuerbach faßt
"Religion" nicht mehr wie die empirizistische Ideologiekritik als Irrtum oder
falsche Ansicht über die Wirklichkeit auf, sondern als Selbstentfremdung des Menschen. "Religion" wird als Produkt des Menschen angesehen. "Der Mensch verlegt
sein Wesen zuerst außer sich, ehe er es in sich findet. Das eigne Wesen ist ihm zu10
erst als ein andres Wesen Gegenstand. Die Religion ist das kindliche Wesen der
Menschheit; aber das Kind sieht sein Wesen, den Menschen außer sich. (...) Der
geschichtliche Fortgang in den Religionen besteht deswegen darin, daß das, was
der frühem Religion für etwas Objektives galt, jetzt als etwas Subjektives, (...) als
etwas Menschliches erkannt wird" (Feuerbach 1973, S. 47). Die menschliche Gattung befinde sich in einem geschichtlichen Prozeß der Bewußtwerdung ihrer Produkte. Religion wird von Feuerbach zwar als menschliches Produkt "entlarvt", sie
gilt ihm aber gleichzeitig als "feierliche Enthüllung der verborgnen Schätze des
Menschen" (ebd., S. 46), als Gattungsbewußtsein, das als transzendentes Prinzip im
Laufe der Geschichte verwirklicht werden kann. Der zweite historische Diskurs der
Wissenssoziologie kreist so um den Gedanken, "Geschichte" als Selbstentfremdung
der menschlichen Gattung zu analysieren.
Der junge Marx überträgt die Analysen Feuerbachs von der Religion auf die Bereiche des Rechts und der Politik, die ihm ebenfalls als dem Menschen entfremdete
Bereiche des Gattungsbewußtseins gelten. Durch Reflexion sollen diese Bereiche
(und Institutionen) wieder einer Gestaltung durch den Menschen zugänglich gemacht werden, in der Praxis der Veränderung sollen sie als Produkt des Menschen
erfahrbar werden. Bei seiner Beschäftigung mit dem Bereich der Ökonomie glaubt
dann der späte Marx, einen Schlüssel zur Moderne in den Händen zu halten. So wie
im Mittelalter die Religion das zentrale Wissenssystem der Gesellschaft war, so sei
nun die Ökonomie die Totalität der Gesamtstruktur. Er hat insofern recht, als sich
in der Tat Ende des 18. Jahrhunderts die Ökonomie als eigenständiges System ausdifferenziert; ob sie allerdings das neue totalitäre "Leitsystem" ist, dessen "Basis"
den "Überbau" bestimmt, gilt als äußerst zweifelhaft Trotz dieser Einschränkung
bleibt festzuhalten, daß die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie insgesamt
einen Entwurf der wissenssoziologischen Kritik des Systems der Ökonomie mit
Feuerbachscher Intention darstellt (Reichelt 1975).
Durkheim kann als Bindeglied zwischen dem ersten und dem zweiten wissenssoziologischen Diskurs angesehen werden. Er greift den Gedanken der romantischen Religionskritik auf und bezeichnet Religion nicht mehr als Täuschung, sondern - ähnlich wie Feuerbach - als "Ideal", als die Realität transformierende -Formation. Gleichzeitig knüpft er nicht an die implizite Geschichtsphilosophie des
"Gattungsbewußtseins" von Feuerbach und Marx an, sondern versteht unter
Idealen Produkte der Gesellschaft: "Gesellschaft ist die Natur, aber die auf dem
höchsten Punkt ihrer Entwicklung angelangte Natur, die alle ihre Energien aufbietet, um gewissermaßen über sich selbst hinauszuwachsen" (Durkheim 1976, S.
157). Gesellschaft2 gilt ihm - anders als den Autoren der Frühaufklärung - als
kulturproduzierende, "höherwertige" Natur. Gleichzeitig behält er den sachlichen
Blick des Empirizismus bei, für den "Ideale" einzig zu dem Zweck behandelt
werden, um sie "zum Gegenstand der Wissenschaft zu machen" (ebd., S. 156). Die
Der Begriff der "Gesellschaft" wird erstmals von Paine (1776) verwendet, und im frühen 19.
Jahrhundert von Hegel und Marx in seiner Differenz zum Begriff des "Staates" systematisch
entfaltet.
11
religionssoziologischen Studien Durkheims und die ähnlich motivierten Untersuchungen Webers können so als erste großangelegte, empirische wissenssoziologische Projekte betrachtet werden.
Der dritte Diskurs der Wissenssoziologie fällt in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts als der Terminus "Wissenssoziologie" zum ersten Mal geprägt wird. Das
Thema dieses Diskurses ist schwer zu umreißen, da die gesellschaftliche Situation
selbst, auf die er reagiert, durch einen in seiner Entwicklung offenen Umbruch und
eine Zersplitterung der Gesellschaft gekennzeichnet ist. In dieser Situation wächst
die Wissenssoziologie mit ihren Aufgaben, sie versucht Strukturen des Umbruchs
zu erkennen. Strukturen werden dabei einerseits in der Klassengebundenheit des
Wissens ausgemacht, andrerseits in der Zeitstruktur des Wissens. Die Klassenauseinandersetzungen und die starken Ungleichzeitigkeiten zwischen "modernen"
und "traditionalen" Teilen der Gesellschaft, die in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts Europa zerrissen und sich in zwei Weltkriegen entluden, wurden so zum
Gegenstand der Wissenssoziologie.3
Halbwachs ist ein Vertreter dieses neuen Diskurses über "Zeit" und die Zersplitterung der Gesellschaft. Halbwachs, ein Schüler von Bergson und Durkheim,
überträgt den von Bergson ausgearbeiteten Gegensatz zwischen dem gegenwartsgebundenen, handlungsorientierten, emotionalen elan vital und der wissenschaftlich abstrakten Rationalität, die Realität in Kausalitäten des Vorher und Nachher
zerlegt, auf die Analyse von Wissenssystemen. Er unterscheidet dabei die offizielle, wissenschaftlich rationale "Geschichte" vom kollektiven Gedächtnis der
Akteure, die in Ereignissen handeln und erst später rationalisieren.4 "Geschichte"
ist ihm dabei nicht nur eine Polyphonie von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern auch ein Auseinandersetzungsfeld zwischen neuen Klassen, die bisheriges für veraltet halten, und alten Klassen, die eine Unerfahrenheit der neuen
Klassen konstatieren. Kämpfende Wertordnungen stehen sich so in der Gesellschaft gegenüber.
Ein ähnlicher Diskurs läßt sich bei Karl Mannheim finden. Er versucht, in seinem Generationskonzept abstrakte Zeit in eine erlebte Zeitstruktur der
"Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigen" aufzulösen. Auch er beschäftigt sich also
mit dem Thema der analytischen Dekomposition von Zeit.
Bekannt wird Mannheim allerdings vor allem durch seine Analyse der Standortgebundenheit allen Denkens. Im Begriff der "totalen Ideologie" behauptet er, daß
jegliches Wissen historisch gebunden und im sozialen Raum verankert ist. In der
Wissenssoziologie soll deshalb der Zusammenhang zwischen Wissen und sozialem
3
4
Solange ahistorische Setzungen ("Einbildung" versus Natur) oder die mechanische, selbstsichere Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts zur Zeitdeutung ausreichen, war "Zeit" noch
kein eigenständiger Gegenstand der Wissenssoziologie. Dies ändert sich mit dem dritten Diskurs, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als jeweils sehr verschiedene Wissenssysteme analysiert.
Die Unterscheidung erwies sich als empirisch sehr fruchtbar und liefert einen der konzeptuellen Referenzrahmen der oral history (Niethammer 1980).
Raum sowie der historischen Eingebundenheit des Wissenden untersucht werden.
In seiner Studie zu Ideologie und Utopie arbeitet er heraus, daß herrschende Klassen Ideologien bevorzugen, also Wissen, das behauptet, Sachverhältnisse wären
noch so, wie sie einmal waren (z.B. die Feudalallüren des deutschen Bürgertums
im Kaiserreich). Aufsteigende Klassen zeigen dagegen eine Affinität zu Utopien,
zu seinstranszendenten, zukunftsorientierten Wissenssystemen. Pragmatisch legt
sich Mannheim in seinem Konzept nicht auf eine theoretische Ideologiekritik oder
Utopiebejahung vom Schreibtisch des Intellektuellen aus fest, sondern er verweist
auf die jeweilige soziale Realität als Unterscheidungskriterium von Ideologie und
Utopie: eine Differenz von veralteter Form und jetzigem Inhalt zeigt Ideologien an,
eine Einlösung von Utopien in der Realität der Zukunft macht sie zu echten Utopien.
Auf ganz andere Art werden die Überlegungen von Feuerbach und Marx in der
Diskussion der 60er und 70er Jahre wieder aufgenommen. In diesem vierten Diskurs der Wissenssoziologie steht nicht mehr die Realitätsabhängigkeit des Wissens
im Vordergrund, sondern die Konstruktion von Realität durch Wissen. Der
Vergegenständlichungsprozeß von Religion und Wirtschaft, den Feuerbach und
Marx eher gegenstandsbezogen behaupteten, wird nun verallgemeinert auf alle
Wissensformen einer Gesellschaft, und er wird als kontinuierlich sich vollziehender Prozeß studiert. Thema ist dabei das Verhältnis von der geteilten Welt des Alltags, die als a priori der Wissenschaft gilt, zu den Objektivationen der Gesellschaft.
Berger/Luckmann fassen "Alltag" in der Tradition von Schütz als eine "Dauer" mit
spezifischen Regeln der Reproduktion von Wissen auf. Realität konstituiert sich
immer wieder neu über Prozesse der intersubjektiven Interaktion. Je entfernter ein
Geschehen und je mehr Personen beteiligt sind, desto anonymer verlaufen
Typisierungen und Konstitutionsprozesse. Die Komplexität einer Gesellschaft wird
fragwürdig.
Im Gegensatz zu der erlebten Lebenswelt des Alltags stehen gesellschaftliche
Institutionen als vergegenständlichte Realität. Institutionelles Wissen wird - in
"Rollen" zugeschnitten - für Individuen verbindlich, über Sozialisationsprozesse
wird den Individuen dieses Wissen angeeignet. Diese Präformierungen und
Spezialisierungen sind wichtig für das Funktionieren einer modernen arbeitsteiligen Gesellschaft. Für die Wissenssoziologie von besonderem Interesse ist dabei
die Frage, wie Wissen in einer Gesellschaft verteilt ist, also beispielsweise die Relation zwischen Laien- und Expertenwissen.
Während Institutionen den vergegenständlichten Teil gesellschaftlicher Realität
darstellen, wird in "Legitimationen" wissensmäßig die prozedierende Realitätsstützung und Veränderung von Institutionen ausgehandelt. Kontraste in der Erfahrung,
wie die Wahrnehmung von ähnlichen, aber anders strukturierten Institutionen in
verschiedenen Ländern, erschüttern den Glauben in die Vorgegebenheit von Institutionen. Da in modernen Gesellschaften in vielen Bereichen pluralistische Modelle vorherrschen, bleiben auch Rollenkonstrukte nicht eindeutig, sie werden in
Sinnkonstruktionen individuell kombiniert.
12
13
Als Oevermann 1973 sein Konzept der "Deutungsmuster" entwickelt, kann er
auf vielfältigen wissenssoziologischen Traditionen aufbauen: Der Frage nach Täuschung und Realität, wie sie in den Idolen- und Ideologielehren der frühbürgerlichen Denker entwickelt wurde; Fragen nach dem geschichtlichen und gesellschaftlichen Produktcharakter von Wissensformen und deren uneingelösten Versprechungen, wie sie Feuerbach und Marx stellten; Konzepte über die Klassen- und
Zeitgebundenheit von Wissen, wie sie Halbwachs und Mannheim diskutiert haben;
und die grundsätzliche Frage nach der Konstruktion und Veränderung von gesellschaftlicher Realität und Wissen, wie sie Berger/Luckmann in den Vordergrund gerückt haben.
2. Entstehung und Entwicklung des Deutungsmusteransatzes
Das Konzept des sozialen Deutungsmusters läßt sich begreifen als ein spezifisch
deutscher Beitrag zu der die Soziologie immer wieder aufs Neue beschäftigenden,
in dem letzten Jahrzehnt besonders virulent gewordenen Debatte über das Verhältnis von Handlung und Struktur, Mikro und Makro, subjektiver Intentionalität und
objektivem Sinngehalt usw. - die Liste der Begriffe, mit denen der Diskussionshorizont aufgespannt wird, ist damit noch nicht erschöpft5. Der Terminus
'Deutungsmuster' wurde bekanntlich durch ein Papier von Ulrich Oevermann 1973
in die deutsche soziologische Diskussion eingeführt. Selten wohl hat ein - bis heute
- unveröffentliches Manuskript, eine Projektskizze, eine vergleichbare Wirkung erzielt: Eine Vielzahl empirischer Deutungsmusteranalysen ist in der Folge entstanden; der vorliegende Band fügt weitere hinzu. Nicht alle, die mit dem Konzept
Deutungsmuster als heuristischer Kategorie arbeiten, sind in gleicher Weise den ursprünglichen, von Oevermann formulierten Intentionen und methodischen Perspektiven verpflichtet6; auch davon legt der vorliegende Band Zeugnis ab. Gleich-
6
Einen guten Überblick über die in dieser Diskussion vertretenen Positionen gibt eine von
Knorr-Cetina und Cicourel (1981) herausgegebene Sammlung von Aufsätzen, in der von Giddens bis Luhmann, von Bourdieu bis Habcmias die "Meinungsführer" und "Lagerhäuptlinge"
ihre unterschiedlichen Positionen begründen.
Wie Lüders (1991) zu Recht bemerkt, gibt es weder die theoretische Leitfigur (wie sie z.B.
Bourdieu für die Kategorie des Habitus darstellt) noch einen konsistenten Diskurs innerhalb
der Gemeinde der Deutungsmusteranalytiker. Arnold (1983, S. 899ff.) unterscheidet drei
"metatheoretische Richtungen": 1. wissenssoziologisch-hermeneutische Positionen, 2. Ansätze
im Rahmen einer Bestimmung von Arbeiterbewußtsein, 3. objektive Hermeneutik. Diese
Klassifizierung vermittelt einen Eindruck von der Vielfalt der analytischen Orientierungen,
die Deutungsmusteranalysen zugrundeliegen, darf aber nicht so verstanden werden, als stünden die einzelnen Richtungen in einem Verhältnis wechselseitiger Exklusivität zueinander.
Die Dortmunder Analysen zu Lebensstil und Deutungsmuster von Stahlarbeitern etwa (vgl.
Matthiesen in diesem Band) betreiben sowohl objektiv-hermeneutisch inspirierte Fallrckonstrukb'onen als auch stmktuiphänomenologische Kontextbcschreibungen (vgl. Matthiesen
1989).
wohl wollen wir zunächst kurz die Ausgangslage rekapitulieren, nicht allein aus
Gründen "wissenschaftshistorischer" Exaktheit, sondern weil die meisten und von
den meisten Verwendern des Konzepts geteilten "essentials" der Deutungsmusteranalyse bereits in dem frühen Papier von Oevermann formuliert sind und weil hier
zugleich zentrale Probleme des Konzepts sichtbar werden, die bis heute nicht als
gelöst gelten können.
Mit seinen Überlegungen "zur Analyse der Struktur von sozialen Deutungsmustern" versucht Oevermann (1973), dem ideologiekritischen, aufklärerischen Impetus der Frankfurter Schule eine angemessene empirische Forschungsperspektive
zu verschaffen. Deutungsmusteranalyse ist für ihn immer auch Ideologiekritik, allerdings eine, die "nicht nach dem Muster der rationalistischen oder neo-positivistischen Ideologiekritik" verfährt, sondern Deutungen und gesellschaftliche Verhältnisse miteinander konfrontiert (ebd., S. 15). Das Unterfangen der
Deutungsmusteranalyse wird in der Erwartung begonnen, in the long run so etwas
wie eine Hierarchie von Graden der Aufgeklärtheit von Deutungsmustern,
verstanden als lebensweltliches Reflexionsniveau, empirisch rekonstruieren zu
können (ebd., S. 26). Wiewohl sich nicht alle Analysen spezifischer, empirisch
gegebener Deutungsmuster umstandslos dieser Intention zuschlagen lassen, läßt
sich doch deutlich ein Fortwirken auch in rezenten Arbeiten konstatieren, am
deutiichsten in ideengeschichtlichen Forschungen zu kulturell übermächtigen
Deutungsmustern7.
Die Projektskizze von Oevermann enthält eine Fülle von Anschlußmöglichkeiten empirischer, theoretischer und methodologischer Art, z.T. mehr angedeutet als ausformuliert. Beispielsweise lassen sich die Ausführungen zum methodischen Verfahren aus nunmehr knapp zwanzigjähriger Distanz als Vorankündigung der Rekonstruktionslogik der objektiven Hermeneutik lesen. Damit ist freilich
nicht gesagt, daß die objektive Hermeneutik die zwingende methodologische Perspektive für Deutungsmusteranalysen darstellt.
Die ungebrochene Relevanz des Oevermannschen Papiers gründet vor allem auf
dem Versuch, eine Reihe von Strukturmerkmalen von Deutungsmustern zu formulieren, sowie darin, empirische Forschung und theoriesprachliche Begrifflichkeit
eng miteinander zu verzahnen. Entscheidend für die Logik des Konzepts Deutungsmuster ist die doppelte Bestimmung als eigenständige Dimension (der Konstitution) von sozialer Realität, als "faits sociaux", die "den Handelnden objektiv
gegenübertreten" (ebd., S. 11), und des funktionalen Bezugs auf objektive
Handlungsprobleme. Deutungsmuster stellen eine kulturelle, kollektiv bzw. überindividuell (re-) produzierte Antwort auf objektive, Handlungsprobleme
aufgebende gesellschaftliche Bedingungen dar. Die Struktur von Deutungsmustern
kann folglich nur dann erfaßt werden, wenn die sozialen Strukturprobleme, auf die
jene eine Antwort darstellen, in der Analyse berücksichtigt werden. Diese
7
Der Beitrag von Yvonne Schütze in diesem Band zum Deutungsmuster der Mutterliebe steht
für diese Diagnose (vgl. auch ausführlicher Schütze 1986). In ähnlicher Weise sind die Arbeiten von Claudia Honegger (1989,1991) zur Codierung der Geschlechter zu verstehen.
14
15
Strukturprobleme lassen sich wiederum, gerade in ihren Konsequenzen für die
Konstitution von Deutungsmustern, nur durch eine interpretative Rekonstruktion
der (Ent-) Äußerungen der Handelnden erfassen. Für das Individuum sind Deutungsmuster zugleich Wahrnehmungs- und Interpretationsform der sozialen Welt,
Schemata der Erfahrungsaufordnung und Horizont möglicher Erfahrungen sowie
Mittel zur Bewältigung von Handlungsproblemen.
Oevermann leuchtet diese grundlegende Strukturlogik von Deutungsmustern
von mehreren Blickwinkeln her aus. Als erstes: von Mustern zu sprechen, macht
nur Sinn, wenn es nicht um singuläre Interpretationen, sondern um sozial verfügbare Formen der Verdichtung, der Abstrahierung, der Verallgemeinerung von
Deutungen geht. In dieser Hinsicht lassen sich Deutungsmuster bestimmen als
'"ensemble1 von sozial kommunizierbaren Interpretationen der physikalischen und
sozialen Umwelt" (ebd., S. 4), als "nach allgemeinen Konsistenzregeln strukturierte
Argumentationszusammenhänge" (ebd., S. 3).
Der Verweis auf Konsistenzregeln führt in den Kern des Deutungsmusterkonzepts. Oevermann adaptiert das aus der Sprechakttheorie bekannte, auf
Wittgenstein zurückgehende Konzept des regelgeleiteten Handelns. Demzufolge
besitzen die Handelnden ein implizites Regelwissen, ein praktisches, aber nicht
diskursiv verfügbares Bewußtsein von den handlungsleitenden Regeln. Dies befähigt sie, sowohl der Regel gemäß zu handeln als auch Urteile über die Angemessenheit von Handlungen zu produzieren, ohne daß sie zur Regelexplikation in
der Lage sind noch daß sie dazu genötigt wären (ebd., S. 6). Der
Deutungsmusteranalyse wird die Aufgabe gestellt, dieses implizite Regel wissen zu
rekonstruieren. Ausgangspunkt sind notwendig die mentalen Repräsentationen. Wo
anders als in singulären Deutungen wäre die Datenbasis zu suchen (ebd., S. 11)?
Die Eigenschaft der Implizitheit bedingt jedoch, daß eine empirische Forschung in
der üblichen Form der Variablensoziologie, d.h. in Gestalt der nachträglichen korrelativen Verknüpfung isoliert erhobener Einstellungen keine angemessene
methodische Perspektive bietet. Oevermanns Lösung des Problems der empirischen Rekonstruktion latenter Strukturen ist bekannt: der "genetische Strukturalismus" der objektiven Hermeneutik (vgl. Oevermann u.a. 1979; Oevermann 1985,
1991), deren "Kunstlehre" ja gerade darin besteht, bei der Produktion wie bei der
begründeten Ausscheidung von Lesarten von dem alltagspraktisch verfugbaren
impliziten Regelwissen ausführlich Gebrauch zu machen. Die objektive Hermeneutik ist in dem Deutungsmusterpapier noch nicht entfaltet, das Papier läßt sich
aber als eine wichtige Vorarbeit lesen.
Der Devise 'Erklärung von Handeln = Rekonstruktion der handlungsleitenden
Regel1 liegt ein Regelbegriff zugrunde, den Oevermann in kritisch-modifizierender
Anlehnung an Chomskys generative Transformationsgrammatik einführt: 1.
"Regeln ... haben einen generativen Charakter"; 2. "Generative Regeln konstituieren den intersubjektiv verstehbaren Sinn einer Handlung" (Oevermann 1973, S. 8).
Die Eigenschaften der Universalität und der prinzipiellen reflexiven Enthobenheit,
die Chomsky - ob zu recht oder nicht, sei dahingestellt - grammatischen Regeln zu16
schreibt, haben bei der Anwendung des Konzepts der generativen Regel auf soziale
Deutungsmuster freilich keinen Bestand. Obwohl alles andere als flüchtig und
durchaus nicht beliebig anwendbar und trotz der meist nur praktischen Verfügbarkeit über soziale Regeln, muß die Deutungsmusteranalyse in Rechnung stellen,
"daß soziale Normen Reflexion sowohl ermöglichen als auch durch Reflexion verändert werden können" (ebd., S. 8). Insofern lassen sich soziale Deutungsmuster
bestimmen als "Weltinterpretationen mit generativem Status ..., die prinzipiell entwicklungsoffen sind" (ebd., S. 9). Und die soziologische Aufgabe der Rekonstruktion der Konstitutionslogik von Deutungsmustern wird gelöst durch die Identifizierung des, einem Deutungsmuster jeweils zugrundeliegenden, generativen Prinzips, der jeweiligen Konsistenzregeln.
Das erscheint - so formuliert - klar und deutlich. Aber genau hier liegen die
größten Schwierigkeiten, die das Deutungsmusterkonzept der empirischen Forschung bereitet. Was den generativen Status von Deutungsmustern ausmacht, wie
die generative Strukturlogik empirisch faßbar ist, hat noch keine Deutungsmusteranalyse befriedigend aufzeigen können8. Dieser "Mangel" verweist auf das
grundlegende konzeptionelle Problem des Deutungsmusteransatzes: die Verortung
an der Schnittstelle von konstitutiven und regulativen Regeln. In gewisser Weise
sollen Deutungsmuster beiden Sphären zugehören. Ähnlich wie grammatischen
Regeln wird ihnen eine tiefenstrukturelle, praxisgenerierende Kraft zugeschrieben.
Dies ist jedoch nicht in einem formalistischen Sinne zu verstehen; denn Deutungsmuster sind mehr als nur formale, universale Mechanismen der Konstitution
von Handlungspraxis, sie lassen sich inhaltlich bestimmen und in ihrer Geltung
raum-zeitlich, also historisch, kulturell und subkulturell begrenzen. Andererseits ist
ihre Reichweite größer als die einzelner sozialer Normen, und ihre Persistenz ist
nicht unerheblich. Zieht man die von Cicourel (1973, 1975) ebenfalls in kritischer
Auseinandersetzung mit Chomsky getroffene Unterscheidung von generativen BaDies ist auch in konzeptionellen Schwierigkeiten des stnikturalistischen Strukturhegriffs begründet, an den Oevermann anknüpft. Ein grundsätzliches Problem dieses Strukturbegriffs ist
die unzureichende Integration der Zeitdimension. Zeitlicher Wandel wird entweder als oberflächliches Phänomen angesehen, das die zeitliche Invarianz der Struktur unbeeinflußt läßt,
womit Struktur zur Zeitausklammerung hin aufgelöst wird - diesen Weg wählt tendenziell
Bourdieu (s.u.). Oder die Strukturvorstellung wird mit in geschichtsphilosophischer Art konzipierten invarianten Entwicklungsstufen verknüpft - so vom Ansatz her Piaget. Bei beiden
Lösungsversuchen ist "Zeit" nur ein Epiphänomen der Struktur.
Eine gelungenere Integration der Zeitdimension in den Strukturbegriff scheint in einem neueren Ansatz von Luhmann vorzuliegen, für den eine Strukturbildung den Zerfall von umstrukturierter Komplexität ins Unzusammenhängende benutzt, um daraus Ordnung aufzubauen
(Luhmann 1987, S. 383). Mit diesem zuerst paradox anmutenden Strukturbegriff, bei dem das
Dauernde, die Struktur, konzeptionell mit dem kontinuierlichen Strukturzerfall in Zusammenhang gebracht wird, gelingt es Luhmann - im Gegensatz zum Strukturalismus - die Zeitdimension systematisch in den Strukturbegriff zu integrieren. Strukturen werden nach Luhmann immer über Erwartungsstrukturen gebildet. Er kann so folgern: "Strukturen gibt es nur als jeweils gegenwärtige; sie durchgreifen die Zeit nur im Zeithorizont der Gegenwart, die gegenwärtige Zukunft mit der gegenwärtigen Vergangenheit integrierend" (ebd., S. 399).
17
r
sisregeln und spezifische soziale Normen bezeichnenden Oberflächenregeln - eine
andere "Schreibweise" für konstitutive und regulative Regeln - heran, so wären
Deutungsmuster 'irgendwo' dazwischen aufzuspüren9. Nur: Wo dieses Irgendwo
genau liegt, worin der Unterschied zwischen der Generativität von grammatischen
Regeln oder von Reziprozitätsidealisierungen und derjenigen von Deutungsmustern besteht, läßt sich auf der Basis vorliegender Deutungsmusteranalysen nicht
angeben. In diesem Zusammenhang ist zu notieren, daß Oevermann in einer aktuellen Arbeit zur Dialektik von Determination und Emergenz zwar weiterhin mit
einem doppelten Regelbegriff operiert10, das Konzept des Deutungsmuster aber
nicht mehr verwendet.
Damit wird nicht behauptet, daß uns Deutungsmusteranalysen nichts mitzuteilen
wüßten über die interne Logik des jeweils untersuchten Musters. Entfaltet werden
in der Regel die Argumentationslogik, die "nur teilweise explizierten Standards der
Geltung sozialer Deutungen" (Oevermann 1973, S. 12) sowie der Problemhintergrund eines Deutungsmusters, nicht aber die Bedingungen, unter denen ein
Deutungsmuster eine bestimmte und nur diese Praxis "generiert".
Die empirische Forschung wird durch dieses Problem nicht behindert, es spielt
in der Forschung, die Fragen unterhalb der Ebene grundlagentheoretischer Problemstellungen behandelt, kaum eine Rolle (vgl. Lüders 1991, S. 382f.). Die Forschung befaßt sich mit den auch von Oevermann aufgeworfenen Problemen der
sowohl diachronisch als auch synchronisch zu bestimmenden Reichweite von Deutungsmustern, der Resistenz von Deutungsmustern gegenüber Veränderungen des
ursprünglichen Problemhintergrunds, mit den Bedingungen des Wandels von Deutungsmustern. Gegenstand ist jeweils ein spezifisches Deutungsmuster, und es ist
eine offene Frage, inwieweit eine vergleichende Analyse eine "Deutungsmustertheorie" voranzubringen im Stande wäre.
Versuche, eine solche Theorie zu entwickeln oder doch zumindest Vorarbeiten
dazu zu leisten, hat es in der durch Oevermann angestoßenen Forschung durchaus
einige gegeben. Aus den Arbeiten, in denen auf das Konzept des Deutungsmusters
nicht nur als - in seinem begrifflichen Status nicht weiter explizierte - heuristische
Ressource zur Erklärung bestimmter Ereignisse, Handlungsverläufe usw. Bezug
genommen wird, sondern in denen das Konzept auch Topos theoretischen Bemühens ist, lassen sich trotz der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Positionen11
gewisse Gemeinsamkeiten in der Begriffsverwendung bzw. "essentials" des
Deutungsmusteransatzes feststellen (vgl. Allen 1976; Arnold 1983; Dewe 1982;
1984; Dewe/Ferchhoff 1984; Matthes-Nagel 1982; Neuendorff/Sabel 1978;
9
10
18
Auf das Konzept der Basisregeln werden wir unten ausführlicher eingehen.
Der doppelte Regelbegriff umfaßt einerseits in ihrem materialen Gehalt nicht kritisierbare
universelle Regeln, "die ausschließlich als formaler Algorithmus der strukturellen Wohlgeformtheit von Handlungen und Äußerungen anzusehen sind" (Oevermann 1991, S. 284f.), andererseits Regeln im Sinne historisch-gesellschaftlich spezifizierter und mithin kritisierbarer
Nonnen,
Vgl. hierzu Fußnote 6.
Oevermann 1973; Thomssen 1980). Sie sind im folgenden summarisch-kondensiert, unter Verzicht, die Referenzen jeweils im einzelnen zu nennen, aufgelistet:
Deutungsmuster stehen in einem funktionalen Bezug zu
objektiven Handlungsproblemen.
Deutungsmuster sind kollektive Sinngehalte; habituell
verfestigte subjektive Deutungen konstituieren noch kein
Deutungsmuster.
Deutungsmuster haben normative Geltungskraft. Der
Geltungsbereich eines Deutungsmusters variiert zwischen
der Gesamtgesellschaft und einzelnen sozialen Gruppen.
Deutungsmuster sind intern konsistent strukturiert, was
durch allgemeine generative Regeln verbürgt wird.
Deutungsmuster sind - verglichen mit singulären Deutungen, Einstellungen, Meinungen - auf einer latenten, tiefenstrukturellen Ebene angesiedelt und mithin nur begrenzt reflexiv verfügbar.
Deutungsmuster haben den Status "relativer Autonomie".
Trotz des funktionalen Bezugs auf objektive Handlungsprobleme sind sie hinsichtlich der Konstruktionsprinzipien
und Gültigkeitskriterien autonom und konstituieren so eine
eigene Dimension sozialer Wirklichkeit. Das erklärt die
beträchtliche Stabilität von Deutungsmustern, die allerdings
prinzipiell als entwicklungsoffen zu konzipieren sind.
Wiewohl diese "essentials" so etwas wie den Grundkonsens der Deutungsmusteranalytikerlnnen darstellen mögen, gibt es hinsichtlich einiger Punkte
mehr offene Fragen als gesichertes Wissen. Was hat es z.B. mit der behaupteten
internen Konsistenz von Deutungsmustern auf sich? Wie lassen sich die Bruchstellen definieren und identifizieren, an denen sich die Konsistenz aufzulösen beginnt? Schütze zeigt in ihrem Beitrag sehr deutlich, wie das Deutungsmuster der
Mutterliebe trotz wechselnder Inhalte bestehen bleibt, weil es von der immer gleichen inneren Logik der Affektregulierung getragen wird. Die Diagnose von Konsistenz oder Bruch ist sichtbar eine Frage des angelegten Blickwinkels. Soviel dürfte
Konsens sein: Sich nur vom Vergleich der (manifesten) Inhalte leiten zu lassen,
greift im Rahmen des Deutungsmusteransatzes zu kurz. Andererseits ist nicht 'ex
cathedra' zu dekretieren, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um Konsistenz festzustellen. Es entspricht der Methodologie des Deutungsmusteransatzes, daß eine
solche Frage nur in Form einer empirischen Rekonstruktion der Geltung von Deutungsmustern zu beantworten ist.
In diesem Sinne wäre es fatal, die angeführten essentials nominalistisch mißzuverstehen. Sie sind zu betrachten als nicht mehr, aber auch als nicht weniger denn
"sensitizing concepts"; sie geben der Forschung eine Orientierung, indem sie auf
zentrale Problemstellen des Deutungsmusterkonzepts hinweisen. Latenz als eine
Eigenschaft von Deutungsmustern bspw. formuliert ein Abgrenzungskriterium gegenüber singulären Deutungen in Gestalt von Meinungen und Einstellungen. Wie
19
stark die Latenz ausgeprägt und damit die reflexive Verfügbarkeit verstellt ist, ist
eine empirisch offene Frage - und dies bei jeder Deutungsmusteranalyse aufs
Neue12. Um den Untiefen subsumtionslogischen Klassifizierens zu entgehen, ist es
notwendig, empirisch offen zu halten, ob es nicht verschiedene Niveaus der psychischen Repräsentation objektiver Strukturen, d.h. von Latenz gibt - so ein Vorschlag, den Bohnsack (1991, S. 87ff.) in einer Diskussion der objektiven Hermeneutik macht. Eine vergleichende Lektüre der in diesem Band versammelten
Arbeiten läßt die Triftigkeit dieser These evident werden. Das Deutungsmuster
"Generation" als eingeschliffene kulturelle Selbstverständlichkeit ist der lebensweltlichen reflexiven Verfügbarkeit stärker entzogen als dasjenige des Krisenmanagements der professionellen Selbstreflexion von Sozialarbeiterinnen. Auch
scheinen auf dem Hintergrund tradierter und selbstverständlicher Deutungsmuster
und aus diesen heraus sich entwickelnde neue Deutungsmuster weit manifester zu
sein als die dominanten alten. Die Emergenz neuer Deutungsmuster geschieht in
Reaktion auf Umbruch- und Krisensituationen, in denen die Reproduktion des
Selbstverständlichen zunehmend weniger Handlungssicherheit und -erfolg gewährleistet. Die in solchen Situationen notwendig erhöhte lebensweltliche Reflexivität sorgt für zumindest zeitweise Manifestheit von Deutungsmustern. Im Zuge
der Routinisierung mag jene wieder in Latenz 'absinken'. Für eine synchronisch ansetzende Deutungsmusteranalyse stellen Umbruch- und Krisensituationen ideale
Forschungsgelegenheiten dar. Denn mit der Herausbildung des Neuen geht eine
von dessen 'Protagonisten' geführte Auseinandersetzung mit dem Alten einher, aus
12
Dies ist auch in Problemen des Begriffs "Latenz" begründet. "Latenz", als Konzept aus der
Psychoanalyse übernommen, ist in der Soziologie kein eindeutiger Begriff. In ihm sind Aussagen über psychische Strukturen (nichtbewußt vs. bewußt) mit Aussagen ober kommunikative Strukturen vermengt; wobei das Zentrale am strukturalistischen Latenzbegriff ist, daß er
nicht nur nichtbewußte Inhalte bezeichnet, die nur dem beobachtenden Soziologen zugänglich
sind, sondern gleichzeitig behauptet, daß diese latenten Bereiche - in den Worten Oevermanns
- einen "generativen Status" haben. D.h. die latenten Bereiche sind nichtbewußt und ursächlich für die Produktion manifester Inhalte.
Problematisch daran ist, daß der Soziologe in den meisten Bereichen nicht der Einzige ist, der
über Kenntnisse von angeblich latenten Bereichen verfügt, sondern, daß er meist auf in der
Öffentlichkeit geführte Diskussionen zurückgreifen kann. Bewußtsein und Öffentlichkeit von
Strukturen liegen also schon in einem bestimmten Umfang im "Gegenstand", in der Gesellschaft vor. Der Unterschied zwischen dem Soziologen und dem Gegenstand ist also kein qualitativer ("Licht im Dunkel", "Wissender unter Nichtwissenden"), demzufolge nur der Soziologe Zugang zum gesellschaftlichen Unterbewußtsein haben soll, sondern nur ein quantitativer, bei dem vom Soziologen das Wissenspotential einer Gesellschaft oder eines Einzelnen
gebündelt, weitergeführt und vielleicht neue, bisher nicht bewußte Strukturierungen gefunden
und benannt werden. Ob man für diese Tätigkeit den weitreichenden Anspruch der Unterscheidung von manifesten Inhalten und latenten Strukturen bemühen sollte, erscheint uns
zweifelhaft (vgl. Luhmanns Bemerkungen zur Latenz, 1987, S. 456-470). Wir schlagen
deshalb forschungspraktisch einen Latenzbegriff vor, der nicht unbefragt von einem Abhängigkeitsverhältnis der manifesten von latenten Inhalten ausgeht. Latenz bedeutet hier nur in
unterschiedlich starkem Umfang nichtbewußtes Wissen.
dem heraus das Neue transformatorisch sich entwickeln muß.
3. Zwischen Determination und Emergenz - Verwandte Ansätze
Mit dem Deutungsmusteransatz wird der Versuch gemacht, einen Ausweg aus der
für die soziologische Forschung und Theoriebildung fatalen, weil falschen
Alternative von Handlung und Struktur zu finden. Das verbreitete Denken in dieser
bzw. in verwandten Dichotomien erzeugt inkompatible theoretische Schulen und
Forschungsperspektiven und den bekannten wie beklagten "gap" zwischen Mikround Makrosoziologie, wobei im Sinne einer schlechten Arbeitsteilung der Mikrosoziologie gewöhnlich die Zuständigkeit für "Emergenz", der Makrosoziologie
diejenige für "Determination" überantwortet wird. Wie beides zusammenkommen
soll, ist dann Gegenstand vielfältiger "Vermittlungsbemühungen". Einer derartigen
Lösung der nachträglichen Vereinigung zunächst getrennt analysierter Sphären
verweigert sich das Konzept des Deutungsmusters auf das Entschiedendste. Nicht
die Theorie hat Getrenntes zu vermitteln, sondern in der empirischen Forschung ist
die handlungspraktisch immer schon vollzogene Einheit von Handlung und Struktur interpretativ zu rekonstruieren. Deutungsmusteranalysen lassen - jedenfalls dem
Anspruch nach - die gängigen Dichotomien als obsolet erscheinen. Mit dem Deutungsmusterkonzept wird die lebenspraktisch vollzogene Einheit der scheinbaren,
wissenschaftlich "hergerichteten" Antipoden rekonstruierbar: als strukturierte
Handlung und nur darin sich manifestierende und reproduzierende Struktur, als
Prozeßstruktur, als Aufweis von Kollektivität im Individuellen, von allgemeinen
Strukturen in den Besonderheiten des Einzelfalls (vgl. Matthiesen 1989, S. 236).
Methodisch stehen der Deutungsmusteranalyse hierfür durchaus verschiedene
Wege offen. Entscheidend ist, daß die Lebens- bzw. Deutungspraxis den Bezugspunkt bildet und daß in deren Rekonstruktion die bezeichnete Einheit mitsamt ihren je individuellen, fallspezifischen Brechungen aufgewiesen wird - als Homologie im Sinne Karl Mannheims, d.h. als das "Ineinandersein Verschiedener sowie
das Vorhandensein eines einzigen in der Verschiedenheit" (Mannheim 1970, S.
121).
Das Deutungsmusterkonzept ist nicht der einzige Versuch, der falschen Dichotomisierung von Handlung und Struktur, Mikro und Makro usw. zu entgehen. In
diesem Abschnitt wollen wir einige Konzeptionen diskutieren, die einen ähnlichen
Anspruch erheben, um auf dieser Folie die Besonderheiten des Deutungsmusteransatzes schärfer fassen zu können.
In seiner Konstruktionslogik dem Deutungsmusterkonzept in mancher Hinsicht
ähnlich ist das von Bourdieu entwickelte Konzept des Habitus. Für Habitus wird
wie für Deutunsmuster ein generativer Status reklamiert; das Habituskonzept kennt
ebenfalls das Spannungsverhältnis von Determination und Emergenz, von objektiven, d.h. von subjektiven Intentionen unabhängigen Strukturen und deren interaktiver Reproduktion; der "Hysteresiseffekt" des Habitus korrespondiert der These von
20
21
r
der relativen Autonomie von Deutungsmustern. In einer frühen Arbeit bestimmt
Bourdieu (1970, S. 143) den Habitus in expliziter Anlehnung an die generative
Transformationsgrammatik "als ein System verinnerlichter Muster ..., die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu
erzeugen - und nur diese". Formulierungen wie diese haben Bourdieu die Kritik
eingebracht, den Habitus deterministisch zu konzipieren - ein Vorwurf, gegen den
Bourdieu sich immer wieder entschieden verwahrt hat (vgl. zuletzt Bourdieu 1989).
Wie dem auch sei13 - es ist nicht unsere Absicht, diesen Disput hier fortzuführen anders als beim Deutungsmusterkonzept finden wir bei Bourdieu klare Zuordnungen. Wir erfahren,
welches die Grundlage für einen Habitus ist: eine spezifische Soziallage, wobei Bourdieu vor allem das Verhältnis
von Habitus und Klassenlage diskutiert (vgl. z.B. Bourdieu
1979, S. 164f.);
daß einer Soziallage (Klasse) ein und nur ein Habitus
eignet;
worin sich der Habitus manifestiert: in distinkten Lebensstilen (vielfältig und materialreich analysiert in Bourdieu
1987);
wo ein Habitus erworben wird: in der Primärsozialisation.
Gegenüber dem Deutungsmusteransatz erscheint das Habituskonzept als eine weit
entwickelte Theorie: Konstitutions- und Erwerbsbedingungen, Funktionen und
Konsequenzen sind klar benannt. Wo das Deutungsmusterkonzept eher vage auf
objektive Handlungsprobleme als auslösende Momente für die Bildung von Deutungsmustern verweist und die Identifizierung der Handlungsprobleme der empirischenn Rekonstruktion vorbehält, sind die einen Habitus konstituierenden
Bedingungen unabhängig von empirischer Forschung angebbar: die als Klassenlagen konzipierten Soziallagen, d.h. "Kapitalkonfigurationen" (vgl. Bourdieu 1987,
S. 332)14, deren Zahl begrenzt und bekannt ist. Solche klaren Relationen haben sicher den Vorteil, einen präzisen Rahmen für die empirische Forschung zu setzen.
13
14
Im "Entwurf einer Theorie der Praxis" findet sich nach einer Kriüc sowohl jener Theorien, die
die Praxis zu einer "unmittelbar determinierten Reaktionsform stempeln", als auch von
voluntaristischen Konzeptionen folgender Passus, in dem Aspekte von Emergenz stärker zum
Ausdruck kommen: "Gegenüber einer in ihrer punktuellen Unmittelbarkeit betrachteten Situation ist die Praxis notwendig und relativ-autonom in einem, insoweit sie das Produkt der
dialektischen Beziehung zwischen einer Situation und einem als System dauerhafter und versetzbarer Dispositionen begriffenen Habitus darstellt, der, alle vergangenen Erfahrungen integrierend, wie eine Handlung!-, Wahrnehmung!- und Datenmatrix funktioniert und der dank
der analogischen Übertragung von Schemata, die Probleme gleicher Form zu lösen gestatten,
und dank der von jenen Resultaten selbst dialektisch geschaffenen Korrekturen der erhaltenen
Resultate, es ermöglicht, unendlich differenzierte Aufgaben zu erfüllen" (Bourdieu 1979,
S. 169).
Hier ist natürlich der komplexe, verschiedene Kapitalsorten (ökonomisches, kulturelles, soziales, symbolisches Kapital) umfassende Kapitalbegriff von Bourdieu zu berücksichtigen.
22
Das hat jedoch seinen Preis, inhaltlich wie methodisch. Vorausgesetzt, das Habituskonzept sei ein angemessenes Modell zur Beschreibung der Verhältnisse von
Struktur und Handlungspraxis, und weiterhin vorausgesetzt, für jede Soziallage
ließe sich empirisch ein und nur ein Habitus identifizieren, ist damit schon bestimmt, wie die Fülle der alltäglichen Handlungsprobleme bewältigt wird? Anders
gefragt: Vereinheitlicht das Habituskonzept, wo es möglicherweise Vielfalt zu entdecken gibt? Gibt es nicht auch Handlungsprobleme, die soziallagen- im Sinne von
klassenlagenübergreifend sind, für die Deutungsmuster von gesamtkultureller Gültigkeit entwickelt werden müssen? Mutterliebe scheint uns ein solches Deutungsmuster zu sein. Freilich wäre zu fragen, welche möglichen soziallagenspezifische
Brechungen dieses Deutungsmuster erfährt. Das könnte bedeuten, Habitus als ein
organisierendes und strukturierendes Erzeugungs- und Klassifikationsprinzip (vgl.
Bourdieu 1987, S. 277f.) auch für die Anwendung von Deutungsmustern zu verstehen. M.a.W. Habitus und Deutungsmuster müssen nicht notwendig als konkurrierende Konzepte begriffen werden. Über mögliche Verschränkungen von Habitusformen und Deutungsmustern ist freilich nicht in Form einer theoretischen Modellkonstruktion zu entscheiden, sondern auf der Basis empirischer Forschung.
Im methodischen Zugriff sind wohl die größten Differenzen zwischen den beiden Konzepten zu sehen. Dasjenige des Habitus impliziert, "daß die 'interpersonalen' Beziehungen niemals, es sei denn zum Schein, Beziehungen eines
Individuums zu einem anderen Individuum sind, und daß die Wahrheit der Interaktion nie gänzlich in dieser selbst gründet" (Bourdieu 1979, S. 181). Bourdieu
nimmt nun diese auch dem Deutungsmusteransatz nicht fremde These zum Anlaß,
die methodologischen Positionen des Symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie zu verwerfen - in grober Fehlinterpretation interaktionistischer
und ethnomethodologischer Forschung übrigens. Ethnomethodologisch basierte
oder inspirierte Auswertungsverfahren (Konversationsanalyse, dokumentarische
Methode der Interpretation15) sowie die objektive Hermeneutik haben aber gezeigt,
daß man die "Wahrheit der Interaktion", gerade auch in ihren die konkrete Situation transzendierenden Aspekten empirisch allein durch eine Rekonstruktion der
Interaktion in ihrer sequentiellen Aufordnung erfassen kann, wobei der methodische "Witz" darin besteht, mittels empirisch ermittelter oder gedankenexperimentell erzeugter Kontraststrukturen die in der Interaktion wirksamen kollektiven
Sinngehalte oder latenten Strukturen zu identifizieren. Das Vorhandensein einer
objektiven Struktur kann nur dann behauptet werden, wenn sie sich am jeweiligen
Fall rekonstruieren läßt.
Trotz aller Vorbehalte, die Bourdieu gegenüber der Validität der Instrumente
der "Variablensoziologie" äußert, bedient er sich gerne und häufig der Resultate
massenstatistischer Erhebungen, um seine Thesen zum Zusammenhang von Soziallage, Habitus und Lebensstil zu belegen (vgl. vor allem Bourdieu 1987). Empirische Forschung wird so zum Fundus, um die theoretischen Konstrukte zu il15
Vgl. hierzu den Beitrag von Bohnsack in diesem Band; ausführlicher Bohnsack 1991.
23
lustrieren und zu plausibilisieren. Auch wenn die statistischen Rohdaten durch
gründliche und meist einleuchtende Milieubeobachtungen "angereichert" werden,
es bleibt ein wesentlicher Unterschied der Methodologie, für den Matthiesen
(1989) die treffende Formel gefunden hat: "Habituskonstruktion und
Deutungsmusterrekonstruktion".
Diese mehr als "feinen" Unterschiede im methodischen Zugriff haben Konsequenzen für die Konzeptualisierung des Gegenstandes. Bourdieu gelingt es mit
dem Habituskonzept nicht, die prozeßhafte Strukturiertheit von Praxis zu erfassen.
Er analysiert weniger Prozeßstrukturen als deren Resultate; seinem Strukturbegriff
kommt die Dynamik tendenziell abhanden (vgl. Bohn 1991, S. 113). Konsequent
sieht Bourdieu selbst dort keinen fundamentalen sozialen Wandel, wo nicht nur der
alltägliche, sondern auch der soziologische common sense Wandel in paradigmatischer Form diagnostiziert: bei revolutionären Umbrüchen der Gesellschaft
(vgl. Bourdieu 1983, S. 137).
Eine wesentliche Kritik besonders deutscher Soziologen an Bourdieus Theorie
lautet, daß sie der Vielfalt ausdifferenzierter Lebenslagen und sozialer Milieus in
der modernen postindustriellen Gesellschaft nicht gerecht wird (vgl. Hradil 1989).
Zweifel werden laut an der behaupteten Uniformität von Lebensstilen. In der Tat
erscheint es fraglich, ob z.B. Prozesse der subtilen Umformung traditioneller Lebensstile ehemals proletarischer Milieus in durch industrielle Strukturumbrüche
veränderten Lebenswelten, wie Matthiesen (in diesem Band) sie beschreibt, mit
dem Habitus erfaßt werden können. M.a.W. das Habituskonzept läuft Gefahr, eine
potentielle, empirisch zu rekonstruierende Vielfalt von Lebenswelten, sozialen Milieus und Lebensstilen schlichtweg zu übersehen, weil es weder begrifflich noch
methodisch über genügend "Sensibilität" verfügt, um diese Vielfalt zu entdecken.
In der handlungstheoretisch orientierten Soziologie sind einige Konzepte entwickelt worden, mit denen unterschiedliche Aspekte der handlungspraktischen
(Re-) Produktion von sozialer Struktur thematisiert werden. Diese Konzepte stellen
gewissermaßen eine Herausforderung an den Deutungsmusteransatz dar, die im
Gegensatz zu Bourdieu stärker den Aspekt der Emergenz betont.
Deutlich offen für die empirische Vielfalt sozialer Realität ist die von Goffman
vorgelegte Rahmenanalyse. Obwohl Goffman keine konsistente Darstellung seines
begrifflichen Instrumentariums vorlegt, man sich dieses vielmehr bruchstückhaft
aus kurzen Bemerkungen in seinem umfangreichen Werk zusammensuchen und setzen muß, wollen wir uns kurz mit dem Spätwerk dieses "soziologischen Klassikers der zweiten Generation" (Hettlage/Lenz 1991) befassen, weil auch die Rahmenanalyse auf kollektiv verfügbare Muster der Organisation von Wahrnehmung
und Handeln im Spannungsfeld von Determination und Emergenz zielt. Wie bei
einem Soziologen, dessen Arbeiten zu einem großen Teil von den Anstrengungen
des Individuums handeln, seine Integrität zu bewahren, nicht anders zu erwarten,
stehen bei Goffman aktive Rahmungsleistungen des Handelnden in einer prinzipiell fragilen Realität im Vordergrund. Anders als nicht wenige Vertreter des Symbolischen Interaktionismus löst Goffman die Spannung von Determination und
Emergenz nicht voluntaristisch auf. Die Funktion von Rahmen ist derjenigen von
Deutungsmustern ähnlich. Rahmen organisieren das Handeln und dessen Wahrnehmung. Rahmen sind "nicht bloß eine Sache des Bewußtseins", d.h. nicht beliebig erzeugbar, sondern sie entsprechen "in gewissem Sinne der Organisationsweise
einer Seite der Vorgänge selbst" (Goffman 1977, S. 274), so daß Goffman eine
"Isomorphie behauptet zwischen der Wahrnehmung und der Organisation des
Wahrgenommenen" (ebd., S. 36). Zwar ist soziale Realität den Handelnden nur als
qua Rahmung gedeutete verfügbar, aber die Realität hat eine Existenz unabhängig
von den Deutungen. Nur so macht es Sinn, von Fehlrahmungen zu sprechen, von
denen ein großer Teil der Rahmenanalyse handelt. Es ist die Widerständigkeit einer
objektiv gegebenen Realität, an der sich die Adäquanz oder Fehlerhaftigkeit von
Rahmungen entscheidet.
Eine entscheidende Eigenschaft von Rahmen, zumindest der primären, ist deren
Latenz. Zwar verwendet Goffman diesen Begriff nicht, doch gehen seine Erläuterungen genau in diese Richtung. Dem Handelnden sind "die Organisationseigenschaften der Rahmen im allgemeinen nicht bewußt, und wenn man ihn fragt, kann
er ihn auch nicht annähernd vollständig beschreiben, doch das hindert ihn nicht,
daß er ihn mühelos und vollständig anwendet" (ebd., S. 31). Rahmen gehören
mithin in den Bereich des "impliziten Wissens" (Polanyi), sind Teil des praktischen
im Gegensatz zum diskursiven Bewußtseins (Giddens), lassen sich begreifen als
Instrument der praktischen Methodologie des Alltagshandelns (Garfinkel).
Zuordnungen wie diese liegen nahe. Goffman selbst verzichtet freilich darauf,
seine Rahmenanalyse in den theoretischen Diskurs der Soziologie einzubinden mit Ausnahme einiger für ihn eher untypischer Bemerkungen in der Einleitung16.
Sein Interesse ist bescheidener; er will - in eher deskriptiver als theoretischer
Einstellung - einige der für die Organisation der US-amerikanischen Gesellschaft
fundamentalen Rahmen herausarbeiten.
Im vorliegenden Diskussionskontext erscheint uns - angesichts einer grosso
modo dem Deutungsmusteransatz ähnlichen, wenn auch weniger ausgearbeiteten
konzeptionellen Architektonik - die Idee der primären Rahmen interessant Primäre
Rahmen sind fraglos gegebene Deutungsschemata und erzeugen als solche die
Normalität des Alltagshandelns, indem sie außergewöhnliche Ereignisse auf ihre
"natürlichen" Ursachen zurückführen (vgl. Hettlage 1991, S. 128f.). "Zusammengenommen bilden die primären Rahmen einer sozialen Gruppe einen
Hauptbestandteil von deren Kultur" (Goffman 1977, S. 37). Ohne umstandslos
Rahmen mit Deutungsmuster gleichzusetzen, für die Deutungsmusteranalyse stellt
Dort behandelt er kurz das "Thomas-Theorem", James' und Schütz' Ausführungen über multiple Realitäten und Garfinkels Versuch, die konstitutiven Regeln des Alltagshandelns zu identifizieren. Gegen die damit verbundenen Ansprüche ist er skeptisch, was sich in der eher
spöttischen Bemerkung dokumentiert, wenn Garfinkels Versuch Erfolg beschieden wäre, sei
das das "Gelingen der soziologischen Alchemie - die Verwandlung jedes beliebigen Ausschnitts aus dem alltäglichen sozialen Leben in eine interessante Veröffentlichung" (Goffman
1973, S. 13f.).
24
25
r
sich die Herausforderung, zentrale, für den Bestand einer Kultur oder Gesellschaft
konsumtive Deutungsmuster zu rekonstruieren und zu klären, inwiefern gerade
diese Deutungsmuster einen solchen fundierenden Status haben. Von Goffman läßt
sich z.B. lernen, daß in diesem Kontext eine Analyse des "Geschlechtsrahmens"
ansteht; virtuell ist dem Handelnden in jeder sozialen Interaktion die Aufgabe der
Darstellung der eigenen und der Identifikation der fremden Geschlechtszugehörigkeit gestellt. Dabei folgen die Handelnden einem "Plan der Darstellung" (Goffman
1981, S.40). Welche Deurungsmuster diesen Plan bestimmen, wäre eine wichtige
Fragestellung für die Deutungsmusteranalyse.
Stärker als Goffman ist die Ethnomethodologie interessiert, eine der Idee der
Prozeßstruktur angemessene Theoriesprache zu entwickeln. Entgegen verbreiteten
Mißverständnissen, denen zufolge die Ethnomethodologie jegliche Strukturierung
sozialen Handelns abstreitet und stattdessen soziale Interaktion nach dem Motto
"anything goes" beschreibt, ist zu betonen, daß der primäre Gegenstand ethnomethodologischer Analyse die Produktion sozialer Ordnung ist. Diese wird als
widerständige und moralische Ordnung begriffen (Livingston 1987, S.12f.). Der
ethnomethodologische Begriff des Gesellschaftsmitglieds bezieht sich auf eine mit
Rechten und Pflichten verknüpfte Mitgliedschaft in einer Kollektivität sowie auf
den Besitz von Kompetenzen, die von einem erwachsenen Handelnden zu Recht
intersubjektiv erwartet werden können (Zimmerman 1981, S. 7). Insofern als die
Ethnomethodologie das Verhältnis von (situationaler) Handlung und (übersituationaler) Struktur als ein reflexives Konstitutionsverhältnis begreift, ergeben
sich Bezüge zum Deutungsmusteransatz. In diesem Zusammenhang sind drei
ethnomethodologische Konzepte von Interesse:
Hintergrunderwartungen,
dokumentarische Methode der Interpretation als Ethnomethode und Basisregeln.
Insbesondere in den ethnomethodologischen Arbeiten zur Praxis von Instanzen
sozialer Kontrolle wird mit den Begriffen "Alltagstheorien" und "Hintergrunderwartungen" operiert. Die Fragestellung lautet: Wie wird das Konzept
der Devianz bzw. das Konzept einer bestimmten Form von Devianz wie Geisteskrankheit, Diebstahl, Mord usw. in bestimmten sozialen Kontexten verwandt?
Welcher sozial geteilte Wissensbestand wird dabei systematisch und methodisch
angewandt (Blum 1970, S. 37f.)? Der Focus liegt auf den methodischen Verfahren,
mit deren Hilfe Kontrollinstanzen abweichendes Vehalten erkennen und erzeugen,
mit denen sie ein bestimmtes Handeln als im Rahmen ihrer Tätigkeit relevantes bestimmen (Cicourel 1976, S. xiv). Nicht die an der Oberfläche des Handelns sichtbar werdenden praktischen Entscheidungen, die von Situation zu Situation wechselnden Definitionen konkreter Handlungen, interessieren die Ethnomethodologie,
sondern die den Entscheidungen zugrundeliegenden latenten, den Handelnden
meist reflexiv nicht verfügbaren Eigenschaften, ohne die ein systematisches und
methodisches Vorgehen der Kontrollinstanzen nicht möglich wäre.
Deutlicher als mit dem Begriff der Alltagstheorie wird mit dem vielfach synonym verwandten Begriff der Hintergrunderwartungen auf die Eigenschaft der
Latenz verwiesen. Garfinkel führt diesen Begriff ein, um der "Variablensoziologie"
26
ein interpretatives Modell entgegenzusetzen, um die Konstitution von stabilen
Eigenschaften des Alltagshandelns aus interpretativen Leistungen der Handelnden
zu erklären. "The member of the society uses background expectancies äs a scheme
of interpretation. With their use actual appearances are for him recognizable and
intelligible äs the appearances-of-familiar-events. Demonstrably he is responsive to
this background, while at the same time he is at a loss to teil us specifically of what
the expectancies consist" (Garfinkel 1967, S. 36f.).
In wissenssoziologischer Perspektive sind mit dem Konzept der Hintergrunderwartungen wesentliche Aspekte der internen Struktur und der Wirkungsweise von Deutungsmuster angesprochen. Was Wirkung und Inhalte von
Deutungsmuster angeht, dürfte es lohnend sein, die ethnomethodologische Literatur zur Praxis von Instanzen sozialer Kontrolle zu rekapitulieren. Dort werden explizit die Muster thematisiert, die der institutionellen Verarbeitung von Fällen zugrunde liegen.
Die dokumentarische Methode der Interpretation wird von der Ethnomethodologie als die alltagspraktische Methode verstanden, vermittels der die
Handelnden singuläre Ereignisse homogenisieren (McHugh 1968, S. 35). Die Notwendigkeit der dokumentarischen Interpretation resultiert aus der unhintergehbaren
Indexikalität alltagsweltlichen Handelns und alltagsweltlicher praktischer Erklärungen ("accounts"). Mit dem Begriff der Indexikalität thematisiert die Ethnomethodologie die Vermitteltheit von kontextgebundener Interpretation und sozialer
bzw. gesellschaftlicher Strukturiertheit dieser Interpretation. Das Verfahren, welches die Handelnden verwenden, um indexikalische Ausdrücke und Handlungen zu
verstehen, um Erscheinung und Muster zu verknüpfen, bezeichnet Garfinkel - ein
von Karl Mannheim (1970, S. 120ff.) eingeführtes Konzept aufgreifend - als dokumentarische Methode der Interpretation: die "Erscheinung", die je spezifische
Handlung wird als Dokument eines zugrundeliegenden Musters begriffen
(Garfinkel 1973, S. 199). Das reflexive Konstitutionsverhältnis von Dokument und
Muster läßt sich als alltagspraktische Realisierung einer abduktiven Logik (Peirce)
begreifen. Als Muster kommt jede Form der Habitualisierung von Verhalten in
Frage, sofern sie überindividuellen Charakter besitzt: typische Motive, Regeln,
Normen, Traditionen, allgemein gültige Wissensbestände.
Das Konzept der dokumentarischen Interpretation kann der Deutungsmusteranalyse Hinweise darauf liefern, wie sich die situationale Anwendung
von Deutungsmustern gestaltet: wie Deutungsmuster Suchstrategien nach dokumentarischen Belegen generieren; wie singuläre Ereignisse "passend gemacht"
werden, um zu einem konsistenten Handlungssinn zu gelangen; wie die Handelnden selbst im Rahmen eines gegebenen Deutungsmusters Submuster erzeugen, um
das übergreifende Muster unter In-Rechnung-Stellen der situativen Besonderheiten
gleichsam kleinzuarbeiten17.
17
Äußerst instruktiv ist hier ein Experiment von Garfinkel (1967, S. 79ff.), in dem den Versuchspersonen gesagt wurde, es ginge darum, für Fälle, in denen Menschen einen Rat für persönliche Probleme benötigen, neue Methoden der Psychotherapie zu erproben. Die Versuchs-
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Eine Klärung hinsichtlich des generativen Status von Deutungsmustern verspricht die von Cicourel entwickelte Unterscheidung von Basisregeln und Oberflächenregeln. Anlaß zu dieser Unterscheidung ist die zentrale ethnomethodologische
These, daß von einer Eins-zu-eins-Relation von sozialen Regeln und sozialen
Situationen nicht die Rede sein kann, daß der Bezug von Situationen auf Regeln
oder Normen vielmehr eine jeweils neu, ad hoc zu erbringende interpretative Leistung der Handelnden ist. In einem Modell des kompetenten Regelgebrauchs wäre
zu zeigen, wie die Handelnden verfahren, wenn sie eine Entscheidung darüber
treffen, welche Regel oder Norm jeweils anzuwenden ist. Mit dem Hinweis auf die
dokumentarische Methode ist diese Frage noch nicht hinreichend beantwortet. Des
weiteren wäre in diesem Modell zu klären, wie die Handelnden das grundlegende
Problem sozialen Handelns, interaktive Reziprozität herzustellen, lösen.
Mit der Unterscheidung von Basisregeln und Oberflächenregeln versucht Cicourel der doppelten Problemstellung gerecht zu werden. Die Terminologie verweist
darauf, daß unterschiedliche Niveaus von Regeln angesprochen sind. Anders als
bei Oberflächenregeln erstreckt sich der Gültigkeitsbereich von Basisregeln nicht
auf prinzipiell eingrenzbare, wenn auch in der Interaktion erst praktisch konkretisierte Handlungsfelder. Sie kommen vielmehr bei jeder Interaktion in gleicher
Weise zur Anwendung. Sie sind die entscheidende Bedingung der Möglichkeit von
sozialem Handeln, so daß sich bei ihnen das Problem des Befolgens oder Nicht-Befolgens nicht stellt.
Basisregeln begreift Cicourel (1973, S. 175) als kognitive Mechanismen, deren
personen wurden aufgefordert, einem Berater zunächst den Hintergrund eines sie bewegenden
Problems zu schildern und ihm dann zehn Fragen zu stellen, die so formuliert sein mußten,
daß sie mil einem simplen "ja" oder "nein" zu beantworten waren. Der Berater hielt sich in einem anderen Zimmer auf, es bestand nur Sprechkontakt, kein Sichtkontakt. Der Clou der
experimentellen Anordnung bestand darin, daß der vermeintliche Berater der Versuchsleiter
war und daß er seine Antworten nicht an den Fragen der Versuchspersonen orientierte. Vielmehr war die Abfolge der zehn "ja"- bzw. "nein"-Antworten vor Beginn des Experiments nach
dem Zufallsprinzip einheitlich für alle zehn Gespräche festgelegt worden. Ziel des Experiments war herauszufinden, wie die Versuchspersonen unerwartete Antworten interpretieren.
An den Kommentaren der Versuchspersonen auf die Antworten des "Beraters" zeigt sich
deutlich, daß sie ständig bemüht waren und daß es ihnen gelang, ein zugrundeliegendes Muster zu identifizieren, das die einzelnen Antworten zu sinnvollen Antworten im Rahmen einer
"Gesamtgestalt" werden ließ.
Keine der Versuchspersonen hatte Schwierigkeiten, die Serie von zehn Fragen zu vollenden,
auch nicht, die Ratschläge zusammenzufassen und ihnen einen konsisten Sinn zu verleihen.
Dies gelingt trotz - für den Beobachter - offensichtlicher Widersprüche, weil die Versuchspersonen von Beginn an die Antworten als Dokumente für ein Muster interpretieren, das
in diesem Fall durch den Hinweis, es handele sich um ein therapeutisches Gespräch, vorab
eingeführt ist. Sie verleihen den einzelnen Antworten, den indexikalischen Ausdrücken, Sinn,
indem sie jeweils einen Bezug zu diesem vorgängig konstituierten Erwartungssystem herstellen. Sie suchen aktiv bei jeder Antwort nach einem Beleg, der die Antwort als eine
therapeutisch motivierte ausweist. In jedem Kommentar leisten sie das, indem sie versuchen,
die Antwort auf einen Aspekt des Problems zu beziehen. In dieser Weise konstituieren die
Versuchspersonen durch ihre Integrationen die Situation als eine therapeutische Situation.
28
Erwerb und Gebrauch eine "kognitive Organisation" zeitigt, "die ein beständiges
Gespür für soziale Struktur liefert". Basisregeln sind auf einer tiefenstrukturellen
Ebene sozialer Interaktion angesiedelt. Die Unterscheidung von Tiefen- und Oberflächenstruktur übernimmt Cicourel von Chomsky, ohne die kompetenztheoretischen Implikationen der generativen Transformationsgrammatik nachzuvollziehen. Bei Chomsky determiniert die tiefenstrukturelle Kompetenz,
verstanden als "System generativer ('erzeugender') Prozesse" (Chomsky 1972, S.
15), die an der Oberfläche angesiedelte Sprachverwendung (Performanz). Für Cicourel läßt sich aus der Tiefenstruktur nicht ableiten, wie das Handeln auf der
Oberflächenstruktur aussieht Als sozialkognitive Mechanismen sind Basisregeln
formaler Natur. Sie bilden die grundlegende operative Struktur sozialen Handelns,
die bei jeder Handlung notwendig zur Anwendung gelangt und daher keinen
Schluß auf inhaltliche Besonderheiten erlaubt. Der konkrete Handlungssinn kann
nur in der Analyse des Zusammenspiels von Tiefen- und Oberflächenstruktur, von
Basis- und Oberflächenregeln geklärt werden.
Cicourel (1975) unterscheidet in verschiedenen Arbeiten zwischen drei und
sechs Basisregeln. Die drei zentralen, in jedem Text genannten sind: "Reziprozität
der Perspektiven", "retrospektiv-prospektiver Ereignissinn", "Normalformtypisierungen". Basisregeln allein erzeugen keine sozialen Strukturen, sie
vermitteln den Handelnden jedoch ein "Gespür für soziale Struktur", indem sie es
ermöglichen, hinter wechselnden Situationen in interaktiver Reziprozität allgemeine Muster und konstante Bedeutungsgehalte zu identifizieren. Aufgrund der
Basisregeln sind sich die Handelnden der Strukturiertheit der Realität gewiß, ohne
daß sie in der Lage wären, die Strukturen zu benennen. Obwohl Basisregeln allein
keine soziale Struktur erzeugen, sind sie Voraussetzung dafür, daß Strukturen erzeugt werden. Der generative Status von Basisregeln läßt sich mithin im Sinne einer Ermöglichungsbedingung konzipieren.
Das Konzept der Basisregeln ist noch ungenügend ausgearbeitet. Immerhin wird
deutlich, daß ein soziologischer Begriff generativer Regeln eine zweifache Regelstruktur in Rechnung stellen muß und daß den sozialen (=Oberflächen-)Regeln
kein generativer Status eignet. Des weiteren impliziert das Konzept der Basisregeln, daß der über Normalformtypisierungen hergestellte Bezug auf übersituationale Strukturen, mithin auch auf Deutungsmuster, eine situationsbezogene
interpretative Leistung der Handelnden ist, bei der erstens eine Abstimmung mit
den Interaktionspartnern hergestellt werden muß (interaktive Reziprozität) und die
zweitens in einem komplexen temporalen Verweisungszusammenhang steht (retrospektiv-prospektiver Ereignissinn).
Die ethnomethodologische Konzeption generativer Regeln relativiert die Definition von Deutungsmustern als "verbindliche Antworten auf objektive Probleme
der Handelnden" (Oevermann 1973, S. 12). Zwar behauptet auch der ethnomethodologische Regelbegriff keine Beliebigkeit des Bezugs auf soziale Regeln, so "als
könnten Normen jede verhaltensmäßige Spezifikation zustandebringen, welche
Laune auch immer gerade die Person 'reitet', die sie verwendet" (Zimmerman 1978,
29
S. 95). Jedoch eignet die Verbindlichkeit nicht den Deutungsmustern als solchen,
sondern ist eine interaktive und situationsbezogene Herstellungsleistung ("practical
accomplishment") der Gesellschaftsmitglieder. Nur wenn man dies in Rechnung
stellt, kann man u.E. von einem generativen Status von Deutungsmustem und
gleichzeitig davon sprechen, daß Deutungsmuster entwicklungsoffen sind. Eine
Modifikation eines Deutungsmusters kann nur aus einer situationsbezogenen Anwendung resultieren.
Deutungsmusteransatz, Habituskonzept, Rahmenanalyse sowie die ethnomethodologischen Konzepte der Hintergrunderwartungen, der dokumentarischen Interpretation und der Basisregeln haben den Versuch gemeinsam, die deterministischen Implikationen des Funktionalismus einerseits, die voluntaristischen Mißverständnisse einiger Ansätze der interpretativen Soziologie andererseits zu vermeiden und dennoch die jeweiligen Perspektiven zur Thematisierung des Problems
der sozialen Ordnung aufzunehmen: als vorgegeben und bewirkt - mit
unterschiedlichen Akzentuierungen, wie wir gesehen haben. Mit diesen Konzepten
sind einige Kontexte im soziologischen Theoriediskurs benannt, in denen der
Deutungsmusteransatz seine spezifische analytische Fruchtbarkeit erweisen muß.
Vor allem muß sich im Vergleich zeigen, ob der Begriff des Deutungsmusters
überhaupt eine neue Dimension soziologischer Analyse eröffnet, die in den anderen Ansätzen nicht gegeben ist. Das freilich kann nur auf der Basis empirischer
Forschung entschieden werden, und der, soweit sie in diesem Band vertreten ist,
wollen wir uns abschließend zuwenden.
4. Zu den empirischen Arbeiten
Die in diesem Band versammelten Aufsätze sind Beispiele empirischer Wissenssoziologie. Es eint sie das Bemühen, soziale Realität anhand ihrer Wissensformation
zu dechiffrieren, symbolische Strukturen auszumachen und ihre Relevanz für soziales Handeln aufzuzeigen. Wie schon Max Weber betonte, ist es ein besonderes
Kennzeichen jeder soziologischen Handlungstheorie symbolische Formen, soziale
Interaktionen und Legitimationen in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen, da nur
so die Prozeßhaftigkeit sozialer Strukturen deutlich wird und diese nicht unter der
Hand zu unhinterfragten, "sachlichen" Gegebenheiten der Gesellschaft gerinnen,
die der Forscher nur reproduzieren würde. Der Ansatz der empirischen Wissenssoziologie ist aufgrund dieser Ähnlichkeiten meist ein handlungstheoretischer
Zugang zur sozialen Wirklichkeit.
Empirische Wissenssoziologie wird hier in ihrer Praxis werkstatthaft anhand
verschiedener thematischer Anwendungsgebiete vorgeführt, manche Projekte werden in ihren sicheren Ergebnissen vorgestellt, andere eher in ihrem Anfangsstadium. Der Gebrauch des Begriffs "Deutungsmuster" ist nicht stringent, es finden
sich unterschiedliche empirische Auslegungsformen dieses Begriffes. Manche
Autoren vermeiden den Begriff gänzlich und ziehen statt dessen aufgrund ihres
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Forschungsinteresses die Begriffe "Orientierungsmuster", "Semantik" oder
"Lebensstil" als Grundbegriffe vor. Wie bei jeder empirischen Arbeit (im Unterschied zu Methodenbüchern) werden Begriffe in Auseinandersetzung mit der empirischen Realität, mit Erfahrungsprozessen und in der Wahrnehmung des fortlaufenden wissenschaftlichen Diskurses modifiziert, mit Inhalt gefüllt und variiert. Ein
"Theorietest" hat in der Empirifizierungsphase von Begriffen dabei weniger die
Form einer Ja/Nein-Entscheidung in Bezug auf eine Nullhypothese als vielmehr
den Charakter einer fortlaufenden Rekonstruktion, die entweder zum Verlassen des
Ursprungskonzepts oder zur Aneignung und inhaltlichen Modifikation des ursprünglichen Begriffsrahmens führt. "Theorie" entwickelt sich dadurch in der Praxis weniger linear-logisch als material-sprunghaft.
Die hierfür notwendige Offenheit (die nichts mit Beliebigkeit zu tun hat) findet
sich auch bei den Methoden wieder. Die empirischen Methoden der Autoren dieses
Bandes sind äußerst vielfältig. Auch hier gilt ähnlich wie bei der Theorie, daß Methoden (anders als in den Aussagen der Methodenbücher) nicht "angewandt" werden, sondern angeeignet, individuell variiert und an den jeweiligen Forschunggegenständen fortentwickelt werden.
Gemeinsam ist den Aufsätzen, daß sie sich mit der Rolle von sozialen Wissensformen auseinandersetzen, ihren Funktionen, ihren Entstehungsweisen, ihren Veränderungen und ihrer Bedeutung beim Wirklichkeitsauibau der sozialen Akteure.
Es fällt auf, daß bei diesen Arbeiten ein besonders sensibler Umgang mit dem Phänomen der "sozialen Zeit" gepflegt wird. "Zeit" ist hier nicht eine lineare Folge von
Geschehnissen, sondern die Struktur der Konstruktion sozialer Tatbestände, die
sich über Ereignisse und Erfahrungen verändern und in Wissen geformt codiert
werden.
Die Zugänge zum Phänomen der Zeit sind sehr unterschiedlich. Drei Vorgehensweisen lassen sich bei den vorliegenden Aufsätzen unterscheiden, die den Akzent entweder stark auf diachrone Verläufe, auf synchrone Analysen oder auf einer
Mischung beider Verfahren legen.
Die Beschreibung diachroner Verläufe kann sowohl als der Weg der klassischen
Deutungsmusteranalyse als auch der klassischen empirischen Wissenssoziologie
angesehen werden. Die groß angelegten Untersuchungen von Foucault, Elias oder
auch Weber folgen diesem Muster, eine vorhandene Struktur in seiner historischen
Genese und seinem Verlauf über lange Zeiträume hin zu studieren. Vorteilhaft
hierfür ist die Abgeschlossenheit eines Verlaufs, da so eine relativ eindeutige
Richtung des Verlaufsmusters angegeben werden kann. Die klassische Methode für
diesen Ansatz ist die hermeneutische Dokumentenanalyse. Eine gewisse
Versuchung bei diachronen "Geschichtserzählungen" besteht darin, daß der Konstruktcharakter des diachronen Verlaufs, die Kenntnis, "daß idealtypische
Entmcklungskonstruktion und Geschichte zwei streng zu scheidende Dinge sind"
(Weber 1956, S. 249), hinter die Erzählzwänge "linearer Geschichte" zurücktritt.
Das Nebeneinander, Widersprüchliche und Ungerichtete des sozialen Prozesses
wird so zu einer logischen Abfolge des vorher-nachher, kausaler Entwick-
31
lungsfolgen. "Entwicklungslogiken" stellen nützliche Instrumente der Darstellung
und Analyse geschichtlicher Prozesse dar; sie sind von daher unverzichtbar. Es
sollte allerdings für Leser und Schreiber klar sein, daß es sich um "Idealtypen", also um Konstruktionen handelt.
Die Arbeitsweise diachroner Verlaufsbeschreibungen, die eine Nähe zu ideologiekritischen Ansätzen besitzt, wird in diesem Band von Yvonne Schütze und Michael Schetsche verfolgt. Yvonne Schütze schildert anhand einer Dokumentenanalyse von wissenschaftlichen Ratgebern den Aufstieg und den Fall des Deutungsmusters "Mutterliebe". Im 18. Jahrhundert entsteht es parallel zur Ausdifferenzierung der Geschlechtscharaktere und der bürgerlichen Familie. Anfangs waren es überwiegend Ärzte, die sich bemühten, den als irrational geltenden Müttern
medizinisch rationalen Umgang mit Kindern beizubringen. Je mehr Psychologen
im 20. Jahrhundert das Deutungsmuster ausformulierten, desto paradoxer wurde es.
Sie forderten nämlich immer mehr den rational kontrollierten Einsatz von Affekten, und - vollends paradox - die rationale Kontrolle unbewußter Gefühle. Die
"Überlastung" des Deutungsmusters, zusammen mit Veränderungen der gesellschaftlichen Stellung von Frauen, führte in den 80er Jahren zu Abkehrbewegungen
vom Muster "Mutterliebe", das immer mehr handlungsbelastend als -entlastend
geworden war. (Mütter und Kritiker der Psychoanalyse dürften diesen Beitrag mit
besonderem Genuß lesen.)
Michael Schetsche illustriert anhand einer Dokumentenanalyse von Beiträgen in
Fachzeitschriften zum Thema der sexuellen Selbstbefriedigung von Kindern das
Deutungsmusterkonzept von Oevermann. Er versteht unter Deutungsmustern
überindividuelle, latente und gruppenspezifische Wissensformationen mittlerer
Komplexität, die funktional für die Bewältigung von Handlungsproblemen sind.
Die Arbeit mit Texten eines bereits abgeschlossenen Diskurses ermöglicht ihm,
dem Deutungsmusterkonzept eine implizit ideologiekritische Note zu geben, die
realitätsreduzierende Wirkungen von Deutungsmustern hervorhebt
Eine zweite, umfangreichere Gruppe von Aufsätzen beschäftigt sich nicht mit
diachronen Verläufen, sondern mit synchronen Gegenwartsanalysen offener
Strukturen. Analysen werden hier aus der Polyphonie der Gegenwart entwickelt,
die offene Prozeßhaftigkeit von Gegenwart wird betont; "Neues" wird in diesen
Beiträgen mit unterschiedlichen Bewertungen bearbeitet Bevorzugte Methode dieser Autoren ist das Interview, daneben werden aber auch Gruppendiskussionen und
rationale Theoriekonstruktionen der Realität verwendet.
Ulrike Nagel beschreibt ein neues Deutungsmuster sozialarbeiterlichen Berufsverständnisses. Ein Teil gegenwärtiger junger Sozialpädagoglnnen sieht sich selbst
nicht mehr als Helfer der Schwachen und Unterdrückten oder als Anwalt von Betroffenengruppen, sondern als professioneller Krisenmanager, der Menschen in
normalen Lebenslaufkrisen behilflich ist. An aktuellen Interviews wird ein Deutungsmuster herausgearbeitet, das Parallelen aufzeigt zwischen dem Berufsrollenverständnis dieser Gruppe von Sozialpädagogen, ihrer individuellen Lebenslauflage und ihrem Gesellschaftsbild.
32
Während im Aufsatz von Ulrike Nagel der Hauptakzent auf der Konstatierung
eines neuen Musters liegt, beschäftigt sich Michael Meuser hauptsächlich mit einem Konflikt zwischen einem neuen Deutungsmuster sozialer Gerechtigkeit mit
älteren Deutungsmustern. Sein Gegenstand ist dabei die Implementierung von
Frauenförderplänen in der öffentlichen Verwaltung, die er mit Experteninterviews
untersucht. Er stellt fest, daß das Programm, das auf einer gruppenspezifischen, auf
Wahrscheinlichkeiten beruhenden Vorstellung von "Gerechtigkeit" beruht, deshalb
kaum durchgesetzt wird, weil es im Widerspruch zu älteren, mit breiter Legitimation versehenen Deutungsmustern von Gerechtigkeit steht, die neben Leistung auf
soziale Bedürftigkeit rekurrieren.
Einen gegenwärtigen Umbruch beschreibt ebenfalls Ulf Matthiesen, der den
Wandel der Lebenswelt des östlichen Ruhrgebiets anhand von Interviews untersucht. Ergebnis dieses Projekts ist, daß "neue" Lebensstile, die von Innovateuren
des Strukturumbruchs (Eigenlabel: die "Jungstiere") vertreten werden, nicht nur auf
internationale Moden reagieren, sondern gleichzeitig eine spezifische Resynthese
älterer Arbeitermilieus leisten. Ausgehend von diesen Projekterfahrungen schlägt
Matthiesen vor, die textorientierten Analysemethoden des Deutungsmusterbegriffs
von Oevermann durch visuell orientierte Lebensstilanalysen phänomenologischer
Art zu ergänzen.
Die schwierige theoretische und methodische Lage von gegenwartsanalysierenden Projekten der empirischen Wissenssoziologie, die darin begründet
liegt, daß "Gegenwart" das theoretisch und methodisch noch nicht gefaßte Terrain
absteckt, kommt auch in der Haltung zweier anderer Projekte zum Ausdruck, von
denen eines nur theoretisch, das andere primär methodisch angelegt ist.
Christian Lüdemann unternimmt den (für manche interpretativen Soziologen
ketzerischen) Versuch, das Deutungsmusterkonzept in die Theoriesprache der
"kognitiv-hedonistischen Verhaltenstheorie" zu übersetzen. Er exemplifiziert diesen Ansatz anhand des Deutungsmusters "männliche Sexualität" und gibt mögliche
Untersuchungsmethoden an.
In einem methodisch orientierten Artikel versucht Ralf Bohnsack, die Ansätze
von Mannheim und der Ethnomethodologie empirisch material einzulösen und
entwickelt das Verfahren der "dokumentarischen Interpretation". Anhand der Auswertung von Gruppendiskussionen mit Jugendlichen zeigt er, wie sich vortheoretisches Alltagswissen in begriffliche Explikationen verwandeln läßt und so Handlungsweisen verstehend erklärt werden können. Besonders interessant an dem Verfahren ist der Versuch, die Analyse nicht bei Einzelfallrekonstruktionen zu belassen, sondern systematisch typenbildend vorzugehen.
In einer dritten Gruppe von Aufsätzen mischen sich diachrone und synchrone
Ansätze. In jede diachrone Analyse geht die Offenheit und Konflikthaftigkeit der
Gegenwart ein, in jede synchrone Analyse sind Überlegungen zu Ursachen und
Begründungen der jetzigen Situation integriert. In den Aufsätzen dieser Gruppe
findet aber nicht nur "natürlich" ein Wechsel der Zeitebenen statt sondern er wird
systematisch gesucht. Die Dialektik dieses Bemühens zeigt sich auch an der Viel-
33
fall der verwendeten Methoden.
Peter Alheit und Bettina Dausien stellen die Frage, ob "Biographie", diese
scheinbar unhintergehbare Form sozialer Existenz, nicht ein Deutungsmuster mit
begrenzter Reichweite ist. An historischem Material belegen sie, daß es sich erst in
der Moderne durchsetzt. Am Fallbeispiel einer Autobiographie einer Frau aus der
Unterschicht im 19. Jahrhundert zeigen sie auf, daß das Deutungsmuster
"Biographie" selbst in der Moderne an Klassen- und Geschlechtsgrenzen gebunden
ist. Die behandelte Lebensgeschichte ist nämlich in der von der Frau benützten und
erlebten Erzählung ihres Lebens nicht nach biographischen Verläufen, sondern
durch rekursive Erzählknoten geordnet. Aktuelle Theoriediskussionen um
"Biographie" und die Auswertungsmethode narrativer Interviews werden hier mit
historischem Material konfrontiert, Vergangenes und Gegenwärtiges werden ineinander gebrochen.
Bruno Hildenbrand entfaltet anhand von aktuellen Interviews, die sich methodisch der teilnehmenden Beobachtung annähern, eine bäuerliche Familiengeschichte, die belegt, wie individuell, familial und berufsbezogen "Modernisierung"
und "Kontinuität" über 100 Jahre in ihrem Wechselverhältnis in Balance gehalten
werden. In der letzten Generation scheitert dieser Balanceakt, Familienmitglieder
werden psychisch krank. Hildenbrand dehnt die aktuelle Gegenwart zu einem
diachronen Verlauf aus, in (oft unbewußten) Orientierungsmustern von Einzelnen
und "Familienlinien" werden Strukturmotive der Gegenwart deutlich, die zugleich
etwas über die psychischen Aufwendungen eines gesellschaftlichen "Modernisierungsprozesses" im Deutschland der letzten 100 Jahre aussagen.
Reinhold Sackmann analysiert das Deutungsmuster "Generation". Er geht von in
aktuellen Interviews gefundenen Konnotationen der Jugendnähe und der Ablösung
von Familienkontinuitäten aus, die im Deutungsmuster enthalten sind. In einer semantischen Wortgeschichte verfolgt er die historischen Wurzeln dieser Konnotation. Er folgert daraus für die Generationstheorie, daß bloße Jugend- und Familiengenerationstheorien an Grenzen stoßen, und deshalb eine Fortentwicklung des Begriffes "Generation" zur Analyse dynamischer Gesellschaftsstrukturprozesse notwendig wäre.
Über alle Aufsätze läßt sich sagen, daß sie eine erfreuliche Methoden- und
Theorievielfalt aufweisen. Auch wenn dies institutionell nicht so deutlich sichtbar
ist, hat sich in den letzten Jahrzehnten ein lebendiges Feld empirischer Wissenssoziologie entwickelt. Die Uniformität der großen theoretischen Entwürfe der
60er/70er Jahre ist einer Pluralität empirischen Forschens gewichen. Wir hoffen,
daß dieses Buch Anregungen für Theorie und Empirie bietet und durch interessante
Ergebnisse den Wert der empirischen Wissenssoziologie demonstriert
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