bremer soziologische texte Schriftenreihe des Instituts für empirische und angewandte Soziologie herausgegeben von: Hans-Günther Heiland Rüdiger Lautmann Ansgar Weymann Matthias Wingens Analyse sozialer Deutungsmuster Beiträge zur empirischen Wissenssoziologie Band 5 Michael Meuser, Reinhold Sackmann (Hrsg.) Centaurus-Verlagsgesellschaft Pfaffenweiler 1992 r Inhalt Vorwort 7 Michael Meuser und Reinhold Sackmann Zur Einführung: Deutungsmusteransatz und empirische Wissenssoziologie . . . . .9 Die Deutsche Bibliothek -CIP-Einheitsaufnahme Meuser, Michael: Analyse sozialer Deutungsmuster: Beiträge zur empirischen Wissenssoziologie / Michael Meuser ; Reinhold Sackmann Pfaffenweiler: Centaurus-Verl.-Ges., 1991 (Bremer soziologische Texte • Bd 5) ISBN 3-89085-626-8 NE: Sackmann, Reinhold:; GT ISSN 0935-6045 der ÜblhrseSneS°orbere "** '?eC'" ^ Vervielfält'9unS und Verbreitung sowie (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohn^schHftl^he^enehnngung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elekto^cher Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. eieK^onischer © CENTAURUS-Verlagsgesellschaft mit beschränkter Haftung Pfaffenweiler 1992 Satz: Vorlage der Autoren Druck: Difo-Druck GmbH, Bamberg Yvonne Schütze Das Deutungsmuster "Mutterliebe" im historischen Wandel 39 Michael Schetsche Sexuelle Selbstgefährdung des Kindes durch Onanie. Ein Modell zur Binnenstruktur von Deutungsmustern 49 Ulrike Nagel Sozialarbeit als Krisenmangement 71 Michael Meuser "Das kann doch nicht wahr sein". Positive Diskriminierung und Gerechtigkeit 89 UlfMatthiesen Lebensstile und Deutungsmuster. Randbemerkungen zu Problemen bei der Analyse einer zeitdiagnostischen Zentralkonstellation 103 Christian Lüdemann Deutungsmuster und das Modell rationalen Handelns. Eine Anwendung auf Deutungsmuster männlicher Sexualität 115 RalfBohnsack Dokumentarische Interpretation von Orientierungsmustern. Verstehen-Interpretieren-Typenbildung in wissenssoziologischer Analyse . . . .139 Peter Alheit und Bettina Dausien Biographie - ein »modernes Deutungsmuster«? Sozialstrukturelle Brechungen einer Wissensform der Moderne 161 Bruno Hildenbrand Zur Transformation von Orientierungsmustern in einer landwirtschaftlichen Familie und deren Scheitern 183 Reinhold Sackmann Das Deutungsmuster "Generation" 199 Die Autorinnen und Autoren 217 Vorwort In diesem Band sind verschiedene Aufsätze zur empirischen Arbeit mit dem Konzept "Deutungsmuster" versammelt. Es soll damit ein Versuch unternommen werden, das heterogene Feld der Wissenssoziologie systematischer empirischer Forschung zugänglich zu machen. Bis heute haftet der Wissenssoziologie der Charakter einer eher philosophischen Teildisziplin an, die zwar Freiraum für vielfältige Unternehmen aufweist, die aber gleichzeitig die Bodenschwere kontinuierlicher empirischer Arbeit an einem Gegenstand vermissen läßt. Verglichen mit der Stadtsoziologie, der Industriesoziologie oder der Agrarsoziologie wirkt die Wissenssoziologie noch immer unentschlossen, ob sie den Anschluß an den jeweils neuesten philosophischen Diskurs suchen oder ob sie ihren Bück gesellschaftlichen Alltagsproblemen zuwenden will. Diese Ambivalenz hängt einerseits mit dem Gegenstand zusammen, der lange Zeit in die Zuständigkeit der Philosophie fiel, andererseits läßt er sich mit spezifischen Bedingungen der Institutionalisierung dieser Teildisziplin in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts erklären. Als in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts Max Scheler und Karl Mannheim den Begriff der Wissenssoziologie prägten, war schon einmal ein Scheideweg erreicht, an dem frühere philosophische Debatten von den Autoren aufgegriffen wurden und gleichzeitig ihre Überführung in empirische Forschungszusammenhänge angestrebt wurde. Die Zeitumstände ermöglichten größtenteils nur konzeptionelle Arbeiten dieser Gründerväter der Wissenssoziologie, zu früh wurde ihre Arbeit durch den Nationalsozialismus unterbrochen. Viele Wissenssoziologen wie Mannheim und Schütz mußten emigrieren, der Denkzusammenhang war gestört Die diskontinuierlichen Zeitumstände verhinderten das Entstehen einer kontinuierlichen Forschungsanstrengung einer empirischen Wissenssoziologie. Als Mitte der 60er Jahre Berger/Luckmann in ihrem bahnbrechenden Buch "Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" einen neuen Anlauf für einen konzeptionellen Rahmen der Wissenssoziologie vorlegten, vermieden sie eine Anknüpfung an die "fruchtlose" ältere Wissenssoziologie. Der von Oevermann 1973 vorgelegte Versuch einer Theorie und Empirie der "Deutungsmuster" kann im Kontext dieser zweiten Welle von vielfältigen Entwürfen wissenssoziologischer Art gesehen werden, die allesamt in den 60er und 70er Jahren vorgestellt wurden. Heute steht erneut - wie in den 30er Jahren - an, diese Theorien in empirische Forschungsarbeiten zu überführen. Es ist zu fragen, welche empirischen Erträge wissenssoziologische Forschungen liefern können, wie die theoretischen Konzepte revidiert werden müßten, um praktikabel zu sein, und welche Fragestellungen in den Theorieentwürfen der 60er und 70er Jahre vernachlässigt worden sind. Anders als in den 30er Jahren behindern die Zeitumstände diesmal nicht die Beantwortung dieser Fragen und den damit verbundenen Anlauf zu einer empirischen Wissenssoziologie. Es besteht die Möglichkeit, die theoretischen Entwürfe der (Neu-) Gründerzeit der Wissenssoziologie in den 70er Jahren in das Instrumentarium einer pragmatischen empirischen Wissenssoziologie umzusetzen. Mit diesem Band soll ein Beitrag zu diesem Unternehmen geleistet werden. Die Beiträge sind aus zwei vom Institut für empirische und angewandte Soziologie (EMPAS) veranstalteten Workshops hervorgegangen. Wir danken dem EMPAS für seine finanzielle Unterstützung, die die Durchführung ermöglichte. Die Besorgung der druckfertigen Manuskripte leistete Andrea Hofmann, der wir an dieser Stelle besonders danken wollen. Bremen, im November 1991 M.M./R.S. Zur Einführung: Deutungsmusteransatz und empirische Wissenssoziologie Michael Meuser und Reinhold Sackmann 1. Die Diskurse der Wissenssoziologie Einen Eindruck von den Themen und Diskursen der Wissenssoziologie kann ein kurzer Abriß der Geschichte dieser Disziplin vermitteln. Zum besseren Verständnis wurde die historische Entwicklung analytisch in Diskurse unterteilt, die jeweils bestimmte Sachprobleme der Wissenssoziologie benennen. Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Geschichte der Wissenssoziologie sei hier auf Krüger (1981), Lieber (1985) und Lenk (1967) verwiesen. In der Geschichte der Wissenssoziologie seit dem HJahrhundert1 lassen sich vier Diskurse unterscheiden. Der erste und älteste geht einher mit der Ausdifferenzierung der Wissenschaft aus der Religion, die im Mittelalter noch ein Deutungsund Wissensmonopol für sich in Anspruch nahm. Francis Bacon, der gemeinhin als Ahnvater der Wissenssoziologie gilt, versucht, in seinem Hauptwerk "Novum Organum" die Unabhängigkeit der Wissenschaft zu begründen. Mit dem Pathos des Neuen, des Neuanfangs, vertraut Bacon nur der Erfahrung, die in induktiven Schlüssen zur Gewinnung neuer Erkenntnisse gebraucht werden soll, um produktiv Neues zu schaffen. "Denn der Natur bemächtigt man sich nur, indem man ihr nachgibt" (Bacon 1830, S. 26). Bacon strebt eine unvoreingenommene Offenheit gegenüber Naturphänomenen an; es ist deshalb für ihn notwendig, alle Wissensformen zu kritisieren, die eine sachliche Wahrnehmung behindern. Bacons Neubegründung der Wissenschaft ist deshalb begleitet von einer "Idolenlehre", einer Kritik der "Vorurtheilsgötzen, die falschen Begriffe" (Bacon 1830, S.32), die bisher die Wahrheit behindert haben. Seine Idolenlehre ist ein Vorläufer der späteren Ideologiekritik, die über Jahrhunderte die Wissenssoziologie beschäftigt. Bei diesem ersten, frühbürgerlichen Diskurs der Wissenssoziologie fällt auf, daß nicht nur eine Hauptstoßrichtung in der Kritik traditionalen Wissens liegt, also eine negative Bestimmung, sondern daß für die Abstützung der radikalen Lösung von traditionalen Wissenssystemen auch das Vertrauen auf einen neuen festen Halt hilfreich ist. Die Funktion eines solchen "Übergangsobjekts" bei der Ablösung übernimmt der Naturbegriff, der sowohl im Naturrecht als auch in der Naturwissenschaft als mächtiger Fixpunkt außerhalb des bisherigen Wissenssystems dient. Die Zuordnung von Autoren früherer Jahrhunderte zur Wissenssoziologie, die sich erst seit den 20er Jahren dieses Jahrhunderts so bezeichnet, ist nicht ganz unproblematisch. Sachliche Gründe der Problemkontinuität und die enge Verbindung von Philosophie und Soziologie in der Wissenssoziologie lassen es allerdings als adäquat erscheinen auch "vorsoziologische" Autoren als Wissenssoziologen zu lesen. p Die frühbiirgerliche Kritik des Empirizismus und Skeptizismus an den alten Wissenssystemen im Namen von Vernunft und Naturbeobachtung wird dabei nicht nur akademisch formuliert, wie die folgende kleine Passage von Hume belegt: "Nehmen wir irgendein Buch zur Hand, z.B. über Theologie oder Schulmetaphysik, so laßt uns fragen: Enthält es eine abstrakte Erörterung über Größe und Zahl? Nein. Enthält es eine auf Erfahrung beruhende Erörterung über Tatsache und Existenz? Nein. So übergebe man es den Rammen, denn es kann nichts als Sophisterei und Blendwerk enthalten" (Hume 1979, S. 207). Es existieren klare Kampfgegner, die von den frühbürgerlichen Denkern benannt werden. Es verwundert deshalb nicht, wenn dieser Diskurs im 18. Jahrhundert in vorrevolutionäre, aufklärerische Ideen einmündet. Holbach als einer ihrer Vertreter stellt dem falschen Wissen der Höfe und der Priester, deren Wissen auf Einbildung, deren Macht auf dem Unwissen der anderen und deren Moral auf Laster beruht, die Natur des Menschen entgegen, dessen Wissen auf Erfahrung, dessen Bedeutung auf Vernunft und dessen Moral auf Tugend zurückgreift Falsches Wissen wird von Holbach als herrschaftsfunktional angesehen: "Die Autorität hält sich gewöhnlich für verpflichtet, die einmal vorhandenen Meinungen beizubehalten. Die Vorurteile und die Irrtümer, die sie zur Sicherung ihrer Macht für notwendig erachtet, werden durch Gewalt, die sich nie nach der Vernunft richtet, aufrechterhalten" (Holbach 1978,S.130f.). Der erste Diskurs der Wissenssoziologie, wie er bei den frühbürgerlichen Denkern geführt wird, ist eine Folge der Ausdifferenzierung von Religion und Wissenschaft. Religiösen und metaphysischen "Spekulationen" werden Naturgesetze und Vernunft entgegengehalten. "Religion" wird in dieser Konfliktstellung und in der historischen Situation der Nachreformation zu einem "Gegenstand", der als Wissenssystem analysiert werden kann. In einem zweiten nachrevolutionären Diskurs wird der Naturbegriff durch den Begriff der "Geschichte" relativiert. Die Erfahrung der Französischen Revolution ließ die Prozeßhaftigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung stärker hervortreten. "Geschichte" wird zum Fixpunkt des zweiten wissenssoziologischen Diskurses und tritt damit an die Stelle des frühbürgerlichen konstanten Naturbegriffes. Beim Übergang der Diskurse von "Natur" zu "Geschichte" gibt es mannigfache Kompromisse. Comte beispielsweise verknüpft den alten Diskurs der Religions- und Metaphysikkritik im Namen der Wissenschaft (Vernunft und Natur) mit der geschichtlichen Vorstellung einer notwendigen Evolution des Wissens hin zur Wissenschaft im Drei-Stadien-Gesetz. Der zweite Diskurs der Wissenssoziologie, der den neuen Geschichtsgedanken systematisch aufgreift, formiert sich am deutlichsten im rückständigen, "romantischen" Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts. Feuerbach faßt "Religion" nicht mehr wie die empirizistische Ideologiekritik als Irrtum oder falsche Ansicht über die Wirklichkeit auf, sondern als Selbstentfremdung des Menschen. "Religion" wird als Produkt des Menschen angesehen. "Der Mensch verlegt sein Wesen zuerst außer sich, ehe er es in sich findet. Das eigne Wesen ist ihm zu10 erst als ein andres Wesen Gegenstand. Die Religion ist das kindliche Wesen der Menschheit; aber das Kind sieht sein Wesen, den Menschen außer sich. (...) Der geschichtliche Fortgang in den Religionen besteht deswegen darin, daß das, was der frühem Religion für etwas Objektives galt, jetzt als etwas Subjektives, (...) als etwas Menschliches erkannt wird" (Feuerbach 1973, S. 47). Die menschliche Gattung befinde sich in einem geschichtlichen Prozeß der Bewußtwerdung ihrer Produkte. Religion wird von Feuerbach zwar als menschliches Produkt "entlarvt", sie gilt ihm aber gleichzeitig als "feierliche Enthüllung der verborgnen Schätze des Menschen" (ebd., S. 46), als Gattungsbewußtsein, das als transzendentes Prinzip im Laufe der Geschichte verwirklicht werden kann. Der zweite historische Diskurs der Wissenssoziologie kreist so um den Gedanken, "Geschichte" als Selbstentfremdung der menschlichen Gattung zu analysieren. Der junge Marx überträgt die Analysen Feuerbachs von der Religion auf die Bereiche des Rechts und der Politik, die ihm ebenfalls als dem Menschen entfremdete Bereiche des Gattungsbewußtseins gelten. Durch Reflexion sollen diese Bereiche (und Institutionen) wieder einer Gestaltung durch den Menschen zugänglich gemacht werden, in der Praxis der Veränderung sollen sie als Produkt des Menschen erfahrbar werden. Bei seiner Beschäftigung mit dem Bereich der Ökonomie glaubt dann der späte Marx, einen Schlüssel zur Moderne in den Händen zu halten. So wie im Mittelalter die Religion das zentrale Wissenssystem der Gesellschaft war, so sei nun die Ökonomie die Totalität der Gesamtstruktur. Er hat insofern recht, als sich in der Tat Ende des 18. Jahrhunderts die Ökonomie als eigenständiges System ausdifferenziert; ob sie allerdings das neue totalitäre "Leitsystem" ist, dessen "Basis" den "Überbau" bestimmt, gilt als äußerst zweifelhaft Trotz dieser Einschränkung bleibt festzuhalten, daß die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie insgesamt einen Entwurf der wissenssoziologischen Kritik des Systems der Ökonomie mit Feuerbachscher Intention darstellt (Reichelt 1975). Durkheim kann als Bindeglied zwischen dem ersten und dem zweiten wissenssoziologischen Diskurs angesehen werden. Er greift den Gedanken der romantischen Religionskritik auf und bezeichnet Religion nicht mehr als Täuschung, sondern - ähnlich wie Feuerbach - als "Ideal", als die Realität transformierende -Formation. Gleichzeitig knüpft er nicht an die implizite Geschichtsphilosophie des "Gattungsbewußtseins" von Feuerbach und Marx an, sondern versteht unter Idealen Produkte der Gesellschaft: "Gesellschaft ist die Natur, aber die auf dem höchsten Punkt ihrer Entwicklung angelangte Natur, die alle ihre Energien aufbietet, um gewissermaßen über sich selbst hinauszuwachsen" (Durkheim 1976, S. 157). Gesellschaft2 gilt ihm - anders als den Autoren der Frühaufklärung - als kulturproduzierende, "höherwertige" Natur. Gleichzeitig behält er den sachlichen Blick des Empirizismus bei, für den "Ideale" einzig zu dem Zweck behandelt werden, um sie "zum Gegenstand der Wissenschaft zu machen" (ebd., S. 156). Die Der Begriff der "Gesellschaft" wird erstmals von Paine (1776) verwendet, und im frühen 19. Jahrhundert von Hegel und Marx in seiner Differenz zum Begriff des "Staates" systematisch entfaltet. 11 religionssoziologischen Studien Durkheims und die ähnlich motivierten Untersuchungen Webers können so als erste großangelegte, empirische wissenssoziologische Projekte betrachtet werden. Der dritte Diskurs der Wissenssoziologie fällt in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts als der Terminus "Wissenssoziologie" zum ersten Mal geprägt wird. Das Thema dieses Diskurses ist schwer zu umreißen, da die gesellschaftliche Situation selbst, auf die er reagiert, durch einen in seiner Entwicklung offenen Umbruch und eine Zersplitterung der Gesellschaft gekennzeichnet ist. In dieser Situation wächst die Wissenssoziologie mit ihren Aufgaben, sie versucht Strukturen des Umbruchs zu erkennen. Strukturen werden dabei einerseits in der Klassengebundenheit des Wissens ausgemacht, andrerseits in der Zeitstruktur des Wissens. Die Klassenauseinandersetzungen und die starken Ungleichzeitigkeiten zwischen "modernen" und "traditionalen" Teilen der Gesellschaft, die in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts Europa zerrissen und sich in zwei Weltkriegen entluden, wurden so zum Gegenstand der Wissenssoziologie.3 Halbwachs ist ein Vertreter dieses neuen Diskurses über "Zeit" und die Zersplitterung der Gesellschaft. Halbwachs, ein Schüler von Bergson und Durkheim, überträgt den von Bergson ausgearbeiteten Gegensatz zwischen dem gegenwartsgebundenen, handlungsorientierten, emotionalen elan vital und der wissenschaftlich abstrakten Rationalität, die Realität in Kausalitäten des Vorher und Nachher zerlegt, auf die Analyse von Wissenssystemen. Er unterscheidet dabei die offizielle, wissenschaftlich rationale "Geschichte" vom kollektiven Gedächtnis der Akteure, die in Ereignissen handeln und erst später rationalisieren.4 "Geschichte" ist ihm dabei nicht nur eine Polyphonie von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern auch ein Auseinandersetzungsfeld zwischen neuen Klassen, die bisheriges für veraltet halten, und alten Klassen, die eine Unerfahrenheit der neuen Klassen konstatieren. Kämpfende Wertordnungen stehen sich so in der Gesellschaft gegenüber. Ein ähnlicher Diskurs läßt sich bei Karl Mannheim finden. Er versucht, in seinem Generationskonzept abstrakte Zeit in eine erlebte Zeitstruktur der "Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigen" aufzulösen. Auch er beschäftigt sich also mit dem Thema der analytischen Dekomposition von Zeit. Bekannt wird Mannheim allerdings vor allem durch seine Analyse der Standortgebundenheit allen Denkens. Im Begriff der "totalen Ideologie" behauptet er, daß jegliches Wissen historisch gebunden und im sozialen Raum verankert ist. In der Wissenssoziologie soll deshalb der Zusammenhang zwischen Wissen und sozialem 3 4 Solange ahistorische Setzungen ("Einbildung" versus Natur) oder die mechanische, selbstsichere Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts zur Zeitdeutung ausreichen, war "Zeit" noch kein eigenständiger Gegenstand der Wissenssoziologie. Dies ändert sich mit dem dritten Diskurs, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als jeweils sehr verschiedene Wissenssysteme analysiert. Die Unterscheidung erwies sich als empirisch sehr fruchtbar und liefert einen der konzeptuellen Referenzrahmen der oral history (Niethammer 1980). Raum sowie der historischen Eingebundenheit des Wissenden untersucht werden. In seiner Studie zu Ideologie und Utopie arbeitet er heraus, daß herrschende Klassen Ideologien bevorzugen, also Wissen, das behauptet, Sachverhältnisse wären noch so, wie sie einmal waren (z.B. die Feudalallüren des deutschen Bürgertums im Kaiserreich). Aufsteigende Klassen zeigen dagegen eine Affinität zu Utopien, zu seinstranszendenten, zukunftsorientierten Wissenssystemen. Pragmatisch legt sich Mannheim in seinem Konzept nicht auf eine theoretische Ideologiekritik oder Utopiebejahung vom Schreibtisch des Intellektuellen aus fest, sondern er verweist auf die jeweilige soziale Realität als Unterscheidungskriterium von Ideologie und Utopie: eine Differenz von veralteter Form und jetzigem Inhalt zeigt Ideologien an, eine Einlösung von Utopien in der Realität der Zukunft macht sie zu echten Utopien. Auf ganz andere Art werden die Überlegungen von Feuerbach und Marx in der Diskussion der 60er und 70er Jahre wieder aufgenommen. In diesem vierten Diskurs der Wissenssoziologie steht nicht mehr die Realitätsabhängigkeit des Wissens im Vordergrund, sondern die Konstruktion von Realität durch Wissen. Der Vergegenständlichungsprozeß von Religion und Wirtschaft, den Feuerbach und Marx eher gegenstandsbezogen behaupteten, wird nun verallgemeinert auf alle Wissensformen einer Gesellschaft, und er wird als kontinuierlich sich vollziehender Prozeß studiert. Thema ist dabei das Verhältnis von der geteilten Welt des Alltags, die als a priori der Wissenschaft gilt, zu den Objektivationen der Gesellschaft. Berger/Luckmann fassen "Alltag" in der Tradition von Schütz als eine "Dauer" mit spezifischen Regeln der Reproduktion von Wissen auf. Realität konstituiert sich immer wieder neu über Prozesse der intersubjektiven Interaktion. Je entfernter ein Geschehen und je mehr Personen beteiligt sind, desto anonymer verlaufen Typisierungen und Konstitutionsprozesse. Die Komplexität einer Gesellschaft wird fragwürdig. Im Gegensatz zu der erlebten Lebenswelt des Alltags stehen gesellschaftliche Institutionen als vergegenständlichte Realität. Institutionelles Wissen wird - in "Rollen" zugeschnitten - für Individuen verbindlich, über Sozialisationsprozesse wird den Individuen dieses Wissen angeeignet. Diese Präformierungen und Spezialisierungen sind wichtig für das Funktionieren einer modernen arbeitsteiligen Gesellschaft. Für die Wissenssoziologie von besonderem Interesse ist dabei die Frage, wie Wissen in einer Gesellschaft verteilt ist, also beispielsweise die Relation zwischen Laien- und Expertenwissen. Während Institutionen den vergegenständlichten Teil gesellschaftlicher Realität darstellen, wird in "Legitimationen" wissensmäßig die prozedierende Realitätsstützung und Veränderung von Institutionen ausgehandelt. Kontraste in der Erfahrung, wie die Wahrnehmung von ähnlichen, aber anders strukturierten Institutionen in verschiedenen Ländern, erschüttern den Glauben in die Vorgegebenheit von Institutionen. Da in modernen Gesellschaften in vielen Bereichen pluralistische Modelle vorherrschen, bleiben auch Rollenkonstrukte nicht eindeutig, sie werden in Sinnkonstruktionen individuell kombiniert. 12 13 Als Oevermann 1973 sein Konzept der "Deutungsmuster" entwickelt, kann er auf vielfältigen wissenssoziologischen Traditionen aufbauen: Der Frage nach Täuschung und Realität, wie sie in den Idolen- und Ideologielehren der frühbürgerlichen Denker entwickelt wurde; Fragen nach dem geschichtlichen und gesellschaftlichen Produktcharakter von Wissensformen und deren uneingelösten Versprechungen, wie sie Feuerbach und Marx stellten; Konzepte über die Klassen- und Zeitgebundenheit von Wissen, wie sie Halbwachs und Mannheim diskutiert haben; und die grundsätzliche Frage nach der Konstruktion und Veränderung von gesellschaftlicher Realität und Wissen, wie sie Berger/Luckmann in den Vordergrund gerückt haben. 2. Entstehung und Entwicklung des Deutungsmusteransatzes Das Konzept des sozialen Deutungsmusters läßt sich begreifen als ein spezifisch deutscher Beitrag zu der die Soziologie immer wieder aufs Neue beschäftigenden, in dem letzten Jahrzehnt besonders virulent gewordenen Debatte über das Verhältnis von Handlung und Struktur, Mikro und Makro, subjektiver Intentionalität und objektivem Sinngehalt usw. - die Liste der Begriffe, mit denen der Diskussionshorizont aufgespannt wird, ist damit noch nicht erschöpft5. Der Terminus 'Deutungsmuster' wurde bekanntlich durch ein Papier von Ulrich Oevermann 1973 in die deutsche soziologische Diskussion eingeführt. Selten wohl hat ein - bis heute - unveröffentliches Manuskript, eine Projektskizze, eine vergleichbare Wirkung erzielt: Eine Vielzahl empirischer Deutungsmusteranalysen ist in der Folge entstanden; der vorliegende Band fügt weitere hinzu. Nicht alle, die mit dem Konzept Deutungsmuster als heuristischer Kategorie arbeiten, sind in gleicher Weise den ursprünglichen, von Oevermann formulierten Intentionen und methodischen Perspektiven verpflichtet6; auch davon legt der vorliegende Band Zeugnis ab. Gleich- 6 Einen guten Überblick über die in dieser Diskussion vertretenen Positionen gibt eine von Knorr-Cetina und Cicourel (1981) herausgegebene Sammlung von Aufsätzen, in der von Giddens bis Luhmann, von Bourdieu bis Habcmias die "Meinungsführer" und "Lagerhäuptlinge" ihre unterschiedlichen Positionen begründen. Wie Lüders (1991) zu Recht bemerkt, gibt es weder die theoretische Leitfigur (wie sie z.B. Bourdieu für die Kategorie des Habitus darstellt) noch einen konsistenten Diskurs innerhalb der Gemeinde der Deutungsmusteranalytiker. Arnold (1983, S. 899ff.) unterscheidet drei "metatheoretische Richtungen": 1. wissenssoziologisch-hermeneutische Positionen, 2. Ansätze im Rahmen einer Bestimmung von Arbeiterbewußtsein, 3. objektive Hermeneutik. Diese Klassifizierung vermittelt einen Eindruck von der Vielfalt der analytischen Orientierungen, die Deutungsmusteranalysen zugrundeliegen, darf aber nicht so verstanden werden, als stünden die einzelnen Richtungen in einem Verhältnis wechselseitiger Exklusivität zueinander. Die Dortmunder Analysen zu Lebensstil und Deutungsmuster von Stahlarbeitern etwa (vgl. Matthiesen in diesem Band) betreiben sowohl objektiv-hermeneutisch inspirierte Fallrckonstrukb'onen als auch stmktuiphänomenologische Kontextbcschreibungen (vgl. Matthiesen 1989). wohl wollen wir zunächst kurz die Ausgangslage rekapitulieren, nicht allein aus Gründen "wissenschaftshistorischer" Exaktheit, sondern weil die meisten und von den meisten Verwendern des Konzepts geteilten "essentials" der Deutungsmusteranalyse bereits in dem frühen Papier von Oevermann formuliert sind und weil hier zugleich zentrale Probleme des Konzepts sichtbar werden, die bis heute nicht als gelöst gelten können. Mit seinen Überlegungen "zur Analyse der Struktur von sozialen Deutungsmustern" versucht Oevermann (1973), dem ideologiekritischen, aufklärerischen Impetus der Frankfurter Schule eine angemessene empirische Forschungsperspektive zu verschaffen. Deutungsmusteranalyse ist für ihn immer auch Ideologiekritik, allerdings eine, die "nicht nach dem Muster der rationalistischen oder neo-positivistischen Ideologiekritik" verfährt, sondern Deutungen und gesellschaftliche Verhältnisse miteinander konfrontiert (ebd., S. 15). Das Unterfangen der Deutungsmusteranalyse wird in der Erwartung begonnen, in the long run so etwas wie eine Hierarchie von Graden der Aufgeklärtheit von Deutungsmustern, verstanden als lebensweltliches Reflexionsniveau, empirisch rekonstruieren zu können (ebd., S. 26). Wiewohl sich nicht alle Analysen spezifischer, empirisch gegebener Deutungsmuster umstandslos dieser Intention zuschlagen lassen, läßt sich doch deutlich ein Fortwirken auch in rezenten Arbeiten konstatieren, am deutiichsten in ideengeschichtlichen Forschungen zu kulturell übermächtigen Deutungsmustern7. Die Projektskizze von Oevermann enthält eine Fülle von Anschlußmöglichkeiten empirischer, theoretischer und methodologischer Art, z.T. mehr angedeutet als ausformuliert. Beispielsweise lassen sich die Ausführungen zum methodischen Verfahren aus nunmehr knapp zwanzigjähriger Distanz als Vorankündigung der Rekonstruktionslogik der objektiven Hermeneutik lesen. Damit ist freilich nicht gesagt, daß die objektive Hermeneutik die zwingende methodologische Perspektive für Deutungsmusteranalysen darstellt. Die ungebrochene Relevanz des Oevermannschen Papiers gründet vor allem auf dem Versuch, eine Reihe von Strukturmerkmalen von Deutungsmustern zu formulieren, sowie darin, empirische Forschung und theoriesprachliche Begrifflichkeit eng miteinander zu verzahnen. Entscheidend für die Logik des Konzepts Deutungsmuster ist die doppelte Bestimmung als eigenständige Dimension (der Konstitution) von sozialer Realität, als "faits sociaux", die "den Handelnden objektiv gegenübertreten" (ebd., S. 11), und des funktionalen Bezugs auf objektive Handlungsprobleme. Deutungsmuster stellen eine kulturelle, kollektiv bzw. überindividuell (re-) produzierte Antwort auf objektive, Handlungsprobleme aufgebende gesellschaftliche Bedingungen dar. Die Struktur von Deutungsmustern kann folglich nur dann erfaßt werden, wenn die sozialen Strukturprobleme, auf die jene eine Antwort darstellen, in der Analyse berücksichtigt werden. Diese 7 Der Beitrag von Yvonne Schütze in diesem Band zum Deutungsmuster der Mutterliebe steht für diese Diagnose (vgl. auch ausführlicher Schütze 1986). In ähnlicher Weise sind die Arbeiten von Claudia Honegger (1989,1991) zur Codierung der Geschlechter zu verstehen. 14 15 Strukturprobleme lassen sich wiederum, gerade in ihren Konsequenzen für die Konstitution von Deutungsmustern, nur durch eine interpretative Rekonstruktion der (Ent-) Äußerungen der Handelnden erfassen. Für das Individuum sind Deutungsmuster zugleich Wahrnehmungs- und Interpretationsform der sozialen Welt, Schemata der Erfahrungsaufordnung und Horizont möglicher Erfahrungen sowie Mittel zur Bewältigung von Handlungsproblemen. Oevermann leuchtet diese grundlegende Strukturlogik von Deutungsmustern von mehreren Blickwinkeln her aus. Als erstes: von Mustern zu sprechen, macht nur Sinn, wenn es nicht um singuläre Interpretationen, sondern um sozial verfügbare Formen der Verdichtung, der Abstrahierung, der Verallgemeinerung von Deutungen geht. In dieser Hinsicht lassen sich Deutungsmuster bestimmen als '"ensemble1 von sozial kommunizierbaren Interpretationen der physikalischen und sozialen Umwelt" (ebd., S. 4), als "nach allgemeinen Konsistenzregeln strukturierte Argumentationszusammenhänge" (ebd., S. 3). Der Verweis auf Konsistenzregeln führt in den Kern des Deutungsmusterkonzepts. Oevermann adaptiert das aus der Sprechakttheorie bekannte, auf Wittgenstein zurückgehende Konzept des regelgeleiteten Handelns. Demzufolge besitzen die Handelnden ein implizites Regelwissen, ein praktisches, aber nicht diskursiv verfügbares Bewußtsein von den handlungsleitenden Regeln. Dies befähigt sie, sowohl der Regel gemäß zu handeln als auch Urteile über die Angemessenheit von Handlungen zu produzieren, ohne daß sie zur Regelexplikation in der Lage sind noch daß sie dazu genötigt wären (ebd., S. 6). Der Deutungsmusteranalyse wird die Aufgabe gestellt, dieses implizite Regel wissen zu rekonstruieren. Ausgangspunkt sind notwendig die mentalen Repräsentationen. Wo anders als in singulären Deutungen wäre die Datenbasis zu suchen (ebd., S. 11)? Die Eigenschaft der Implizitheit bedingt jedoch, daß eine empirische Forschung in der üblichen Form der Variablensoziologie, d.h. in Gestalt der nachträglichen korrelativen Verknüpfung isoliert erhobener Einstellungen keine angemessene methodische Perspektive bietet. Oevermanns Lösung des Problems der empirischen Rekonstruktion latenter Strukturen ist bekannt: der "genetische Strukturalismus" der objektiven Hermeneutik (vgl. Oevermann u.a. 1979; Oevermann 1985, 1991), deren "Kunstlehre" ja gerade darin besteht, bei der Produktion wie bei der begründeten Ausscheidung von Lesarten von dem alltagspraktisch verfugbaren impliziten Regelwissen ausführlich Gebrauch zu machen. Die objektive Hermeneutik ist in dem Deutungsmusterpapier noch nicht entfaltet, das Papier läßt sich aber als eine wichtige Vorarbeit lesen. Der Devise 'Erklärung von Handeln = Rekonstruktion der handlungsleitenden Regel1 liegt ein Regelbegriff zugrunde, den Oevermann in kritisch-modifizierender Anlehnung an Chomskys generative Transformationsgrammatik einführt: 1. "Regeln ... haben einen generativen Charakter"; 2. "Generative Regeln konstituieren den intersubjektiv verstehbaren Sinn einer Handlung" (Oevermann 1973, S. 8). Die Eigenschaften der Universalität und der prinzipiellen reflexiven Enthobenheit, die Chomsky - ob zu recht oder nicht, sei dahingestellt - grammatischen Regeln zu16 schreibt, haben bei der Anwendung des Konzepts der generativen Regel auf soziale Deutungsmuster freilich keinen Bestand. Obwohl alles andere als flüchtig und durchaus nicht beliebig anwendbar und trotz der meist nur praktischen Verfügbarkeit über soziale Regeln, muß die Deutungsmusteranalyse in Rechnung stellen, "daß soziale Normen Reflexion sowohl ermöglichen als auch durch Reflexion verändert werden können" (ebd., S. 8). Insofern lassen sich soziale Deutungsmuster bestimmen als "Weltinterpretationen mit generativem Status ..., die prinzipiell entwicklungsoffen sind" (ebd., S. 9). Und die soziologische Aufgabe der Rekonstruktion der Konstitutionslogik von Deutungsmustern wird gelöst durch die Identifizierung des, einem Deutungsmuster jeweils zugrundeliegenden, generativen Prinzips, der jeweiligen Konsistenzregeln. Das erscheint - so formuliert - klar und deutlich. Aber genau hier liegen die größten Schwierigkeiten, die das Deutungsmusterkonzept der empirischen Forschung bereitet. Was den generativen Status von Deutungsmustern ausmacht, wie die generative Strukturlogik empirisch faßbar ist, hat noch keine Deutungsmusteranalyse befriedigend aufzeigen können8. Dieser "Mangel" verweist auf das grundlegende konzeptionelle Problem des Deutungsmusteransatzes: die Verortung an der Schnittstelle von konstitutiven und regulativen Regeln. In gewisser Weise sollen Deutungsmuster beiden Sphären zugehören. Ähnlich wie grammatischen Regeln wird ihnen eine tiefenstrukturelle, praxisgenerierende Kraft zugeschrieben. Dies ist jedoch nicht in einem formalistischen Sinne zu verstehen; denn Deutungsmuster sind mehr als nur formale, universale Mechanismen der Konstitution von Handlungspraxis, sie lassen sich inhaltlich bestimmen und in ihrer Geltung raum-zeitlich, also historisch, kulturell und subkulturell begrenzen. Andererseits ist ihre Reichweite größer als die einzelner sozialer Normen, und ihre Persistenz ist nicht unerheblich. Zieht man die von Cicourel (1973, 1975) ebenfalls in kritischer Auseinandersetzung mit Chomsky getroffene Unterscheidung von generativen BaDies ist auch in konzeptionellen Schwierigkeiten des stnikturalistischen Strukturhegriffs begründet, an den Oevermann anknüpft. Ein grundsätzliches Problem dieses Strukturbegriffs ist die unzureichende Integration der Zeitdimension. Zeitlicher Wandel wird entweder als oberflächliches Phänomen angesehen, das die zeitliche Invarianz der Struktur unbeeinflußt läßt, womit Struktur zur Zeitausklammerung hin aufgelöst wird - diesen Weg wählt tendenziell Bourdieu (s.u.). Oder die Strukturvorstellung wird mit in geschichtsphilosophischer Art konzipierten invarianten Entwicklungsstufen verknüpft - so vom Ansatz her Piaget. Bei beiden Lösungsversuchen ist "Zeit" nur ein Epiphänomen der Struktur. Eine gelungenere Integration der Zeitdimension in den Strukturbegriff scheint in einem neueren Ansatz von Luhmann vorzuliegen, für den eine Strukturbildung den Zerfall von umstrukturierter Komplexität ins Unzusammenhängende benutzt, um daraus Ordnung aufzubauen (Luhmann 1987, S. 383). Mit diesem zuerst paradox anmutenden Strukturbegriff, bei dem das Dauernde, die Struktur, konzeptionell mit dem kontinuierlichen Strukturzerfall in Zusammenhang gebracht wird, gelingt es Luhmann - im Gegensatz zum Strukturalismus - die Zeitdimension systematisch in den Strukturbegriff zu integrieren. Strukturen werden nach Luhmann immer über Erwartungsstrukturen gebildet. Er kann so folgern: "Strukturen gibt es nur als jeweils gegenwärtige; sie durchgreifen die Zeit nur im Zeithorizont der Gegenwart, die gegenwärtige Zukunft mit der gegenwärtigen Vergangenheit integrierend" (ebd., S. 399). 17 r sisregeln und spezifische soziale Normen bezeichnenden Oberflächenregeln - eine andere "Schreibweise" für konstitutive und regulative Regeln - heran, so wären Deutungsmuster 'irgendwo' dazwischen aufzuspüren9. Nur: Wo dieses Irgendwo genau liegt, worin der Unterschied zwischen der Generativität von grammatischen Regeln oder von Reziprozitätsidealisierungen und derjenigen von Deutungsmustern besteht, läßt sich auf der Basis vorliegender Deutungsmusteranalysen nicht angeben. In diesem Zusammenhang ist zu notieren, daß Oevermann in einer aktuellen Arbeit zur Dialektik von Determination und Emergenz zwar weiterhin mit einem doppelten Regelbegriff operiert10, das Konzept des Deutungsmuster aber nicht mehr verwendet. Damit wird nicht behauptet, daß uns Deutungsmusteranalysen nichts mitzuteilen wüßten über die interne Logik des jeweils untersuchten Musters. Entfaltet werden in der Regel die Argumentationslogik, die "nur teilweise explizierten Standards der Geltung sozialer Deutungen" (Oevermann 1973, S. 12) sowie der Problemhintergrund eines Deutungsmusters, nicht aber die Bedingungen, unter denen ein Deutungsmuster eine bestimmte und nur diese Praxis "generiert". Die empirische Forschung wird durch dieses Problem nicht behindert, es spielt in der Forschung, die Fragen unterhalb der Ebene grundlagentheoretischer Problemstellungen behandelt, kaum eine Rolle (vgl. Lüders 1991, S. 382f.). Die Forschung befaßt sich mit den auch von Oevermann aufgeworfenen Problemen der sowohl diachronisch als auch synchronisch zu bestimmenden Reichweite von Deutungsmustern, der Resistenz von Deutungsmustern gegenüber Veränderungen des ursprünglichen Problemhintergrunds, mit den Bedingungen des Wandels von Deutungsmustern. Gegenstand ist jeweils ein spezifisches Deutungsmuster, und es ist eine offene Frage, inwieweit eine vergleichende Analyse eine "Deutungsmustertheorie" voranzubringen im Stande wäre. Versuche, eine solche Theorie zu entwickeln oder doch zumindest Vorarbeiten dazu zu leisten, hat es in der durch Oevermann angestoßenen Forschung durchaus einige gegeben. Aus den Arbeiten, in denen auf das Konzept des Deutungsmusters nicht nur als - in seinem begrifflichen Status nicht weiter explizierte - heuristische Ressource zur Erklärung bestimmter Ereignisse, Handlungsverläufe usw. Bezug genommen wird, sondern in denen das Konzept auch Topos theoretischen Bemühens ist, lassen sich trotz der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Positionen11 gewisse Gemeinsamkeiten in der Begriffsverwendung bzw. "essentials" des Deutungsmusteransatzes feststellen (vgl. Allen 1976; Arnold 1983; Dewe 1982; 1984; Dewe/Ferchhoff 1984; Matthes-Nagel 1982; Neuendorff/Sabel 1978; 9 10 18 Auf das Konzept der Basisregeln werden wir unten ausführlicher eingehen. Der doppelte Regelbegriff umfaßt einerseits in ihrem materialen Gehalt nicht kritisierbare universelle Regeln, "die ausschließlich als formaler Algorithmus der strukturellen Wohlgeformtheit von Handlungen und Äußerungen anzusehen sind" (Oevermann 1991, S. 284f.), andererseits Regeln im Sinne historisch-gesellschaftlich spezifizierter und mithin kritisierbarer Nonnen, Vgl. hierzu Fußnote 6. Oevermann 1973; Thomssen 1980). Sie sind im folgenden summarisch-kondensiert, unter Verzicht, die Referenzen jeweils im einzelnen zu nennen, aufgelistet: Deutungsmuster stehen in einem funktionalen Bezug zu objektiven Handlungsproblemen. Deutungsmuster sind kollektive Sinngehalte; habituell verfestigte subjektive Deutungen konstituieren noch kein Deutungsmuster. Deutungsmuster haben normative Geltungskraft. Der Geltungsbereich eines Deutungsmusters variiert zwischen der Gesamtgesellschaft und einzelnen sozialen Gruppen. Deutungsmuster sind intern konsistent strukturiert, was durch allgemeine generative Regeln verbürgt wird. Deutungsmuster sind - verglichen mit singulären Deutungen, Einstellungen, Meinungen - auf einer latenten, tiefenstrukturellen Ebene angesiedelt und mithin nur begrenzt reflexiv verfügbar. Deutungsmuster haben den Status "relativer Autonomie". Trotz des funktionalen Bezugs auf objektive Handlungsprobleme sind sie hinsichtlich der Konstruktionsprinzipien und Gültigkeitskriterien autonom und konstituieren so eine eigene Dimension sozialer Wirklichkeit. Das erklärt die beträchtliche Stabilität von Deutungsmustern, die allerdings prinzipiell als entwicklungsoffen zu konzipieren sind. Wiewohl diese "essentials" so etwas wie den Grundkonsens der Deutungsmusteranalytikerlnnen darstellen mögen, gibt es hinsichtlich einiger Punkte mehr offene Fragen als gesichertes Wissen. Was hat es z.B. mit der behaupteten internen Konsistenz von Deutungsmustern auf sich? Wie lassen sich die Bruchstellen definieren und identifizieren, an denen sich die Konsistenz aufzulösen beginnt? Schütze zeigt in ihrem Beitrag sehr deutlich, wie das Deutungsmuster der Mutterliebe trotz wechselnder Inhalte bestehen bleibt, weil es von der immer gleichen inneren Logik der Affektregulierung getragen wird. Die Diagnose von Konsistenz oder Bruch ist sichtbar eine Frage des angelegten Blickwinkels. Soviel dürfte Konsens sein: Sich nur vom Vergleich der (manifesten) Inhalte leiten zu lassen, greift im Rahmen des Deutungsmusteransatzes zu kurz. Andererseits ist nicht 'ex cathedra' zu dekretieren, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um Konsistenz festzustellen. Es entspricht der Methodologie des Deutungsmusteransatzes, daß eine solche Frage nur in Form einer empirischen Rekonstruktion der Geltung von Deutungsmustern zu beantworten ist. In diesem Sinne wäre es fatal, die angeführten essentials nominalistisch mißzuverstehen. Sie sind zu betrachten als nicht mehr, aber auch als nicht weniger denn "sensitizing concepts"; sie geben der Forschung eine Orientierung, indem sie auf zentrale Problemstellen des Deutungsmusterkonzepts hinweisen. Latenz als eine Eigenschaft von Deutungsmustern bspw. formuliert ein Abgrenzungskriterium gegenüber singulären Deutungen in Gestalt von Meinungen und Einstellungen. Wie 19 stark die Latenz ausgeprägt und damit die reflexive Verfügbarkeit verstellt ist, ist eine empirisch offene Frage - und dies bei jeder Deutungsmusteranalyse aufs Neue12. Um den Untiefen subsumtionslogischen Klassifizierens zu entgehen, ist es notwendig, empirisch offen zu halten, ob es nicht verschiedene Niveaus der psychischen Repräsentation objektiver Strukturen, d.h. von Latenz gibt - so ein Vorschlag, den Bohnsack (1991, S. 87ff.) in einer Diskussion der objektiven Hermeneutik macht. Eine vergleichende Lektüre der in diesem Band versammelten Arbeiten läßt die Triftigkeit dieser These evident werden. Das Deutungsmuster "Generation" als eingeschliffene kulturelle Selbstverständlichkeit ist der lebensweltlichen reflexiven Verfügbarkeit stärker entzogen als dasjenige des Krisenmanagements der professionellen Selbstreflexion von Sozialarbeiterinnen. Auch scheinen auf dem Hintergrund tradierter und selbstverständlicher Deutungsmuster und aus diesen heraus sich entwickelnde neue Deutungsmuster weit manifester zu sein als die dominanten alten. Die Emergenz neuer Deutungsmuster geschieht in Reaktion auf Umbruch- und Krisensituationen, in denen die Reproduktion des Selbstverständlichen zunehmend weniger Handlungssicherheit und -erfolg gewährleistet. Die in solchen Situationen notwendig erhöhte lebensweltliche Reflexivität sorgt für zumindest zeitweise Manifestheit von Deutungsmustern. Im Zuge der Routinisierung mag jene wieder in Latenz 'absinken'. Für eine synchronisch ansetzende Deutungsmusteranalyse stellen Umbruch- und Krisensituationen ideale Forschungsgelegenheiten dar. Denn mit der Herausbildung des Neuen geht eine von dessen 'Protagonisten' geführte Auseinandersetzung mit dem Alten einher, aus 12 Dies ist auch in Problemen des Begriffs "Latenz" begründet. "Latenz", als Konzept aus der Psychoanalyse übernommen, ist in der Soziologie kein eindeutiger Begriff. In ihm sind Aussagen über psychische Strukturen (nichtbewußt vs. bewußt) mit Aussagen ober kommunikative Strukturen vermengt; wobei das Zentrale am strukturalistischen Latenzbegriff ist, daß er nicht nur nichtbewußte Inhalte bezeichnet, die nur dem beobachtenden Soziologen zugänglich sind, sondern gleichzeitig behauptet, daß diese latenten Bereiche - in den Worten Oevermanns - einen "generativen Status" haben. D.h. die latenten Bereiche sind nichtbewußt und ursächlich für die Produktion manifester Inhalte. Problematisch daran ist, daß der Soziologe in den meisten Bereichen nicht der Einzige ist, der über Kenntnisse von angeblich latenten Bereichen verfügt, sondern, daß er meist auf in der Öffentlichkeit geführte Diskussionen zurückgreifen kann. Bewußtsein und Öffentlichkeit von Strukturen liegen also schon in einem bestimmten Umfang im "Gegenstand", in der Gesellschaft vor. Der Unterschied zwischen dem Soziologen und dem Gegenstand ist also kein qualitativer ("Licht im Dunkel", "Wissender unter Nichtwissenden"), demzufolge nur der Soziologe Zugang zum gesellschaftlichen Unterbewußtsein haben soll, sondern nur ein quantitativer, bei dem vom Soziologen das Wissenspotential einer Gesellschaft oder eines Einzelnen gebündelt, weitergeführt und vielleicht neue, bisher nicht bewußte Strukturierungen gefunden und benannt werden. Ob man für diese Tätigkeit den weitreichenden Anspruch der Unterscheidung von manifesten Inhalten und latenten Strukturen bemühen sollte, erscheint uns zweifelhaft (vgl. Luhmanns Bemerkungen zur Latenz, 1987, S. 456-470). Wir schlagen deshalb forschungspraktisch einen Latenzbegriff vor, der nicht unbefragt von einem Abhängigkeitsverhältnis der manifesten von latenten Inhalten ausgeht. Latenz bedeutet hier nur in unterschiedlich starkem Umfang nichtbewußtes Wissen. dem heraus das Neue transformatorisch sich entwickeln muß. 3. Zwischen Determination und Emergenz - Verwandte Ansätze Mit dem Deutungsmusteransatz wird der Versuch gemacht, einen Ausweg aus der für die soziologische Forschung und Theoriebildung fatalen, weil falschen Alternative von Handlung und Struktur zu finden. Das verbreitete Denken in dieser bzw. in verwandten Dichotomien erzeugt inkompatible theoretische Schulen und Forschungsperspektiven und den bekannten wie beklagten "gap" zwischen Mikround Makrosoziologie, wobei im Sinne einer schlechten Arbeitsteilung der Mikrosoziologie gewöhnlich die Zuständigkeit für "Emergenz", der Makrosoziologie diejenige für "Determination" überantwortet wird. Wie beides zusammenkommen soll, ist dann Gegenstand vielfältiger "Vermittlungsbemühungen". Einer derartigen Lösung der nachträglichen Vereinigung zunächst getrennt analysierter Sphären verweigert sich das Konzept des Deutungsmusters auf das Entschiedendste. Nicht die Theorie hat Getrenntes zu vermitteln, sondern in der empirischen Forschung ist die handlungspraktisch immer schon vollzogene Einheit von Handlung und Struktur interpretativ zu rekonstruieren. Deutungsmusteranalysen lassen - jedenfalls dem Anspruch nach - die gängigen Dichotomien als obsolet erscheinen. Mit dem Deutungsmusterkonzept wird die lebenspraktisch vollzogene Einheit der scheinbaren, wissenschaftlich "hergerichteten" Antipoden rekonstruierbar: als strukturierte Handlung und nur darin sich manifestierende und reproduzierende Struktur, als Prozeßstruktur, als Aufweis von Kollektivität im Individuellen, von allgemeinen Strukturen in den Besonderheiten des Einzelfalls (vgl. Matthiesen 1989, S. 236). Methodisch stehen der Deutungsmusteranalyse hierfür durchaus verschiedene Wege offen. Entscheidend ist, daß die Lebens- bzw. Deutungspraxis den Bezugspunkt bildet und daß in deren Rekonstruktion die bezeichnete Einheit mitsamt ihren je individuellen, fallspezifischen Brechungen aufgewiesen wird - als Homologie im Sinne Karl Mannheims, d.h. als das "Ineinandersein Verschiedener sowie das Vorhandensein eines einzigen in der Verschiedenheit" (Mannheim 1970, S. 121). Das Deutungsmusterkonzept ist nicht der einzige Versuch, der falschen Dichotomisierung von Handlung und Struktur, Mikro und Makro usw. zu entgehen. In diesem Abschnitt wollen wir einige Konzeptionen diskutieren, die einen ähnlichen Anspruch erheben, um auf dieser Folie die Besonderheiten des Deutungsmusteransatzes schärfer fassen zu können. In seiner Konstruktionslogik dem Deutungsmusterkonzept in mancher Hinsicht ähnlich ist das von Bourdieu entwickelte Konzept des Habitus. Für Habitus wird wie für Deutunsmuster ein generativer Status reklamiert; das Habituskonzept kennt ebenfalls das Spannungsverhältnis von Determination und Emergenz, von objektiven, d.h. von subjektiven Intentionen unabhängigen Strukturen und deren interaktiver Reproduktion; der "Hysteresiseffekt" des Habitus korrespondiert der These von 20 21 r der relativen Autonomie von Deutungsmustern. In einer frühen Arbeit bestimmt Bourdieu (1970, S. 143) den Habitus in expliziter Anlehnung an die generative Transformationsgrammatik "als ein System verinnerlichter Muster ..., die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen - und nur diese". Formulierungen wie diese haben Bourdieu die Kritik eingebracht, den Habitus deterministisch zu konzipieren - ein Vorwurf, gegen den Bourdieu sich immer wieder entschieden verwahrt hat (vgl. zuletzt Bourdieu 1989). Wie dem auch sei13 - es ist nicht unsere Absicht, diesen Disput hier fortzuführen anders als beim Deutungsmusterkonzept finden wir bei Bourdieu klare Zuordnungen. Wir erfahren, welches die Grundlage für einen Habitus ist: eine spezifische Soziallage, wobei Bourdieu vor allem das Verhältnis von Habitus und Klassenlage diskutiert (vgl. z.B. Bourdieu 1979, S. 164f.); daß einer Soziallage (Klasse) ein und nur ein Habitus eignet; worin sich der Habitus manifestiert: in distinkten Lebensstilen (vielfältig und materialreich analysiert in Bourdieu 1987); wo ein Habitus erworben wird: in der Primärsozialisation. Gegenüber dem Deutungsmusteransatz erscheint das Habituskonzept als eine weit entwickelte Theorie: Konstitutions- und Erwerbsbedingungen, Funktionen und Konsequenzen sind klar benannt. Wo das Deutungsmusterkonzept eher vage auf objektive Handlungsprobleme als auslösende Momente für die Bildung von Deutungsmustern verweist und die Identifizierung der Handlungsprobleme der empirischenn Rekonstruktion vorbehält, sind die einen Habitus konstituierenden Bedingungen unabhängig von empirischer Forschung angebbar: die als Klassenlagen konzipierten Soziallagen, d.h. "Kapitalkonfigurationen" (vgl. Bourdieu 1987, S. 332)14, deren Zahl begrenzt und bekannt ist. Solche klaren Relationen haben sicher den Vorteil, einen präzisen Rahmen für die empirische Forschung zu setzen. 13 14 Im "Entwurf einer Theorie der Praxis" findet sich nach einer Kriüc sowohl jener Theorien, die die Praxis zu einer "unmittelbar determinierten Reaktionsform stempeln", als auch von voluntaristischen Konzeptionen folgender Passus, in dem Aspekte von Emergenz stärker zum Ausdruck kommen: "Gegenüber einer in ihrer punktuellen Unmittelbarkeit betrachteten Situation ist die Praxis notwendig und relativ-autonom in einem, insoweit sie das Produkt der dialektischen Beziehung zwischen einer Situation und einem als System dauerhafter und versetzbarer Dispositionen begriffenen Habitus darstellt, der, alle vergangenen Erfahrungen integrierend, wie eine Handlung!-, Wahrnehmung!- und Datenmatrix funktioniert und der dank der analogischen Übertragung von Schemata, die Probleme gleicher Form zu lösen gestatten, und dank der von jenen Resultaten selbst dialektisch geschaffenen Korrekturen der erhaltenen Resultate, es ermöglicht, unendlich differenzierte Aufgaben zu erfüllen" (Bourdieu 1979, S. 169). Hier ist natürlich der komplexe, verschiedene Kapitalsorten (ökonomisches, kulturelles, soziales, symbolisches Kapital) umfassende Kapitalbegriff von Bourdieu zu berücksichtigen. 22 Das hat jedoch seinen Preis, inhaltlich wie methodisch. Vorausgesetzt, das Habituskonzept sei ein angemessenes Modell zur Beschreibung der Verhältnisse von Struktur und Handlungspraxis, und weiterhin vorausgesetzt, für jede Soziallage ließe sich empirisch ein und nur ein Habitus identifizieren, ist damit schon bestimmt, wie die Fülle der alltäglichen Handlungsprobleme bewältigt wird? Anders gefragt: Vereinheitlicht das Habituskonzept, wo es möglicherweise Vielfalt zu entdecken gibt? Gibt es nicht auch Handlungsprobleme, die soziallagen- im Sinne von klassenlagenübergreifend sind, für die Deutungsmuster von gesamtkultureller Gültigkeit entwickelt werden müssen? Mutterliebe scheint uns ein solches Deutungsmuster zu sein. Freilich wäre zu fragen, welche möglichen soziallagenspezifische Brechungen dieses Deutungsmuster erfährt. Das könnte bedeuten, Habitus als ein organisierendes und strukturierendes Erzeugungs- und Klassifikationsprinzip (vgl. Bourdieu 1987, S. 277f.) auch für die Anwendung von Deutungsmustern zu verstehen. M.a.W. Habitus und Deutungsmuster müssen nicht notwendig als konkurrierende Konzepte begriffen werden. Über mögliche Verschränkungen von Habitusformen und Deutungsmustern ist freilich nicht in Form einer theoretischen Modellkonstruktion zu entscheiden, sondern auf der Basis empirischer Forschung. Im methodischen Zugriff sind wohl die größten Differenzen zwischen den beiden Konzepten zu sehen. Dasjenige des Habitus impliziert, "daß die 'interpersonalen' Beziehungen niemals, es sei denn zum Schein, Beziehungen eines Individuums zu einem anderen Individuum sind, und daß die Wahrheit der Interaktion nie gänzlich in dieser selbst gründet" (Bourdieu 1979, S. 181). Bourdieu nimmt nun diese auch dem Deutungsmusteransatz nicht fremde These zum Anlaß, die methodologischen Positionen des Symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie zu verwerfen - in grober Fehlinterpretation interaktionistischer und ethnomethodologischer Forschung übrigens. Ethnomethodologisch basierte oder inspirierte Auswertungsverfahren (Konversationsanalyse, dokumentarische Methode der Interpretation15) sowie die objektive Hermeneutik haben aber gezeigt, daß man die "Wahrheit der Interaktion", gerade auch in ihren die konkrete Situation transzendierenden Aspekten empirisch allein durch eine Rekonstruktion der Interaktion in ihrer sequentiellen Aufordnung erfassen kann, wobei der methodische "Witz" darin besteht, mittels empirisch ermittelter oder gedankenexperimentell erzeugter Kontraststrukturen die in der Interaktion wirksamen kollektiven Sinngehalte oder latenten Strukturen zu identifizieren. Das Vorhandensein einer objektiven Struktur kann nur dann behauptet werden, wenn sie sich am jeweiligen Fall rekonstruieren läßt. Trotz aller Vorbehalte, die Bourdieu gegenüber der Validität der Instrumente der "Variablensoziologie" äußert, bedient er sich gerne und häufig der Resultate massenstatistischer Erhebungen, um seine Thesen zum Zusammenhang von Soziallage, Habitus und Lebensstil zu belegen (vgl. vor allem Bourdieu 1987). Empirische Forschung wird so zum Fundus, um die theoretischen Konstrukte zu il15 Vgl. hierzu den Beitrag von Bohnsack in diesem Band; ausführlicher Bohnsack 1991. 23 lustrieren und zu plausibilisieren. Auch wenn die statistischen Rohdaten durch gründliche und meist einleuchtende Milieubeobachtungen "angereichert" werden, es bleibt ein wesentlicher Unterschied der Methodologie, für den Matthiesen (1989) die treffende Formel gefunden hat: "Habituskonstruktion und Deutungsmusterrekonstruktion". Diese mehr als "feinen" Unterschiede im methodischen Zugriff haben Konsequenzen für die Konzeptualisierung des Gegenstandes. Bourdieu gelingt es mit dem Habituskonzept nicht, die prozeßhafte Strukturiertheit von Praxis zu erfassen. Er analysiert weniger Prozeßstrukturen als deren Resultate; seinem Strukturbegriff kommt die Dynamik tendenziell abhanden (vgl. Bohn 1991, S. 113). Konsequent sieht Bourdieu selbst dort keinen fundamentalen sozialen Wandel, wo nicht nur der alltägliche, sondern auch der soziologische common sense Wandel in paradigmatischer Form diagnostiziert: bei revolutionären Umbrüchen der Gesellschaft (vgl. Bourdieu 1983, S. 137). Eine wesentliche Kritik besonders deutscher Soziologen an Bourdieus Theorie lautet, daß sie der Vielfalt ausdifferenzierter Lebenslagen und sozialer Milieus in der modernen postindustriellen Gesellschaft nicht gerecht wird (vgl. Hradil 1989). Zweifel werden laut an der behaupteten Uniformität von Lebensstilen. In der Tat erscheint es fraglich, ob z.B. Prozesse der subtilen Umformung traditioneller Lebensstile ehemals proletarischer Milieus in durch industrielle Strukturumbrüche veränderten Lebenswelten, wie Matthiesen (in diesem Band) sie beschreibt, mit dem Habitus erfaßt werden können. M.a.W. das Habituskonzept läuft Gefahr, eine potentielle, empirisch zu rekonstruierende Vielfalt von Lebenswelten, sozialen Milieus und Lebensstilen schlichtweg zu übersehen, weil es weder begrifflich noch methodisch über genügend "Sensibilität" verfügt, um diese Vielfalt zu entdecken. In der handlungstheoretisch orientierten Soziologie sind einige Konzepte entwickelt worden, mit denen unterschiedliche Aspekte der handlungspraktischen (Re-) Produktion von sozialer Struktur thematisiert werden. Diese Konzepte stellen gewissermaßen eine Herausforderung an den Deutungsmusteransatz dar, die im Gegensatz zu Bourdieu stärker den Aspekt der Emergenz betont. Deutlich offen für die empirische Vielfalt sozialer Realität ist die von Goffman vorgelegte Rahmenanalyse. Obwohl Goffman keine konsistente Darstellung seines begrifflichen Instrumentariums vorlegt, man sich dieses vielmehr bruchstückhaft aus kurzen Bemerkungen in seinem umfangreichen Werk zusammensuchen und setzen muß, wollen wir uns kurz mit dem Spätwerk dieses "soziologischen Klassikers der zweiten Generation" (Hettlage/Lenz 1991) befassen, weil auch die Rahmenanalyse auf kollektiv verfügbare Muster der Organisation von Wahrnehmung und Handeln im Spannungsfeld von Determination und Emergenz zielt. Wie bei einem Soziologen, dessen Arbeiten zu einem großen Teil von den Anstrengungen des Individuums handeln, seine Integrität zu bewahren, nicht anders zu erwarten, stehen bei Goffman aktive Rahmungsleistungen des Handelnden in einer prinzipiell fragilen Realität im Vordergrund. Anders als nicht wenige Vertreter des Symbolischen Interaktionismus löst Goffman die Spannung von Determination und Emergenz nicht voluntaristisch auf. Die Funktion von Rahmen ist derjenigen von Deutungsmustern ähnlich. Rahmen organisieren das Handeln und dessen Wahrnehmung. Rahmen sind "nicht bloß eine Sache des Bewußtseins", d.h. nicht beliebig erzeugbar, sondern sie entsprechen "in gewissem Sinne der Organisationsweise einer Seite der Vorgänge selbst" (Goffman 1977, S. 274), so daß Goffman eine "Isomorphie behauptet zwischen der Wahrnehmung und der Organisation des Wahrgenommenen" (ebd., S. 36). Zwar ist soziale Realität den Handelnden nur als qua Rahmung gedeutete verfügbar, aber die Realität hat eine Existenz unabhängig von den Deutungen. Nur so macht es Sinn, von Fehlrahmungen zu sprechen, von denen ein großer Teil der Rahmenanalyse handelt. Es ist die Widerständigkeit einer objektiv gegebenen Realität, an der sich die Adäquanz oder Fehlerhaftigkeit von Rahmungen entscheidet. Eine entscheidende Eigenschaft von Rahmen, zumindest der primären, ist deren Latenz. Zwar verwendet Goffman diesen Begriff nicht, doch gehen seine Erläuterungen genau in diese Richtung. Dem Handelnden sind "die Organisationseigenschaften der Rahmen im allgemeinen nicht bewußt, und wenn man ihn fragt, kann er ihn auch nicht annähernd vollständig beschreiben, doch das hindert ihn nicht, daß er ihn mühelos und vollständig anwendet" (ebd., S. 31). Rahmen gehören mithin in den Bereich des "impliziten Wissens" (Polanyi), sind Teil des praktischen im Gegensatz zum diskursiven Bewußtseins (Giddens), lassen sich begreifen als Instrument der praktischen Methodologie des Alltagshandelns (Garfinkel). Zuordnungen wie diese liegen nahe. Goffman selbst verzichtet freilich darauf, seine Rahmenanalyse in den theoretischen Diskurs der Soziologie einzubinden mit Ausnahme einiger für ihn eher untypischer Bemerkungen in der Einleitung16. Sein Interesse ist bescheidener; er will - in eher deskriptiver als theoretischer Einstellung - einige der für die Organisation der US-amerikanischen Gesellschaft fundamentalen Rahmen herausarbeiten. Im vorliegenden Diskussionskontext erscheint uns - angesichts einer grosso modo dem Deutungsmusteransatz ähnlichen, wenn auch weniger ausgearbeiteten konzeptionellen Architektonik - die Idee der primären Rahmen interessant Primäre Rahmen sind fraglos gegebene Deutungsschemata und erzeugen als solche die Normalität des Alltagshandelns, indem sie außergewöhnliche Ereignisse auf ihre "natürlichen" Ursachen zurückführen (vgl. Hettlage 1991, S. 128f.). "Zusammengenommen bilden die primären Rahmen einer sozialen Gruppe einen Hauptbestandteil von deren Kultur" (Goffman 1977, S. 37). Ohne umstandslos Rahmen mit Deutungsmuster gleichzusetzen, für die Deutungsmusteranalyse stellt Dort behandelt er kurz das "Thomas-Theorem", James' und Schütz' Ausführungen über multiple Realitäten und Garfinkels Versuch, die konstitutiven Regeln des Alltagshandelns zu identifizieren. Gegen die damit verbundenen Ansprüche ist er skeptisch, was sich in der eher spöttischen Bemerkung dokumentiert, wenn Garfinkels Versuch Erfolg beschieden wäre, sei das das "Gelingen der soziologischen Alchemie - die Verwandlung jedes beliebigen Ausschnitts aus dem alltäglichen sozialen Leben in eine interessante Veröffentlichung" (Goffman 1973, S. 13f.). 24 25 r sich die Herausforderung, zentrale, für den Bestand einer Kultur oder Gesellschaft konsumtive Deutungsmuster zu rekonstruieren und zu klären, inwiefern gerade diese Deutungsmuster einen solchen fundierenden Status haben. Von Goffman läßt sich z.B. lernen, daß in diesem Kontext eine Analyse des "Geschlechtsrahmens" ansteht; virtuell ist dem Handelnden in jeder sozialen Interaktion die Aufgabe der Darstellung der eigenen und der Identifikation der fremden Geschlechtszugehörigkeit gestellt. Dabei folgen die Handelnden einem "Plan der Darstellung" (Goffman 1981, S.40). Welche Deurungsmuster diesen Plan bestimmen, wäre eine wichtige Fragestellung für die Deutungsmusteranalyse. Stärker als Goffman ist die Ethnomethodologie interessiert, eine der Idee der Prozeßstruktur angemessene Theoriesprache zu entwickeln. Entgegen verbreiteten Mißverständnissen, denen zufolge die Ethnomethodologie jegliche Strukturierung sozialen Handelns abstreitet und stattdessen soziale Interaktion nach dem Motto "anything goes" beschreibt, ist zu betonen, daß der primäre Gegenstand ethnomethodologischer Analyse die Produktion sozialer Ordnung ist. Diese wird als widerständige und moralische Ordnung begriffen (Livingston 1987, S.12f.). Der ethnomethodologische Begriff des Gesellschaftsmitglieds bezieht sich auf eine mit Rechten und Pflichten verknüpfte Mitgliedschaft in einer Kollektivität sowie auf den Besitz von Kompetenzen, die von einem erwachsenen Handelnden zu Recht intersubjektiv erwartet werden können (Zimmerman 1981, S. 7). Insofern als die Ethnomethodologie das Verhältnis von (situationaler) Handlung und (übersituationaler) Struktur als ein reflexives Konstitutionsverhältnis begreift, ergeben sich Bezüge zum Deutungsmusteransatz. In diesem Zusammenhang sind drei ethnomethodologische Konzepte von Interesse: Hintergrunderwartungen, dokumentarische Methode der Interpretation als Ethnomethode und Basisregeln. Insbesondere in den ethnomethodologischen Arbeiten zur Praxis von Instanzen sozialer Kontrolle wird mit den Begriffen "Alltagstheorien" und "Hintergrunderwartungen" operiert. Die Fragestellung lautet: Wie wird das Konzept der Devianz bzw. das Konzept einer bestimmten Form von Devianz wie Geisteskrankheit, Diebstahl, Mord usw. in bestimmten sozialen Kontexten verwandt? Welcher sozial geteilte Wissensbestand wird dabei systematisch und methodisch angewandt (Blum 1970, S. 37f.)? Der Focus liegt auf den methodischen Verfahren, mit deren Hilfe Kontrollinstanzen abweichendes Vehalten erkennen und erzeugen, mit denen sie ein bestimmtes Handeln als im Rahmen ihrer Tätigkeit relevantes bestimmen (Cicourel 1976, S. xiv). Nicht die an der Oberfläche des Handelns sichtbar werdenden praktischen Entscheidungen, die von Situation zu Situation wechselnden Definitionen konkreter Handlungen, interessieren die Ethnomethodologie, sondern die den Entscheidungen zugrundeliegenden latenten, den Handelnden meist reflexiv nicht verfügbaren Eigenschaften, ohne die ein systematisches und methodisches Vorgehen der Kontrollinstanzen nicht möglich wäre. Deutlicher als mit dem Begriff der Alltagstheorie wird mit dem vielfach synonym verwandten Begriff der Hintergrunderwartungen auf die Eigenschaft der Latenz verwiesen. Garfinkel führt diesen Begriff ein, um der "Variablensoziologie" 26 ein interpretatives Modell entgegenzusetzen, um die Konstitution von stabilen Eigenschaften des Alltagshandelns aus interpretativen Leistungen der Handelnden zu erklären. "The member of the society uses background expectancies äs a scheme of interpretation. With their use actual appearances are for him recognizable and intelligible äs the appearances-of-familiar-events. Demonstrably he is responsive to this background, while at the same time he is at a loss to teil us specifically of what the expectancies consist" (Garfinkel 1967, S. 36f.). In wissenssoziologischer Perspektive sind mit dem Konzept der Hintergrunderwartungen wesentliche Aspekte der internen Struktur und der Wirkungsweise von Deutungsmuster angesprochen. Was Wirkung und Inhalte von Deutungsmuster angeht, dürfte es lohnend sein, die ethnomethodologische Literatur zur Praxis von Instanzen sozialer Kontrolle zu rekapitulieren. Dort werden explizit die Muster thematisiert, die der institutionellen Verarbeitung von Fällen zugrunde liegen. Die dokumentarische Methode der Interpretation wird von der Ethnomethodologie als die alltagspraktische Methode verstanden, vermittels der die Handelnden singuläre Ereignisse homogenisieren (McHugh 1968, S. 35). Die Notwendigkeit der dokumentarischen Interpretation resultiert aus der unhintergehbaren Indexikalität alltagsweltlichen Handelns und alltagsweltlicher praktischer Erklärungen ("accounts"). Mit dem Begriff der Indexikalität thematisiert die Ethnomethodologie die Vermitteltheit von kontextgebundener Interpretation und sozialer bzw. gesellschaftlicher Strukturiertheit dieser Interpretation. Das Verfahren, welches die Handelnden verwenden, um indexikalische Ausdrücke und Handlungen zu verstehen, um Erscheinung und Muster zu verknüpfen, bezeichnet Garfinkel - ein von Karl Mannheim (1970, S. 120ff.) eingeführtes Konzept aufgreifend - als dokumentarische Methode der Interpretation: die "Erscheinung", die je spezifische Handlung wird als Dokument eines zugrundeliegenden Musters begriffen (Garfinkel 1973, S. 199). Das reflexive Konstitutionsverhältnis von Dokument und Muster läßt sich als alltagspraktische Realisierung einer abduktiven Logik (Peirce) begreifen. Als Muster kommt jede Form der Habitualisierung von Verhalten in Frage, sofern sie überindividuellen Charakter besitzt: typische Motive, Regeln, Normen, Traditionen, allgemein gültige Wissensbestände. Das Konzept der dokumentarischen Interpretation kann der Deutungsmusteranalyse Hinweise darauf liefern, wie sich die situationale Anwendung von Deutungsmustern gestaltet: wie Deutungsmuster Suchstrategien nach dokumentarischen Belegen generieren; wie singuläre Ereignisse "passend gemacht" werden, um zu einem konsistenten Handlungssinn zu gelangen; wie die Handelnden selbst im Rahmen eines gegebenen Deutungsmusters Submuster erzeugen, um das übergreifende Muster unter In-Rechnung-Stellen der situativen Besonderheiten gleichsam kleinzuarbeiten17. 17 Äußerst instruktiv ist hier ein Experiment von Garfinkel (1967, S. 79ff.), in dem den Versuchspersonen gesagt wurde, es ginge darum, für Fälle, in denen Menschen einen Rat für persönliche Probleme benötigen, neue Methoden der Psychotherapie zu erproben. Die Versuchs- 27 Eine Klärung hinsichtlich des generativen Status von Deutungsmustern verspricht die von Cicourel entwickelte Unterscheidung von Basisregeln und Oberflächenregeln. Anlaß zu dieser Unterscheidung ist die zentrale ethnomethodologische These, daß von einer Eins-zu-eins-Relation von sozialen Regeln und sozialen Situationen nicht die Rede sein kann, daß der Bezug von Situationen auf Regeln oder Normen vielmehr eine jeweils neu, ad hoc zu erbringende interpretative Leistung der Handelnden ist. In einem Modell des kompetenten Regelgebrauchs wäre zu zeigen, wie die Handelnden verfahren, wenn sie eine Entscheidung darüber treffen, welche Regel oder Norm jeweils anzuwenden ist. Mit dem Hinweis auf die dokumentarische Methode ist diese Frage noch nicht hinreichend beantwortet. Des weiteren wäre in diesem Modell zu klären, wie die Handelnden das grundlegende Problem sozialen Handelns, interaktive Reziprozität herzustellen, lösen. Mit der Unterscheidung von Basisregeln und Oberflächenregeln versucht Cicourel der doppelten Problemstellung gerecht zu werden. Die Terminologie verweist darauf, daß unterschiedliche Niveaus von Regeln angesprochen sind. Anders als bei Oberflächenregeln erstreckt sich der Gültigkeitsbereich von Basisregeln nicht auf prinzipiell eingrenzbare, wenn auch in der Interaktion erst praktisch konkretisierte Handlungsfelder. Sie kommen vielmehr bei jeder Interaktion in gleicher Weise zur Anwendung. Sie sind die entscheidende Bedingung der Möglichkeit von sozialem Handeln, so daß sich bei ihnen das Problem des Befolgens oder Nicht-Befolgens nicht stellt. Basisregeln begreift Cicourel (1973, S. 175) als kognitive Mechanismen, deren personen wurden aufgefordert, einem Berater zunächst den Hintergrund eines sie bewegenden Problems zu schildern und ihm dann zehn Fragen zu stellen, die so formuliert sein mußten, daß sie mil einem simplen "ja" oder "nein" zu beantworten waren. Der Berater hielt sich in einem anderen Zimmer auf, es bestand nur Sprechkontakt, kein Sichtkontakt. Der Clou der experimentellen Anordnung bestand darin, daß der vermeintliche Berater der Versuchsleiter war und daß er seine Antworten nicht an den Fragen der Versuchspersonen orientierte. Vielmehr war die Abfolge der zehn "ja"- bzw. "nein"-Antworten vor Beginn des Experiments nach dem Zufallsprinzip einheitlich für alle zehn Gespräche festgelegt worden. Ziel des Experiments war herauszufinden, wie die Versuchspersonen unerwartete Antworten interpretieren. An den Kommentaren der Versuchspersonen auf die Antworten des "Beraters" zeigt sich deutlich, daß sie ständig bemüht waren und daß es ihnen gelang, ein zugrundeliegendes Muster zu identifizieren, das die einzelnen Antworten zu sinnvollen Antworten im Rahmen einer "Gesamtgestalt" werden ließ. Keine der Versuchspersonen hatte Schwierigkeiten, die Serie von zehn Fragen zu vollenden, auch nicht, die Ratschläge zusammenzufassen und ihnen einen konsisten Sinn zu verleihen. Dies gelingt trotz - für den Beobachter - offensichtlicher Widersprüche, weil die Versuchspersonen von Beginn an die Antworten als Dokumente für ein Muster interpretieren, das in diesem Fall durch den Hinweis, es handele sich um ein therapeutisches Gespräch, vorab eingeführt ist. Sie verleihen den einzelnen Antworten, den indexikalischen Ausdrücken, Sinn, indem sie jeweils einen Bezug zu diesem vorgängig konstituierten Erwartungssystem herstellen. Sie suchen aktiv bei jeder Antwort nach einem Beleg, der die Antwort als eine therapeutisch motivierte ausweist. In jedem Kommentar leisten sie das, indem sie versuchen, die Antwort auf einen Aspekt des Problems zu beziehen. In dieser Weise konstituieren die Versuchspersonen durch ihre Integrationen die Situation als eine therapeutische Situation. 28 Erwerb und Gebrauch eine "kognitive Organisation" zeitigt, "die ein beständiges Gespür für soziale Struktur liefert". Basisregeln sind auf einer tiefenstrukturellen Ebene sozialer Interaktion angesiedelt. Die Unterscheidung von Tiefen- und Oberflächenstruktur übernimmt Cicourel von Chomsky, ohne die kompetenztheoretischen Implikationen der generativen Transformationsgrammatik nachzuvollziehen. Bei Chomsky determiniert die tiefenstrukturelle Kompetenz, verstanden als "System generativer ('erzeugender') Prozesse" (Chomsky 1972, S. 15), die an der Oberfläche angesiedelte Sprachverwendung (Performanz). Für Cicourel läßt sich aus der Tiefenstruktur nicht ableiten, wie das Handeln auf der Oberflächenstruktur aussieht Als sozialkognitive Mechanismen sind Basisregeln formaler Natur. Sie bilden die grundlegende operative Struktur sozialen Handelns, die bei jeder Handlung notwendig zur Anwendung gelangt und daher keinen Schluß auf inhaltliche Besonderheiten erlaubt. Der konkrete Handlungssinn kann nur in der Analyse des Zusammenspiels von Tiefen- und Oberflächenstruktur, von Basis- und Oberflächenregeln geklärt werden. Cicourel (1975) unterscheidet in verschiedenen Arbeiten zwischen drei und sechs Basisregeln. Die drei zentralen, in jedem Text genannten sind: "Reziprozität der Perspektiven", "retrospektiv-prospektiver Ereignissinn", "Normalformtypisierungen". Basisregeln allein erzeugen keine sozialen Strukturen, sie vermitteln den Handelnden jedoch ein "Gespür für soziale Struktur", indem sie es ermöglichen, hinter wechselnden Situationen in interaktiver Reziprozität allgemeine Muster und konstante Bedeutungsgehalte zu identifizieren. Aufgrund der Basisregeln sind sich die Handelnden der Strukturiertheit der Realität gewiß, ohne daß sie in der Lage wären, die Strukturen zu benennen. Obwohl Basisregeln allein keine soziale Struktur erzeugen, sind sie Voraussetzung dafür, daß Strukturen erzeugt werden. Der generative Status von Basisregeln läßt sich mithin im Sinne einer Ermöglichungsbedingung konzipieren. Das Konzept der Basisregeln ist noch ungenügend ausgearbeitet. Immerhin wird deutlich, daß ein soziologischer Begriff generativer Regeln eine zweifache Regelstruktur in Rechnung stellen muß und daß den sozialen (=Oberflächen-)Regeln kein generativer Status eignet. Des weiteren impliziert das Konzept der Basisregeln, daß der über Normalformtypisierungen hergestellte Bezug auf übersituationale Strukturen, mithin auch auf Deutungsmuster, eine situationsbezogene interpretative Leistung der Handelnden ist, bei der erstens eine Abstimmung mit den Interaktionspartnern hergestellt werden muß (interaktive Reziprozität) und die zweitens in einem komplexen temporalen Verweisungszusammenhang steht (retrospektiv-prospektiver Ereignissinn). Die ethnomethodologische Konzeption generativer Regeln relativiert die Definition von Deutungsmustern als "verbindliche Antworten auf objektive Probleme der Handelnden" (Oevermann 1973, S. 12). Zwar behauptet auch der ethnomethodologische Regelbegriff keine Beliebigkeit des Bezugs auf soziale Regeln, so "als könnten Normen jede verhaltensmäßige Spezifikation zustandebringen, welche Laune auch immer gerade die Person 'reitet', die sie verwendet" (Zimmerman 1978, 29 S. 95). Jedoch eignet die Verbindlichkeit nicht den Deutungsmustern als solchen, sondern ist eine interaktive und situationsbezogene Herstellungsleistung ("practical accomplishment") der Gesellschaftsmitglieder. Nur wenn man dies in Rechnung stellt, kann man u.E. von einem generativen Status von Deutungsmustem und gleichzeitig davon sprechen, daß Deutungsmuster entwicklungsoffen sind. Eine Modifikation eines Deutungsmusters kann nur aus einer situationsbezogenen Anwendung resultieren. Deutungsmusteransatz, Habituskonzept, Rahmenanalyse sowie die ethnomethodologischen Konzepte der Hintergrunderwartungen, der dokumentarischen Interpretation und der Basisregeln haben den Versuch gemeinsam, die deterministischen Implikationen des Funktionalismus einerseits, die voluntaristischen Mißverständnisse einiger Ansätze der interpretativen Soziologie andererseits zu vermeiden und dennoch die jeweiligen Perspektiven zur Thematisierung des Problems der sozialen Ordnung aufzunehmen: als vorgegeben und bewirkt - mit unterschiedlichen Akzentuierungen, wie wir gesehen haben. Mit diesen Konzepten sind einige Kontexte im soziologischen Theoriediskurs benannt, in denen der Deutungsmusteransatz seine spezifische analytische Fruchtbarkeit erweisen muß. Vor allem muß sich im Vergleich zeigen, ob der Begriff des Deutungsmusters überhaupt eine neue Dimension soziologischer Analyse eröffnet, die in den anderen Ansätzen nicht gegeben ist. Das freilich kann nur auf der Basis empirischer Forschung entschieden werden, und der, soweit sie in diesem Band vertreten ist, wollen wir uns abschließend zuwenden. 4. Zu den empirischen Arbeiten Die in diesem Band versammelten Aufsätze sind Beispiele empirischer Wissenssoziologie. Es eint sie das Bemühen, soziale Realität anhand ihrer Wissensformation zu dechiffrieren, symbolische Strukturen auszumachen und ihre Relevanz für soziales Handeln aufzuzeigen. Wie schon Max Weber betonte, ist es ein besonderes Kennzeichen jeder soziologischen Handlungstheorie symbolische Formen, soziale Interaktionen und Legitimationen in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen, da nur so die Prozeßhaftigkeit sozialer Strukturen deutlich wird und diese nicht unter der Hand zu unhinterfragten, "sachlichen" Gegebenheiten der Gesellschaft gerinnen, die der Forscher nur reproduzieren würde. Der Ansatz der empirischen Wissenssoziologie ist aufgrund dieser Ähnlichkeiten meist ein handlungstheoretischer Zugang zur sozialen Wirklichkeit. Empirische Wissenssoziologie wird hier in ihrer Praxis werkstatthaft anhand verschiedener thematischer Anwendungsgebiete vorgeführt, manche Projekte werden in ihren sicheren Ergebnissen vorgestellt, andere eher in ihrem Anfangsstadium. Der Gebrauch des Begriffs "Deutungsmuster" ist nicht stringent, es finden sich unterschiedliche empirische Auslegungsformen dieses Begriffes. Manche Autoren vermeiden den Begriff gänzlich und ziehen statt dessen aufgrund ihres 30 Forschungsinteresses die Begriffe "Orientierungsmuster", "Semantik" oder "Lebensstil" als Grundbegriffe vor. Wie bei jeder empirischen Arbeit (im Unterschied zu Methodenbüchern) werden Begriffe in Auseinandersetzung mit der empirischen Realität, mit Erfahrungsprozessen und in der Wahrnehmung des fortlaufenden wissenschaftlichen Diskurses modifiziert, mit Inhalt gefüllt und variiert. Ein "Theorietest" hat in der Empirifizierungsphase von Begriffen dabei weniger die Form einer Ja/Nein-Entscheidung in Bezug auf eine Nullhypothese als vielmehr den Charakter einer fortlaufenden Rekonstruktion, die entweder zum Verlassen des Ursprungskonzepts oder zur Aneignung und inhaltlichen Modifikation des ursprünglichen Begriffsrahmens führt. "Theorie" entwickelt sich dadurch in der Praxis weniger linear-logisch als material-sprunghaft. Die hierfür notwendige Offenheit (die nichts mit Beliebigkeit zu tun hat) findet sich auch bei den Methoden wieder. Die empirischen Methoden der Autoren dieses Bandes sind äußerst vielfältig. Auch hier gilt ähnlich wie bei der Theorie, daß Methoden (anders als in den Aussagen der Methodenbücher) nicht "angewandt" werden, sondern angeeignet, individuell variiert und an den jeweiligen Forschunggegenständen fortentwickelt werden. Gemeinsam ist den Aufsätzen, daß sie sich mit der Rolle von sozialen Wissensformen auseinandersetzen, ihren Funktionen, ihren Entstehungsweisen, ihren Veränderungen und ihrer Bedeutung beim Wirklichkeitsauibau der sozialen Akteure. Es fällt auf, daß bei diesen Arbeiten ein besonders sensibler Umgang mit dem Phänomen der "sozialen Zeit" gepflegt wird. "Zeit" ist hier nicht eine lineare Folge von Geschehnissen, sondern die Struktur der Konstruktion sozialer Tatbestände, die sich über Ereignisse und Erfahrungen verändern und in Wissen geformt codiert werden. Die Zugänge zum Phänomen der Zeit sind sehr unterschiedlich. Drei Vorgehensweisen lassen sich bei den vorliegenden Aufsätzen unterscheiden, die den Akzent entweder stark auf diachrone Verläufe, auf synchrone Analysen oder auf einer Mischung beider Verfahren legen. Die Beschreibung diachroner Verläufe kann sowohl als der Weg der klassischen Deutungsmusteranalyse als auch der klassischen empirischen Wissenssoziologie angesehen werden. Die groß angelegten Untersuchungen von Foucault, Elias oder auch Weber folgen diesem Muster, eine vorhandene Struktur in seiner historischen Genese und seinem Verlauf über lange Zeiträume hin zu studieren. Vorteilhaft hierfür ist die Abgeschlossenheit eines Verlaufs, da so eine relativ eindeutige Richtung des Verlaufsmusters angegeben werden kann. Die klassische Methode für diesen Ansatz ist die hermeneutische Dokumentenanalyse. Eine gewisse Versuchung bei diachronen "Geschichtserzählungen" besteht darin, daß der Konstruktcharakter des diachronen Verlaufs, die Kenntnis, "daß idealtypische Entmcklungskonstruktion und Geschichte zwei streng zu scheidende Dinge sind" (Weber 1956, S. 249), hinter die Erzählzwänge "linearer Geschichte" zurücktritt. Das Nebeneinander, Widersprüchliche und Ungerichtete des sozialen Prozesses wird so zu einer logischen Abfolge des vorher-nachher, kausaler Entwick- 31 lungsfolgen. "Entwicklungslogiken" stellen nützliche Instrumente der Darstellung und Analyse geschichtlicher Prozesse dar; sie sind von daher unverzichtbar. Es sollte allerdings für Leser und Schreiber klar sein, daß es sich um "Idealtypen", also um Konstruktionen handelt. Die Arbeitsweise diachroner Verlaufsbeschreibungen, die eine Nähe zu ideologiekritischen Ansätzen besitzt, wird in diesem Band von Yvonne Schütze und Michael Schetsche verfolgt. Yvonne Schütze schildert anhand einer Dokumentenanalyse von wissenschaftlichen Ratgebern den Aufstieg und den Fall des Deutungsmusters "Mutterliebe". Im 18. Jahrhundert entsteht es parallel zur Ausdifferenzierung der Geschlechtscharaktere und der bürgerlichen Familie. Anfangs waren es überwiegend Ärzte, die sich bemühten, den als irrational geltenden Müttern medizinisch rationalen Umgang mit Kindern beizubringen. Je mehr Psychologen im 20. Jahrhundert das Deutungsmuster ausformulierten, desto paradoxer wurde es. Sie forderten nämlich immer mehr den rational kontrollierten Einsatz von Affekten, und - vollends paradox - die rationale Kontrolle unbewußter Gefühle. Die "Überlastung" des Deutungsmusters, zusammen mit Veränderungen der gesellschaftlichen Stellung von Frauen, führte in den 80er Jahren zu Abkehrbewegungen vom Muster "Mutterliebe", das immer mehr handlungsbelastend als -entlastend geworden war. (Mütter und Kritiker der Psychoanalyse dürften diesen Beitrag mit besonderem Genuß lesen.) Michael Schetsche illustriert anhand einer Dokumentenanalyse von Beiträgen in Fachzeitschriften zum Thema der sexuellen Selbstbefriedigung von Kindern das Deutungsmusterkonzept von Oevermann. Er versteht unter Deutungsmustern überindividuelle, latente und gruppenspezifische Wissensformationen mittlerer Komplexität, die funktional für die Bewältigung von Handlungsproblemen sind. Die Arbeit mit Texten eines bereits abgeschlossenen Diskurses ermöglicht ihm, dem Deutungsmusterkonzept eine implizit ideologiekritische Note zu geben, die realitätsreduzierende Wirkungen von Deutungsmustern hervorhebt Eine zweite, umfangreichere Gruppe von Aufsätzen beschäftigt sich nicht mit diachronen Verläufen, sondern mit synchronen Gegenwartsanalysen offener Strukturen. Analysen werden hier aus der Polyphonie der Gegenwart entwickelt, die offene Prozeßhaftigkeit von Gegenwart wird betont; "Neues" wird in diesen Beiträgen mit unterschiedlichen Bewertungen bearbeitet Bevorzugte Methode dieser Autoren ist das Interview, daneben werden aber auch Gruppendiskussionen und rationale Theoriekonstruktionen der Realität verwendet. Ulrike Nagel beschreibt ein neues Deutungsmuster sozialarbeiterlichen Berufsverständnisses. Ein Teil gegenwärtiger junger Sozialpädagoglnnen sieht sich selbst nicht mehr als Helfer der Schwachen und Unterdrückten oder als Anwalt von Betroffenengruppen, sondern als professioneller Krisenmanager, der Menschen in normalen Lebenslaufkrisen behilflich ist. An aktuellen Interviews wird ein Deutungsmuster herausgearbeitet, das Parallelen aufzeigt zwischen dem Berufsrollenverständnis dieser Gruppe von Sozialpädagogen, ihrer individuellen Lebenslauflage und ihrem Gesellschaftsbild. 32 Während im Aufsatz von Ulrike Nagel der Hauptakzent auf der Konstatierung eines neuen Musters liegt, beschäftigt sich Michael Meuser hauptsächlich mit einem Konflikt zwischen einem neuen Deutungsmuster sozialer Gerechtigkeit mit älteren Deutungsmustern. Sein Gegenstand ist dabei die Implementierung von Frauenförderplänen in der öffentlichen Verwaltung, die er mit Experteninterviews untersucht. Er stellt fest, daß das Programm, das auf einer gruppenspezifischen, auf Wahrscheinlichkeiten beruhenden Vorstellung von "Gerechtigkeit" beruht, deshalb kaum durchgesetzt wird, weil es im Widerspruch zu älteren, mit breiter Legitimation versehenen Deutungsmustern von Gerechtigkeit steht, die neben Leistung auf soziale Bedürftigkeit rekurrieren. Einen gegenwärtigen Umbruch beschreibt ebenfalls Ulf Matthiesen, der den Wandel der Lebenswelt des östlichen Ruhrgebiets anhand von Interviews untersucht. Ergebnis dieses Projekts ist, daß "neue" Lebensstile, die von Innovateuren des Strukturumbruchs (Eigenlabel: die "Jungstiere") vertreten werden, nicht nur auf internationale Moden reagieren, sondern gleichzeitig eine spezifische Resynthese älterer Arbeitermilieus leisten. Ausgehend von diesen Projekterfahrungen schlägt Matthiesen vor, die textorientierten Analysemethoden des Deutungsmusterbegriffs von Oevermann durch visuell orientierte Lebensstilanalysen phänomenologischer Art zu ergänzen. Die schwierige theoretische und methodische Lage von gegenwartsanalysierenden Projekten der empirischen Wissenssoziologie, die darin begründet liegt, daß "Gegenwart" das theoretisch und methodisch noch nicht gefaßte Terrain absteckt, kommt auch in der Haltung zweier anderer Projekte zum Ausdruck, von denen eines nur theoretisch, das andere primär methodisch angelegt ist. Christian Lüdemann unternimmt den (für manche interpretativen Soziologen ketzerischen) Versuch, das Deutungsmusterkonzept in die Theoriesprache der "kognitiv-hedonistischen Verhaltenstheorie" zu übersetzen. Er exemplifiziert diesen Ansatz anhand des Deutungsmusters "männliche Sexualität" und gibt mögliche Untersuchungsmethoden an. In einem methodisch orientierten Artikel versucht Ralf Bohnsack, die Ansätze von Mannheim und der Ethnomethodologie empirisch material einzulösen und entwickelt das Verfahren der "dokumentarischen Interpretation". Anhand der Auswertung von Gruppendiskussionen mit Jugendlichen zeigt er, wie sich vortheoretisches Alltagswissen in begriffliche Explikationen verwandeln läßt und so Handlungsweisen verstehend erklärt werden können. Besonders interessant an dem Verfahren ist der Versuch, die Analyse nicht bei Einzelfallrekonstruktionen zu belassen, sondern systematisch typenbildend vorzugehen. In einer dritten Gruppe von Aufsätzen mischen sich diachrone und synchrone Ansätze. In jede diachrone Analyse geht die Offenheit und Konflikthaftigkeit der Gegenwart ein, in jede synchrone Analyse sind Überlegungen zu Ursachen und Begründungen der jetzigen Situation integriert. In den Aufsätzen dieser Gruppe findet aber nicht nur "natürlich" ein Wechsel der Zeitebenen statt sondern er wird systematisch gesucht. Die Dialektik dieses Bemühens zeigt sich auch an der Viel- 33 fall der verwendeten Methoden. Peter Alheit und Bettina Dausien stellen die Frage, ob "Biographie", diese scheinbar unhintergehbare Form sozialer Existenz, nicht ein Deutungsmuster mit begrenzter Reichweite ist. An historischem Material belegen sie, daß es sich erst in der Moderne durchsetzt. Am Fallbeispiel einer Autobiographie einer Frau aus der Unterschicht im 19. Jahrhundert zeigen sie auf, daß das Deutungsmuster "Biographie" selbst in der Moderne an Klassen- und Geschlechtsgrenzen gebunden ist. Die behandelte Lebensgeschichte ist nämlich in der von der Frau benützten und erlebten Erzählung ihres Lebens nicht nach biographischen Verläufen, sondern durch rekursive Erzählknoten geordnet. Aktuelle Theoriediskussionen um "Biographie" und die Auswertungsmethode narrativer Interviews werden hier mit historischem Material konfrontiert, Vergangenes und Gegenwärtiges werden ineinander gebrochen. Bruno Hildenbrand entfaltet anhand von aktuellen Interviews, die sich methodisch der teilnehmenden Beobachtung annähern, eine bäuerliche Familiengeschichte, die belegt, wie individuell, familial und berufsbezogen "Modernisierung" und "Kontinuität" über 100 Jahre in ihrem Wechselverhältnis in Balance gehalten werden. In der letzten Generation scheitert dieser Balanceakt, Familienmitglieder werden psychisch krank. Hildenbrand dehnt die aktuelle Gegenwart zu einem diachronen Verlauf aus, in (oft unbewußten) Orientierungsmustern von Einzelnen und "Familienlinien" werden Strukturmotive der Gegenwart deutlich, die zugleich etwas über die psychischen Aufwendungen eines gesellschaftlichen "Modernisierungsprozesses" im Deutschland der letzten 100 Jahre aussagen. Reinhold Sackmann analysiert das Deutungsmuster "Generation". Er geht von in aktuellen Interviews gefundenen Konnotationen der Jugendnähe und der Ablösung von Familienkontinuitäten aus, die im Deutungsmuster enthalten sind. In einer semantischen Wortgeschichte verfolgt er die historischen Wurzeln dieser Konnotation. Er folgert daraus für die Generationstheorie, daß bloße Jugend- und Familiengenerationstheorien an Grenzen stoßen, und deshalb eine Fortentwicklung des Begriffes "Generation" zur Analyse dynamischer Gesellschaftsstrukturprozesse notwendig wäre. Über alle Aufsätze läßt sich sagen, daß sie eine erfreuliche Methoden- und Theorievielfalt aufweisen. Auch wenn dies institutionell nicht so deutlich sichtbar ist, hat sich in den letzten Jahrzehnten ein lebendiges Feld empirischer Wissenssoziologie entwickelt. Die Uniformität der großen theoretischen Entwürfe der 60er/70er Jahre ist einer Pluralität empirischen Forschens gewichen. Wir hoffen, daß dieses Buch Anregungen für Theorie und Empirie bietet und durch interessante Ergebnisse den Wert der empirischen Wissenssoziologie demonstriert Literatur Allen, Tilmann (1976): Legitimation und gesellschaftliche Deutungsmuster, in: Ebbighausen, R. 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Pierre Bourdieu im Gespräch mit Hans Dieter Zimmermann, in: L 80 8, S.131-144 Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede, Frankfurt/Main Bourdieu, Pierre (1989): Antworten auf einige Einwände, in: Eder, K. 1989, S. 395-410 Chomsky, Noam (1972): Aspekte der Syntax-Theorie, Frankfurt/Main Cicourel, Aaron V. (1973): Basisregeln und normative Regeln im Prozeß des Aushandelns von Status und Rolle, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1973, S. 147-188 Cicourel, Aaron V. (1975): Sprache in der sozialen Interaktion, München Cicourel, Aaron V. (1976): The Social Organization of Juvenile Justice, 2. Aufl., London, Dewe, Bernd (1982): Zur Wissenssoziologie institutionalisierter Bildungsprozesse, in: Axmacher, D. u.a. (Hrsg.): Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Begründung von Bildungstheorie, Osnabrück Dewe, Bernd (1984): Kultursoziologische Bildungsforschung, in: ZSE 4, S. 307-329 Dewe, Bemd/Ferchhoff, Wilfried (1984): Deutungsmuster, in: Kerber, KJSchmieder, A. 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